logo-edition.jpg
Inhaltsverzeichnis
Ein Gespräch in Zeiten der Sprachlosigkeit
Biografische Prägungen
Ein besonderes Verhältnis
Begegnungen
Fragen an die Geschichte
Die Faszination des Anderen
Das Denken ändert die Richtung
Vom wilden Feld des russischen Denkens
Desillusionierung
Mensch und Macht
Zeitenwende
Geschichtsbild und Realität
Beziehungskrise
Das Ende des Imperiums
Was tun?
Neue Generationen
Anhang
Ausgewählte Literatur
Über die Autoren
Impressum

Ein besonderes Verhältnis

Die Anfänge deutsch-russischer oder russisch-deutscher Beziehungen reichen weit in die Geschichte beider Völker zurück und sind über tausend Jahre alt. Die Beziehungen waren stets eng, aber bei Weitem nicht immer innig. Inwieweit ist das deutsch-russische Verhältnis für Sie ein besonderes?

Karl Schlögel: Für mich ist das deutsch-russische ein besonderes Verhältnis, jedoch nicht so sehr wegen einer tausendjährigen Beziehung, wobei man fragen müsste, ob es sich hier tatsächlich um deutsch-russische Beziehungen handelt, wenn Sie damit das Großfürstentum und die Kiewer Rus meinen, sondern für mich ist es deswegen ein besonderes, weil es den Lebenshorizont meiner Generation, die nach dem Krieg geboren und aufgewachsen ist, sehr stark bestimmt hat. Ich bin mit Russland nicht so sehr verbunden, weil früher einmal dynastische Verbindungen zwischen Württemberg oder Hessen-Darmstadt und dem Hause Romanow bestanden haben, sondern eben weil man als Nachgeborener im Schatten dieses Krieges aufgewachsen ist.

Beziehungen zwischen der germanischen Welt und der der Ostslawen bestehen seit über tausend Jahren. Sie reichen von ersten diplomatischen Kontakten zwischen den Frankenkönigen und der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert, der Ehe zwischen Heinrich IV. und der Kiewer Großfürsten-Tochter Eupraxia 1089 über die Handelsbeziehungen der Hanse in Nowgorod, die Ordenskriege, den »deutschen Zaren« Peter III., einen Holsteiner Prinzen, den deutschen Einwanderern unter Katharina der Großen bis zu den beiden Weltkriegen, nicht zu vergessen den Vertrag von Rapallo und den Hitler-Stalin-Pakt und danach den »Kalten Krieg« bis zur Deutschen Einheit in den 1990er-Jahren.

Immer waren die deutsch-russischen Verhältnisse, sofern man diese moderne Bezeichnung auch für die jeweiligen Vorläuferstaaten oder die Sowjetunion verwenden mag, starken Höhen und Tiefen unterworfen.

Kriege sind ja die denkbar heftigste, intensivste, ja intimste Form des Erlebens von Begegnung überhaupt. Allerdings betrifft das möglicherweise die Generationen nach mir schon nicht mehr, auch wenn die Generation, die nach dem Krieg geboren ist, noch immer im Schatten dieses Großereignisses aufgewachsen ist. Es hängt also nicht so sehr an den dynastischen Beziehungen oder an einem abstrakten Wissen um die historischen Wechselbeziehungen beider Länder, meine Beschäftigung mit und meine Leidenschaft für Russland haben sich dadurch ergeben, dass man wusste, dass da etwas Ungeheuerliches passiert war. Man kann natürlich weiter fragen, warum sich das nur auf Russland beziehen soll. Warum man zuerst an Russland denkt, und nicht an Polen, das die Deutschen am 1. September 1939 angegriffen haben – nach ihrem Pakt mit Stalin über die Aufteilung Polens.

Irina Scherbakowa: Auch bei mir begann alles mit dem Zweiten Weltkrieg. Ich bin in einer Nachkriegsatmosphäre aufgewachsen, in der die Jungen bei uns auf dem Hof immer »Russen gegen Deutsche« spielten. Dieses Spiel gab es sehr lange, auf jeden Fall die ganzen 1960er-Jahre hindurch. Erst die Freunde meiner Tochter, die in den 1970er-Jahren geboren wurden, spielten das nicht mehr.

Auch im Fernsehen liefen damals häufig Kriegsfilme. In meiner Kindheit waren die Deutschen aber vor allem aufgrund der Kriegserfahrung meines Vaters ein Thema. Mein Vater war Kriegsinvalide, und der Krieg und die damit verbundenen Schrecken waren uns, wenn auch unbewusst, ständig präsent. Für uns Kinder war es vollkommen klar, dass »die Deutschen« ihm das angetan hatten. Bei uns spielten historische Orte der Eltern immer eine Rolle, wie z.B. Leningrad im Krieg oder Stalingrad, wo mein Vater gekämpft hatte, oder der Ural, wohin meine Großmutter und meine Mutter aus Moskau evakuiert worden waren. Wir Kinder kannten diese Orte nicht persönlich, aber in den Familienerzählungen waren uns diese immer gegenwärtig. In unserem Fall war das der Ort Saur-Mogila in der Nähe von Donezk, in dem mein Vater im Sommer 1943 schwer verwundet worden war. Ihm sind beinahe die Hände abgeschossen worden. Er war damals 19 Jahre alt und schon Leutnant und Kompaniechef, und obwohl er natürlich nicht dauernd über den Krieg erzählt hat, war dieser in unserer Familie täglich präsent. Ich bin damit groß geworden, dass jede schwere Arbeit, die ein Mann normalerweise im Hause irgendwie schafft, für meinen Vater nicht möglich war, und ich wusste, warum. Meine Kindheit war sehr von den Nachwirkungen des Krieges geprägt.

