Buch
Zoe Collins hütet ein dunkles und schreckliches Geheimnis, das sie niemandem anvertrauen kann, den sie kennt. Sie hat eine Schuld auf sich geladen, mit der sie einfach nicht leben kann. Als sie die Möglichkeit bekommt, mit einem verurteilten Mörder, der auf die Todesstrafe wartet, Kontakt aufzunehmen, zögert sie nicht und beginnt ihm von ihren Problemen zu erzählen. Offen und ehrlich schreibt sie einen Brief nach dem anderen. Über Lügen, Betrug und darüber, dass sie nicht weiß, wie sie je damit klarkommen soll, das Leben eines Menschen auf dem Gewissen zu haben und auch noch ungestraft davongekommen zu sein. Wie soll sie sich jemals selbst dafür vergeben können?
Weitere Informationen zu Annabel Pitcher sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Annabel Pitcher
Ketchuprote Wolken
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Sibylle Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Ketchup Clouds«
bei Indigo, einem Verlag der Orion Publishing Group Ltd, London.
1. Auflage
Copyright © 2012 by Annabel Pitcher
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Masterfile (RM)/Siephoto;
FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-11289-9
www.goldmann-verlag.de
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Für meinen Mann und besten Freund, S. P.,
in großer Liebe und mit herzlichstem Dank.
Wie bitter, wie schlimm, wie irr es war –
und doch, wie war es süß!
Robert Browning, Geständnisse
1 Fiction Road
Bath
1. August
Lieber Mr S. Harris,
bitte beachten Sie den roten Fleck oben links gar nicht. Es ist nur Marmelade, kein Blut, aber Ihnen muss ich den Unterschied ja bestimmt nicht erklären. Es war keine Marmelade von Ihrer Frau, was die Polizei auf Ihrem Schuh fand.
Die Marmelade ist von meinem Sandwich. Himbeermarmelade, selbstgekocht, von meiner Oma. Sie ist vor sieben Jahren gestorben, und diese Marmelade war das Letzte, was sie gemacht hat. Na ja, wenn man davon absieht, dass sie wochenlang im Krankenhaus lag und an eine dieser Herzmaschinen angeschlossen war, die piep piep machen, wenn man Glück hat, und piiiiiiiiiiieeeeeeeeeeep, wenn man Pech hat. So hörte sich das vor sieben Jahren an. Piiiiiiiiiiieeeeeeeeeeep. Sechs Monate später kam meine kleine Schwester zur Welt, und mein Dad hat sie nach Oma benannt. Dorothy Constance. Als mein Dad nicht mehr so traurig war, hat er den Namen abgekürzt. Meine Schwester ist klein und rund, und deshalb nannten wir sie dann Dot, wie »Punkt«.
Meine andere Schwester, Soph, ist zehn. Beide haben lange blonde Haare und grüne Augen und spitze Nasen, aber Soph ist groß und dünn und hat dunklere Haut, so als hätte man Dot ausgerollt und zehn Minuten im Ofen gebacken. Ich sehe anders aus. Braune Haare, braune Augen, mittelgroß, mittelschwer. Gewöhnlich. Denke ich mir. Wer mich sieht, würde mein Geheimnis nie erraten.
Es fiel mir dann schwer, das Sandwich aufzuessen. Die Marmelade war nicht schlecht oder so; in sterilisierten Gläsern hält sie jahrelang. Das behauptet Dad jedenfalls, wenn Mum die Nase rümpft. Ihre Nase ist auch spitz. Ihre Haare haben dieselbe Farbe wie die meiner Schwestern, sind aber kürzer und ein bisschen wellig. Dads Haare ähneln meinen, abgesehen von den grauen Stellen über den Ohren. Und er hat eine Heterochromie, was bedeutet, dass sein eines Auge braun und das andere heller ist. Wenn die Sonne scheint, wirkt es blau, bei Wolken grau. Er hat den Himmel im Auge, habe ich mal gesagt. Und dann hat Dad noch solche Grübchen in der Mitte der Wangen. Ich weiß nicht, ob das alles wichtig ist, aber ich denke mir eben, Sie sollten sich meine Familie vorstellen können, bevor ich Ihnen alles andere erzähle.
Ich bin nämlich wild entschlossen, Ihnen alles zu erzählen. Schließlich sitze ich nicht aus Spaß in diesem Schuppen. Es ist eiskalt hier drin, und Mum würde mich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich nicht im Bett bin, aber es ist ein guter Platz, um diesen Brief zu schreiben. Der Schuppen ist von ein paar Bäumen verdeckt. Fragen Sie mich nicht, was für Bäume das sind. Sie haben jedenfalls große Blätter, die im Wind rauschen. Schschwiiischsch. Oder so ähnlich hört sich das an.
