Jeffrey B. Burton hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. Eine Sammlung seiner Stories erschienen 2005 in dem Band »Shadow Play«. Zwei seiner Stories wurden 2008 und 2010 beim MNLit-Wettbewerb als beste Short-Stories ausgezeichnet. 2007 erschien sein erster Kriminalroman.
Die forensischen Buchprüfer untersuchen schon die …« Cady brach mitten im Satz ab, als er Terri Ingram in der Tür seines Zimmers im St. Vincent’s Hospital stehen sah. Die beiden Agenten am Gästetisch waren schlau genug zu erkennen, dass sie störten: Sie murmelten irgendwas von einem verspäteten Frühstück, klappten den Laptop zu und ließen die beiden allein.
»Nur ein paar Kratzer«, ahmte Terri Special Agent Drew Cady recht treffend nach. »Die Ärzte machen das schon. Hättest nicht herfliegen müssen: Jund und die Anwälte werden mich bis nächste Woche nicht rauslassen.«
»Ich wollte nicht, dass du mich so siehst, Terri.«
Die Schwellung war stark zurückgegangen, aber die Umgebung seines rechten Auges schillerte immer noch in allen möglichen Farbtönen – von Gelb über Blau bis Schwarz. Seine rechte Hand war in einer Schlinge hochgelagert. Cady hatte seine dritte Operation in drei Tagen vor sich.
Terri trat zu ihm, nahm seine freie Hand, beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. »Roland hat gemeint, du würdest hier deine stoische Bullshit-Nummer abziehen, und hat mich herfliegen lassen.«
»Es überrascht mich, dass du ihn zwischen seinen Fernsehinterviews erreicht hast.«
»Er hat mich angerufen.« Terri ließ ihn ein wenig Platz machen und setzte sich zu ihm aufs Bett. »Er hat mir erzählt, wie es dir wirklich geht.«
»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«
»Mein G-Man hat also gedacht, er erscheint dann mal in Cohasset mit einem Gesicht wie Frankensteins Monster, aber das Kleinstadtmädchen wird’s nicht merken.«
Cady öffnete den Mund, sah aber ein, dass er es mit Worten nur noch schlimmer gemacht hätte.
»Ich habe gesehen, wie deine Kollegen Fiorella zu Hause abgeholt haben. Er war noch im Pyjama. Sie zeigen das immer wieder auf CNN.«
»Ich schätze, ein gewisser AD hat dafür gesorgt, dass die Kameras dabei waren.«
»Ich schätze, ein gewisser AD wird mit mir um dich kämpfen.«
»Ich würde mein Geld auf das Kleinstadtmädchen setzen.«
»Gute Antwort«, sagte Terri. »Gibt’s schon was Neues, G-Man?«
»Die zwei Buchhalter bekommen Zeugenschutz. Schommer versucht, einen Deal herauszuschlagen, aber ich glaube nicht, dass sie viel Erfolg haben wird.«
»Ich habe gehört, der arme Junge, den sie nach Guatemala verschleppt haben, ist auch wieder zu Hause.«
»Mit dem Jungen haben sie einen New Yorker Staatsanwalt erpresst, eine Flasche namens Stouder, damit er Fiorella mit Informationen versorgt. Stouder redet. Drake Hartzell auch. Der Einzige, der nichts sagen will, ist Rudy Ciolino, Hartzells Koordinator. Er hat kein Wort gesprochen, seit wir auf dem Dach geplaudert haben.«
»Was ist mit Hartzells Tochter? Hat sie etwas damit zu tun?«
»Hartzell sagt Nein. Er schwört, dass Lucy keine Ahnung von seinen Finanzgeschäften hatte und nur als Fiorellos Erpressungsmittel in den Fall verwickelt wurde.«
»Glaubst du ihm?«
Cady überlegte einen Augenblick. »Lucy ist erst zwanzig. Falls sie von Hartzells Geschäften gewusst hat, dann sicher noch nicht lange. Jund wird sie jedenfalls beobachten lassen, vielleicht führt sie ihn zu einem versteckten Schatz.«
Einige Minuten saßen sie Hand in Hand schweigend nebeneinander.
»Kann ich mitkommen, wenn du mit Dorsey sprichst?«
»Gern.«
»Was sagst du ihr?«
»Alles.«
Wieder schwiegen sie eine Weile.
»Ich glaube, du brauchst jetzt vor allem Erholung, G-Man. Zufällig kenne ich da ein Plätzchen, wo du dich ausruhen und vielleicht noch ein bisschen angeln kannst.«
Cady blickte auf seine hochgelagerte Hand. »Ich fürchte, ich werde eine ganze Weile keinen Fisch an Land ziehen können.«
»Wenn das so ist, wüsste ich schon, wie wir uns bis dahin die Zeit vertreiben könnten.«
Cady lächelte. »Klingt gut.«
Es war ein stressiger Tag gewesen. Und es sah nicht so aus, als würden die nächsten Tage ruhiger werden.
Special Agent im Ruhestand Drew Cady hatte geglaubt, sein früheres Leben endgültig hinter sich zu haben, und ärgerte sich über sich selbst, dass er überhaupt den Anruf angenommen hatte: Schließlich hatte er schon an der Nummer auf dem Display erkannt, dass der Anruf aus Quantico kam, von der FBI-Akademie am Stützpunkt des United States Marine Corps in den grünen Hügeln von Virginia.
Dabei hatte er vor sechs Stunden noch friedlich in seinem Arbeitszimmer gesessen und ein Glas frisch gepressten Orangensaft getrunken. Er war drauf und dran gewesen, bei einer Onlineauktion zuzuschlagen und einen Abraham-Lincoln-Half-Dollar aus dem Jahr 1918 zu ersteigern. Nach seiner Frühpensionierung war die amerikanische Numismatik sein großes Hobby geworden. Cady hatte nebenbei kurze Beratungstätigkeiten übernommen, hauptsächlich für Hotelketten, die ihre Sicherheitsvorkehrungen auf den Stand des einundzwanzigsten Jahrhunderts bringen wollten. Doch die meiste Zeit widmete er mittlerweile dem Münzsammeln. Und dieses kleine Juwel war in hervorragendem Zustand, die leichte rötliche Patina schmückte es nur noch mehr.
