Der Held dieses Buchs ist ein Hund, eine riesige Tibetdogge, ein Hütehund vom tibetischen Hochland.
Der mongolische Autor erzählt vom abenteuerlichen Leben dieses besonderen Hundes und nimmt seine Leser mit in die Welt der Nomaden und Händler, der Emporkömmlinge und der einfachen Leute in den endlosen Steppen Tibets und der Mongolei.
Kelsang
Gerelchimeg Blackcrane ist im Grasland der Inneren Mongolei aufgewachsen. Er hat mehrere Bücher geschrieben, in denen Tiere die Hauptrolle spielen und die vom Leben der Nomaden in Tibet und der Mongolei erzählen. Er wurde bereits mit zwei bedeutenden Chinesischen Jugendliteraturpreisen ausgezeichnet. Heute lebt Gerelchimeg Blackcrane in der chinesischen Provinz Heilongjiang, deren Hauptstadt das in diesem Buch beschriebene Harbin ist.
I Eine verschneite Nacht
II Kelsang
III Weiter und immer weiter weg
IV Die Straßenhunde von Lhasa
V Kelsang trifft in der Wildnis Han Ma
VI Die Tibetantilopen beschützen
VII Auf nach Norden
VIII Leben ohne Han Ma
IX Drei Schäferhunde im Kaufhaus
X Susu ist nicht mehr da
XI Blindenhund
XII Kelsang kehrt ins Grasland zurück
Nachwort
Glossar*
* Alle kursiv-gesetzten Worte werden im Glossar erklärt
Es schneite zum zweiten Mal in diesem Frühling. Große schwere Flocken hatten sich hoch oben am Himmel zusammengeballt und fielen nun, soweit das Auge reichte, zur Erde. Jede einzelne Flocke versuchte, der Erde das erste bisschen Grün zu rauben. Bei Einbruch der Nacht fiel der Schnee schneller und bedeckte den Boden in sanfter Umarmung – knisternd und pfeifend, stoßend und drängend –, und fast augenblicklich merzte der frische Schnee alle Spuren des alten zum Schmelzen bereiten Schnees aus. Der Schnee fiel nun dichter und bildete vor dem Himmel einen Vorhang, in dem nicht der geringste Spalt mehr zu sehen war.
Das war auf der nordtibetischen Hochebene, die auch der dritte Pol der Erde genannt wird, denn sie thront über einer Welt des Eises. Sie lässt uns an die Entstehung des Universums denken. Sie ist wild, fern jeglicher Zivilisation und öde.
Jurten sind wie winzige Inseln inmitten der brutalen Schneestürme des Hochplateaus. So unbedeutend wie einzelne züngelnde Flammen in der unendlichen Weite der Wildnis scheinen sie Gefahr zu laufen, jeden Augenblick von Schneewehen verschluckt zu werden. Ein tibetischer Hirte kann eine Jurte in Minutenschnelle aufbauen und so unverzüglich ein warmes Heim gegen Wind und Schnee erschaffen, eines, das er immer mit sich führen kann, wenn er von Ort zu Ort zieht.
Die Do-Khyi-Mutter – ein Do Khyi ist eine Tibetdogge –, umkreiste die Jurte. Durch die Yakhaarwände hörte sie ein Kind leise weinen und den sanften Singsang seiner Mutter. Alles war, wie es sein sollte.
Sie lief nun hinter die Jurte, wo das Vieh gehalten wurde. Dort standen vielleicht ein Dutzend eingeschneite Yaks, die wie weiße Hügel aussahen, während sie das Gras, das so schwer zu finden war, wiederkäuten. Ihre Kaugeräusche ähnelten denen des Windes, wenn er durch saftiges Herbstgras bläst. Die etwa zweihundert Schafe wiederum schmiegten sich wie immer eng aneinander, um sich gegen die Kälte zu schützen.
Dies war ein neuer Lagerplatz. Einen Monat zuvor hatte Tensing, ihr Herr, das Vieh von der Winterweide an diesen Ort gebracht, um den Frühling zu begrüßen. Die Schafe und Yaks waren ausgemergelt und erschöpft vom strengen Winter, und hier sollten sie nun wieder zu Kräften kommen und an Gewicht zulegen.
Die Do-Khyi-Mutter blickte hinüber und sah ein kleines Begrüßungslächeln über Tensings Gesicht huschen, das von der ungefilterten Hochlandsonne knallrot war – das hieß, er war guter Dinge. In Zeiten wie diesen konnte es sogar geschehen, dass er auf sie zuging und ihr liebevoll über den Kopf strich. Die unbarmherzigen Wintertage lagen unwiderruflich hinter ihnen. Es war eine Maiennacht auf dem tibetischen Hochplateau, und alles war, wie es sein sollte: ruhig und still.
Nachdem sie ihr Territorium in Augenschein genommen hatte, begab sich die Do-Khyi-Mutter zu einem Haufen Schaffellen hinter der Jurte. Mit einer ihrer Vorderpfoten schob sie vorsichtig eines der Felle beiseite, und sofort ließ sich das leise Winseln von Welpen vernehmen. Die drei wohlgenährten Welpen erkannten ihre Mutter am Geruch und kletterten ihr mit wackelnden Köpfen entgegen. Ein tiefes Knurren entsprang ihrer Kehle, sie schüttelte die nassen Schneeflocken aus ihrem Fell und ließ sich auf die Schaffelle fallen. Die Welpen drängten sich ungeduldig an ihren Bauch, während sie schubsend in ihrem dicken Fell nach einer Zitze suchten. Hatten sie eine gefunden, hielten sie sie mit ihren zarten Pfoten fest und saugten gierig daran.
