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Irène Némirovsky

Das Mißverständnis

Roman

Aus dem Französischen
von Susanne Röckel

Der Roman erschien erstmals im Februar 1926 in der Zeitschrift
»Les Œuvres libres«, 1930 in der »Collection de bibliothèque«
bei Fayard, Paris, und 2010 bei Éditions Denoël, Paris.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2010

by Éditions Denoël, Paris

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Gesetzt aus der Aldus von Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09150-7

www.knaus-verlag.de

1

Yves schlief wie ein kleiner Junge, tief und fest. Er hatte die Stirn in die Ellenbeuge gelegt und in seinem schweren, vertrauensvollen Schlaf instinktiv eine kindliche Haltung eingenommen; selbst das unschuldige, ernste Lächeln eines Kindes war zurückgekehrt. Er träumte von einem flachen Strand, überflutet von Sonnenschein, von Abendlicht über dem Meer, von der Sonne zwischen den Tamarisken.

Er war jedoch seit über vierzehn Jahren nicht mehr in Hendaye gewesen, und am Vortag, als er spätabends angekommen war, hatte er von diesem herrlichen Ort im Baskenland nur einen schattenhaften, geräuschvollen Abgrund wahrgenommen – das Meer –, ein paar Lichter inmitten einer noch dichteren Dunkelheit, einem Tamariskenwäldchen, wie er vermutete, und weitere Lichter am Rand der Wellen – das Kasino; an dieser Stelle hatten einst die Fischerkähne auf dem Wasser geschaukelt. In der Erinnerung war das sonnendurchflutete Paradies seiner Kindheit freilich intakt geblieben, und seine Träume ließen es wieder auferstehen, bis ins kleinste Detail, bis zu dem würzigen Geschmack der Luft.

Als Kind hatte Yves in Hendaye seine schönsten Ferien verbracht. Jede Minute hatte er ausgekostet in diesen goldenen Tagen, die ihm in den Schoß gefallen waren wie reife Früchte, gewärmt von einer Sonne, die seinen entzückten Augen gänzlich neu erschienen war, wie in der Frühzeit der Erde. Seitdem schien das Universum ganz allmählich seine frischen Farben verloren zu haben, und selbst das Licht der alten Sonne war fahl geworden. Nur manchmal, in seinen Träumen, gelang es dem jungen Mann, der sich eine spielerische und lebhafte Phantasie bewahrt hatte, sie in ihrer ganzen ursprünglichen Strahlkraft wieder einzufangen; die auf solche Nächte folgenden Vormittage waren wie verzaubert von einer wohltuenden Traurigkeit.

An diesem Morgen fuhr Yves genau wie in Paris um Punkt acht Uhr aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen und wollte schon aus dem Bett springen; doch da sah er durch einen Spalt des Fensterladens einen schmalen Strahl bis zum Kopfende seines Bettes dringen wie einen goldenen Pfeil und nahm gleichzeitig jenes leise Summen schöner Sommertage auf dem Land wahr, gemischt mit den Rufen von Tennisspielern in den angrenzenden Gärten, und jenes besondere, fröhliche Geräusch – Glockengeläut, Schritte, fremde Stimmen –, das genügte, um ihm in Erinnerung zu rufen, daß er sich im Hotel befand, einem großen Gebäude voller Müßiggänger.

Yves legte sich also wieder hin, lächelte, streckte sich und genoß seine herrlich faulen Gesten wie einen wiedergefundenen Luxus. Schließlich suchte er die Klingel, die zwischen den Gitterstäben des Messingbettes hing, und drückte sie. Nach einiger Zeit kam der Zimmerkellner mit dem Frühstückstablett herein. Er öffnete die Läden, und Sonnenlicht durchflutete den Raum.