Nein, Cady hätte nicht ans Telefon gehen sollen.
Roland Jund, sein ehemaliger Chef und heute einer der stellvertretenden Direktoren des FBI, hatte zwar keine Details verraten, ansonsten jedoch alle Register gezogen, um ihn zu umschmeicheln, zu überreden und fast schon zu erpressen, damit Cady alles stehen und liegen ließ und zum Flughafen fuhr. Ein Auto würde in wenigen Minuten vor Cadys Haustür eintreffen, damit er mit der nächsten Maschine von Canton, Ohio, in die Hauptstadt flog und sich auf dem schnellsten Weg ins J. Edgar Hoover Building begab, die Zentrale des Federal Bureau of Investigation, wo Jund sich schnellstmöglich mit ihm treffen wollte.
Nachdem er die Sicherheitskontrolle passiert hatte, führte ihn eine finster dreinblickende Sekretärin in einen leeren Konferenzsaal und teilte ihm mit, dass die »anderen Agenten« gleich eintreffen würden. Haben sie hier immer noch nicht mitbekommen, dass ich im Ruhestand bin?, fragte sich Cady. Zum Glück war er auf dem Weg zum Konferenzsaal an einem Kaffeeautomaten vorbeigekommen und hatte sich unter dem vorwurfsvollen Blick der Sekretärin einen Becher geholt. Der Kaffee war zu süß, als hätte Cady unbewusst ein paar Extralöffel Zucker hineingegeben, um sich die bittere Medizin zu versüßen, die er zu schlucken bekommen würde. Der Becher stand inzwischen fast leer auf dem Konferenztisch, neben seinem unberührten Notizblock. Gut, dass ich mich so beeilt habe, dachte er, jetzt kann ich hier sitzen und Däumchen drehen – obwohl ihm auch das nicht mehr so recht gelang, seit die Beweglichkeit seiner rechten Hand zu fünfzig Prozent eingeschränkt war.
Und warum genau sitze ich überhaupt hier?, fragte er sich. Drei Jahre sind in dem Geschäft eine Ewigkeit. Wie sollte er ihnen heute noch helfen? Die Ermordung des designierten Vorsitzenden der Wertpapieraufsichtsbehörde C. Kenneth Gottlieb war das beherrschende Thema in den Nachrichten. Cady hatte Gottlieb nicht gekannt, der alte Herr wäre ihm selbst in einer polizeilichen Gegenüberstellung kaum aufgefallen. Der Präsident hatte Gottlieb zum Nachfolger des bisherigen Vorsitzenden ernannt, der kürzlich auf Betreiben beider Parteien zurückgetreten war, nachdem das allgemeine Vertrauen in die Finanzmärkte dramatisch geschwunden war. Die Wall Street erwartete, dass sich mit Gottliebs Amtsübernahme einiges ändern würde. Doch das war eine Welt, für die sich Cady nur am Rande interessierte. Für ihn war Gottlieb nur ein weiterer Bürokrat in einer Stadt, in der es von solchen Leuten nur so wimmelte. Jund hatte ihm am Telefon nichts Näheres sagen wollen, doch allein diese beunruhigende Geheimniskrämerei verriet einiges.
Es konnte keine andere Erklärung geben.
Cady riss den Kopf herum, als Jund mit der Aktentasche in der Hand eintrat, gefolgt von Elizabeth Preston, seiner rechten Hand. Mit ihnen betrat ein junger dunkelhäutiger Mann das Büro, den Cady nicht kannte. Alle trugen den gleichen grimmigen Gesichtsausdruck. Cady stand auf und streckte seinem alten Boss seine verkrüppelte Hand entgegen.
»Drew!« Jund setzte ein bemühtes Lächeln auf, schüttelte ihm die Hand und tat so, als bemerke er Cadys schlaffen Händedruck gar nicht. »Freut mich, Sie wiederzusehen. Sie erinnern sich doch sicher an Liz?«
»Natürlich«, nickte Cady. Ihm fiel auf, dass ihr schulterlanges Haar ein bisschen grauer geworden war. Sie schaute ihn mit einem undurchdringlichen Lächeln an, was Cady als gutes Zeichen wertete. Sie waren in der Vergangenheit einige Male aneinandergeraten. Er trug ihr nichts nach, doch er hätte nicht sagen können, wie es von ihrer Seite aus aussah.
»Und das ist Special Agent Fennell Evans, unser Wunderknabe vom FSRTC.«
»Nennen Sie mich bitte Fen.«
Cady streckte die Rechte über den Tisch hinweg aus und schüttelte Agent Evans die Hand. FSRTC stand für das Forensic Science Research and Training Center an der Akademie.
»Wie geht’s der Briefmarkensammlung?«, stichelte Jund.
»Ich sammele Münzen, Sir. Zufälligerweise ist mir wegen dieser Reise ein Exemplar durch die Lappen gegangen, hinter dem ich schon drei Monate her war.«
»Dafür lade ich Sie zum Abendessen ein. Vielleicht finden Sie etwas Interessantes beim Wechselgeld, wenn ich zahle.«
»Guter Scherz.«
Cady wusste plötzlich wieder, warum er für den Assistant Director schon immer eine Art Hassliebe gehegt hatte. Mit seinem Charisma manövrierte sich Jund stets gut durch die tückischen Gewässer des FBI: Immerhin war er in relativ kurzer Zeit in diese Führungsposition gelangt. Cady hatte ihn auch anders erlebt, wenn unter der glatten Fassade die Ecken und Kanten hervortraten. Eine Erfahrung, die er sich in Zukunft gern erspart hätte.
»Meine Leidenschaft ist Golf, Drew. Ich komme nur leider kaum dazu.« Und mit einem gedämpften Husten setzte sich Jund und deutete damit an, dass der Teil mit dem netten Geplauder nun ein Ende hatte. Er öffnete seine Tasche und zog eine Aktenmappe heraus. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überstürzt habe kommen lassen, Drew, aber Sie werden gleich den Grund verstehen, und auch, warum ich so ein Geheimnis darum mache.« Jund schlug die Akte auf der Seite mit der Zusammenfassung auf, ging den Text durch und brachte kleine Markierungen am Rand an.