Die Do-Khyi-Mutter blickte noch einmal aufmerksam umher. Es war vollkommen ruhig. Sicherlich war sie unnötig wachsam, aber ein tibetischer Hirtenhund lässt niemals nach in seiner Wachsamkeit.
Die Welpen waren fast einen Monat alt, und ihre Mutter wusste, dass ihr Herr sie bald holen und an Hirten abgeben würde, deren Weideland weit entfernt lag, denn so hatte er es bereits zuvor getan. Aber sie war nicht traurig. Die Welpen hatten nun schon Zähne und bissen in ihre Zitzen, während sie den nachlassenden Milchstrom in sich hineinsaugten. Meistens ertrug sie ihr forderndes Beißen klaglos, aber wenn es zu sehr schmerzte, gab sie ein tiefes gedämpftes Heulen von sich und bettete ihren Körper vorsichtig in eine andere Position.
Die drei reinrassigen Tibetdoggenwelpen waren wie kleine Bälle, bedeckt von einem dicken Flaum in der Farbe von Krähenflügeln; durch das lackschwarze Fell schimmerte ein metallisch glänzender blauer Ton. In ihren Adern floss edles Blut, und sie waren durchdrungen von dem furchtlosen Lebenshunger, der allen Tieren auf der sauerstoffarmen Hochebene zueigen ist.
Die Nacht wurde dunkler und der Schneefall heftiger. Obwohl Schnee die Eigenschaft hat, alle Geräusche zu schlucken, wehten vom Vieh Laute herüber, die die Do-Khyi-Mutter alarmierten. Sie hob ihren massigen Kopf, doch sie konnte nichts sehen – und es war windstill. Ihre feuchte Nase konnte keines der Warnsignale aufnehmen, die normalerweise mit diesen Lauten einhergingen. Doch nichtsdestoweniger verstummten die Laute nicht – Laute, die sie in solch einer friedlichen verschneiten Nacht nicht hören wollte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Sie erhob sich, doch der Welpe mit dem größten Kopf, der immer die Zitze mit der meisten Milch fand, wollte nicht loslassen. Er hing fest an der Zitze vom Bauch seiner Mutter herab. Das verzweifelte Blöken eines Schafes war aus der Herde zu vernehmen, und sie konnte hören, wie die Yaks gereizt mit den Hufen im lockeren Schnee stampften.
Die Do-Khyi-Mutter schüttelte sich. Der Welpe ließ endlich los, rollte über den Boden und gab Laute des Protests von sich, weil er von der nahrhaften Zitze getrennt worden war. Die Do-Khyi-Mutter schob ihn mit ihrer Schnauze unter die schützenden Schaffelle, bevor sie sich im weichen Schnee, der ihr halbwegs die Beine hinaufreichte, auf den Weg machte. Sie stürmte durch die Dunkelheit dem Schaf entgegen. Gleichzeitig gab sie als Warnung für ihren Herrn in der Jurte das für Tibetdoggen typische tiefe gleichmäßige Bellen von sich. Es klingt wie der Ton eines Steins, der auf eine mit Rindsleder bezogene Trommel trifft.
Als sie die Herde erreicht hatte, waren alle Yaks aufgestanden, und ihr zu Eis- und Schneeklumpen gefrorenes Fell umgab sie wie eine Rüstung. Sie sahen aus wie große weiße bewegliche Felsen.
Die Schafe waren noch fester aneinandergepresst – eine einzige Masse.
Ein ungewohnter Geruch. Die Do-Khyi-Mutter hatte ihn auf Anhieb wahrgenommen, er war anders als der von Schafen – er roch nach Wildnis. Ein Geruch ebenso stark wie der nach Angst, der von den Schafen ausging. Er kam aus der Mitte der Herde.
Sie gab ein wütendes Heulen von sich und warf sich mit all ihrer Kraft gegen eines der Schafe, doch trotz des harten Schlags in den Magen blickte das Schaf weiter stumpfsinnig vor sich hin. Es stand völlig bewegungslos da, nur seine teilnahmslos blickenden Augen verengten sich, und seine vom Frost überkrusteten Wimpern flatterten wie Schmetterlingsflügel. Schafe sind so. Wann immer etwas passiert, besteht ihre einzige Reaktion darin, sich enger aneinanderzupressen. Die Do-Khyi-Mutter versuchte noch mehrmals, in die Schafherde einzudringen, aber die Schafe reagierten nicht. Da sie nichts tun konnte, jagte sie wild bellend um die Herde herum, in der Hoffnung, eine Lücke zu entdecken, durch die sie zu dem Schurken, der sich inmitten der Schafe versteckte, gelangen konnte.
Sie bellte sich heiser in Richtung Jurte, damit der Herr herauskam. Sie hatte keine Möglichkeit, in die Herde einzudringen, und das erzürnte sie. Ihr ungezähmtes Temperament drängte sie, den Räuber zu stellen, der sich zweifellos unter den Schafleibern versteckte und heimlich über sie lachte. Sie würde ihn in Stücke reißen. Wieder warf sie sich gegen die zitternde Herde, deren Blöken an fernes Rauschen erinnerte. Sie wusste: Wer auch immer sich dort verstecken mochte, für immer konnte er dort nicht bleiben.
Und wie sie es vorhergesehen hatte, tauchte das Tier auf.
Doch die blitzartige Geschwindigkeit des Angriffs hatte sie nicht vorausgesehen. Sie hörte etwas brüllend auf sich zukommen, und dann spürte sie einen schweren Schlag gegen ihre rechte Seite, der sie fast zu Boden gehen ließ. Sie musste ihr Gewicht verlagern, um wieder festen Stand zu gewinnen; ihre nicht unbeträchtliche Größe kam ihr dabei zustatten.