Weil ich Marmelade an den Fingern habe, ist mein Stift klebrig. Die Schnurrhaare der Katzen sind es jetzt bestimmt auch. Lloyd und Webber miauten wie wild, als ich das Sandwich über die Hecke warf. Sie konnten wohl ihr Glück kaum fassen, als ein Sandwich vom Himmel fiel. Ich hatte keinen Hunger mehr. Offen gestanden hatte ich auch vorher keinen und hatte mir das Sandwich nur gemacht, damit ich nicht mit dem Brief anfangen musste. Das ist nicht gegen Sie gerichtet, Mr Harris. Es ist eben nicht leicht für mich. Und ich bin müde. Seit dem 1. Mai habe ich nicht mehr richtig geschlafen.
Hier draußen besteht jedenfalls keine Gefahr, dass ich eindöse. Der Stapel Dachziegel, auf dem ich sitze, drückt an den Oberschenkeln, und durch einen Spalt unter der Tür weht kalte Luft herein. Ich muss mich beeilen, weil die Batterie von meiner Taschenlampe blöderweise bald den Geist aufgibt. Zuerst hatte ich sie mir zwischen die Zähne geklemmt, aber dann tat mir der Mund weh. Jetzt liegt sie auf dem Fensterbrett neben einem Spinnennetz. Ich gehe normalerweise nicht in diesen Schuppen, vor allem nicht nachts um zwei, doch heute ist die Stimme in meinem Kopf lauter denn je. Ich sehe alles wieder vor mir, und mein Puls rast rast rast wie verrückt. Wenn mein Herz an eine dieser Krankenhausmaschinen angeschlossen wäre, würde das Ding bestimmt zerspringen.
Als ich aus dem Bett stieg, klebte mir der Schlafanzug am Rücken, und mein Mund war trocken wie die Wüste. Da habe ich mir Ihren Namen und Ihre Adresse in die Tasche meines Morgenmantels gesteckt und bin hier rausgeschlichen. Und nun sitze ich vor diesen ganzen leeren Blättern und will Ihnen unbedingt mein Geheimnis anvertrauen, weiß aber nicht, wie ich anfangen soll.
Wenn man schreibt, kann man ja nicht sprachlos sein, aber wenn es so wäre, wenn meine Hand eine große Zunge wäre, dann wäre sie auf jeden Fall so verschlungen wie diese komplizierten Knoten, die nur Pfadfinder beherrschen. Oder dieser Kerl aus dem Fernsehen, der mit der wilden Mähne, der Survival-Touren macht und dann irgendwo im Dschungel auf einem Baum schläft und zum Abendessen Schlangen isst. Aber da fällt mir ein, dass Sie wahrscheinlich gar nicht wissen, wen ich meine. Haben Sie Fernsehen im Todestrakt? Und wenn ja, schauen Sie dann auch britische Sendungen oder nur amerikanische?
Na ja, Fragen an Sie sind eigentlich sinnlos. Selbst wenn Sie mir schreiben wollten, ginge das nicht, denn die Adresse auf dem Brief ist erfunden. Es gibt nirgendwo in England eine Fiction Road. Sie brauchen sich also nicht einzubilden, dass Sie aus dem Gefängnis türmen und aus heiterem Himmel hier auftauchen und Ausschau halten könnten nach einem Mädchen namens – nun, sagen wir mal, ich heiße Zoe.
Ich habe Ihre Kontaktdaten auf der Website eines Todestrakts gefunden. Und auf die bin ich gekommen durch eine Nonne, und ich hätte nie gedacht, dass ich mal so einen Satz schreiben würde, aber mein Leben ist ganz anders geraten, als ich mir das vorgestellt hatte. Auf der Website war ein Foto von Ihnen, und ich fand, Sie sahen ziemlich nett aus für jemanden, der einen orangen Overall tragen muss und einen kahlrasierten Kopf, eine dicke Brille und eine große Narbe auf der Wange hat. Ich habe mir auch noch andere Profile angeschaut. Es gibt Hunderte von Verbrechern, die sich eine Brieffreundschaft wünschen. Hunderte. Aber Sie sind mir aufgefallen. Diese Geschichte über Ihre Familie, die Sie enterbt hat, und dass Sie elf Jahre lang keine Post bekommen haben. Und dann die ganze Sache, dass Sie mit Ihrer Schuld nicht fertigwerden.