»Wie Sie sicher wissen, wurde gestern Nacht ein Kommissar der Wertpapieraufsichtsbehörde, C. Kenneth Gottlieb, ermordet im Schlafzimmer seines Hauses aufgefunden. Mit einem Schuss in die Stirn getötet. In Anbetracht von Gottliebs Position enthält dieser Fall einigen politischen Zündstoff.«
»Ich hab’s am Flughafen auf CNN mitbekommen, aber nur sehr oberflächlich. Gibt es schon Verdächtige oder Festnahmen?«
»Noch keine Festnahmen, aber ich möchte Ihnen zuerst ein paar Dinge erzählen, bevor wir zu möglichen Verdächtigen kommen.« Der Assistant Director beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Der Tatort zeigt keine Spuren eines Kampfes, und Einbruchdiebstahl scheidet als Motiv aus: Es scheint nichts zu fehlen, obwohl es in dem Haus Schmuck gab, außerdem wertvolle Kunstwerke an den Wänden und einen Safe.«
»Vielleicht bekam er von einer Dame des Escortservices weniger, als er bezahlt hatte, und daraus hat sich ein Streit entwickelt.«
»Wir gehen natürlich alle möglichen Szenarien durch, aber nach dem, was ich Ihnen gleich sage, erscheint ein Sexverbrechen ziemlich unwahrscheinlich. Wie gesagt, Drew, der Täter hat nichts mitgenommen, sondern etwas zurückgelassen, und zwar so, dass wir es finden.« Jund wandte sich an den Forensikexperten: »Fen.«
»In der Eintrittswunde fanden wir eine Schachfigur, die …«
»Großer Gott.« Cady schaute auf die Narben an seiner rechten Hand hinunter.
»Das hab ich mir auch gedacht«, sagte Jund.
Vor drei Jahren, im Anschluss an den Chessman-Fall, war Cady im Krankenhaus mehrfach operiert worden und hatte danach noch einen Monat zu Hause verbracht, um die Schmerzmittel langsam abzusetzen. »Welche Schachfigur war es denn, Agent Evans?«
»Eine gläserne Dame. Die gleiche Marke, wie sie der Chessman bei seinen früheren Morden zurückließ.«
»Falls der Chessman nicht tot ist«, dachte Cady laut nach, »und das Spiel von vorne beginnt, müsste alles, was wir damals an Fakten gesammelt haben, neu untersucht werden.«
»Hören Sie, jeder, der die Nachrichten einigermaßen verfolgt, wird sich an die hässlichen Details von damals erinnern«, erwiderte der stellvertretende Direktor. »Man muss kein Genie zu sein, um diese Morde nachzuahmen. Bei Gottlieb war bestimmt ein Copycat-Killer am Werk.«
»Wir haben in unseren Stellungnahmen nie die Schachfiguren erwähnt.«
»Das stimmt, Drew, aber in dieser Stadt bleibt nichts lange verborgen, das wissen Sie genauso gut wie ich. Bei reichen und berühmten Toten ist das nun mal so. Nach und nach sickerte immer mehr durch, und es entstand ein richtiger Medienrummel. Da wurde verdammt viel Scheiße geschrieben.«
»Ich kann mich erinnern.«
»Heutzutage ist anscheinend eine Hirnamputation Voraussetzung, wenn man Journalist werden will. Wir haben getan, was wir konnten, um unsere Trumpfkarte für uns zu behalten. Doch am Ende kam alles raus. Ein paar Schmierfinken haben sogar Bücher darüber geschrieben.«
»Erinnern Sie sich an das Gespräch, das wir damals hatten, Sir? Als ich das Bureau verließ?«
Jund nickte. »Das ist einer der Gründe, warum Sie heute hier sind, Drew. Ihr Albtraumszenario. Sie meinten, es wäre alles zu glatt gelaufen … Aber dazu kommen wir später.«
»Später? Später beschäftige ich mich wieder mit meinen Münzen, Sir. Ich bin im Ruhestand.«
Einige Augenblicke war es still im Raum.
»Bei Ihrer Erfahrung und Ihrem Wissen über den damaligen Fall«, meldete sich erstmals Liz Preston zu Wort, »haben wir gehofft, Ihre Dienste in Anspruch nehmen zu können, in einer rein beratenden Funktion.«
Cady lachte laut auf. »Sie nehmen mich auf den Arm.«
»Wir könnten Ihr umfassendes Wissen gebrauchen.«
»Sie haben Agenten hier, die viel schlauer sind als ich.«
»Keiner kennt den Chessman-Fall besser als Sie, Drew. Sie haben sich Tag und Nacht damit beschäftigt. Ob’s Ihnen gefällt oder nicht, Sie sind der Experte in dieser Angelegenheit. Helfen Sie uns zu beweisen, dass das ein Copycat-Killer war.«
»Und wenn es kein Nachahmungsmord war?«
»Falls er wirklich noch leben sollte – und ich würde das als nicht sehr wahrscheinlich betrachten –, dann könnten Sie uns am ehesten weiterhelfen. Schließlich waren Sie ganz dicht an dem Mistkerl dran.«
»Wenn ich so tolle Arbeit geleistet habe, Sir, warum hatte ich am Ende das Hirn seines letzten Opfers auf dem Anzug?«
»Sie haben uns vom Krankenhausbett auf die richtige Spur gebracht.«
»Das hat sich durch das Ausschlussverfahren ergeben.« Cady schaute dem Assistant Director in die Augen. »Und nach dem, was Sie mir gerade erzählt haben, hab ich das wahrscheinlich auch vermasselt.«
»Das sehe ich nicht so«, erwiderte Jund. »Denken Sie an das Prinzip von Ockhams Rasiermesser: Wir sollten bei möglichst einfachen Theorien bleiben, solange wir damit auskommen.«
»Bei allem Respekt, Sir, aber beim Chessman war die einfachste Erklärung nie die richtige.«
»Der Chessman ist tot.« Jund begann die Gründe an seinen Fingern abzuzählen. »Wir haben seine Leiche, wir haben jede Menge Beweise: Fingerabdrücke, die Mordwaffe, sogar übrige Schachfiguren, und wir haben das Motiv. Eine bombensichere Sache. Deshalb haben wir’s im Fall Gottlieb mit einem Nachahmungstäter zu tun, solange es keine handfesten Beweise für etwas anderes gibt.«
»Aber wenn es doch kein Copycat ist, wenn es stimmt, dass der Chessman dahintersteckt, dann stellt sich die Frage, warum er zurückgekommen ist«, erwiderte Cady. »Er hat das perfekte Schachmatt erreicht, den einzig sicheren Weg, die Jagd auf ihn zu beenden, denn wir hätten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Warum sollte er also wiederkommen?«
»Arroganz«, sagte Jund.