Karl Schlögel: Ich habe von meiner Familie her mit Russland überhaupt nichts zu tun. Ich komme aus einem schwäbischen, aus einem Allgäuer Dorf, fernab von großen historischen Ereignissen. Mit der Weltgeschichte kamen wir – von den Bauernkriegen abgesehen – erst durch den Deutsch-Französischen Krieg, den Ersten Weltkrieg und schließlich den Zweiten Weltkrieg in Berührung. Das kann man heute noch an den Kriegerdenkmälern auf den Friedhöfen ablesen. Meine erste Erfahrung mit dem Osten machte ich auch gar nicht mit Russland. Dass es überhaupt ein Osteuropa gibt, ein östliches Europa, das wurde mir zuerst durch die Flüchtlinge deutlich, die es »aus dem Osten«, dem Sudetenland, aus Schlesien und aus Ostpreußen, in unser Dorf verschlagen hatte. Diese Menschen fand ich wahnsinnig interessant, das waren Leute aus der Stadt im Unterschied zu uns Bauern. Da kam etwas ganz Neues in die Dörfer, was die alten Verhältnisse geradezu sprengte. Meine erste Reise ging dann auch schon sehr früh nach Osten, in die Tschechoslowakei.

Russland war präsent über das Reden vom Russlandfeldzug. Mein Vater war im Krieg gewesen, ist aber völlig unversehrt sogar aus Stalingrad herausgekommen, obwohl er vom 1. September 1939 bis April 1945 meistens an der Ostfront eingesetzt war. Er selbst hatte einfach wahnsinniges Glück, aber auch in unserem Dorf sahen wir sehr viele Prothesenträger. Dieses Bild war mir sehr vertraut, unser Postbote hatte zum Beispiel einen Arm aus Leder. Und es gab Veteranentreffen, zu denen sich die Kriegskameraden alle paar Jahre einfanden, um sich über ihre Erlebnisse auszutauschen. Das verband ich mit Krieg. Diese Veteranen haben, wenn ich mich recht erinnere, meist gar nicht groß über Schlachten und Derartiges gesprochen. Für sie war der Krieg das zentrale Ereignis ihres Lebens, über das sie sich immer wieder mit ihresgleichen austauschen mussten. Das ließ sie nicht los. Etwas, was für uns Jüngere sehr schwer zu verstehen war: Der Krieg war ihre Jugend gewesen, das können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Und diese Jugend war geprägt von Leben und Tod, von Kämpfen, Morden und Bränden und vom simplen Davonkommen. Diese indirekte Anwesenheit von Krieg und auch von Kriegsgefangenschaft spielte eine sehr wichtige Rolle für mein Interesse am östlichen Europa. Später hatte ich zum Beispiel an meinem Gymnasium, einer Benediktinerschule, zwei Lehrer, für Mathematik und für Latein, die in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen waren. Dort hatten sie leidlich Russisch gelernt und halfen uns, in der Abiturklasse eine Reise in die Sowjetunion zu organisieren, was in den 1960er-Jahren, noch dazu in Bayern, nicht gerade selbstverständlich war.

Irina Scherbakowa: Die Erinnerung an den Krieg war auch an vielen anderen Stellen in unserem Alltag präsent. Ich wusste, wer von den Freunden meines Vaters ebenfalls an der Front gewesen war und wer nicht, wer in Kriegsgefangenschaft gewesen war, obwohl sehr wenig über direkte Kriegserlebnisse gesprochen worden ist. Übrigens wusste ich ebenfalls, wer im Gulag gewesen war.

Mein Vater wollte eigentlich Marineoffizier werden. Er war am Tag des Kriegsbeginns in Leningrad in der Marinekadettenschule immatrikuliert, aber der Krieg hat seine Pläne durchkreuzt. Später wurde er Literaturwissenschaftler und sein Spezialgebiet war die Kriegsliteratur. Seine Freunde waren bekannte Dichter und Schriftsteller, die über den Krieg geschrieben haben. Diese sahen – wie auch mein Vater – ihre Hauptaufgabe darin, das wahre und nicht das glorreiche Bild dieses Krieges wiederzugeben. Mein Vater hasste Pathos und das verklärte Bild des Krieges, er hatte die Leningrader Blockade erlebt, er lag in den Schützengräben von Stalingrad, er wurde mehrere Male verwundet, hat aber seine Orden nie getragen. Er hat oft gesagt, dass so viele Menschen gefallen sind, ohne irgendwelche Orden zu bekommen.

