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DAVID SEDARIS

SPRECHEN

WIR ÜBER

EULEN 

UND

DIABETES

Aus dem Amerikanischen

von Georg Deggerich

Karl Blessing Verlag

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Titel der Originalausgabe:
Let’s Explore Diabetes with Owls. Essays, etc.

Originalverlag: Little, Brown and Company, New York

Die Übersetzung von »Hundeleben«

besorgte Harry Rowohlt.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013 by David Sedaris

Copyright © 2013 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

nach einer Originalvorlage von Emily Burns

Umschlagillustration: Emily Burns

Umschlag © 2013 Hachette Book Group, Inc.

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-11325-4
V002

www.blessing-verlag.de

Inhalt

Anmerkung des Autors

Zahnärzte ohne Grenzen

Guter Junge

Think Differenter

Erinnerungsbahnen

Eine Freundin aus dem Getto

Meeresschildkröten

Wenn ich die Welt regierte

Sachte, Tiger

Laugh, Kookaburra

Stillstehen

Nur eine kurze E-Mail

Kommt ein Mann in einen Barwagen

Autor, Autor

Obama!!!!!

Schlange stehen

Ich bremse für die traditionelle Ehe

Eulen verstehen verstehen

Nr. 2 zum Mitnehmen

Nein zur Gesundheitsreform, und warum ich mein Land zurückhaben will

Freundliche Mitarbeiter gesucht

Müll

Tagein, tagaus

Mind the Gap

Ein ungeklärter Fall

Der glückliche Ort

Hundeleben

Anmerkung des Autors

Über die Jahre habe ich eine ganze Reihe Teenager kennengelernt, die an sogenannten Vortragswettbewerben teilnehmen. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Mischung aus Rede und Debatte. Die Schüler wählen Kurzgeschichten oder Essays aus, kürzen sie auf eine vorgeschriebene Länge und tragen sie bei einem Wettbewerb vor. Zu diesem Zweck habe ich sechs kurze Monologe geschrieben, die Jugendliche vor einer Jury vortragen können. Die Geschichten sollten leicht zu erkennen sein. Es sind die Texte, in denen ich eine Frau, ein Vater und eine Sechzehnjährige mit aufgesetztem britischem Akzent bin.

Zahnärzte ohne Grenzen

Eine Sache, die mich bei der amerikanischen Gesundheitsdebatte verwunderte, war das Gerede über eine staatliche Gesundheitsfürsorge und deren vermeintliche Ineffektivität. Das kanadische System wurde mit einem Genozid verglichen, aber noch schlimmer sei das Gesundheitswesen in Europa, wo Patienten auf schmutzigen Pritschen lägen und darauf warteten, dass das Aspirin erfunden werde. Ich weiß nicht, wo diese Leute ihre Vorstellungen herhaben, aber meine Erfahrungen in Frankreich, wo ich mehr oder weniger die letzten dreizehn Jahre gelebt habe, waren ausnahmslos gut. Für einen Hausbesuch in Paris zahlt man ungefähr fünfzig Dollar. Als ich das letzte Mal einen Nierenstein hatte, überlegte ich erst, einen Arzt zu mir nach Hause zu rufen, aber auch nur zehn Minuten zu warten stand außer Frage, sodass ich mit der U-Bahn zum nächsten Krankenhaus fuhr. Wir haben das Glück, eine Wohnung im Stadtzentrum zu besitzen, und alles, was ich brauche, ist einen Steinwurf entfernt. Gleich um die Ecke ist eine Apotheke, und zwei Häuserblocks weiter ist die Praxis meines Hausarztes, Doktor Médioni.

Zweimal habe ich an einem Samstagvormittag bei ihm angerufen, und beide Male war er selbst am Apparat und sagte, ich solle vorbeikommen. Auch diese Besuche kosten etwa fünfzig Dollar. Beim letzten Mal fuhr ein roter Blitz quer durch meinen linken Augapfel.

Der Arzt sah ihn sich kurz an und nahm dann hinter seinem Schreibtisch Platz. »Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen«, sagte er. »Das ist in ein, zwei Tagen wieder vorbei.«

»Was genau ist es?«, fragte ich. »Wie bekommt man so etwas?«

»Wie bekommen wir die meisten Dinge?«

»Wir kaufen sie?«

Das Mal davor lag ich im Bett und entdeckte ein Geschwulst an meiner rechten Seite, gleich unterhalb des Brustkorbs. Es fühlte sich an, als hätte ich ein gefülltes Ei unter der Haut. Krebs, dachte ich. Ein Anruf, und zwanzig Minuten später lag ich mit hochgeschobenem Hemd auf dem Untersuchungstisch.