Ich glaube nicht an Gott, aber ich bin zur Beichte gegangen, um meine Schuld loszuwerden. Vorher hatte ich mehrmals bei Wikipedia nachgelesen, dass der Priester sich auf keinen Fall an die Polizei wenden darf. Aber als ich dann im Beichtstuhl saß und seine Umrisse durch das Gitter sah, brachte ich keinen Ton heraus. Ich konnte mich nicht einem Mann anvertrauen, der sein ganzes Leben lang nichts falsch gemacht hat außer sich vielleicht mal an einem schlechten Tag einen Schluck zu viel vom Kommunionswein zu genehmigen. Es sei denn, er war einer dieser Priester, die mit Kindern rummachen. Dann wäre er natürlich im Bilde gewesen über die Sünde, aber da ich das nicht genau wusste, bin ich kein Risiko eingegangen.
Bei Ihnen ist das viel ungefährlicher. Und ehrlich gesagt: Sie erinnern mich ein bisschen an Harry Potter. Ich weiß nicht mehr, wann das erste Buch erschien, vor oder nach Ihrem Mordprozess, aber falls Sie es nicht kennen: Harry Potter hat eine runde Brille und eine Narbe, und Sie haben eine runde Brille und eine Narbe, und er hat auch nie Post erhalten. Doch dann bekam er plötzlich einen geheimnisvollen Brief, in dem stand, dass er ein Zauberer sei, und von da war sein Leben wundersam verwandelt.
Wenn Sie das in Ihrer Zelle lesen, werden Sie sich wahrscheinlich fragen »Erfahre ich jetzt auch, dass ich Zauberkräfte habe?«, und ich denke mir, dass Sie dann bestimmt jede einzelne Stichwunde im Körper Ihrer Frau heilen wollen. Tut mir jetzt echt leid, dass ich Sie enttäuschen muss, ich bin eben nur ein gewöhnliches Mädchen, nicht die Leiterin einer Schule für Hexerei und Zauberei. Aber glauben Sie mir, wenn dieser Kuli ein Zauberstab wäre, dann würde ich Ihnen die Kraft geben, Ihre Frau wieder zum Leben zu erwecken weil ich nämlich weiß, wie Sie sich fühlen.
Bei mir war es keine Frau. Sondern ein Junge. Und ich habe ihn umgebracht. Auf den Tag genau vor drei Monaten.
Und wollen Sie wissen, was das Schlimmste ist? Niemand hat es herausgefunden. Niemand weiß, dass ich schuld war an seinem Tod. Keiner ahnt etwas. Ich bin ungestraft davongekommen und schaffe es nicht, Mum oder Dad oder meinen Schwestern davon zu erzählen, weil ich nicht enterbt werden will. Und ich will auch nicht ins Gefängnis, obwohl ich es verdient hätte. Sie sehen also, Mr Harris, ich bin viel weniger mutig als Sie, und deshalb sollten Sie sich auch nicht schlecht fühlen, wenn Sie dann die Todesspritze kriegen. Auf der Website steht, dass Sie sich selbst niemals vergeben werden, aber nun wissen Sie wenigstens, dass es Menschen auf der Welt gibt, die noch viel schlimmer sind als Sie. Sie waren mutig genug, Ihr Verbrechen einzugestehen, während ich so feige bin und Ihnen nicht mal meinen wahren Namen schreibe.
Sie können mich also Zoe nennen. Und wir tun mal so, als wohnte ich im Westen von England, irgendwo in der Nähe von Bath vielleicht. Das ist eine alte Stadt mit historischen Gebäuden und vielen Touristen, die am Wochenende die Brücke fotografieren. Alles andere, was ich schreibe, ist wahr.
Zoe
1 Fiction Road
Bath
12. August
Lieber Mr Harris,
wenn Sie diesen Brief geöffnet haben, heißt das wohl, dass Sie sich für das interessieren, was ich Ihnen schreibe. Das ist nett, aber ich nehme es nicht als ein riesengroßes Kompliment, denn – seien wir mal ehrlich – Sie müssen sich doch fürchterlich langweilen allein in Ihrer Zelle, wo Sie sich nur mit Ihren Gedichten beschäftigen können. Die ich übrigens richtig gut finde, vor allem das Sonett über Todesspritzen. Ich habe die Gedichte im Internet gelesen, und das über die Theateraufführung hat mich traurig gemacht. Als Dorothy den gelben Ziegelsteinweg beschritt, hatten Sie bestimmt noch keine Ahnung, dass Sie achtundvierzig Stunden später einen Mord begehen würden.
Komisch, ich kann das schreiben, ohne mit der Wimper zu zucken. Das wäre sicher anders, wenn ich nicht auch jemanden umgebracht hätte. Früher hätte ich bestimmt nichts mit Ihnen zu tun haben wollen, aber jetzt sitzen wir im selben Boot. Genau im selben Boot. Sie haben jemanden getötet, den Sie eigentlich lieben sollten, und ich habe jemanden getötet, den ich eigentlich lieben sollte, und wir verstehen beide den Schmerz und die Angst und die Traurigkeit und die Schuld und all die hundert anderen Gefühle, für die es in unserer Sprache nicht mal Worte gibt.