»Vielleicht will er zurück ins Rampenlicht«, warf Agent Liz Preston ein. »Eine kleine Zugabe. Sie wissen ja, diese Sadisten kriegen nie genug.«
»Er ist alles andere als der typische Sadist. Der Hundesohn hat dreidimensionales Schach gespielt, während wir uns mit Dame abmühten.«
»Vielleicht hat das Spiel für ihn nie wirklich aufgehört«, sinnierte Agent Evans. »Sie haben ja selbst gesagt, dass man alles an dem Fall neu überdenken muss.«
Cady nickte nachdenklich.
»Das verstehe ich nicht, Drew«, warf Liz Preston ein. »Nach Ihrem Albtraumszenario hätte uns der Chessman seinen Tod nur vorgespielt. Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass er noch lebt und frei herumläuft, glauben Sie nicht, dass er Gottlieb ermordet hat?«
»Im Moment weiß ich nicht, was ich glauben soll. Ich sage nur, falls er wirklich mit so großem Aufwand seinen Tod inszeniert hat, dann verstehe ich nicht, warum er wieder auf der Bildfläche erscheint.«
»Dann helfen Sie uns zu beweisen, dass es ein Nachahmungstäter war, dann können Sie sich wieder Ihren Münzen widmen«, sagte Jund mit flehendem Blick. »Doch falls wir’s mit Ihrem Albtraumszenario zu tun haben, brauchen wir Sie umso dringender, um ihm endgültig das Handwerk zu legen.«
»Wenn ich ganz ehrlich bin, Sir: Sie hätten mich vor drei Jahren feuern sollen.«
»Zugegeben, die Ermittlungen sind ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Aber die Sache hat jetzt eine dramatische Wendung genommen, und wir brauchen Ihre Hilfe, um …«
»Nein.«
»Was?«
»Ich habe Nein gesagt.«
Assistant Director Jund ließ seinen Kugelschreiber auf die aufgeschlagene Mappe fallen. »Liz, wären Sie und Agent Evans so nett, eine kleine Kaffeepause zu machen?«
Es war schwer zu sagen, wer von den beiden schneller das Weite suchte. Jund und Cady saßen allein im Konferenzsaal und starrten einander an.
»Was ist los mit Ihnen, Agent Cady?«, sprach Jund ihn an, als gehörte er immer noch zum FBI. »Sie waren mein bester Bluthund. Knallhart, wenn es sein musste.«
»Knallhart war ich nie, Sir.«
»Und ob Sie das waren.«
»Damals, in der ersten Nacht im Krankenhaus, kam Senator Farris zu mir … ins George Washington Hospital.«
»Wirklich?«, erwiderte Jund. »Der gute Senator hatte es damals auf mich abgesehen, verlangte meinen Rücktritt. Ich hatte ein inoffizielles Gespräch mit ihm, um die Sache zu bereinigen. Dass er Sie im Krankenhaus besucht hat, wusste ich nicht.«
»Besuchen ist nicht das richtige Wort. Ich lag mit einer schweren Gehirnerschütterung im Bett, die Hand zerquetscht, den Kiefer mit Drähten fixiert, ein Knie so groß wie der Mount St. Helens. Ich fühlte mich, als hätte mich ein Lastwagen überfahren.«
»Ich hab schon totgefahrene Tiere gesehen, die lebendiger aussahen als Sie in dieser Nacht.«
»Es muss so um vier Uhr nachts gewesen sein, ich lag wach und hörte laute Stimmen draußen am Gang. Im nächsten Augenblick stürmt Arlen Farris herein, starrt mich finster an und sagt: ›Ich gäbe was drum, wenn Sie jetzt da unten im Leichenhaus liegen würden‹.«
»Senator Farris ist ein Idiot und lässt gern die Muskeln spielen.«
»Wegen mir ist sein Sohn gestorben.«
»Das stimmt nicht, Drew.« Der stellvertretende Direktor holte eine dickere Mappe aus seiner Tasche und legte sie auf die aufgeschlagene Akte. »Sie waren in dieser Nacht im Haus von Patrick Farris, weil die beiden Sie belogen hatten.«
»Der Senator und der Abgeordnete haben mich hinters Licht geführt, aber ich hätte früher erkennen müssen, was gespielt wird.«
»Hellsehen gehört nicht zu unserem Job.«
»Wenn Sie sich erinnern, Sir, haben sie uns um Hilfe gebeten.«
Jund blickte auf die Akte hinunter, die er vor sich liegen hatte, und wechselte plötzlich das Thema. »Wie geht es Laura? Wieder alles im Lot?«
»Kann man so sagen«, antwortete Cady. »Sie hat im Juni geheiratet. Einen Autohändler in Akron.«
»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Jund errötend. »Tut mir leid.«
»Ein gemeinsamer Freund hat ein Blind Date für sie arrangiert. Hat wohl gefunkt.«
Der Assistant Director blickte auf Cadys linke Hand. »Sie tragen noch den Ehering.«
»Kleine Lebenslüge.« Cady stockte einen Moment, suchte nach den richtigen Worten. »Schauen Sie, Sir, ich will hier nicht Ihre Zeit verschwenden. Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, wirklich, aber ich bin einfach nicht der Richtige dafür. Nicht mehr. Sie haben ja meine Telefonnummer, falls jemand etwas von mir über den Fall von damals wissen will.«
»Ich bin ziemlich geschafft, Agent Cady. Ich hab ungefähr dreißig Stunden nicht geschlafen, also bitte verzeihen Sie, wenn meine aufmunternden Worte nicht ganz so einfühlsam rüberkommen. Wissen Sie, Cady, Sie kommen mir vor wie ein kaputter Cola-Automat mit einem ›Außer Betrieb‹-Schild dran.«
»Vielleicht will ich einfach nur meine Ruhe haben.«
»Die Schlauköpfe von unserer Verhaltensanalyseabteilung würden sagen, Sie haben ein dringendes Bedürfnis nach Erlösung, oder einfach danach, die Dinge zu verarbeiten und abzuschließen.«
Cady schüttelte schweigend den Kopf.