»Was für ein herrliches Wetter«, sagte Yves laut, wie damals, als er noch Schüler war und all seine Vergnügungen und all seine Kümmernisse vom Wetter abhingen. Er sprang aus dem Bett und lief barfuß zum Fenster. Zunächst war er enttäuscht: Er hatte Hendaye als ein winziges Dorf kennengelernt, bewohnt von Fischern und Schmugglern; damals hatte es nur zwei große Villen gegeben, die von Pierre Loti, etwas weiter weg, linker Hand, in der Nähe des Flusses, der Bidassoa, und die seiner Eltern, rechter Hand, dort, wo sich jetzt etwa zwanzig solcher Häuser befanden, alle im gleichen schlecht nachgeahmten baskischen Stil. Er sah, daß man hinter dem Strand einen Damm angelegt hatte, der mit schütteren Bäumen bepflanzt war; dort parkten Autos. Schmollend wandte er sich ab. Warum hatte man diesen gesegneten Erdenwinkel so verschandelt, den er gerade wegen seiner Schlichtheit, seines versöhnlich stimmenden Charmes geliebt hatte? Doch er blieb am offenen Fenster stehen, und nach und nach, wie man in einem durch die Jahre veränderten Gesicht ein Lächeln, einen Blick wiedererkennt und sich davon leiten läßt, um zögernd die geliebten Züge wiederzufinden, entdeckte er mit dem Gefühl einer tiefen Zärtlichkeit Linien und Schattierungen wieder, den Umriß von Bergen, die schimmernde Oberfläche des Golfs, die leicht wogende Tamariskendecke. Und als er wieder jenen Duft nach Zimt und Orangenblüten in der Luft schnupperte, den der Wind von Andalusien herüberwehte, war er plötzlich versöhnt mit dem Werk der Zeit, er lächelte, und die alte Fröhlichkeit weitete seine Brust.

Mit leichtem Bedauern verließ er seinen Platz am Fenster und ging ins Bad; mit Lackfarbe gestrichen und weißgefliest, strahlte es im Sonnenlicht. Yves zog die Vorhänge zu, und die verschlungenen Muster auf der Gipürespitze wurden augenblicklich als Schatten auf den Boden geworfen und bedeckten ihn mit einem leichten, feingeflochtenen Teppich, der in Bewegung geriet, wenn der Meerwind in die Vorhänge fuhr. Hingerissen verfolgte Yves dieses Spiel von Licht und Schatten; er erinnerte sich daran, daß das auch als Kind sein liebster Zeitvertreib gewesen war. Jedesmal, wenn er in sich, dem nun erwachsenen Mann, solche kindlichen Züge entdeckte, wurde er weich, wie beim Betrachten alter Fotos, aber es mischte sich auch leichte Angst in dieses Gefühl.

Er hob den Blick und betrachtete sich im Spiegel. Seine Seele glich an diesem Morgen so sehr seiner Kinderseele an jenen strahlenden Ferienmorgen, daß das Spiegelbild ihm eine schmerzliche Überraschung bereitete: Er sah das Gesicht eines Mannes um die dreißig, müde, blaß, mit unreinem Teint und einem kleinen bitteren Zug um den Mund; das Blau der Augen schien verblichen zu sein, und die Lider waren schwer und hatten ihre langen, seidenweichen Wimpern verloren … Es war das Gesicht eines jungen Mannes, gewiß, doch dieses Gesicht war schon verwandelt, bearbeitet von der Hand der Zeit, die in die glatte Frische der jugendlichen Haut sanft, unerbittlich ein Netz feiner Linien gezogen hatte, eine erste schelmische Skizze vom Muster zukünftiger Falten. Yves fuhr sich mit der Hand über die Stirn; an den Schläfen wurde das Haar schon schütter. Gleich darauf betastete er unwillkürlich unter den an dieser Stelle borstig nachgewachsenen Haaren die Narbe, die nach seiner letzten Verwundung durch jenen fast tödlichen Granatsplitter zurückgeblieben war, dort oben in Belgien, nahe einer verkohlten Mauer zwischen toten Bäumen …

Doch der Kellner, der eintrat, um das Frühstückstablett abzuräumen, riß ihn aus seinen unmerklich düster werdenden Gedanken, wie an gewissen Sommertagen, wenn der allzu blaue Himmel sich bezieht, ohne daß man es bemerkt, und immer dunkler wird, bis sich dunkelgraue Gewitterwolken auftürmen. Yves zog sich eine Badehose an, schlüpfte in Espadrilles, warf ein Handtuch über die Schulter und ging zum Strand hinunter.