Der geisterhafte Schemen stand nun still im Schnee vor ihr. Es war ein Schneeleopard. Das Gebell der Do-Khyi-Mutter hatte seine Mahlzeit unterbrochen. Er hob sich glänzend wie Satin vom Schnee ab, sein Schwanz, den er hinter sich herzog, war so dick und stark wie eine Python. Der Schneeleopard betrachtete sein Gegenüber mit lässigem Blick. Das Schaf war eine einfache Beute gewesen; er öffnete sein Maul, das noch von frischem rotem Blut verschmiert war, und gab ein Brüllen von sich, das an das Krachen von Eis erinnerte.
In der Schulter der Hündin klaffte eine Wunde, und warmes Blut sickerte in ihr langes Fell. Der Blutgeruch machte sie noch wütender. Aber gleichzeitig entspannte sie sich auch, denn die physische Anwesenheit des Schneeleoparden war beruhigender als ein versteckter Gegner. Langsam begann sie, ihren Kopf hin- und herzuwiegen, während ihre Augen die Katze fixierten.
Im Wörterbuch einer Tibetdogge existiert kein Wort für Angst. Diese Hunde haben schlicht keinerlei Furcht vor Raubtieren. Nichtsdestoweniger hatte die Do-Khyi-Mutter in all der Zeit, die sie den Lagerplatz des Herrn und sein Vieh bewacht hatte, niemals gegen einen Schneeleoparden gekämpft.
Die fünfundsechzig Kilo schwere Tibetdogge und der Schneeleopard standen sich in vollkommener Stille gegenüber. Kein Laut war zu hören, während der Schnee immer dichter auf die Erde fiel.
Die Schafe hatten sich jetzt zu einer noch kompakteren Masse zusammengedrängt, als könnten sie nur sicher sein, wenn sie so fest wie möglich aneinandergepresst waren.
Lautlos flog die Do-Khyi-Hündin auf den Schneeleoparden zu. Auch dieses Mal reagierte der Schneeleopard unvorhergesehen. Statt sich auf seine Reaktionsschnelligkeit zu verlassen und ihrem Angriff auszuweichen, traf er die Entscheidung, ihrem Angriff standzuhalten. Und just als die Tibetdogge ihre Zähne in die nach verschneiten Berggipfeln duftende Schulter des Leoparden versenkte, hieb eine Pfote des Leoparden in ihren Rücken wie ein Stahlhaken.
Sie wich sofort zurück, und mit einem Brüllen biss sie nach der Pfote des Schneeleoparden, dessen Krallen sich immer tiefer in das Fleisch ihres Rückens bohrten. Ihre Zähne prallten auf die schärferen Zähne des Leoparden, die noch immer vom Blut des Schafes bedeckt waren, und dieser Zusammenprall erzeugte ein Geräusch wie von klirrendem Metall.
Nach diesem Gefecht spürte die Do-Khyi-Mutter nur ein leises Pochen in ihrem Rücken. Eine andere Verletzung hatte sie nicht erlitten. Der Leopard, der sein Letztes gegeben hatte, stand in kurzer Entfernung von ihr im zertrampelten Schnee. Die Tibetdogge näherte sich langsam, und der Schneeleopard brüllte mit aller Kraft und verriet dadurch – trotz seiner furchteinflößenden Erscheinung – seine Schwäche. Verzweifelt suchte er, einen seiner Vorderläufe zu verbergen, der schwer verwundet war. Auch wenn die Do-Khyi-Mutter nicht das knackende Geräusch brechender Knochen vernommen hatte, als sie in die Pfote des Leoparden biss, genoss sie noch immer zufrieden das Gefühl, seine Muskeln und Sehnen verletzt zu haben.
Es hatte aufgehört zu schneien. Fast augenblicklich war der nachtblaue Himmel von Sternen bedeckt, und der verschneite Boden glitzerte blendend im Mondlicht, während die letzten Schneeflocken nur noch zögernd vom Himmel fielen, auf der Suche nach einem Platz, wo sie sich niederlassen konnten.
Nach dem Verlust der schützenden Dunkelheit war der ausgewachsene Schneeleopard offensichtlich beunruhigt. Das Haar an seinem Schwanz hatte sich aufgerichtet; er wirkte dadurch noch dicker als sonst und schwang sanft hin und her wie eine Schlange zur Flöte des Schlangenbeschwörers, wie angetrieben von einer geheimen Absicht. Der Leopard hatte die Zeit, in der sich die zwei gegenüberstanden, genutzt, um kurz seinen Rückweg in Augenschein zu nehmen.
Die Hündin wusste, dass der Leopard nur deshalb noch da war, weil er Hunger hatte. Bei dem schlechten Wetter ließ sich nicht jeden Tag Futter auftreiben, daher würde er das Fleisch, das er sich gesichert hatte, nur ungern zurücklassen.
Als die Hündin sich vorwärts warf, war sie sich bewusst, dass dies ihr letzter Angriff war, denn sie hatte ihre letzte Kraft hineingesteckt. Sie war zuversichtlich, der Pranke, die sich ihr entgegenstrecken würde, ausweichen und ihre Zähne im Hals des Leoparden versenken zu können, um ihn dann zu Boden zu pressen und darauf zu warten, wie sein warmes Blut in den Schnee lief. Dann würde sie ein hohles Tropfen hören, ähnlich dem Geräusch, dass ihre Herrin machte, wenn sie mit der hölzernen Kelle Wasser aus dem Fluss schöpfte. Und wenn sie danach ihr Maul öffnete, würde der Kopf des Leoparden sanft auf den verschneiten Boden gleiten, gerade so wie bei den beiden gierigen Wölfen, die sie erst kürzlich bezwungen hatte.