»Hören Sie mir erst zu«, fuhr Jund fort und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin in einer atheistischen Familie aufgewachsen, also kann ich zum Thema Erlösung nicht viel sagen. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, eine Sache abzuschließen. Das ist natürlich etwas sehr Persönliches, und ich hab meine ganz eigene Art, die Dinge zu verarbeiten: Ich setze mich im Gerichtssaal hinter den Angeklagten und starre ihm ein Loch in den Hinterkopf. Nach einer Weile spürt er meinen Blick und dreht sich um. Das klappt immer. Und dann glotze ich ihn an wie Stan Laurel höchstpersönlich.«
»Sie meinen den von Laurel und Hardy?«, fragte Cady verwirrt.
»Meine Stan-Laurel-Nummer ist perfekt, Agent Cady. Perfekt. Damit verschaffe ich dem Kerl den Eindruck, dass ihn einer geschnappt hat, der nicht mehr Grips hat als ein hirnamputierter Hamster. Erinnern Sie sich an den Hundezwingermörder vor zehn Jahren? Beim Prozess drehte er sich immer wieder zu mir um, weil er’s gar nicht glauben konnte. Ich hatte den Mund aufgeklappt und sah aus wie der komplette Trottel. Als sie ihn an diesem Nachmittag zurück in seine Zelle brachten, versuchte er, sich die Pulsadern durchzubeißen. Ich stell mir gern vor, dass ich ihn so weit gebracht habe. Ich weiß, das klingt für die meisten ziemlich geisteskrank, aber so finde ich meine Ruhe. So kann ich nachts schlafen.«
Cady ließ Junds Worte einige Augenblicke einwirken, immer noch mit dem Gefühl, dass das Ganze nur ein Scherz war. »Nein, Sir«, sagte er schließlich kopfschüttelnd, »es geht mir nicht darum, einen Abschluss zu finden.«
»Oh doch, ich glaube schon«, beharrte der Assistant Director, beugte sich vor und schlug zur Betonung mit der Hand auf die Aktenmappe. »Sie hatten damals das Gefühl, dass er uns entwischt ist, dass er seinen Tod geschickt inszeniert hat. Das heißt, es hat drei Jahre in Ihnen gebrodelt, drei Jahre voller Zweifel und Fragezeichen. Falls es kein Nachahmungstäter ist, können Sie uns helfen, den Hurensohn zu schnappen, Agent Cady, und dieses Kapitel für sich abschließen.«
»Sir …«
»Nein, Agent Cady. Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie die Ermittlungen leiten. Das übernimmt Liz Preston, fürs Erste jedenfalls. Sie bleiben im Hintergrund, haben nichts zu tun mit den Medien.«
»Und was soll ich dann tun?«
»Es geht nicht um Schwerarbeit. Sie sollen mit Liz zusammenarbeiten und die Hinweise im Gottlieb-Fall prüfen. Das wird nicht lange dauern, weil wir nicht viel haben. Schauen Sie, ob die Fakten für einen Copycat-Killer sprechen.«
»Irgendwie glaube ich nicht so recht, dass Sie mich dafür haben kommen lassen.«
»Ich brauche Sie für den Fall der Fälle.«
»Was soll das heißen?«
»Falls es doch kein Nachahmungstäter war, falls der Chessman tatsächlich noch lebt und uns an der Nase herumgeführt hat, dann weiß keiner mehr über den Fall als Sie. Dann müssten Sie eine Zeitreise in die Vergangenheit machen und den einen Hinweis finden, den wir übersehen haben. Etwas, das ihm das Genick bricht oder ihm die Giftspritze einbringt.«
»Sie wollen, dass ich Cold-Case-Ermittlungen starte?«
»Nach dem Tod von Patrick Farris war die Sache abrupt zu Ende. Der Chessman war tot, also wurden die Ermittlungen eingestellt. Aber wenn wir uns geirrt haben …« Der AD ließ seine Worte in der Luft hängen.
»Dann ist wieder alles offen – ein Cold Case«, sagte Cady nachdenklich.
Jund stand auf und nahm die FBI-Akte vom Schreibtisch. »Lösen Sie den Fall aus der Vergangenheit, und wir fangen den verdammten Mörder in der Gegenwart.«
Assistant Director Jund hielt ihm die Chessman-Akte hin.
Cady nahm sie entgegen.
Jund wollte noch etwas sagen, als es plötzlich klopfte und die Sekretärin mit dem finsteren Blick in der Tür stand.
»Tut mir leid, dass ich störe, Director, aber die Washington Post vermutet, dass hinter Gottliebs Tod der Chessman stecken könnte. Ein Reporter möchte eine Stellungnahme.«
Cady saß in seinem Zimmer im Embassy Suites Hotel und wunderte sich immer noch darüber, wie schnell ihn Assistant Director Jund rumgekriegt hatte. Der AD ließ ihn einen Arbeitsvertrag und mehrere Vertraulichkeitserklärungen unterschreiben, ehe er ihn zu einer blonden Assistentin namens Penny Decker schickte, die Cady einen Ausweis ausstellte und ihm den Zugang zum FBI-Netzwerk ermöglichte, damit er Jund seine Berichte schicken konnte.
Man wies ihm ein Kämmerchen zu, kaum größer als eine Briefmarke, das er benutzen konnte, wenn er im Haus war. Cady hatte sich gleich dorthin begeben und die Gottlieb-Akte gelesen. Die gläserne Dame deutete auf einen Zusammenhang mit den früheren Morden hin, zumal auch in diesem Fall kein Einbruchsdiebstahl vorlag. Doch der AD hatte recht: Aufgrund der vorliegenden Hinweise ließ sich weder beweisen noch ausschließen, dass hier ein Copycat-Killer am Werk war. Cady schickte Agent Preston eine E-Mail, in der er genau das festhielt, und verließ das Büro. Als er im Hotel eincheckte, teilte ihm die Rezeptionistin mit, dass sein Zimmer bereits am Abend zuvor für eine Woche reserviert worden war.