Alle glauben, dass ich trauere, und stellen mir deshalb nicht allzu viele Fragen, wenn ich blass und dünn bin und Augenringe und fettige Haare habe. Neulich hat Mum mich gezwungen, zum Friseur zu gehen und mir die Haare schneiden zu lassen, aber ich saß nur da und starrte die anderen Kunden an und fragte mich, wie viele von denen wohl auch Leichen im Keller hatten. Die Nonne hatte nämlich gesagt, dass kein Mensch perfekt ist und jeder gute wie böse Seiten hat. Jeder Mensch. Sogar Leute, von denen man es nie glauben würde, wie z. B. Barack Obama und Moderatoren vom Kinderfernsehen. Daran versuche ich mich zu erinnern, wenn die Schuldgefühle wieder so schlimm werden, dass ich nicht schlafen kann. Heute Nacht hat das leider nicht funktioniert, und deshalb bin ich wieder hier, und es ist wieder genauso kalt, doch diesmal habe ich den Spalt unter der Tür mit Dads alter Jacke abgedichtet.
An den Namen der Nonne kann ich mich nicht mehr erinnern, aber sie hatte so ein Rosinengesicht, das man sich noch als Traube vorstellen kann, weil unter all den Runzeln noch etwas Schönes war. Eine Woche vor den Sommerferien kam sie an meine Schule, um uns über die Todesstrafe aufzuklären. Sie hatte so eine ruhige Stimme, die immer ein bisschen wacklig klang, aber alle hörten richtig gut zu. Sogar Adam. Normalerweise rutscht er mit seinem Stuhl herum und wirft den Mädchen Füllerkappen an den Kopf. Aber an dem Tag konnten wir alle unsere Kapuzen unten lassen, weil niemand Blödsinn machte, und wir sperrten Augen und Ohren auf, als diese alte Dame uns von ihrem Engagement für die Abschaffung der Todesstrafe erzählte.
Sie hatte schon ganz viel gemacht. Petitionen und Protestschriften und Artikel in Zeitungen und Briefe an Verbrecher, die ihr zurückgeschrieben und alles Mögliche gestanden hatten. »Ihre Verbrechen und so?«, fragte jemand. Die Nonne nickte. »Manchmal schon. Jeder Mensch muss gehört werden.«
Da kam mir die Idee, mitten im Religionsunterricht, als die Nonne noch andere Sachen sagte, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Als ich nach Hause kam, rannte ich sofort nach oben, ohne die Schuhe auszuziehen, obwohl Mum gerade erst beige Teppiche gekauft hatte. Ich schaltete meinen Computer an und fand eine Todestrakt-Website, auf der ich dann den Button »Ja, ich bin achtzehn Jahre alt« anklickte. Die Lüge brachte den Computer nicht zum Absturz und löste auch keinen Alarm aus. Sondern führte mich direkt zu der Datenbank von Verbrechern, die Brieffreundschaften suchten, und da waren Sie, Mr Harris, auf der vierten Seite der zweite Mann links in der dritten Reihe. Und Sie sahen aus, als würden Sie nur darauf warten, meine Geschichte zu hören.
TEIL EINS
Nicht grade der originellste Titel, aber hier geht es um das wahre Leben, nicht um erfundene Geschichten, was für mich ziemliches Neuland ist. Normalerweise schreibe ich nämlich Fantasiegeschichten, und falls Sie das interessiert: Meine allerbeste bislang heißt Wischel der Wuschelklops. Darin geht es um ein blaues wuschliges Wesen, das in einer Dose gebackener Bohnen hinten im Vorratsschrank einer Familie lebt. Da wohnt es schon seit Jahren, aber eines Tages will ein Junge namens Mod (eigentlich heißt er Dom, aber er liest am liebsten alles rückwärts) gebackene Bohnen auf Toast essen und macht die Dose auf. Und da ploppt Wischel heraus auf den Mikrowellenteller.
Ich weiß ja nicht, wie lange Sie schon Gedichte schreiben, Mr Harris, aber ich will schon Schriftstellerin werden, seit ich in der Grundschule meine erste Buchbesprechung über die Fünf Freunde verfasst habe. Viereinhalb von fünf Sternen habe ich dem Buch damals gegeben, weil es spannend war und sie am Ende den Schatz gefunden haben, aber dieses Mädchen namens George, so eine Art Transvestit, sprach immer mit ihrem Hund, deshalb habe ich einen halben Stern abgezogen. Irgendwie fand ich das unrealistisch.