Als sie auf den Schneeleoparden zusprang, tat sie, als habe sie es auf seine Pfote abgesehen. Davon getäuscht, senkte der Leopard seinen Kopf, um sie abzuwehren.
Alles lief nach Plan. Erfahrung ist wichtig bei diesen Dingen, und die hatte die Do-Khyi-Mutter im Laufe der Jahre bei der Abwehr der wilden Tiere, die ihre Lagerplätze bedrohten, reichlich sammeln können.
Doch plötzlich hörte sie ein Zirpen, wie von einem aufgeschreckten kleinen Vogel. Getrieben vom Mutterinstinkt blickte sie zu den inzwischen schneebedeckten Schaffellen. Und als ihr bewusst wurde, dass das ein Fehler war, war es bereits zu spät. Der Leopard hatte die kurzzeitige Ablenkung blitzschnell ausgenutzt und versenkte nun seine scharfen Zähne in den ungeschützten Bauch der Tibetdogge.
Was folgte, war ein nicht enden wollender Alptraum. Das Gebrüll war entsetzlich. Es hörte sich an, als zerbrächen Dinge und rollten auf dem Schnee in der Nähe der Jurte herum. Tensing war benommen, denn er hatte in der Nacht hohes Fieber bekommen, und erst, als alles wieder ruhig war, erwachte er aus seiner koma-haften Starre. Er kletterte unter seiner Decke hervor, ignorierte die Proteste seiner Frau und torkelte ins Freie. In seiner rechten Hand hielt er ein langes tibetisches Schwert und in seiner linken eine Taschenlampe. Die Wolken waren einem saphirblauen Himmel gewichen. Alles war ruhig, als habe sich nichts zugetragen. Zu ruhig. Und die Yaks standen, ebenso die Schafe, eng aneinandergepresst, anstatt auf der Erde zu liegen – ein klares Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte.
Tensing bemerkte, dass der Schnee auf einer Fläche von etwa zehn Metern um die Schafe herum zertrampelt war und sich einzelne Grasbüschel darin zeigten, und dass der Schnee übersät war mit Tropfen geronnenen Blutes. Außerdem lag etwas, das aussah wie eine weiche Plüschdecke auf dem Boden. Mit seinem Schwert und der Taschenlampe fest im Griff ging er vorsichtig auf die blutüberströmte Decke zu. Als er sie erreicht hatte, ließ er vor Staunen fast die Taschenlampe fallen.
Es handelte sich um einen Schneeleoparden. Er hatte einen furchtbaren Riss im Hals, der rote Muskeln und ein Durcheinander von Adern und Röhren freilegte. Seine Augen standen weit offen. Tensing fuhr mit seinem Schwert über den Brustkorb des Leoparden, aber der bewegte sich nicht. Er war tot. Sein prächtiges Fell war mit Blutstropfen geschmückt, und er war von solcher Schönheit, dass Tensing fröstelte.
Eine unregelmäßige Blutspur führte zu dem Haufen mit Schaffellen hinter der Jurte. Der Anblick, der sich Tensing dort bot, erschütterte ihn. Das Blut, das aus dem verwundetem Bauch der Hündin geströmt war, hatte bereits einen großen Flecken Schnee rot gefärbt.
Sie hörte ihn und versuchte ungelenk ihren Kopf zu heben, bevor sie einen der Welpen, der zur Seite geschoben worden war, zurück an ihre Brust stupste. Die drei Welpen saugten jetzt wieder an den Zitzen ihrer Mutter ohne zu verstehen, was sich zugetragen hatte.
Das Mondlicht war verschwunden. Jetzt begann der dunkelste Teil der Nacht, kurz vor der Morgendämmerung. Die Do-Khyi-Mutter blickte plötzlich um sich. Sie lag in einer Ecke der Jurte. Verwirrt schnüffelte sie an dem mit Yakbutter getränkten Tuch, das um ihren Bauch gewickelt war, bis sie zu ihrer Erleichterung entdeckte, dass der Herr auch ihre Welpen in die Jurte gebracht hatte, die nun in ihrer Nähe auf einem Schaffell schliefen. Vorsichtig leckte sie ihnen das Blut aus dem kohlrabenschwarzen Fell; sie seufzten dabei nur einige Male im Schlaf. Das hieß, dass sie Milch getrunken haben mussten und satt waren.
Nachdem sie sie saubergeleckt hatte, richtete sie sich mühsam auf, schwankte wie eine Gebetsfahne im Wind und stand endlich etwas sicherer. Sie lehnte sich kurz nach vorn und beschnüffelte ihre Welpen. Dann stolperte sie auf den Filzvorhang am Eingang zu. Mit dem Kopf schob sie ihn zur Seite und schlüpfte aus der Jurte.
Tensing hielt sie nicht auf. Die erste Tibetdogge, die er aufgezogen hatte, war auf dieselbe Art verschwunden, als sie begriffen hatte, dass die Flamme ihres Lebens zu verlöschen drohte. Alle Tibetdoggen schreiten gefasst aus dem Leben, wenn sie merken, dass die Zeit zu sterben gekommen ist. Und wenn sie wählen können, sterben sie nicht auf ihrem Lagerplatz.
Tensing zog den Filzvorhang beiseite und sah hinaus in den durchscheinenden Schnee. Die Tibetdogge lief langsam auf die riesigen Gebirge in der Ferne zu – erste blaue Pinselstriche am Himmel verkündeten den nahenden Morgen. Als ihr schwarzer Schatten am Horizont verschwand, war die Sonne aufgegangen.