Cady schüttelte erneut den Kopf über Roland Jund. Unglaublich, dass der Mann immer wieder bekam, was er wollte.
Die Chessman-Akte wartete auf dem Couchtisch vor ihm. Er erinnerte sich an jenen ersten Morgen, an das grauenhafte Bild, das sich ihm in der Anwaltskanzlei Sanfield & Fine bot. Cady war nur als Beobachter dort gewesen, ohne zu ahnen, dass das erst der Anfang war und welche Schäden er an Leib und Seele davontragen sollte …
Er schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte sich zu konzentrieren. Er zählte bis drei, dann öffnete er die Augen und die Mappe auf dem Tisch.
Als Erstes fand er eine Zusammenfassung der Ereignisse, die er selbst vor drei Jahren geschrieben hatte. Danach folgte in einer eigenen Mappe der Ermittlungsbericht des Metropolitan Police Department über den Mord an K. Barrett »Barry« Sanfield. Die Kripo hatte tadellose Arbeit geleistet, war aber nicht unglücklich, die heiße Kartoffel nach dem Mord an den Zalentine-Zwillingen an das FBI weiterreichen zu können. Der Fall barg einigen politischen Zündstoff, und das MPD begnügte sich nur zu gern mit dem Beifahrersitz und überließ es anderen, im grellen Licht der Medien zu stehen.
Cady hatte Verständnis für diese Haltung.
Der Bericht des MPD zum Mordfall Sanfield begann mit Bildern des bekannnten Anwalts aus besseren Tagen, zwei Fotos, offenbar zu Werbezwecken aufgenommen, von der Art, wie man sie auf einer Webseite fand, in Artikeln oder Fachzeitschriften. Die Fotos, die danach folgten, würden nie in einer juristischen Zeitschrift erscheinen. Es waren jene, die ein Fotograf der Forensikabteilung geschossen hatte.
K. Barrett Sanfield war der Staranwalt in Washington, in Insiderkreisen auch als »der Zauberer« bekannt. Zu ihm kamen die Politiker mit den dicksten Brieftaschen, um gewisse Situationen aus der Welt zu schaffen. Sanfield hatte zu jenen gehört, die Präsident Clinton in der Lewinsky-Affäre beraten hatten, bevor das berühmte blaue Kleid sämtliche Argumente obsolet machte. Sanfield hatte außerdem bei den Präsidentschaftswahlen im November 2000 hinter den Kulissen für Al Gore gearbeitet, als es zu dem Auszählungschaos im Bundesstaat Florida kam. Diese beiden Situationen hatten sich nicht nach seinen Vorstellungen entwickelt, im Gegensatz zu den allermeisten Fällen, die Sanfield übernommen hatte. Deshalb zögerten seine in Bedrängnis geratenen Klienten auch nicht, das Honorar zu zahlen, das er für seine Dienste verlangte.
Sanfield hatte sich im Jahr 1976 als Wahlkampfmanager für Arlen Farris betätigt, der daraufhin für den Bundesstaat Delaware in den Senat einzog. Farris war im Sog von Jimmy Carter nach oben gekommen, hielt sich jedoch einige Jahrzehnte länger als der Expräsident. Sanfield war Farris nach Washington gefolgt und gründete die Anwaltskanzlei Sanfield & Fine. Das Geschäft florierte, und Anfang der Neunziger konnte Sanfields Kanzlei einen Seitenflügel im zwölften Stock eines der renommiertesten Geschäftshochhäuser beziehen: One Franklin Square.
Der inzwischen geschiedene, kinderlose Sanfield war erst am folgenden Morgen aufgefunden worden. Stephen Fine, Sohn von Sanfields Partner und Freund Gerald Fine, war als überzeugter Workaholic wie jeden Tag um halb sechs Uhr früh im Büro erschienen. Er sah die geschlossene Tür von Sanfields Büro und wunderte sich, dass ihm jemand zuvorgekommen war – noch dazu sein Patenonkel Barry. Er machte sich einen extrastarken Kaffee und warf einen Blick in Sanfields Büro, um Guten Morgen zu sagen. Als der Juniorpartner die Tür öffnete, fiel ihm die Kaffeetasse aus der Hand, und er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Im Fahrstuhl drückte er hastig die Taste für das Erdgeschoss, rief mit seinem Handy den 911-Notruf und flüchtete sich in die Wachzentrale im Erdgeschoss.
Cady war wenige Stunden später am Tatort eingetroffen. Seine Anwesenheit hatte zwei Gründe: Einerseits sollte er die örtliche Polizei unterstützen, andererseits den Einsatz des FBI-Kriminallabors zur Spurensicherung ermöglichen. Vor allem aber sollte er Assistant Director Jund jederzeit über den Fall auf dem Laufenden halten. Cady vermutete, dass bereits jetzt eine ganze Schar von Politikern dem Assistant Director im Nacken saß.
»Ich dachte, Barrys Mörder ist noch im Büro«, berichtete Stephen Fine beim ersten Gespräch, das Cady mit ihm geführt hatte. Als er jetzt die Tatortfotos von K. Barrett Sanfield vor sich sah, fragte sich Cady, ob Fine wohl immer noch jeden Morgen als Erster im Büro erschien.
Das MPD kam zu dem Schluss – und Cady sah es genauso –, dass sich das Ganze folgendermaßen zugetragen haben musste: Sanfield war von seinem Sessel aufgestanden, wahrscheinlich um sich gegen den oder die Angreifer zur Wehr zu setzen. Es war ein kurzer Kampf gewesen, Stanfield wies keine Schnittwunden an den Händen auf, das Messer war unterhalb des Solarplexus eingedrungen und hatte den Herzbeutel und den rechten Vorhof durchstoßen. Der Tod musste fast augenblicklich eingetreten sein. Die Polizei vermutete, dass sich Sanfield zunächst nicht bedroht gefühlt hatte, vielleicht weil ihm der Täter nicht unbekannt war.