»Ach, nicht weiter schlimm«, sagte der Arzt. »Bloß ein kleiner Fettgewebstumor. Hunde haben das ständig.«

Ich dachte an andere Dinge, die Hunde haben und die ich nicht haben möchte: Afterkrallen, zum Beispiel. Oder Hakenwürmer. »Kann ich ihn entfernen lassen?«

»Ich denke schon, aber warum sollten Sie?«

Er gab mir das Gefühl, schon der bloße Gedanke sei eitel und kindisch. »Sie haben recht«, erwiderte ich. »Ich werde einfach meine Badehose ein Stück höher ziehen.«

Als ich fragte, ob der Tumor noch größer würde, zwickte der Arzt ihn sanft. »Größer? Vermutlich schon.«

»Viel größer?«

»Nein.«

»Warum nicht?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte er und klang plötzlich müde. »Warum wachsen die Bäume nicht in den Himmel?«

Médionis Praxis liegt im dritten Stock eines eleganten Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, und beim Hinausgehen denke ich jedes Mal: Moment. Hing ein Diplom an der Wand? Könnte der Mann tatsächlich Doktor mit Vornamen heißen? Nicht dass er gleichgültig wäre. Nur erwarte ich etwas mehr als bloß: »Das geht von selbst vorbei.« Der Blitz im Auge verschwand, genau wie er gesagt hatte, und ich bin seither Dutzenden von Leuten begegnet, die einen Fettgewebstumor haben und prima damit klarkommen. Vielleicht wünsche ich mir als Amerikaner, dass die Dinge bombastischere Namen haben. Und ich erwarte ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit. »Meine Tests haben ergeben«, würde ich gerne hören, »dass Sie unter beidseitiger ganglialer Abnutzung leiden, oder, in der Sprache des Laien, unter einer kartoidalen Ruptur des venalen Septrumus. Hunde haben so etwas häufig, und meistens sterben sie daran. Aus diesem Grund möchte ich mit äußerster Vorsicht vorgehen.«

Für meine fünfzig Dollar möchte ich die Praxis in Tränen aufgelöst verlassen, aber stattdessen komme ich mir vor wie ein Hypochonder, und so einer bin ich ausnahmsweise nicht. Wenn mein französischer Hausarzt ein wenig enttäuschend ist, so gleicht mein französischer Paradontologe das allemal aus. Ich habe nur Gutes über Dr. Guig zu sagen, der mich, was mein Zahnfleisch betrifft, vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Zweimal in unserer zehnjährigen Beziehung hat er chirurgische Eingriffe vorgenommen. Im letzten Jahr dann zog er vier meiner unteren Schneidezähne, bohrte ein Loch in meinen Unterkiefer und zementierte darin zwei Aufbaustifte. Zuvor jedoch musste ich mich hinsetzen, und er erklärte mir das Verfahren, wobei er jede Menge großer Wörter benutzte, wodurch ich mich tragisch und bedeutend fühlen durfte. »Wir beginnen am Dienstagmorgen um neun, und es wird mindestens drei Stunden dauern«, sagte er, wie üblich, auf Französisch. »Abends um sechs setzt Ihnen Ihr Zahnarzt die provisorischen Implantate ein, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, sich den ganzen Tag freizuhalten.«

Als ich nach Hause kam, fragte ich Hugh: »Was glaubt er, wo ich mit vier Zahnlücken hinwill?«

Ich gehe für chirurgische Eingriffe und Konsultationen zu Dr. Guig, aber die halbjährliche Zahnreinigung übernimmt seine Partnerin, Dr. Barras. Was sie in meinem Mund anstellt, ist unaussprechlich, und weil ich dabei so sehr ins Schwitzen gerate, habe ich mir angewöhnt, Wechselkleidung mitzubringen und mich vor dem Heimweg in der Toilette umzuziehen. »Ach, Monsieur Sedaris«, sagt sie lachend. »Sie sind wie ein Kind.«

Vor einem Jahr kam ich zu ihr und verkündete, ich hätte seit meinem letzten Besuch jeden Abend Zahnseide benutzt. Ich dachte, dafür würde ich ein Lob einheimsen – »Wie umsichtig von Ihnen, und so diszipliniert!« –, aber stattdessen sagte sie: »Ach, das ist doch nicht nötig.«

Nicht anders war es, als ich mich über meine Zahnlücken beklagte. »Ich habe als Kind eine Klammer getragen, aber vielleicht brauche ich wieder eine«, sagte ich ihr. Ein amerikanischer Zahnarzt hätte mich an einen Kieferorthopäden überwiesen, aber Dr. Barras fand mich bloß hysterisch. »In Frankreich nennt man so etwas ›Spaßzähne‹«, sagte sie. »Warum in aller Welt wollen Sie sie richten lassen?«

»Nun ja, weil ich statt Zahnseide den Gürtel meines Bademantels zur Reinigung benutzen kann?«

»Genug davon«, sagte sie. »Schluss mit der Zahnseide. Sie haben abends etwas Besseres zu tun.«

Ich vermute, genau hier kommt der Spaß ins Spiel.

Dr. Barras hat eine kranke Mutter und einen Langhaarkater namens Andy. Wenn ich schwitzend und mit aufgerissenem Mund daliege, fährt sie mir mit ihrem elektrischen Haken unter den Zahnfleischrand und bringt mich über ihr Leben seit meinem letzten Besuch auf den neuesten Stand. Ich verlasse ihre Praxis immer mit dem Mund voller Blut, freue mich aber dennoch stets auf meinen nächsten Termin. Sie und Dr. Guig sind meine Leute, völlig unabhängig von Hugh, und auch wenn es übertrieben wäre, sie als Freunde zu bezeichnen, denke ich doch, sie würden mich vermissen, wenn mich ein Fettgewebstumor dahinraffte.