2

Ausgestreckt lag er auf dem heißen Sand, der unter den nackten Fersen knirschte. Er schloß die Augen, reckte sich und verharrte dann reglos, das Gesicht dem intensiven Licht des vor Hitze bleich wirkenden Augusthimmels zugewandt, um mit allen Flächen seiner Haut, die die Sonne verbrannte, die einzigartige Empfindung schweigenden, vollkommenen, fast animalischen Glücks auskosten zu können.

Um ihn herum waren Männer und Frauen, die meisten jung und schön und in beinahe unwahrscheinlichem Maß gebräunt, die sich, kaum bekleidet, gewandt bewegten. Andere lagen in Gruppen zusammen und trockneten ihre nassen Körper an der Sonne, wie er selbst; Jugendliche, bis zur Hüfte nackt, spielten am Rand der Wellen Ball; sie glitten an dem hellen Strand entlang wie in einem chinesischen Schattentheater. Yves war müde, weil er zu lange geschwommen war, und schloß die Augen; die Helligkeit des Mittags durchdrang seine geschlossenen Lider und tauchte ihn in feurige Finsternis, in der große Sonnen kreisten, gleichzeitig dunkel und glühend hell. Die Luft war angefüllt mit dem schallenden Geräusch der Wellen, die sich auf dem Sand brachen, als würden mächtige Schwingen das Ufer peitschen. Yves wurde vom hohen Lachen eines Kindes aus seiner Betäubung gerissen; ganz nah liefen eilige kleine Füße an ihm vorbei, und gleich darauf traf ihn eine Handvoll Sand. Er richtete sich auf und hörte eine Frauenstimme entsetzt rufen:

»Francette, ich bitte dich, Francette, wirst du wohl artig sein und sofort hierherkommen!«

Yves war jetzt vollständig wach. Er setzte sich auf, sah sich um und erblickte die Silhouette einer hübschen Frau im Badeanzug, die ein kleines Mädchen von zwei oder drei Jahren an der Hand hielt, stämmig und ziemlich drollig, wie es schien, mit einem dichten Haarschopf, der sich an der Sonne zu einem hellen Weizenblond verfärbt hatte, während die Haut dunkelbraun geworden war.

Yves sah, wie die beiden in Richtung Wasser gingen. Lange folgte er ihnen mit dem Blick und empfand dabei ein unbewußtes Vergnügen, das ebensosehr von dem kleinen Mädchen wie von der hübschen Mutter verursacht wurde. Das Gesicht der Frau hatte er nicht sehen können, aber ihr Körper glich einer hinreißenden kleinen Statue. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er daran dachte, daß ihm ein solcher Anblick in Paris schwerlich vergönnt gewesen wäre, während er ihm hier, am Strand, so natürlich vorkam. Gebräunt und rosig, wie sie war, mit all den Rundungen und all den Linien ihres Körpers, den man unter dem leichten Badeanzug ahnte, gehörte diese Frau ein wenig ihm, dem Unbekannten, da sie für ihn nicht weniger nackt war als gegenüber ihrem Geliebten. Vielleicht spürte er deshalb, als sie sich in der Menge der Badenden verloren hatte, einen ganz kleinen, rasch vorübergehenden Anflug von Bangigkeit, von Bedauern, ein Gefühl, das sich zur tiefen Verzweiflung verhielt wie ein Nadelstich zum Hieb eines Messers.