Die Eintrittswunde deutete darauf hin, dass der Mörder Rechtshänder war. Bei der Stichwaffe handelte es sich wahrscheinlich um ein Springmesser, wie sie seit den späten Fünfzigerjahren verboten waren. Der Täter war zwar leider nicht so freundlich gewesen, die Waffe am Tatort zurückzulassen, doch die Eintrittswunde und die inneren Verletzungen des Opfers verrieten, dass der Killer nach dem tödlichen Stoß die Wunde noch mit dem Messer vergrößert hatte. So bizarr das erscheinen mochte – das Vorgehen des Täters folgte doch einer gewissen Logik. Nachdem Sanfield in seinen Sessel zurückgesunken war, hatte der Täter die Schachfigur – eine gläserne Dame – mit der Krone voran in die Öffnung unterhalb des Solarplexus gedrückt. So etwas sah man nicht jeden Tag.
Die Spurensicherer des Metropolitan Police Department sammelten überall in Sanfields Büro Fingerabdrücke: an den Türgriffen, dem alten Mahagonischreibtisch, der Ledercouch, dem Aeron-Bürosessel von Herman Miller, der Bar, den Scotchflaschen, überall. Das MPD verglich die Fingerabdrücke rasch und ohne großes Aufhebens mit denen von Klienten, Hauspersonal und Mitarbeitern. Die Betroffenen waren damit einverstanden, unter der Bedingung, dass ihre Abdrücke nicht in irgendeiner Datenbank landeten. Leider blieben nach dem Abgleich keine unbekannten Fingerabdrücke übrig.
Die Sicherheitsfirmen im Haus konnte jeder Mieter nach eigener Wahl beauftragen. Sanfield & Fine ließ sich von der Firma Cadence Security ein simples, aber effektives Zugangskontrollsystem zu seinen Büros installieren. Der Zugang erfolgte mit Hilfe einer Ausweiskarte, die man nicht einmal aus der Brieftasche oder Handtasche holen musste, wenn man sie an den Kartenleser hielt. Den Rest erledigte der Chip der Einlasskarte. War man zum Eintritt befugt, so wurde die Tür entriegelt. Wenn nicht, hatte man Pech gehabt.
Interessant wurde es, als man anhand der elektronischen Überwachung feststellte, dass Debbie Varner, eine neue Rechtsassistentin, an jenem Abend um 20.42 Uhr die Kanzlei betreten hatte. Die Messung der Körpertemperatur des Toten hatte ergeben, dass Sanfield etwa um diese Zeit gestorben war.
Den Kripobeamten, die Ms. Varner sofort befragten, gestand die junge Frau unter Tränen, ihre Karte verlegt zu haben. Am Morgen nach dem Mord sei sie mit Peg Maynard hereingekommen, einer anderen jungen Rechtsassistentin. Sie habe jedenfalls vorgehabt, den Verlust zu melden, falls die Karte nach zwei, drei Tagen nicht wieder aufgetaucht wäre. Ihr Alibi für den Abend erwies sich als wasserdicht: Sie war zusammen mit ihrem Mitbewohner und Partner zwischen 19.30 Uhr und 21 Uhr in einer Hundeschule in der Stadt gewesen, in Gegenwart vieler Zeugen, nicht nur vierbeiniger.
Cady hatte sich damals schon gedacht, dass diese beiden jungen Rechtsassistentinnen – egal, wie die Sache ausgehen würde – keine große Zukunft bei Sanfield & Fine haben würden.
Außerdem war Ms. Varners Karte um 20.58 Uhr für den Aufzug benutzt worden. Vom Empfangsbereich brauchte man eine knappe Minute durch die Gänge zu Sanfields Eckbüro. Wenn man die Wege im Bürohaus einkalkulierte, blieben dem Täter etwa vierzehn Minuten, um Sanfield zu ermorden, die Schachfigur in die Wunde zu stecken und zum Aufzug zurückzukehren. Cady fragte sich, warum sich der Mörder so lange am Tatort aufgehalten hatte. Schließlich vergrößerte sich mit jeder Sekunde das Risiko, erwischt zu werden. Hatte der Killer Sanfield gekannt? War das der Grund, warum sich keine Abwehrspuren an Sanfields Händen befunden hatten? Oder hatte der Täter noch etwas gesucht? Zu viele Fragen auf einmal.
Ein Durchbruch konnte erzielt werden, als Detective Bruce Pearl vom MPD zusammen mit dem rotgesichtigen und ziemlich angesäuerten Chef von Cadence Security, Dick Heath – selbst ehemaliger FBI-Mann – die Aufnahmen der Sicherheitskameras durchging, die an allen Ein- und Ausgängen des Hochhauses installiert waren. Die Bilder der Kameras wurden auf den Monitoren in der Wachzentrale verfolgt.
Heath, Pearl und ein Team von Sicherheitsleuten überprüften das Bildmaterial vom vergangenen Abend. Das Gebäude war zu dieser späten Stunde bereits so gut wie leer gewesen, hin und wieder sah man noch einen Workaholic aus dem Haus kommen. Heath erkannte etwas auf dem Bildschirm, als die Zeitangabe rechts unten 21.01 Uhr anzeigte, was haargenau in den Zeitrahmen passte, der durch Ms. Varners Einlasskarte vorgegeben war. Der Bildschirm zeigte einen gebeugt gehenden Mann mit Baseballkappe, der irgendetwas in der rechten Hand trug und das Haus durch den Ausgang auf der Nordostseite verließ. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts tauchte er auf Heaths Monitor auf, als wäre er unsichtbar durch das Gebäude gestreift, ehe ihn diese eine Kamera einfing. Sein Gesicht war nach unten gerichtet, von der Kamera abgewandt. Eines jedoch war deutlich zu erkennen: Die Gestalt hinkte.
Heath rief Detective Pearl und die Mitarbeiter von Cadence zu sich und spielte die Bilder noch einmal ab, die den Unbekannten beim Verlassen des Hauses zeigten.