Ähnlich ist es mit meinem Zahnarzt, Dr. Granat. Er hat meine Implantate nicht hergestellt – das war das Werk des Zahnprothetikers –, aber er hat den Abdruck genommen und dafür gesorgt, dass die Zähne richtig sitzen. Dazu waren fünf Behandlungstermine im Winter 2011 nötig. Einmal in der Woche erschien ich in seiner Praxis und kletterte auf den Behandlungsstuhl. Dann ließ ich mich mit offenem Mund zurücksinken. »Ça va?«, fragte er ungefähr alle fünf Minuten, was so viel bedeutet wie »Alles in Ordnung?«. Ich antwortete mit einem leisen Piepser. Wie eine Türklingel. »Ä-hm.«

Implantate werden in zwei Arbeitsschritten eingesetzt. Zuerst wird einem ein Provisorium in den Mund geschraubt, das aussieht wie ein Klotz und farblich nicht zum Rest des Gebisses passt. Das endgültige Implantat ist dann feiner gearbeitet und irgendwie bemalt oder gefärbt, sodass es zu den benachbarten Zähnen passt. Meine vier künstlichen Schneidezähne sind zu einer Leiste verbunden, die tatsächlich mit einem Schraubenzieher an Ort und Stelle festgeschraubt wurde. Damit sie richtig aufeinanderpassen, müssen die Zähne exakt sitzen, weshalb mein Zahnarzt sie einsetzte und wieder herausnahm, um kleinere Anpassungen vorzunehmen. Einsetzen, herausnehmen. Wieder und wieder. Den Schmerz spürte ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, sodass ich einfach nur dalag und versuchte, ein guter Patient zu sein.

Dr. Granat hat in seinem Behandlungszimmer einen kleinen stummen Fernseher an der Decke hängen, und bei jedem meiner Besuche läuft der französische Reisekanal Voyage. Einmal sah ich einer Gruppe Bergbewohner dabei zu, wie sie ein Yak schmückten. Sie behängten es nicht mit Lichterketten, aber alles andere war erlaubt: bunte Bänder, Glöckchen und silberne Hütchen für die Enden der Hörner.

»Ça va?«

»Ä-hm.«

In einer anderen Woche befanden wir uns irgendwo in Afrika, wo eine fünfköpfige Familie etwas ausgrub, was aussah wie ein Nest voller Mäuse. In dem Moment erschien Dr. Granats Arzthelferin, um etwas zu fragen, und als ich wieder auf den Bildschirm sah, waren die Mäuse gehäutet und wie ein Kebab auf Stöcke gespießt. Nach einer erneuten Ablenkung war die afrikanische Familie damit beschäftigt, die Mäuse über einem Lagerfeuer zu rösten und mit den Fingern zu verspeisen.

»Ça va?«, fragte Dr. Granat, und ich hob meine Hand, was in der internationalen Zeichensprache für Zahnärzte bedeutet: »Ich muss Ihnen dringend etwas mitteilen.« Er zog seinen Schraubenzieher aus meinem Mund, und ich deutete auf den Bildschirm. »Ils ont mangé des souris en brochette«, sagte ich, und meinte: »Sie haben gerade Maus am Spieß gegessen.«

Er wandte sein Gesicht zum Bildschirm. »Ah, oui?«

Als regelmäßigen Zuschauer des Reisekanals kann Dr. Granat nichts mehr überraschen. Er hat alles gesehen, und obendrein ist er selbst viel gereist. Genau wie Dr. Guig. Dr. Barras hat in letzter Zeit keine aufregenden Reisen unternommen, aber wie sollte sie auch, bei ihrer kranken Mutter? Angesichts des großen professionellen Aufgebots sollte man meinen, dass mein Gesicht nicht mehr einem Halloweenkürbis ähnelt. Man sollte meinen, dass ich beherzt in einen Maiskolben beißen oder zumindest das Fleisch von einem Hähnchenknochen zerren kann, aber das wird noch einige Jahre dauern, wenn wir uns um die beiden oberen Schneidezähne und ihre wackligen Nachbarn gekümmert haben. »Aber danach muss ich weiterhin regelmäßig zu Ihnen kommen, oder?«, fragte ich beinahe panisch Dr. Guig. »Mein Zahnfleisch muss weiter behandelt werden, nicht wahr?«

Früher habe ich um Zahnärzte und Paradontologen einen großen Bogen gemacht, doch mittlerweile hänge ich an ihnen wie ein Stalker, nicht weil ich auf ein Hollywoodlächeln aus bin, sondern weil ich ihre Gesellschaft genieße. Ich bin glücklich in ihren Wartezimmern, auf deren Tischen sich Gala und Madame Figaro stapeln. Ich liebe das genuschelte Französisch, das aus ihrem Mundschutz dringt. Keiner von ihnen hat mich je David genannt, sooft ich sie auch dazu aufgefordert habe. Für sie bin ich Monsieur Sedaris, nicht mein Vater, sondern das kleinere, europäische Modell. Monsieur Sedaris mit den vier künstlichen unteren Schneidezähnen. Monsieur Sedaris mit den Spaßzähnen, der so fürchterlich schwitzt, dass er die Praxis zwei Kilo leichter verlässt. Der auf die Toilette zeigt und die Sprechstundenhilfe fragt, ob er sich kurz umziehen kann, und dann frisch gekleidet die Treppe hinunterschleicht, ein bittersüßes, blutverschmiertes Lächeln im Gesicht, und die Tage zählt, bis er sich wieder der Obhut dieser eigentümlichen staatlichen Fürsorge anvertrauen kann.