Jetzt scheinen hier haufenweise Sterne durchs Fenster, und jeder einzelne strahlt ganz hell. Vielleicht finden die Aliens den Planeten Erde ja deswegen so schön, aber daran merkt man, dass sie keine Ahnung haben. Es ist so still draußen, als würde die Welt die Luft anhalten, damit ich die Geschichte erzähle. Und Sie tun das bestimmt auch. Also los.
Es begann alles vor einem Jahr mit einem unerwarteten Anruf. Damals, im August, hatte ich eine ganze Woche lang versucht, genug Mut zu fassen, um Mum zu fragen, ob ich am Wochenende zu einer Party gehen dürfte. Es war nicht irgendeine x-beliebige Party. Sie fand bei Max Morgan statt, einem obercoolen Typen, und wir wollten alle noch mal richtig feiern, bevor ein paar Tage später wieder die Schule anfing. Leider lag die Chance, dass Mum es mir erlauben würde, unter einem Prozent, denn damals durfte ich einfach überhaupt nichts, nicht mal mit Lauren shoppen gehen, weil Mum fürchtete, ich könnte entführt werden oder meine Noten würden in den Keller gehen.
Um die Schule konnte man sich bei uns nicht drücken, weil Mum ihren Job als Rechtsanwältin nach Dots Geburt aufgegeben hatte und ständig darauf schaute, dass wir auch brav lernten. Wenn ich morgens aufwachte, war sie bereits zur Stelle und fragte mich, welche Fächer ich an diesem Tag hatte. Und sie war da, wenn ich zurückkam, um meine Schulaufgaben zu beaufsichtigen. Den Rest der Zeit verbrachte sie mit Hausarbeit. Unser Haus ist ziemlich groß, weshalb es viel Arbeit macht, es immer picobello sauber zu halten, aber Mum schaffte das, indem sie einen strengen Zeitplan einhielt. Selbst wenn sie im Fernsehen die Nachrichten schaute, legte sie nebenbei Wäsche zusammen und sortierte Socken. Und wenn sie in der Wanne lag und sich eigentlich entspannen sollte, polierte sie dabei die Armaturen, damit sie schön glänzten. Sie kochte auch viel, und immer nur mit den besten Zutaten. Die Eier mussten von freilaufenden Hühnern sein, und die Kuh musste im Garten Eden gelebt haben oder an irgendeinem Ort, an dem es keine Umweltverschmutzung und keine Chemikalien gab, damit ihr Fleisch nicht mit irgendwas verseucht war, das uns krank machen konnte.
Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Mr Harris, aber ich habe Ihre Mum gegoogelt (und nicht gefunden), weil ich wissen wollte, ob sie streng war und Sie ständig ermahnt hat, sich in der Schule anzustrengen, zu älteren Menschen höflich zu sein, keinen Ärger zu machen und immer das ganze Gemüse auf dem Teller aufzuessen. Ich hoffe, nicht. Es wäre ein Jammer, wenn Sie Ihre Jugend damit verbracht hätten, Broccoli zu mampfen, und nun sind Sie in einer Zelle eingesperrt und haben überhaupt keine Freiheit mehr. Ich hoffe, Sie haben zumindest früher ein paar richtig verrückte Sachen angestellt, wie als Mutprobe splitternackt durch den Garten der Nachbarn zu flitzen. Das ist nämlich bei Laurens Party an ihrem vierzehnten Geburtstag passiert, nachdem ich schon nach Hause gegangen war. Als Lauren mir dann in der Schule davon erzählte, setzte ich wie immer mein überlegenes Gesicht auf, um ihr zu zeigen, dass ich zu reif war für solchen Blödsinn. Aber als der Geschichtslehrer sagte, wir sollten aufhören zu flüstern und auf unser Arbeitsblatt schauen, sah ich plötzlich nur noch Brüste, die im Mondlicht auf und ab hopsten.
Ich hatte es satt, immer alles zu versäumen. Mir immer nur die Geschichten der anderen anzuhören. Und ich war furchtbar neidisch, weil ich eigene Geschichten haben wollte. Als ich dann zu Max’ Party eingeladen wurde, nahm ich mir deshalb vor, Mum so zu fragen, dass sie es mir nicht ausschlagen konnte.