Kelsangs erste Erinnerung war die an einen glitzernden schneebedeckten Berggipfel, der sich vor der unendlichen Weite eines azurblauen Himmels abzeichnete. Die kristallene Bergkuppe glitzerte im Sonnenlicht und blendete seine jungen Augen. Zögernd senkte er seinen Kopf und leckte die Milch auf, die in seiner Stahlschüssel bereits gefror.
Er war ein ganz besonderes Exemplar einer Tibetdogge. Er hatte herzförmige Ohren, die seitlich am Kopf hingen, und sein Fell war, nachdem er sein Welpenhaar verloren hatte, rabenschwarz mit einem metallisch blauen Glanz. Und obgleich er erst drei oder vier Monate alt war, konnte man schon erkennen, dass er furchteinflößend kräftig würde.
Auch wenn es im Hochland kaum Kommunikationswege gibt, verbreitete sich die Geschichte von der Tibetdogge, deren Kraft der eines Schneeleoparden gleichkam, innerhalb weniger Wochen. Eine Reihe von Hirten erreichte nach tagelangen Ritten auf ihren Pferden durch die Steppe Tensings Lagerplatz, in der Hoffnung, einen der Welpen zu erstehen. Sie waren fest davon überzeugt, dass solche Furchtlosigkeit und solcher Mut mit dem Blut weitergegeben werden.
Kelsang hatte nur wenige Erinnerungen an seine Mutter und an seine zwei Geschwister, die von Hirten auf Pferden davongetragen worden waren. Er konnte nicht wissen, dass sein Herr, Tensing, ihn behalten hatte, weil seine Pfoten in nur zwei kurzen Monaten bereits auf die Größe von Kinderfäusten angewachsen waren.
Er war ein noch nicht ausgewachsener Gigant. Tensing wusste, dass dieser Hund so groß werden würde, dass die Menschen ihn fassungslos bestaunten. So einen Hund brauchte man für sein Lager auf dem tibetischen Plateau. Er würde das Vieh beschützen, die Jurte bewachen und sogar Nachrichten überbringen, wenn das Camp eingeschneit wäre.
»Kelsang!«
Der junge Hund hörte die Stimme seines Herrn, während er an einem Stück Schafsschulter kaute. Auch wenn er nicht genau wusste, dass das sein Name war, wusste er, dass sein Herr, immer wenn er dieses Wort von sich gab, ihn erwartungsvoll ansah. Und immer wenn Kelsang reagierte, indem er zu ihm hinübertrottete, tat sein Herr etwas, das Kelsang gefiel: Entweder streichelte er ihm sanft übers Fell oder er fischte aus seinem schafsledernen Gewand ein Stück getrocknetes Fleisch, und gab es ihm. Und während er auf dem köstlichen Dörrfleisch herumkaute, das den ganzen Winter im Dunkeln gehangen hatte, kauerte sich sein Herr neben ihn und blickte hinüber zur Herde vor der Jurte.
Zu dieser Art von Zuwendung kam es zwar nicht jeden Tag, und abgesehen von der Extrakelle Milch, die ihm die Herrin jeden Tag nach dem Melken zuteil werden ließ, wurde er auch nicht verwöhnt, doch er fühlte sich gut behandelt. Do-Khyi-Blut floss durch seine Adern, und Do Khyi sind es nicht gewohnt, allzu engen Kontakt zu Menschen zu pflegen.
Nachdem die beiden anderen Welpen weggegeben worden waren, wurde Kelsang der Jurte verwiesen. In der ersten Nacht lief er dickköpfig vor der Jurte auf und ab und gab lautes Geheul von sich, weil er wieder in die warme Umgebung zurück wollte. Doch plötzlich zog Tensing den Vorhang beiseite und schlug ihm mit seiner Baiga, einer Schleuder, auf den Kopf. Die Waffe bestand aus einem langen Streifen Leder, in dessen Mitte sich eine Ausbuchtung für ein Geschoss befand: meistens taten die Hirten Steine hinein. Kelsang jaulte auf vor Schmerz und flüchtete Richtung Viehherde, weil er hoffte, dort ein wenig Wärme zu finden.
Die Yaks begannen mit ihren von Dung überkrusteten Hufen zu stampfen, bevor er ihnen noch näher kam. Die Schafe wiederum schmiegten sich lautlos aneinander, während ihre Augen im Dunkeln glitzerten wie ein Sternenhimmel, der sich in einem See spiegelt. Kelsang begriff, dass es für ihn keine Möglichkeit gab, zur Herde zu gehören, einer von ihnen zu werden. Er drehte sich um und lief wieder zur Jurte zurück. Ein warmes Licht schien durch eine kleine Ritze am Eingang, und er konnte das fröhliche Gelächter seines Herrn hören. Der junge Do Khyi versuchte es wieder mit Geheul, doch als Tensing ärgerlich aufschrie, lief Kelsang davon, denn er wollte keinen weiteren Schlag auf den Kopf riskieren.
Er kuschelte sich in den Haufen Schaffelle und atmete den vertrauten Duft ein. Er erinnerte sich vage der Nacht, als seine Mutter von dem Schneeleoparden angegriffen worden war, versuchte seiner Angst Herr zu werden und fing wieder an zu heulen. Von nun an würde er nicht mehr an das warme Fell neben dem Feuer in der Jurte denken. Weit weg in der Ferne ließ silbernes Mondlicht einen verschneiten Berggipfel wie ein seltenes Juwel erstrahlen. Noch immer jaulte Kelsang, dann kuschelte er sich tiefer in die Felle ein, um der Kälte zu entkommen, und schließlich schlief er – umgeben vom Geruch frischen Grases – ein.