Unversehens überfiel ihn so etwas wie Überdruß, und er legte sich auf die Seite, um zerstreut mit dem hellen Sand zu spielen, ihn zwischen den Fingern rieseln zu lassen wie einen Strang dünner, seidiger und reizvoller Haare. Dann blickte er wieder aufs Meer hinaus in der Hoffnung, die undeutlich wahrgenommene junge Frau aus dem Wasser kommen zu sehen. Weibliche Gestalten, schwarz und rosa, gingen an ihm vorbei; aber sosehr er sich auch anstrengte, sah er diejenige nicht mehr, nach der er Ausschau hielt. Schließlich erkannte er sie doch wieder, dank des Kindes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog, weil es weinte und mit den Füßen aufstampfte; zweifellos war es das Salzwasser, das den lauten Protest verursachte, denn es hatte sich offenbar daran verschluckt. Die Mutter lächelte ein wenig und tröstete das kleine »Dummerchen«; dann bückte sie sich unvermittelt, hob es hoch, setzte es sich auf die Schultern und begann zu laufen. Yves sah deutlich ihre gut geformte und hoch angesetzte Brust, ihre geschmeidige und robuste Taille, die nur die ganz jungen Frauen von heute haben, die nie ein Korsett tragen, viel laufen und von klein auf tanzen; sie sah gleichzeitig kräftig und graziös aus und weckte die vage Erinnerung an eine Griechin, die aufrecht geht, ohne sich unter dem Gewicht der Amphore auf ihrer Schulter nach vorn zu beugen. Genauso trug sie ihr hübsches Kind, und sie war sehr einfach und sehr schön inmitten dieser schönen und einfachen Natur. Yves stützte sich fast ein wenig ängstlich auf den Ellbogen, um sie besser zu sehen, wenn sie an ihm vorbeiging; er wollte ihr Gesicht genau in Augenschein nehmen; und er sah es, sah, daß es fast ebenso dunkelbronzefarben war wie das ihrer kleinen Tochter, sah ein rundes Kinn mit einem Grübchen, einen halb geöffneten feuchten roten Mund, der nach Salz und Gischt schmecken mußte, sah jene arglose und ernste Miene, die nur Kinder und manchmal sehr junge Frauen haben; und dann sah er noch kurzgeschnittenes Haar, eine schmale, reine Stirn und schwarze, vom rauhen Seewind zerwühlte Locken, die so kräftig und rebellisch waren wie die Marmorlocken der Statuen jugendlicher Griechen. Sie war wirklich sehr hübsch. Schon war sie in einem Zelt verschwunden, und er war enttäuscht, weil er nicht genug Zeit gehabt hatte, die Farbe ihrer Augen zu erkennen.

Einige Augenblicke später ging er wieder zum Hotelgarten hinauf; er war wie geblendet von der klaren Luft und der Sonne, und Kopfweh machte ihm zu schaffen. Er setzte langsam einen Fuß vor den anderen und blinzelte ein wenig, ohne sich von dem unerträglichen Licht befreien zu können, das auch an seinen Wimpern hängenzubleiben schien und ihn plötzlich störte, da er an die gebrochenen Farben des Pariser Himmels gewöhnt war. Er betrat die Hotelhalle, und dort fiel sein Blick als erstes auf das kleine Mädchen, das ihn mit Sand beworfen hatte und das jetzt laut lachend auf den Knien eines weißgekleideten Herrn auf und ab hüpfte. Yves betrachtete ihn; er glaubte, ihn zu kennen; er fragte den Pagen, der den Aufzug bediente, nach dem Namen.

»Monsieur Jessaint«, erwiderte der junge Mann.

›Ich kenne ihn doch‹, sagte sich Yves.

Er zweifelte keinen Moment daran, daß es sich um den Ehemann der hübschen Frau vom Strand handelte; aber statt sich über den Zufall zu freuen, der es ihm erlaubt hätte, sich ihr auf unkomplizierte Weise zu nähern, dachte er mürrisch und ohne jede Logik, wie es typisch ist für viele Männer:

›Zum Teufel! Schon wieder bekannte Gesichter … Kann man denn nicht einmal vierzehn Tage lang allein sein und seine Ruhe haben?‹

3

Yves Harteloup war 1890 geboren worden, mitten in der Umbruchszeit zwischen zwei Jahrhunderten, hinein ins Fin de siècle einer gesegneten Epoche, in der es in Paris noch immer Männer gab, die nichts taten, in der man mit Eifer niederträchtig und voller Hochmut boshaft sein konnte, in der das Leben für die Mehrzahl der Menschen beschränkt und friedlich war wie ein Bach, dessen Quelle und weiteren Verlauf bis hin zur Mündung man immer ungefähr voraussehen konnte.