Guter Junge

Es war Winter in New York, und ich vertrieb mir vor einem Kinobesuch die Zeit. Einige Wochen alter Schnee vergammelte am Straßenrand, und ich bemerkte den vielen Müll darin, als eine Männerstimme rief: »Zivilfestnahme!« Ich wusste zwar, dass es so etwas gibt, aber man erlebt nie eine, deshalb nahm ich an, es handle sich um einen Scherz – so etwas wie Versteckte Kamera oder ein Student, der einen Film drehte.

»Zivilfestnahme!«, wiederholte der Mann. Er stand vor Fairway, einem Lebensmittelgeschäft Ecke Broadway und 74th Street. Gepflegtes, zinnfarbenes Haar bedeckte kranzförmig seinen Kopf, dessen Oberfläche kahl war und vor Kälte wie wund aussah. Der Mann trug eine dicke Daunenjacke, und als ich näher auf ihn zukam, sah ich, dass seine Hand auf der Schulter eines Teenagers lag, eher als Zeichen, dass er ihn auf frischer Tat ertappt hatte, als dass er ihn festhielt.

»Zivilfestnahme. Zivilfestnahme!« Ich fragte mich, welches Verbrechen der Junge begangen hatte, und den Leuten um mich herum nach zu schließen, von denen viele stehen geblieben waren oder zumindest langsamer gingen, war ich nicht der Einzige. Etwas Silbernes war zu Boden gefallen, und als ich erkannte, dass es ein Magic Marker war, stürzte ein Paar aus dem Geschäft – anscheinend die Eltern des Jungen, denn sie liefen sofort zu ihm. »Zivilfestnahme«, wiederholte der Mann. »Er hat den Briefkasten mit Graffiti beschmiert!«

Ich erwartete, die Eltern würden sagen: »Er hat was gemacht?« Aber statt mit ihrem betreten dreinblickenden Sohn zu schimpfen, gingen sie auf den Mann los, der ihn geschnappt hatte. »Mit welchem Recht haben Sie unser Kind angefasst?«

»Aber der Briefkasten«, erklärte der Mann. »Ich habe gesehen, wie er …«

»Es ist mir ganz egal, was er gemacht hat«, sagte die Frau. »Sie haben kein Recht, meinen Sohn anzufassen.« Sie ließ es wie einen sexuellen Übergriff klingen, als habe seine Hand auf dem Po des Jungen gelegen statt schwerelos auf seiner Schulter. »Was glauben Sie, wer Sie sind?« Sie wandte sich an ihren Mann. »Douglas, ruf die Polizei.«

»Schon dabei«, sagte er.

Während ich ihm beim Wählen zusah, dachte ich: Meinen die das ernst? Hätte man mich mit dreizehn dabei erwischt, wie ich einen Briefkasten beschmierte, hätten meine Eltern sich bei dem Mann bedankt und ihm die Hand geschüttelt. »Wir machen das schon«, hätten sie ihm versichert. Und dann hätten sie mich vor allen Leuten verdroschen – nicht nur ein paar leichte Klapse, sondern richtig, wackelnde Zähne und schluchzendes Um-Gnade-Flehen inklusive. Und das wäre bloß der Anfang gewesen. Man hätte mir nicht nur mein Taschengeld gestrichen, sondern mich auch in mein Zimmer gesperrt, und für jede Stunde, die ich draußen verbringen wollte, hätte ich einen Dollar bezahlen müssen, was in der heutigen Währung etwa siebzehn Dollar entspricht.

»Aber wie soll ich denn Geld verdienen, wenn ich nicht rausdarf?«, hätte ich gejammert.

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du den Briefkasten beschmiert hast«, hätte mein Vater mir erklärt, während meine Mutter meine Arme hinter meinem Rücken festgehalten und er mich mit einem Golfschläger verprügelt hätte. In die Nüsse.