1957 reiste er zum ersten Mal nach Deutschland, nach Ostdeutschland natürlich. Nach seiner Rückkehr erzählte er von dem komischen Gefühl, das er hatte, als er dort so viele Kriegsinvaliden sah, so viele gute Prothesen, die es bei uns nicht gab. Ich glaube, mein Vater hegte keinen Hass gegenüber den Deutschen, aber dieser Krieg hat ihn für immer geprägt. Natürlich gab es nach dem Krieg Hassgefühle gegenüber Deutschen in Russland, aber ich habe das niemals persönlich und konkret erlebt, und erstaunlicherweise sind diese sehr schnell verschwunden. Man muss aber betonen, dass ich nicht in Westrussland lebte, wo schreckliche Massaker an der Zivilbevölkerung stattgefunden hatten, die den Menschen dort sehr wohl in der Erinnerung geblieben waren.

Später hat mein Vater deutsche Literaten, die wie er Soldat gewesen waren, gefragt, was sie damals gefühlt, was sie erlebt haben. Er wollte wirklich verstehen, wie es auf der anderen Seite war. Bei einigen Gesprächen war ich dabei und habe gedolmetscht. Zu den bekanntesten zählten z.B. die Schriftsteller Franz Fühmann aus der DDR oder Heinrich Böll aus Westdeutschland. Böll war für damalige Leser in Russland einer der bekanntesten ausländischen Autoren – gerade wegen seiner Beschreibung Nachkriegsdeutschlands als ein ehemaliger Soldat. Und damals lasen viele Menschen in Russland Bücher über den Krieg. Die Literatur und vielleicht auch der Film waren die einzige Möglichkeit der Reflexion.

Heinrich Böll war einer der meistgelesenen westlichen Autoren in der Sowjetunion. Zwischen 1952 und 1979 wurden rund 90 Schriften des Literaturnobelpreisträgers ins Russische übersetzt und in einer Gesamtauflage von rund 2,5 Millionen Büchern verkauft. Böll war auch als einziger westdeutscher Autor in den sowjetischen Schulbüchern vertreten.

Franz Fühmann lebte als Essayist, Lyriker und Kinderbuchautor in der DDR. Als Anhänger des Sozialismus verhielt er sich zunehmend kritisch gegenüber der Entwicklung der DDR, von der er in seinen späten Jahren bitter enttäuscht war.

Durch die Kriegserfahrung, die diese Schriftsteller miteinander teilten, und weil sie beide Länder kannten, sprachen sie eine gemeinsame Sprache. Ich habe bereits als Kind eine Ahnung davon bekommen, dass Erinnerung sehr kompliziert sein kann. Ich entstamme ja einer jüdischen Familie, und ich glaube, dass für viele Juden die Erinnerung eine wichtige Rolle spielt. Sie mussten so oft in ihrer Geschichte fliehen, meist einfach nur ihr Leben retten, sodass man nur die Erinnerung mitnehmen konnte. Aber was heißt es für eine russische Jüdin wie mich, jüdisch zu sein? Schon meine Urgroßmutter hatte sich völlig von der hebräischen Sprache, dem Jiddischen, und der jüdischen Religion gelöst, und mein kommunistischer Großvater erst recht. In den Jahren des »Großen Terrors« wäre er beinahe umgekommen, nicht weil er Jude, sondern weil er ein Komintern-Funktionär war. Denn fast alle seine Freunde wurden Opfer der Säuberungen. Das Jüdischsein spielte nur im Krieg eine Rolle – wegen des Holocaust und des auch in der Sowjetunion erwachten Antisemitismus. Aber man sprach nicht gern darüber. Ich habe erst viel später erfahren, dass meine Urgroßmutter in Dnepropetrowsk mit allen anderen dortigen Juden im Herbst 1941 von den Deutschen ermordet worden ist. Sonst erzählte man über sie nur lustige Geschichten.

Der Antisemitismus begann in der Sowjetunion Ende der 1940er-Jahre. Damals gab es eine Welle des Kampfes gegen den sogenannten »Kosmopolitismus«, was ein anderes Wort für »Weltjudentum« und abwertend konnotiert war. Gleichzeitig sollte es die Sowjetbürger innerlich gegen einen angeblich äußeren Feind zusammenschweißen. Kurz vor Stalins Tod hatten alle in meiner Familie ihre Arbeit verloren, mein Großvater erwartete jeden Tag, dass er verhaftet würde. Dieser Antisemitismus hat mich bis zur Perestroika begleitet, wenn auch nicht in einer solch starken Form wie früher. Aber ich wusste, dass ich doppelt so gut lernen musste, um zur Universität zugelassen zu werden – um zu den wenigen Juden zu gehören, die aufgenommen wurden.

Biografische Prägungen

silhouette.jpg