Yves war der Sohn eines Parisers aus edlem Geschlecht, dessen Dasein so geschäftig und so leer gewesen war wie das der meisten Männer seiner Kreise; doch er hatte zwei Leidenschaften gepflegt: Frauen und Pferde. Die einen wie die anderen hatten gleichartige Empfindungen von Rausch, verzweifelter Kopflosigkeit und Gefahr in ihm hervorgerufen. Da er Paris nie verlassen hatte, außer um nach Nizza oder Trouville zu den Rennen zu fahren, da er von der Welt nichts gesehen hatte außer den Boulevards, den Rennstätten und dem Bois de Boulogne, da er seine Blicke beschränkt hatte auf die Augen der Frauen, seine Wünsche auf ihre Münder, konnte er in der Stunde seines Todes, als der Priester ihm das ewige Leben in Aussicht stellte, die Antwort geben: »Aber wozu? Ich will nur ausruhen. Ich habe schon alles erlebt.«

Yves war achtzehn Jahre alt, als sein Vater starb. Er konnte sich gut an die sanften Hände dieses Mannes erinnern, an sein Lächeln voll Zärtlichkeit und leisem Spott, an den leichten verwirrenden Duft, der immer um ihn war, als hätten die Falten seiner Kleider den Duft all der Frauen bewahrt, die er liebkost hatte. Yves war ihm ähnlich; auch er hatte schöne Hände, wie gemacht für Müßiggang und Liebe, und er hatte dieselben klugen und klaren Augen; doch bei seinem Vater waren sie scharf gewesen, voll ungestümer Lebendigkeit, während sie bei ihm selbst manchmal trüb wirkten, voller Mattigkeit und Unbehagen und so unergründlich wie ein tiefer See …

Yves konnte sich auch noch gut an seine Mutter erinnern, obwohl er sie sehr früh verloren hatte; jeden Morgen hatte die Gouvernante ihn zu ihr gebracht, während sie frisiert wurde; sie trug leichte Morgengewänder, mit Flitter und Spitzen besetzt, und wenn sie sich bewegte, klang es wie das Flattern eines Vogels; er erinnerte sich sogar noch an ihre Mieder aus schwarzem Satin, die einen hübschen, zierlichen Körper umschlossen hatten, eine nach den Vorgaben der Mode geformte Silhouette, rotes Haar und rosige Haut.

Er hatte die glückliche Kindheit eines kleinen Jungen aus reichem Haus gehabt. Seine Eltern liebten ihn und sorgten sich um ihn, und da sie glaubten, das Leben zu kennen, das er einmal führen würde – ein freizügiges, luxuriöses und müßiges Leben –, bemühten sie sich, ihm schon früh jenen Sinn für Schönheit und Philosophie einzupflanzen, der das Dasein veredelt, und dazu den Geschmack an tausend subtilen Nichtigkeiten, die es durch Eleganz und Luxus verschönern und mit unvergleichlicher Anmut schmücken. Und Yves wuchs auf und lernte, die schönen Dinge zu lieben, Geld auszugeben, sich gut zu kleiden, ebenso wie zu reiten, zu fechten und – dank der diskreten Unterweisungen seines Vaters – die Frauen als das einzig lohnende Gut der Welt zu betrachten, die Wollust als eine Kunst und das Leben als eine hübsche und leichte Sache, aus der der Weise nur Freuden zu gewinnen versteht.