Niemals hätten sie mich blindlings verteidigt oder auch nur nach meiner Version der Geschichte gefragt, weil mich das auf eine Stufe mit dem Erwachsenen gestellt hätte. Wenn ein wildfremder Mann einem eine Straftat unterstellte, dann hatte man sie auch begangen. Oder man hätte sie begehen können. Oder man hatte zumindest daran gedacht, sie zu begehen. Es gab keine Auseinandersetzung, kein »Erziehungsmanagement« so wie heute. Alle diese jungen Mütter, die ihre aufbrausenden Dreijährigen durch den Supermarkt schieben. Die Namen der Kinder erinnern immer irgendwie an die von Präsidenten, und genauso verhalten sie sich auch. »Mami hat verstanden, dass du Süßigkeiten möchtest«, sagt die Frau, »aber zuerst musst du ihre Haare loslassen, damit Mami die Rolle Schokodrops zurück ins Regal legen kann.«

»Nein!«, brüllt McKinley oder Madison. Oder Kennedy oder Lincoln oder Baby Reagan mit hochrotem Kopf. Wenn ich das sehe, möchte ich jedes Mal einschreiten. »Hören Sie«, möchte ich sagen. »Ich bin selbst kein Vater, aber ich denke, es wäre das Beste, dem Kind eine runterzuhauen. Es wird nicht aufhören zu schreien, aber zumindest hat es dann einen Grund.«

Ich weiß nicht, wie Eltern von heute das schaffen, ihre Kinder jeden Abend stundenlang ins Bett zu bringen, ihnen Bücher über verirrte Kätzchen oder Seehunde in Uniformen vorzulesen, und wieder von vorne anzufangen, wenn das Kind es befiehlt. Bei uns zu Hause brachten unsere Eltern uns mit zwei simplen Worten zu Bett: »Ruhe jetzt.« Danach wurde das Licht ausgemacht. Unsere Bilder hingen nicht am Kühlschrank oder in dessen Umgebung, weil unsere Eltern sie für das hielten, was sie waren: Müll. Sie lebten nicht in einem Haus für Kinder, sondern wir lebten in ihrem.

Wir durften uns auch nicht aussuchen, was wir essen wollten. Ein Freund von mir hat einen siebenjährigen Sohn, der nur Lebensmittel isst, die weiß sind. Hätte ich so etwas versucht, hätten meine Eltern gesagt: »Abgemacht!« und mir eine Schale Leim, gefolgt von Fugenmasse und, wenn ich brav gewesen wäre, etwas Sperma vorgesetzt. Niemand hätte sie für streng gehalten. Oder ihnen Missbrauch vorgeworfen. Die Regeln waren damals einfach andere, besonders was körperliche Züchtigung anging. Man durfte nicht bloß seine eigenen Kinder schlagen, sondern auch die anderer Leute. Als ich in der fünften Klasse war, rief ein Nachbarsjunge meiner Mutter einmal »Zimtzicke« hinterher. »Dabei habe ich überhaupt nichts getan«, sagte meine Mutter zu meinem Vater. »Ich kam mit Lisa vom Arzt zurück, und er warf es mir aus heiterem Himmel an den Kopf.« Im vierten Monat schwanger mit meinem Bruder Paul, zündete sie sich eine Zigarette an und goss sich aus dem Zweihundertliterkanister Wein neben dem Toaster ein Glas ein.

»Welcher Junge?«, fragte mein Vater. Er war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und stand mit einem Glas Gin auf Eis in der Hand in der Küche. Vor ihm auf der Anrichte standen Cracker und ein Stück dick mit Senfsauce bestrichener Schmelzkäse. »Oh, untersteh dich«, sagte er, als ich nach dem Messer griff. »Der ist für mich, verdammt noch mal.«

»Aber kann ich nicht …«

»Wenn du einen Snack nach der Arbeit willst, besorg dir einen Job«, sagte er, offenbar vergessend, dass ich erst elf Jahre alt war.

»Also, wie heißt der Bursche, der deine Mutter eine Zimtzicke genannt hat?«, fragte er. »Sag mir den Namen, damit ich ein Wörtchen mit ihm reden kann.«

Als ich sagte, ich wisse es nicht, sah er mich enttäuscht an, als sei ich nicht ganz zurechnungsfähig. »Nun, kannst du nicht wenigstens raten?«

»Keine Ahnung.« Niemand in unserer Straße hatte einen Grund, meine Mutter zu beschimpfen. Vermutlich hatte ein Junge aus der Nachbarschaft ein neues Schimpfwort ausprobieren wollen – allerdings ein bisschen spät, weil unser Ende der Straße es bereits seit Monaten kannte. »Es bezeichnet eine Ziege«, erklärte ich meinen Schwestern, »aber man sagt es auch zu einer Frau, die ständig rummeckert und einen nicht in Ruhe lässt.«

Der Tag, an dem jemand meine Mutter eine Zimtzicke genannt hatte, war so wie jeder andere. Mein Vater machte sich wie immer nach der Arbeit einen Drink und einen besonderen Snack. Als meine Mutter zum Essen rief, zog er Jacke und Hose aus und setzte sich zu uns an den Tisch. Von der Tischplatte an aufwärts sah er ganz normal aus – das gebügelte Hemd, die gelockerte Krawatte –, aber darunter saß er in Unterhose und mit nackten Beinen. »Deine Mutter sagt also, dass ihr heute Nachmittag jemand ein nicht besonders nettes Wort hinterhergerufen hat«, sagte er, an meine ältere Schwester gewandt. »Du warst mit ihr im Auto. Irgendeine Vorstellung, wer es gewesen sein könnte?«

Lisa vermutete, dass es Tommy Reimer gewesen war, nicht weil sie ihn erkannt hätte, sondern weil es in der Nähe seines Hauses passiert war.