Früh morgens im Hochland. Der Reif der Nacht zerschmolz unter den Strahlen der aufgehenden Sonne zu funkelndem Morgentau wie kleine Perlen. Kelsang kroch aus den Fellen und zerschmetterte die Perlen mit jedem Schritt, der ihn näher zur Jurte brachte.
Ein paar Dutzend Schafe waren mit einer Lederkordel an den Hörnern zusammengebunden und standen reglos vor der Jurte, mit trägblickenden Augen, ihre Euter geschwollen von Milch; sie warteten darauf, von der Herrin gemolken zu werden. Diejenigen, die nicht bis nach dem Melken warten konnten, stellten ihren Schwanz auf und ließen ölig-schwarze Schafskötel fallen.
Weiter entfernt wurden graue Wolken vom Wind über den dunkelblauen Himmel gejagt und warfen dabei Schatten auf das Grasland. Die Schatten flogen über den schneebedeckten Gipfel wie eine Flutwelle auf dem Rückzug, und plötzlich breiteten sich die Strahlen der Sonne in jeden Winkel der Landschaft aus. Der Herr hatte schon die Maulbeerholzglut vor der Jurte entfacht, und eine kleine Rauchwolke stieg in den klaren Himmel.
Kelsang spürte, dass heute etwas anders war als sonst. Normalerweise hätte seine Herrin sich im Lager nützlich gemacht, nachdem sie ihm seine Milch gebracht hatte, aber heute standen sie und der Herr flüsternd in seiner Nähe. Obwohl er ahnte, dass das, was gleich geschehen würde, etwas mit ihm zu tun hatte, war er doch zuallererst noch immer ein junger Hund, und da war ihm das Dringlichste, die warme Milch, die vor ihm stand, aufzuschlecken. Wenn sein Magen knurrte, gab es für ihn nichts Wichtigeres, also senkte er seinen Kopf und schleckte drauflos. Als er die Schüssel leergeleckt hatte, war Tensing nicht mehr da.
Wie an jedem Tag vor diesem hatte Kelsang nach seiner Mahlzeit nichts anderes zu tun, als die Jurte zu umkreisen, sich dann auf seinen Fellhaufen zu legen und mit leerem Blick auf die verschneiten Berge in der Entfernung zu starren. Er wusste, dass das Kind des Herrn schon bald aufwachen und vor sich hinbrabbelnd aus der Jurte krabbeln würde, um mit ihm zu spielen. Aber heute folgte der kleine Junge stattdessen dem Herrn überall hin. Tensing hatte schon den Fellbeutel dabei, in dem er sein Mittagessen transportierte, wenn er die Herde zum Weiden führte. Als das Kind nun endlich fröhlich plappernd auf Kelsang zurannte, war er ganz aufgeregt. Er stand auf, bereit für eine Balgerei, aber Tensing rief dem Kind mit strenger Stimme etwas zu, und widerstrebend blieb das Kind stehen.
Tensing schwang seine Baiga durch die Luft, und sie gab einen starken klaren Ton von sich. Daraufhin kam die Schafherde vor der Jurte auf die Beine. Es war Zeit zum Weiden, so wie sie es jeden Tag taten.
»Kelsang!«, rief der Herr nach ein paar Schritten und drehte sich zu ihm.
Kelsang hatte gerade dem Kind entgegenspringen wollen, doch nun blieb er wie angewurzelt stehen und folgte dann, ohne jegliches Zögern, seinem Herrn. Er wusste gar nicht, warum er das tat, aber er hatte das Gefühl, dass etwas auf ihn wartete. Jeden Tag hatte er gelangweilt die Jurte umrundet und sich dann für ein Nickerchen ins Gras gelegt. Doch tief in ihm, in jeder Pore seines Körpers, hatte er ein wachsendes Zittern gespürt, als suche er nach etwas, doch er wusste nicht, wonach.
Sorgsam passte Kelsang sich der Geschwindigkeit seines Herrn an und wanderte mit ihm in die Steppe. Das heulende Kind war schon lange wieder in der Jurte verschwunden. Und obgleich Kelsang nur ein Welpe war, wusste er, dass die Tage, an denen er mit dem Kind gespielt hatte, vorüber waren. Er hob seinen massigen Kopf und lief neben seinem Herrn her, weder überholte er ihn, noch blieb er hinter ihm zurück. So nahm sein nomadisches Leben seinen Anfang mit der Suche nach Weideland.
Nachdem der dunkle Schatten der Jurte im aschfarbenen Horizont verschwunden war, erreichten Kelsang und sein Herr endlich ein tiefer gelegenes Stück Land voll saftigen Grases. Der Herr trieb die Schafe in die Senke und lehnte sich dann gegen den Abhang, das Gesicht der Sonne zugewandt. Dem Vorderteil seines Gewands entnahm er einen Klumpen Wolle und eine Handspindel, die aus dem Schenkelknochen eines Schafes gefertigt war, und begann zu spinnen. Die wohl zweihundert Schafe verteilten sich über die Weide und begannen mit der wichtigsten Aufgabe ihres Tages – fressen.
Kelsang war noch nie zuvor so weit weg vom Lagerplatz gewesen. Der Geruch hier war vollkommen anders als der warme Duft brennenden Dungs, der die Jurte umgab. Der kurze, aber wunderschöne tibetische Sommer hatte eingesetzt. Der Sonnenschein war üppig und das Gras leuchtend grün. Doch noch immer spürte Kelsang tief in seinem Inneren dieses Zittern. Das Gras unter seinen Pfoten war ungewohnt, der Wind blies von einem schneebedeckten Berg in der Ferne, und die ganze Luft war erfüllt vom Duft der Wildnis.