Mit achtzehn war Yves Waise und mit ausreichend Geld versehen, sein Unterricht war beendet. Die Trauer zwang ihm ein relativ einsames Leben auf, er langweilte sich und begann lustlos, sich auf die Prüfungen der geisteswissenschaftlichen Fakultät vorzubereiten, doch dann kam ihm die Idee zu reisen: Denn darin unterschied er sich von seinem Vater wie von der gesamten vorangegangenen Generation, daß das Universum für ihn nicht an der Avenue de l’Opéra aufhörte und der Pfad der Tugend nicht der einzig gangbare war; fremde Länder hatten schon immer leidenschaftliche Neugier in ihm geweckt, obwohl sein Vater seinen Wissensdrang mit einem verächtlichen Lächeln als »romantisch« zu bezeichnen pflegte. Yves verbrachte also mehrere Monate in England, träumte von einer Reise nach Japan, die er niemals antrat, besuchte einige alte, verlassene Dörfer in Deutschland, verlebte wunderbare Tage in Siena und ein ganzes Frühjahr in Spanien, dem Land, mit dem er seine schönsten Kindheitserinnerungen verband: Zusammen mit einer Gouvernante war er den Sommer über nach Hendaye geschickt worden, unweit der spanischen Grenze, in ein altes Haus seiner Eltern. So lebte er, ständig den Ort wechselnd, etwas mehr als zwei Jahre und kehrte Anfang 1911 nach Paris zurück. Dort ließ er sich nieder; in Versailles leistete er seinen Militärdienst ab, und zwei, drei Jahre vergingen rasch und angenehm. Er erinnerte sich jetzt daran wie an einen schönen Frühling, kurz, sonnig und mit Liebesabenteuern angefüllt, die ihm leer und flüchtig, aber doch auch bezaubernd vorkamen. Und dann, mitten in diesem Leben, brach unvermittelt der Krieg aus wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel.

1914: Der Abmarsch, die erste Begeisterung, das Grauen des Todes. 1915: Kälte, Hunger, der Schlamm der Schützengräben, der Tod als vertrauter Begleiter, der einem nicht von der Seite wich und neben einem im Unterstand schlief. 1916: Wieder Kälte, Dreck, Tod. 1917: Müdigkeit, Resignation, Tod … Ein unendlich langer Alptraum … Einige hatten ihn überlebt – die guten Bürger, die Ruhigen –, sie waren kaum verändert zurückgekehrt und fanden sich wieder in ihre alten Gewohnheiten ein, in ihren alten Seelenzustand, als würden sie in abgetragene Pantoffeln schlüpfen. Andere – die Leidenschaftlichen – trugen ihre Revolte, ihr Fieber, ihr qualvolles Begehren unter die Menschen. Wieder andere – zum Beispiel Yves – waren nach ihrer Rückkehr einfach nur müde. Sie hatten zunächst geglaubt, daß die Müdigkeit ein vorübergehender Zustand wäre und die Erinnerung an jene dunklen Stunden sich in dem Maß abschwächte, in dem das Leben wieder ruhig, normal und friedlich verliefe, daß sie eines Tages aufwachen würden und kräftig, fröhlich und jung wären wie zuvor. Doch die Zeit verging, und »es« blieb und fraß an ihnen wie ein langsam wirkendes Gift. »Es« war ein sonderbarer Blick in die Ferne, ein Blick, der alle menschlichen Schrecken gesehen hatte, alles Elend, alle Ängste, »es« war die Verachtung des Lebens und das heftigste Verlangen nach den gröbsten, den fleischlichen Vergnügungen, »es« war Trägheit – denn dort hatte während so vieler Jahre die einzige Arbeit daraus bestanden, mit verschränkten Armen auf den Tod zu warten – und eine bittere Feindseligkeit gegenüber allen anderen Menschen, weil sie nicht gelitten hatten, weil sie das alles nicht gesehen hatten … Viele waren mit solchen Gedanken zurückgekehrt; viele hatten weitergelebt wie der auferweckte Lazarus, der mit ausgestreckten Armen zu den Lebenden geht, das Leichentuch noch um die Beine gewickelt, die Pupillen vergrößert von einer schrecklichen Trostlosigkeit.