»Tommy Reiner, meinst du?« Mein Vater sah über den Tisch hinweg zu meiner Mutter. »Ist das nicht einer von Hals Jungen?«

»Oh, Lou, vergiss es«, sagte meine Mutter.

»Was soll das heißen, vergiss es? Ein Kind, das solche Ausdrücke benutzt, hat ein Problem, und ich werde zusehen, dass es beseitigt wird.«

»Vielleicht habe ich mich auch verhört«, sagte meine Mutter. »Oder vielleicht hat er mich mit jemandem verwechselt. Das wird es gewesen sein.«

»Das wird sich klären, wenn ich mit ihm spreche«, sagte mein Vater als Hinweis, dass das Thema für ihn erledigt war und wir uns anderen Dingen zuwenden konnten. Als ihre Kinder groß geworden und aus dem Haus waren, aß meine Mutter erst spät, oft allein vor dem Fernseher, Stunden nachdem sie das Essen für unseren Vater zubereitet hatte, aber damals wurde bei uns um sechs zu Abend gegessen, so wie bei allen anderen Familien in unserer Straße. An diesem Abend war die Sonne noch nicht untergegangen. Es war Anfang September, und auch wenn ich nicht mehr weiß, was es gab, kann ich mich noch genau erinnern, wie ich beim Klang der Türklingel zusammenzuckte.

Oh, Gott, dachte ich, so wie jeder andere am Tisch. Wenn es zur Essenszeit schellte, ließ es sich unser Vater nicht nehmen, zur Tür zu gehen und den Besucher in strengem Ton zu ermahnen, dass es keine gute Idee sei, Leute beim Essen zu stören. Egal ob es eine Nachbarin oder einer unserer Freunde war. Ob eine Pfadfinderin, die Kekse verkaufte, oder ein Fremder, der Unterschriften sammelte – wenn die Tür aufging, hatte jeder, der davorstand, den gleichen überraschten, ungläubigen Ausdruck im Gesicht, der in den höflicheren Umgangsformen der damaligen Zeit übersetzt hieß: »Wo ist Ihre Hose, Sir?«

Lisa hatte an diesem Tag vorzeitig den Unterricht verlassen. Eine Klassenkameradin sollte ihr die Hausaufgaben bringen, und weil sie befürchtete, es könnte sie sein, sprang sie auf und rief auf dem Weg zur Tür: »Alles okay. Bin schon unterwegs.«

Mein Vater stand auf und setzte sich wieder. »Wer auch immer es ist, sag ihm gefälligst, wir sind beim Essen.« Er sah meine Mutter finster an. »Wer zum Teufel will um diese Uhrzeit zu uns?«

Wir alle horchten angestrengt, wer der Besucher war, und als Lisa sagte: »Oh, hi, Tommy«, sprang unser Vater auf und rannte zur Tür. Kurz darauf standen auch wir in der Tür und sahen den Jungen, der eine Klasse unter mir war, mit zappelnden Beinen vor der Holzverkleidung unseres Carports hängen. Mein Vater hatte ihn am Hals gepackt und hochgehoben.

»Dad«, riefen wir. »Dad, hör auf. Das ist der falsche Junge. Du suchst Tommy Reimer, aber das ist Tommy Williams!«

»Wer?« In Arbeitshemd und Unterhose wirkte er Furcht einflößend, aber auch komisch, wie ein Bär, der sich für ein Job-Interview schick gemacht hatte.

»Lou, um Gottes willen, lass den Jungen runter«, sagte unsere Mutter.

Mein Vater setzte Tommy mit den Füßen auf den Boden, wo er sich vornüberbeugte und nach Luft schnappte. Er war ein pummeliger Kerl, und sein Gesicht, das normalerweise blass und voller Sommersprossen war, war rot wie ein Valentinsherz.

»Na, mein Junge«, sagte mein Vater ebenso unerwartet wie aufgesetzt freundlich. Er legte Tommy eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung? Möchtest du ein Eis? Wie wär’s mit etwas Eiscreme?«

»Vielen Dank«, krächzte Tommy. »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber nach Hause.«

»Aber nicht doch«, sagte mein Vater und schob den Jungen durch die offene Tür. »Wir freuen uns über deinen Besuch. Komm nur rein und leiste uns Gesellschaft.« Dann drehte er sich zu mir und flüsterte: »Treib Eiscreme auf, aber dalli.«

Wenn es in unserem Haus irgendetwas gegeben hätte, das echter Eiscreme nahekam, hätten wir es längst selbst aufgegessen. Aus diesem Grund sah ich erst gar nicht im Eisschrank in der Küche oder im zweiten Eisschrank im Geräteschuppen nach, sondern ging geradewegs zu der friedlich vor sich hin gammelnden Tiefkühltruhe im Keller. Hinter den vor Jahren im Sonderangebot gekauften Hühnchen und den von blutigen Eisklumpen wie von Kastanien umhüllten Braten fand ich einen Becher Milcheis mit Vanillegeschmack und der Farbe von Eiter. Es befand sich bereits so lange dort, dass ich mir beim Blick auf das Preisschild alt vorkam. »Fünfunddreißig Cent! Dafür bekommt man heutzutage nichts mehr.«