Am Samstagmorgen, vor meiner Schicht in der Bücherei, wo ich für drei Pfund fünfzig pro Stunde Bücher in die Regale zurückstelle, lag ich im Bett und überlegte, wie ich ihr die Frage stellen sollte. Da klingelte das Telefon. Ich hörte an Dads Stimme, dass es etwas Ernsthaftes sein musste. Deshalb stand ich auf, zog meinen Morgenmantel an, den ich jetzt auch trage – er hat ein Muster aus roten und schwarzen Blumen und vorn an den Ärmeln Spitze –, und ging nach unten. Im nächsten Moment sprang Dad in seinen BMW, ohne gefrühstückt zu haben, und Mum rannte ihm auf die Zufahrt nach, in Küchenschürze und mit gelben Gummihandschuhen.
»Du musst nicht sofort losfahren«, sagte sie. Da ich ab jetzt ganze Gespräche wiedergeben werde, Mr. Harris, mache ich Absätze, damit sie leichter lesbar sind. Ich weiß natürlich nicht mehr jede Einzelheit, die gesprochen wurde, und werde deshalb ein bisschen umschreiben und außerdem die langweiligen Sachen wie zum Beispiel Gespräche über das Wetter auslassen.
»Was ist los?«, fragte ich. Ich stand auf der Veranda und sah vermutlich besorgt aus.
»Iss wenigstens noch einen Toast, Simon.«
Dad schüttelte den Kopf. »Wir müssen los. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.«
»Wir?«, fragte Mum.
»Du kommst doch mit, oder nicht?«
»Lass uns das in Ruhe überlegen …«
»Es kann bald zu Ende gehen mit ihm! Wir müssen sofort zu ihm!«
»Wenn du das Gefühl hast, dass du in der Sekunde hinfahren musst, werde ich dich nicht davon abhalten. Aber ich bleibe hier. Du weißt, dass ich deinen Vater nicht …«
»Was ist los?«, fragte ich wieder, diesmal lauter und noch beunruhigter. Was meine Eltern natürlich nicht bemerkten.
Dad rieb sich die Schläfen. Seine Fingerspitzen kreisten in den grauen Haaren. »Was soll ich nach so langer Zeit zu ihm sagen?«
Mum verzog das Gesicht. »Keine Ahnung.«
»Wovon redet ihr?«, fragte ich.
»Meinst du, er lässt mich überhaupt ins Zimmer?«, fragte Dad.
»So wie es sich anhört, wird er wohl kaum merken, dass du überhaupt da bist«, sagte Mum.
»Wer denn?« fragte ich und trat auf die Zufahrt.
»Hausschuhe!«, rief Mum.
Ich ging wieder zurück auf die Veranda und streifte mir die Füße an der Matte ab. »Kann mir jetzt mal jemand erzählen, was los ist?«
Schweigen. Es zog sich hin.
»Großvater«, sagte Dad dann.
»Er hatte einen Schlaganfall«, ergänzte Mum.
»Oh«, sagte ich.
Das war jetzt nicht so besonders mitfühlend, aber ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass ich Großvater seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich weiß noch, dass ich unbedingt auch so eine Oblate haben wollte, wie Dad sie bei der Kommunion in Großvaters Kirche bekam, doch Mum hielt uns davon ab, zum Altar zu gehen. Und ich weiß noch, wie Großvater die Stirn runzelte, als ich versuchte, Sophs Finger im Gebetbuch einzuklemmen, und dabei die Melodie aus Der weiße Hai summte. Großvater hatte diesen großen Garten mit riesigen Sonnenblumen, und einmal baute ich mir einen Unterschlupf in seiner Garage, und er gab mir eine Flasche mit Fruchtschorle, die ich meinen Puppen servieren konnte. Aber dann gab es eines Tages einen Streit, und wir besuchten Großvater nie wieder. Ich weiß nicht, was da passiert war. Wir fuhren sofort los, ohne Mittagessen. Mein Magen knurrte so laut, dass wir ausnahmsweise bei McDonald’s essen durften, und Mum war so zerstreut, dass sie mich nicht mal davon abhielt, einen Big Mac und eine große Portion Pommes zu bestellen.
»Du willst wirklich hierbleiben?«, fragte Dad.
Mum zupfte an ihren Gummihandschuhen. »Wer soll sich denn sonst um die Mädchen kümmern?«
»Ich«, rief ich, weil mir plötzlich eine Idee gekommen war. »Das kann ich doch machen.«
Mum runzelte die Stirn. »Ich denke eher nicht.«
»Sie ist alt genug«, meinte Dad.
»Und wenn was schiefgeht?«
Dad hielt sein Handy hoch. »Ich bin erreichbar.«
»Ich weiß nicht …« Mum kaute auf der Innenseite ihrer Wange und starrte mich an. »Was ist mit deiner Arbeit in der Bücherei?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich rufe an und sag denen, dass wir einen Notfall in der Familie haben.«
»Na bitte«, sagte Dad. »Erledigt.«
Ein Vogel setzte sich auf die Motorhaube. Eine Singdrossel. Wir beobachteten sie einen Moment, weil ein Wurm aus ihrem Schnabel hing. Dann schaute Dad Mum an, und Mum schaute Dad an, und der Vogel flog weg, während ich die Finger hinterm Rücken verschränkte.