Er legte sich neben seinen Herrn – der einzige Ort an dem er sich sicher fühlte – und nickte, gewärmt von den Sonnenstrahlen, ein.
Als er wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und sein Herr hatte die dünnen Wollfäden zu dickem Garn versponnen, das er zu einem Knäuel wickelte. Manche der Schafe hatten genug gefressen und lagen nun auf der Weide. Die Stille war überwältigend, der Himmel von einem klaren Azurblau.
Plötzlich nahm Kelsang ganz vage etwas Goldfarbenes wahr, das sich über den gegenüberliegenden Abhang bewegte. Es war nur ein ganz kurzes Schimmern, und doch war es eine Bewegung, die in der ansonsten bewegungslosen Umgebung auffiel.
Kelsang stürmte los; zwar hörte er seinen Herrn rufen, aber er war es noch nicht gewohnt, ihm bedingungslos zu gehorchen. Im Augenblick gehorchte er lieber seinem Instinkt. Bellend nahm er die Verfolgung auf.
Aber das kleine goldene Ding war plötzlich verschwunden. Das war etwas, das Kelsang noch nicht verstehen konnte, es verwirrte ihn, und er verminderte sein Tempo. Was immer es war, es hatte eine Spur hinterlassen, denn ein seltsamer Geruch hing in der Luft. Kelsangs Geruchssinn war sein machtvollstes Instrument, um ihm die umgebende Welt zu erklären. Dieses goldene Ding erinnerte ihn daran, wie er das erste Mal die Schaffelle verlassen und Schnee gesehen hatte. Eine Schneeflocke war auf seine feuchte schwarze Nase gefallen, und in Sekundenschnelle war sie schon wieder verschwunden.
Kelsang presste seine Nase vorsichtig auf den Boden. Er konnte nicht sagen, wie weit entfernt die Quelle des Geruchs war, aber er war noch immer stark. Stück für Stück nahm er die verschiedenen ihn umgebenden Gerüche wahr und speicherte sie in seinem Hirn ab. Dieser Geruch gehörte zu einem Murmeltier.
Kelsang folgte der Fährte und stieß auf ein kleines Loch im Erdboden. Der Geruch war jetzt so stark, dass er meinte, davon verschlungen zu werden. Er war so aufgeregt, dass er fast das Bewusstsein verlor – denn es war keine Frage, die Kreatur versteckte sich in dem Loch. Er scharrte die lose Erde neben dem Loch weg. Das Loch war nicht tief. Er begann wieder mit seiner Pfote zu scharren, als das Murmeltier direkt zwischen seinen Beinen hindurchschoss, und bevor er überhaupt wusste, was geschah, rotierte es wie ein kompakter Kreisel durch das tiefe Gras.
Kelsang rannte glücklich bellend hinterher.
Vielleicht war das Murmeltier ein Neuling in dieser Gegend und hatte noch keine Zeit gehabt, in der Senke alle zehn Meter Fluchtlöcher anzulegen, damit es, wenn es auf Nahrungssuche war, jederzeit Rückzugsmöglichkeiten hatte. Murmeltiere hatten zu dieser Jahreszeit auch noch nicht sehr viel Fett angesetzt, und so war dieser flinke Nager kein Gegner für Kelsang, und nach einer Weile ahnte das Tier denn auch, dass es für den großen Hund nichts als ein Spielzeug war. Kelsang warf es ein paar Mal mit seiner Pfote um, aber tötete es nicht, obgleich er das viele Male hätte tun können. Stattdessen ließ er es immer wieder aufstehen und davonrennen.
Tensing beobachtete Kelsang, wie er das Murmeltier im Kreis jagte. Er ließ ihn gewähren, denn er wusste, dass Kelsang sich nur deshalb so für dieses Spiel begeisterte, weil er noch jung war. Aber bald schon würde er lernen, die Herde zu bewachen. Das war es, was er im Blut hatte.
Nach einer Weile flitzte das Murmeltier zurück in sein Loch, aus dem nun sein Kopf heraussah. Es fletschte die Zähne und gab einen schrillen Schrei von sich, der wie das Pfeifen eines Vogels klang. Kelsang verringerte seine Geschwindigkeit, als er auf den Nager zurannte. Und genau in dem Moment, in dem er dem Murmeltier in die Nase hätte beißen können, sprang er über seinen Kopf hinweg. Dann drehte er sich rasch wieder um und startete einen neuen Angriff. Dieses Spiel hätte Kelsang stundenlang weiterspielen können – jedes Mal, wenn er seine Zähne in den Nacken des Murmeltiers hätte senken können, sprang er über den Kopf hinweg.
Das Murmeltier wusste nicht, was es tun sollte. Es war zu dieser Grassenke gekommen, um ein friedliches Leben zu führen. Unfähig, diese Quälerei länger zu ertragen, sprang es wieder aus dem Loch, in dem es zu verschwinden versucht hatte.
Kelsang war sich nicht bewusst gewesen, dass seine Gene genau darauf gewartet hatten. Sein Blut kam in Wallung, und instinktiv sprang er dem Murmeltier hinterher, packte das fleischige Tier mit seiner Schnauze und hielt es zwischen seinen Zähnen. Das Murmeltier strampelte vergebens dagegen an.
Obwohl Kelsang starke Nackenmuskeln hatte, war er noch immer ein Welpe. Seine Pfoten suchten jetzt festen Halt auf dem Erdboden und ebenso fest hielten seine Zähne das Murmeltier im Nacken. Dann fühlte er etwas brechen, und eine warme Flüssigkeit lief am glatten Fell des Murmeltiers hinab und tropfte ihm ins Maul. Er schnaubte begeistert, als der zappelnde Körper des Murmeltiers erschlaffte und schließlich ganz aufhörte sich zu bewegen.