Es spricht Bände über die damalige Zeit, dass ich mir darüber Gedanken machte, während mein Freund, den Hals weinrot wie ein Dompfaff, bei uns am Esstisch saß. Selbst wenn Tommy geflohen und nach Hause gerannt wäre, hätten seine Eltern kaum die Polizei gerufen, geschweige denn uns verklagt und ins Armenhaus gebracht. Es hätte keine bösen Worte gegeben, wenn sich unsere Väter das nächste Mal auf der Straße getroffen hätten, warum auch? Ihr Sohn war nicht gestorben, sondern hatte bloß eine Minute lang ohne Sauerstoff auskommen müssen. Machte ihn das nicht stärker?

Als ich den Becher öffnete, sah ich, dass das Eis vor dem Einfrieren aufgetaut war. Es war von einer zwei Zentimeter dicken Schneeschicht überzogen, hatte eine merkwürdige, irgendwie samtige Konsistenz und war so hart, dass sich der Löffel verbog und sich nur dünne, durchsichtige Späne abschaben ließen. Ich musste meine ganze Kraft aufwenden, um eine Schale Eis auszustemmen, aber zuletzt hatte ich es geschafft. Dann lief ich zu Tommy und stellte sie vor ihn auf den Tisch. Es war merkwürdig, ihn mit einer Dessertschale zu sehen, während alle anderen große Essensteller vor sich hatten. Eine Minute lang saß er bloß da, starrte auf den Tisch und blinzelte. Mein Vater nahm dies als Ausdruck des Staunens. »Nur zu«, sagte er. »Der ist ganz allein für dich. Und wenn du möchtest, haben wir bestimmt auch noch einen Nachschlag.«

Tommy sah uns an, sieben wachsame Augenpaare, und nahm den Löffel zur Hand.

»So ist es richtig«, sagte mein Vater. »Guter Junge. Schön aufessen.«

Think Differenter

Von den vielen Redewendungen, die wir Amerikaner zu häufig gebrauchen, ist die ärgerlichste für mich: »Auch Blinde sind Menschen.« Vermutlich sind sie das, aber der Satz klingt so moralisierend und betroffen, als wenn alle deine Freunde blind wären – was sie wahrscheinlich nicht sind. Ich persönlich kenne keinen Blinden, obwohl der Typ, bei dem ich immer meine Zeitung gekauft habe, ziemlich übel grauen Star hatte. Über dem linken Auge trug er eine Klappe, und das rechte erinnerte mich an den Himmel in einem Werwolffilm, mit einem blassblauen Mond, über den dunkle Wolken ziehen. Dennoch sah er noch gut genug, um einen kanadischen Quarter zu entdecken. »Oh, nichts da«, sagte er zu mir, als ich das letzte Mal etwas bei ihm kaufte. Und dann packte er tatsächlich meine Hand.

Ich zog sie zurück. »Wenn Sie entschuldigen.« Dann sagte ich: »Ich werde mich wohl nach einem anderen kiosque umsehen müssen.« Normalerweise sage ich »Kiosk«, aber ich wollte, dass er mich für einen Kanadier hielt, was sogar hätte sein können, wenn ich ein paar Hundert Meilen weiter nördlich geboren worden wäre. Dieser halbblinde Dreckskerl. Ich bin es leid, solche wie den zu verteidigen.

Nummer zwei auf meiner Liste ärgerlicher Redewendungen ist: »Ich werde nie den Tag vergessen, …« Wenn Leute damit anfangen, denke ich gleich: Gähn. Wieder so eine langweilige Geschichte. Wie zum Beispiel auf der Party zum 4. Juli, die jedes Jahr bei uns in der Wohnanlage gefeiert wird. Letztes Jahr bin ich hingegangen und stand mit diesem Teddy, der zwei Türen weiter wohnt, und einer Frau aus dem Erdgeschoss am Pool. Das Feuerwerk war gerade vorbei, als Teddy plötzlich und ohne jeden Anlass aufs Wasser starrte. »Ich werde nie den Tag vergessen, an dem meine fünfjährige Tochter ertrank«, sagte er mit trauriger Stimme, als wäre es in dieser Woche und nicht schon vor einem Jahr passiert.

Die Frau aus dem Erdgeschoss legte ihre Hand auf seine Schulter. »Oh, mein Gott«, sagte sie. »Das ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.«

Ich stand daneben und dachte nur, man soll niemals nie sagen, erst recht nicht, wenn es ums Erinnern geht. Die Leute werden älter, und man wundert sich nur, was sie alles vergessen. Vor einigen Wochen, zum Beispiel, rief ich meine Mutter an, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, ihrem achtzigsten. »Ich wette, du wünschtest, Dad wäre noch am Leben«, sagte ich. »Dann könntet ihr beide zusammen feiern.«

»Aber das ist er doch«, sagte sie.