»Ich denke, es wäre besser, wenn ich bei den Mädchen bliebe«, murmelte Mum. »Soph muss die Tonleitern auf dem Klavier üben, und ich sollte Dot bei ihren …«
»Benutze sie nicht als Ausrede!«, sagte Dad und schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. »Es ist doch sonnenklar, dass du einfach nicht mitkommen willst. Du solltest zumindest den Mut haben, es zuzugeben.«
»Na gut! Aber es gehören immer zwei dazu, Simon. Wir wissen doch beide, dass dein Vater mich gar nicht sehen will.«
»Er ist in einem Zustand, in dem er nicht merken wird, ob du da bist oder nicht«, erwiderte Dad und starrte Mum an. Es war schlau von ihm, mit Mums eigenen Worten zu argumentieren, und das merkte sie auch. Sie seufzte ergeben, wandte sich um und zog die Handschuhe aus.
»Wie du willst. Aber ich sage dir: Ich geh nicht mal in die Nähe seines Zimmers«, sagte sie noch, bevor sie ins Haus marschierte.
Dad schaute zähneknirschend auf seine Uhr. Ich ging zum Auto, hielt weiterhin die Finger hinterm Rücken verschränkt.
»Meinst du, ihr bleibt lange im Krankenhaus?«
Dad kratzte sich im Nacken und seufzte. »Wahrscheinlich schon.«
Ich setzte mein hilfreichstes Lächeln auf. »Mach dir keine Sorgen wegen uns. Wir kommen schon zurecht.«
»Danke, Schatz.«
»Und wenn ihr noch nicht wieder da seid, gehe ich auch nicht zu der Party. Ist nicht so wichtig. Ich meine, Lauren wird enttäuscht sein, wenn ich nicht mitkomme, aber sie wird’s überstehen.« Ich sagte das so lässig, damit Dad glaubte, Mum habe mir schon erlaubt hinzugehen. Er hupte, damit sie sich beeilte.
»Wann fängt die Party an?«
»Um acht«, sagte ich, mit etwas schriller Stimme.
»Bis dahin sollten wir wieder hier sein … ich hoffe es jedenfalls. Wenn du möchtest, kann ich dich dann hinfahren.«
»Super«, sagte ich und versuchte mir das breite Grinsen zu verkneifen, als ich ins Haus zurückrannte.
Nachmittags rief Mum aus dem Krankenhaus an, um uns zu sagen, dass Großvaters Zustand stabil war. Sie sprach mit gedämpfter Stimme und meinte, Dad käme so weit klar und ich sollte fürs Abendessen die Lendensteaks aus dem Gefrierschrank nehmen. Ich freute mich, weil Steak mein Lieblingsessen ist. Alles lief bestens, und ich machte mir eine Orangenlimo mit Eiswürfeln. Dann verbrachte ich den Rest des Tages im Garten in der Sonne, schrieb an Wischel der Wuschelklops weiter und füllte unser Vogelhäuschen an dem Baum neben der Hintertür auf. Es kamen auch gleich Vögel angeflogen – eine Elster, die ich grüßte, ein Buchfink, der am Boden herumhopste, und eine Schwalbe, die übers Blumenbeet schwirrte. Ich beobachtete sie eine kleine Ewigkeit und war glücklich und froh dabei, weil ich Vögel liebe. Und ich will ja nicht angeben, aber ich kenne auch so ziemlich jede Vogelart, die in England vorkommt.
In unserem Garten wächst ganz viel Löwenzahn, und ich habe einen für Sie gezeichnet, Mr Harris, falls es bei Ihnen anderes Unkraut oder gar keins gibt. Ich stelle mir Texas trocken vor, so wie eine Wüste mit Fata Morganas, und bestimmt sehen Sie nur goldenen Sand, wenn Sie aus dem Fenster schauen, und wenn man nicht gerade ein Fan von Stränden ist, muss das ja die Hölle sein.
Ich pflückte einen dicken Löwenzahn und zwirbelte ihn zwischen den Fingern, während ich mich ins Gras plumpsen ließ und die Füße auf einen Blumentopf legte. Die Sonne am Himmel hatte genau dieselbe Farbe wie die Blume in meiner Hand, und beide waren durch einen warmen gelben Lichtstrahl verbunden. Klar, es war vielleicht nur ein beginnender Sonnenbrand auf meinen Knöcheln, aber einen Moment lang fühlte es sich an, als sei ich eins mit dem Universum, wie in diesen Malvorlagen, bei denen man Punkte verbinden muss. Alles war so bedeutsam und ergab so viel Sinn, als hätte jemand mein Leben nach Zahlen gezeichnet.