»Ach Quatsch«, sagte einer der Nachtwächter. »Das ist doch nur der Junge.«
Cady blätterte in dem Bericht zu einem besonders interessanten Punkt weiter, dem Protokoll des Gesprächs, das Detective Pearl mit jenem Sicherheitsmann von Cadence geführt hatte, einem Bodybuilder namens Ritter, der den Jungen gekannt hatte.
»Wie lange hat sich der Mann schon hier herumgetrieben?«, fragte Detective Pearl.
»Zum ersten Mal ist er vor ungefähr einem Monat oder sechs Wochen aufgetaucht. Er hatte einen Klumpfuß oder so was und eine verkrüppelte Hand, in der er immer so ein Trinkpäckchen hielt, wie sie meine Kinder mit diesen abgepackten Lunchables kriegen.«
»Haben Sie mal mit ihm gesprochen?«
»Ja. Als ich ihn zum ersten Mal vor dem Eingang hin und her hinken sah, ging ich rüber und fragte ihn, ob ich ihm irgendwie helfen kann.«
»Was hat er gesagt?«
»Wissen Sie, Detective, er kam mir ein bisschen zurückgeblieben vor. Er wirkte aber recht zufrieden, hat immer genickt, und er hatte eine feuchte Aussprache, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich hielt ein bisschen Abstand, als er zu sprechen begann. Er sagte irgendwas vom Metrobus, und ich vermutete, dass er auf den Bus um fünf nach neun wartete. Der Junge kam ungefähr jeden zweiten Abend für eine Stunde vorbei.«
»Sie nennen ihn immer den Jungen. Was glauben Sie, wie alt er war?«
»Also, so jung war er eigentlich gar nicht. Ich hab ihn nur für mich so genannt, genau wie die Behinderten bei den Paralympics für mich einfach Jungs sind. Und weil er immer diese Trinkpäckchen hatte. Schwer zu sagen, aber er war irgendwo zwischen Anfang zwanzig und vierzig.«
»Wie sah er aus?«
»Er war jedenfalls weiß«, antwortete Ritter. »Ich bin eins achtundsiebzig, und er war ein bisschen größer als ich, obwohl er immer gebeugt ging, also war er vielleicht eins fünfundachtzig, wenn er aufrecht stand. Hatte schwarze Haare, fettige Haut. Und er trug immer eine Nationals-Baseballkappe, egal ob’s regnete oder die Sonne schien. Und drunter so ein Haarnetz.«
»Ein Haarnetz?«
»Ich dachte mir, er arbeitet vielleicht in einem Restaurant hier in der Straße, wo er Zwiebelringe schneiden darf oder sonst irgendwas Leichtes macht, und dass er sich hier die Zeit vertreibt, bis sein Bus kommt.«
»Haben Sie oft mit ihm gesprochen?«
»Nur das eine Mal, Detective. Um ehrlich zu sein, er tat ja keinem weh, und ich wollte mich nicht noch mal vollsabbern lassen, also ließ ich ihn einfach in Ruhe, wenn er vorbeikam und durchs Fenster reinguckte oder bei den Aufzügen rumspielte. Ich glaube, die anderen haben’s genauso gemacht. Er tat uns irgendwie leid, wissen Sie.«
»Er hat bei den Aufzügen rumgespielt?«
»Ja, manchmal drückte er auf die Knöpfe, ging rein und raus. Er hat ja keinem was getan, und um diese späte Uhrzeit hätte er eine Karte gebraucht, um wirklich den Aufzug in Gang zu bekommen.«
Heath und Detective Pearl konnten die wenigen Personen ausfindig machen, die außer dem Unbekannten auf den Aufnahmen dieses Abends zu sehen waren, doch der Junge ließ sich nicht wieder blicken. Die Busfahrer auf dieser Strecke erinnerten sich nicht an einen geistig behinderten hinkenden Mann mit einer Nationals-Baseballkappe. Pearl schickte seine Leute zu allen Restaurants im Umkreis von sechs Blocks, doch in keinem arbeitete ein Mann, auf den die Beschreibung passte, als Küchenhilfe oder Tellersammler.
Cady lehnte sich in seinem Hotelstuhl zurück, schloss die Augen und stellte sich Sanfield an jenem Abend vor: allein in seinem Büro, vielleicht schon kurz davor, für heute Schluss zu machen, als er eine merkwürdige Stimme vom Flur hört. Er schaut auf und sieht einen geistig behinderten jungen Mann mit einer Baseballkappe in der Tür stehen. Der Typ trägt Latexhandschuhe – der Rechtsmediziner hatte Spuren von Maisstärkepulver im Blut auf Sanfields Hemd gefunden – und murmelt vielleicht irgendetwas Unverständliches über den Abfalleimer im Büro. Sanfield sagt dem Kerl, dass die Papierkörbe schon vor einer Stunde geleert wurden. Doch der Junge hinkt auf den Schreibtisch zu, um selbst nachzusehen. Sanfield fühlt sich noch nicht bedroht. Wie den meisten Leuten ist ihm der Kontakt mit einem Behinderten ein bisschen unangenehm, doch er hat keine Angst vor ihm. Der Typ geht an Sanfields Papierkorb vorbei, plötzlich ohne zu hinken und mit einem Messer in der Hand. Jetzt steht Sanfield auf, um sich gegen den Angreifer zu wehren, doch es ist schon zu spät. Viel zu spät für Sanfield. Vielleicht ist der letzte Gedanke des Anwalts: Mein Gott, jetzt bringt mich dieser Mongo um …
Cady machte sich eine Notiz, morgen Detective Pearl anzurufen, einen kleingewachsenen Mann, nicht viel mehr als eins sechzig groß, mit buschigem grauem Haar. Was ihm an Körpergröße fehlte, machte Pearl mit seinem Intellekt mehr als wett. Cady erinnerte sich noch gut an ihr letztes Gespräch vor drei Jahren.
»Der Typ wird verdammt schwer zu fassen sein«, hatte der Inspektor der Mordkommission gemeint.
»Warum?«
»Der Fall ist ein typisches Locked-Room-Mystery, wie es Edgar Allan Poe nicht besser hätte schreiben können. Wenn ich einen Typen in einem so gut gesicherten Haus ausknipsen wollte, in dem es von Wächtern nur so wimmelt«, sagte Pearl, »dann hätte ich es genauso gemacht.«