»Tatsächlich?«

»Aber sicher«, sagte sie. »Was glaubst du, wer den Hörer abgenommen hat?«

Da bin ich gerade erst fünfzig geworden und habe vergessen, dass mein Vater noch nicht gestorben ist! Allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass er nahe dran ist. Zwar ist er im Augenblick noch leidlich gesund, aber er macht nichts mehr von den Dingen, die er früher gemacht hat, wie etwa mir Geld zuzustecken oder das Fahrradfahren beizubringen.

Es gibt Dinge, die vergisst man ganz selbstverständlich – Computerpasswörter, das Verweilen des eigenen Vaters unter den Lebenden –, und es gibt solche, die man gerne vergessen würde, aber es nicht kann. Als ich zum Beispiel in der dritten Klasse war, sah ich, wie unser Hund Pepper einem kleinen Kaninchen den Kopf abbiss. Ich meine, einfach so, wie man den Deckel von einem Aspirinröhrchen schnippt. Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen, wohingegen die Geburt meines ersten Kindes – gähnende Leere. Ich weiß, dass ich im Kreißsaal war. Ich weiß sogar noch, welche Musik ich auf meinem Walkman hörte, aber was die eigentliche Geburt angeht – nichts. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber das ist normal für eine erste Ehe.

Dafür werde ich nie das Gewicht des Walkmans vergessen und wie schwer er in meiner Jackentasche lag. Heutzutage wäre das, als würde man einen Ziegelstein mit sich rumschleppen, aber damals konnte man sich kaum etwas Moderneres vorstellen. Als der erste iPod auf den Markt kam, dachte ich, er würde sich nie durchsetzen. Ist das nicht komisch? Genau das Gleiche dachten auch die alten Spinner, als das Auto erfunden wurde, nur war ich jetzt der Spinner! Ich hielt an meinem Walkman fest, bis der iPod shuffle herauskam. Erst da knickte ich ein und kaufte mir einen.

Ich heiratete auch wieder, aber es hielt nur bis zum iPod nano, den der Junge aus dieser Ehe – ein Junge, da bin ich mir ziemlich sicher – zusammen mit meinem Portemonnaie und den Wagenschlüsseln in der Toilette versenkte. Statt alles herauszufischen und mir die Hände schmutzig zu machen, verließ ich Frau und Kind und zog in den Apartmentkomplex, den ich bereits zu Anfang erwähnt habe. Zuerst wollte ich mir einen neuen iPod nano kaufen, aber dann wartete ich eine Weile und holte mir ein iPhone, das ich definitiv nicht dazu benutze, meine beiden Exfrauen oder die Kinder anzurufen, die sie mir angehängt haben. Ich lese darauf auch die Zeitung, obwohl es die Augen anstrengt, also hör gut zu, Kioskbesitzer – inzwischen bin ich halb blind, und du bist deinen Job los!

Nach dem iPhone 2 kam das iPhone 3, aber ich kaufte weder 4 noch 5, weil ich auf das iPhone 7 warte, das, wie ich aus vertraulicher Quelle weiß, auch als Taser benutzt werden kann. Dann brauche ich den auch nicht mehr mit mir herumzuschleppen. Und ist das nicht die eigentliche Aufgabe der Technik? Uns das Leben zu erleichtern? Unseren Horizont zu erweitern? Es uns zu ermöglichen, mit unserem Anwalt zu sprechen, Musik von Styx zu hören, die Todesanzeigen am Wohnort unserer Eltern zu verfolgen, Rassenunruhen zu filmen, eine SMS zu verschicken und unsere Umwelt permanent in stummes Erstaunen zu versetzen?

Das alles am Steuer eines Wagens zu tun ist an meinem gegenwärtigen Wohnort verboten, weshalb ich an einen Ort ziehen werde, wo die Freiheit noch etwas bedeutet. Ich verrate nicht, wo das ist, weil es noch lange so bleiben soll. Ich sage nur, es ist einer der wenigen Bundesstaaten, in denen Geistesgestörte legal eine Feuerwaffe besitzen können. Ursprünglich war der Besitz auf Flinten beschränkt, aber inzwischen dürfen sie jede Waffe offen oder versteckt mit sich herumtragen wie jeder normale Mensch auch. Wer glaubt, ein geistig Verwirrter hätte nicht das Recht, mit einer abgesägten Schrotflinte zur Trauung seiner Exfreundin in der Kirche zu erscheinen, ist selbst Teil des Problems. Die Wahrheit ist, dass Verrückte – die eigentlich ganz normale Menschen sind, aber häufiger missverstanden werden – das gleiche Recht haben, sich zu verteidigen, wie wir.

Wo Freiheit herrscht, kann die Vorstellungskraft ungehindert schweifen. Wäre ich in dem Bundesstaat geboren, in dem ich mich niederlassen will, wer weiß, was inzwischen aus mir geworden wäre – Kieferchirurg, vielleicht, oder auch der Herrscher über das ganze ländliche Amerika. Andere Könige würden mir Tribut zollen und Vieh und kostbare Edelsteine zum Geschenk machen, aber ich glaube nicht, dass ich in meinem tiefsten Inneren ein anderer wäre, als ich heute bin: einfach ein Typ mit einem Telefon, der auf den Tag wartet, an dem er sich ein noch besseres kaufen kann.