Kelsang trug den kleinen plumpen Körper des Tiers zu seinem Herrn und legte ihn ihm vor die Füße.
Tensing streichelte ihm über den Kopf, nahm ein Stück Dörrfleisch aus seinem Vließbeutel und steckte es in Kelsangs Maul. Der legte sich hin, während Tensing nach dem Messer griff, das in seinem Hosenbund steckte, und vorsichtig begann, dem Murmeltier das Fell abzuziehen. Am Nachmittag, bevor sie die Schafe zurück zum Lagerplatz trieben, nahm sein Herr das Murmeltierfell, das von der Sonne schon fast getrocknet war, und hängte es sich an die Hüfte.
Kaum waren sie zurückgekehrt, rannte der Sohn des Herrn schon auf sie zu und versuchte, Kelsang am Nackenfell festzuhalten. Aber obschon es in dieser trostlosen Steppe nichts anderes zum Spielen gab, lief Kelsang davon. Er würde es nicht mehr zulassen, dass der kleine Junge ihn am Nackenfell festhielt. Diese Art Spiele interessierten ihn nicht mehr.
Das Wetter war ungewöhnlich gut, als Kelsang seinen Herrn zum dritten Mal begleitete, um die Schafe zum Weiden zu führen. Sowie sie gutes Gras gefunden hatten, holte der Herr wieder Wolle und Spindel hervor. Kelsang legte sich neben ihn. Ihm wurde schwindlig, als er die wirbelnde Spindel beobachtete, und schloss die Augen.
All diese ersten Erfahrungen waren wichtige Erinnerungen, die ihm in der Zukunft zugutekommen sollten – zum Beispiel, als er es das nächste Mal mit einem erschrockenen Murmeltier zu tun bekam, das nicht aus seinem Loch heraus wollte.
Das Murmeltier hatte sich wie jedes andere Tier verhalten, das sich in einer Falle wähnt. Kelsang hatte seinen Kopf in dem Loch versenkt, um den hässlichen kleinen Kerl zu fangen, dessen faltiges Gesicht dem einer verängstigten Katze ähnelte. Aber so einfach war es dann doch nicht. Ein paar scharfe Reißzähne waren plötzlich zu sehen, von denen er wusste, dass sie nicht zu einem Nagetier des Graslandes gehörten. Panik überflutete ihn, als er zu spüren glaubte, das Loch über ihm sei verschlossen, weil sich etwas von hinten näherte. Es wurde dunkel. Die Sonnenstrahlen, die von hinten in das Loch hineingeschienen hatten, waren verloschen, und das faltige Gesicht des zähnefletschenden Murmeltiers und seine sich hektisch bewegenden Pfoten verschwanden in der Dunkelheit. Die Finsternis überspülte alles wie das Wasser eines Sees. Das, was Kelsang am meisten fürchtete, nahm nun seinen Lauf – er war kurz davor, in der Höhle zu ersticken. Voller Angst reckte er seinen Hals und begann wütend zu bellen, er spannte seine Muskeln an und presste seinen Körper gegen die Wände.
Dann spürte er ein Klopfen auf seinem Kopf.
Kelsang erwachte auf dem Rücken liegend, die Pfoten in die Höhe gestreckt. Eine Wolke schwebte über den friedlichen Himmel und hinterließ einen riesigen schnellziehenden Schatten auf dem Grasland. Tensing war noch immer am Spinnen. Er war also doch nicht in dem dunklen muffigen Loch gefangen. Fast hysterisch vor Erleichterung, sprang er auf die Pfoten und rieb seinen Hals voller Begeisterung gegen die Stiefel des Herrn.
Aber Tensing interessierte sich nicht besonders für die Zuneigung seines Hundes. Sein Blick war auf seine Herde in der tiefliegenden Wiese gerichtet. Er schwang seine Baiga und schleuderte einen Stein aus dem Säckchen, das er mit sich führte. Doch er landete viele Meter abseits der Herde – sie hatte sich zu weit entfernt. Die Schafe hielten ihre Köpfe tief gebeugt, während sie das frische Gras fraßen, sich immer weiter entfernten und drauf und dran waren, hinter einem kleinen Hügel und damit endgültig aus Tensings Blickfeld zu verschwinden.
Tensing seufzte und machte sich daran, sie zurückzuholen, als Kelsang wie ein schwarzer Meteor bellend davonschoss, direkt auf die Schafe zu. Erst während er den Berg hinunterraste, merkte er selbst, was er tat.
Schon während der letzten Tage, wenn Kelsang aus tiefem Schlaf erwachte, hatte er einen eigenartigen Impuls in sich gespürt, wie eine stetig steigende Flut. Er suchte nach etwas. Er wollte etwas an seinen angestammten Platz bringen. Dieser Impuls plagte ihn, und er fand keine Möglichkeit, ihn zu bändigen oder freizusetzen.
Er hatte gesehen, wie der Herr Steine schleuderte, um Schafe daran zu hindern, sich von der Herde zu entfernen, oder wie er sich selbst auf den Weg machte, um die Schafe zu einer üppigeren Weide zu treiben. Hätte Kelsang eine erfahrene Tibetdogge an seiner Seite gehabt, die ihm vormachte, was zu tun war, hätte er alles schneller verstanden. So aber war er nur ein Welpe. Woher sollte sein junges Hirn wissen, was er zu tun hatte? Doch auch ohne einen Lehrer trieb ihn der Instinkt eines Hütehundes, der seit Tausenden von Jahren das Blut der Tibetdoggen erfüllt, voran. Das ist ein Instinkt, der sich nicht verleugnen lässt.