Nicht meine kleine Schwester allerdings.
»Gefällt’s dir?«
Dot stand in einem rosa Kleid vor mir. Sie machte Gebärdensprache, weil sie taub ist, und hielt mir dann ein Rätselheft vor die Nase. Ich blinzelte, als ich das Bild ansah. Sie hatte die Punkte falsch verbunden, so dass der Schmetterling, der durch die Lüfte flattern sollte, aussah, als würde er eine Bruchlandung in den Bäumen machen. Ich steckte mir den Löwenzahn hinters Ohr.
»Ja, gefällt mir.«
»Magst du es mehr als Schokolade?«
»Ja«, gebärdete ich.
»Mehr als … Eiscreme?«
Ich tat, als müsse ich angestrengt nachdenken. »Hm. Kommt auf den Geschmack an.«
Dot ließ sich auf die Knie fallen. »Erdbeer?«
»Auf jeden Fall mehr als Erdbeer, ja.«
»Banane?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nee.«
Dot kicherte und beugte sich über mich. »Mehr als Banane?«
Ich küsste sie auf die Nasenspitze. »Mehr als jede Eiscreme der Welt.«
Dot plumpste neben mir ins Gras. Der Wind zauste ihre langen blonden Haare.
»Du hast einen Löwenzahn hinterm Ohr.«
»Weiß ich.«
»Warum?«
»Sind meine Lieblingsblumen«, log ich.
»Magst du die mehr als Narzissen?«
»Mehr als alle Blumen auf der Welt«, gebärdete ich, um ihre Fragerei zu beenden, weil ich hörte, wie die Haustür aufging und jemand durch den Flur ging. Ich setzte mich auf und horchte. Dot schaute mich fragend an. »Mum und Dad«, erklärte ich.
Dot sprang auf, aber als ich die Stimmen meiner Eltern durchs offene Küchenfenster hörte, packte ich Dot an der Hand, damit sie nicht ins Haus lief. Die beiden stritten sich. Bevor sie uns bemerken konnten, zog ich Dot mit mir hinter einen Busch. Sie lachte, weil sie das für ein neues Spiel hielt. Ich schob die Zweige beiseite, um das Geschehen im Auge zu behalten.
Mum knallte eine Henkeltasse auf den Küchentisch. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du eingewilligt hast!«
»Was hätte ich denn tun sollen?«
Mum schaltete wütend den Wasserkocher ein. »Mit mir reden! Es mit mir besprechen!«
»Und wie, wenn du gar nicht im Zimmer warst?«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Er ist ihr Großvater, Jane. Er hat ein Recht, sie zu sehen.«
»Hör bloß auf damit! Die Kinder haben schon seit Jahren nichts mehr mit ihm zu tun gehabt.«
»Umso mehr Grund, dass sie ihn jetzt noch besuchen, bevor es zu spät ist.«
Mum verdrehte die Augen, und ich musste Dot mühsam festhalten, weil sie zappelte und zog und sich befreien wollte. Ich hielt ihr den Mund zu und machte ein strenges »Schsch«-Gesicht. Mum nahm jetzt einen Teelöffel aus der Schublade und knallte die Schublade mit der Hüfte zu.
»Wir haben vor Jahren eine Entscheidung getroffen. Vor vielen Jahren. Ich werde die jetzt nicht rückgängig machen, nur weil dein Vater ein bisschen …«
»Er hatte einen Schlaganfall!«
Mum schmiss den Löffel in die Tasse. »Das ändert nichts! Gar nichts! Auf wessen Seite bist du?«
»Ich will nicht, dass es da Seiten gibt, Jane. Nicht mehr. Wir sind eine Familie.«
»Sag das mal deinem …«, begann Mum, aber in diesem Moment biss Dot mich in den Finger und riss sich los, und ich konnte sie nicht mehr festhalten. Sie rannte, so schnell sie konnte, und schlug zweimal Rad auf dem Rasen. Ihr Kleid fiel ihr über die Schultern, und man sah ihre Unterhose. Dann kullerte sie ins Gras. Als Mum und Dad aus dem Fenster schauten, pflückte Dot einen Löwenzahn, voll von diesen Dingern, die wie tote Feen aussehen. Als Dot fest pustete und der Löwenzahn sich auflöste, verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Und jetzt höre ich auf zu schreiben, Mr Harris, weil ich müde bin, und außerdem ist mein linkes Bein eingeschlafen.
Zoe