Behinderung – Theologie – Kirche
Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies
Herausgegeben von
Johannes Eurich
Andreas Lob-Hüdepohl
Band 9
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bistümer Paderborn und Münster sowie der Gesellschaft der Freunde der Technischen Universität Dortmund e.V.
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-028909-3
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pdf: ISBN 978-3-17-028910-9
epub: ISBN 978-3-17-028911-6
mobi: ISBN 978-3-17-028912-3
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Erzählungen strukturieren unsere Wahrnehmung und Lebenswirklichkeit. Von ihnen sind wir umgeben, und in sie weben wir uns ein und tragen so selbst zu Texturen und Strukturen bei. Eine große Erzählung, die gesellschaftlich herausfordert, ist die der Inklusion. In ihr geht es um die spannungsvolle Aufgabe, das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten von verschiedenen Menschen zu gestalten. Es geht um das Recht von allen Menschen auf Teilhabe an Gemeinschaften, die für alle offen sind. In diesem Buch wird die These vertreten, dass Religion und religiöse Bildung zur positiven Entwicklung von inklusiven Prozessen beitragen können, denn religiöse Bekenntnisse und religiöse Praxis stellen sich in Vielfalt dar und fordern daher zum Dialog auf.
Das Forschungsprojekt Große Erzählungen, kleine Erzählungen. Religiöse Bildung und die Entwicklung personaler und spiritueller Kompetenz von Jugendlichen in einer diversitätssensiblen Schulkultur hat sich mit Erzählungen der am Inklusionsprozess beteiligten Kinder und Jugendlichen befasst. Mit Bezug auf die Dimensionen Vielfalt, Inklusion und Spiritualität wurden in der Zeit von 2010 bis 2013 im Rahmen des Projekts ausgewählte Formen religiöser Bildung in kulturell und religiös pluralen schulischen Kontexten in den Blick genommen.
Der vorliegende Band geht auf die Tagung Es wird erzählt … Zur Gestaltung von Inklusion als Narration vom 06.02. bis 07.02.2014 in Dortmund zurück, die gleichzeitig den Abschluss des Projekts bildete und die Thematik interdisziplinär öffnete. Die Beiträge dieser Tagung sind hierin aufgenommen und durch weitere Perspektiven in zusätzlichen Beiträgen ergänzt worden.
Ein besonderer Dank gilt den Projektmitarbeiterinnen Veronika Burggraf und Kathrin Hanneken, die maßgeblich zum Gelingen der Tagung und somit auch zum Entstehen des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Wir danken ebenso den Autorinnen und Autoren für ihre bereichernden Ausführungen, dem Verlag für die Aufnahme in die Reihe und die gute Betreuung sowie Andreas Kohaupt für die sorgfältige Arbeit am Layout.
Des Weiteren möchten wir uns für die großzügigen Spenden der Bistümer Paderborn und Münster sowie der Gesellschaft der Freunde der Technischen Universität Dortmund e.V. bedanken, die durch ihren Druckkostenzuschuss eine Veröffentlichung dieses Bandes ermöglichten.
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber
Inklusion begegnet zur Zeit zum Beispiel in den Medien durch den 5-minütigen Film „Das erste Mal“ im Rahmen einer Kampagne der Aktion Mensch. Gezeigt werden die überraschenden, teilweise irritierenden und oft humorvollen Momente erster Begegnungen von zwei unterschiedlichen Menschen in einem Castingprozess vor der Kamera.1 Auch im Jahr 2012 warb Aktion Mensch für Inklusion in Arbeit, Wohnen und Bildung. Damals wurden Plakate und Anzeigen gewählt, die Situationen zwischen Menschen zeigen, die einander bereits vertraut sind.2 Ein Plakat zeigt ein Foto von zwei jungen Männern, die gemeinsam am Küchentisch Karten spielen, während sich im Hintergrund das benutzte Geschirr stapelt. „Inklusion heißt: Gemeinsam nicht abwaschen“ steht darüber. Auf den ersten Blick ist sichtbar, dass einer der beiden Männer in einem Rollstuhl am Tisch sitzt. Bei dem anderen ist die Sitzgelegenheit nicht zu sehen.
Wer das Plakat betrachtet, mag über die Logik schmunzeln, nach der hier das Kartenspielen gegenüber dem Abwaschen gewinnt. Möglicherweise findet man sich auf den zweiten Blick selbst in dieser Alltagssituation wieder. Denkbar ist natürlich auch, dass die Szene für einige Betrachter und Betrachterinnen gerade keinen Alltag darstellt: Die Arbeit wird zu selten für ein Spiel unterbrochen. Im eigenen Freundes- oder Kollegenkreis gibt es keine Person mit einer körperlichen Beeinträchtigung bzw. keine Person ohne solche. Es gibt zwar Situationen von Gemeinschaft, aber oft gilt in unserem Alltag eben nicht, dass „das Wir gewinnt“, wie der Slogan der Aktion Mensch und die damit verbundene Lotterie lautet, sondern das Prinzip „Ich gewinne und andere verlieren“ oder „Ich verliere.“ Bekannt könnte hingegen sein, dass im Alltag, ähnlich wie in der abgebildeten Szene, nicht thematisiert wird, welche sichtbaren bzw. nicht sichtbaren körperlichen, geistigen oder emotionalen Beeinträchtigungen und Begabungen und sonstigen Lebensbedingungen Menschen betreffen. Solange hieraus kein Ausschluss resultiert, kann der Alltag selbst das Thema werden, so transportiert es das Plakat, und gemeinsam kann dieser verbessert werden: „Alle Menschen sollen gleichberechtigt am Leben teilnehmen – mit oder ohne Behinderung. Damit gemeinsames Wohnen selbstverständlich wird.“ Mit diesen Zeilen macht die Aktion Mensch wiederum klar, dass die abgebildete Szene nicht in jedem Fall möglich ist. Ausschluss und Einschluss, Teilhabe und Behinderung sind daher Themen, die weiterhin öffentlich explizit gemacht werden müssen. Das Plakat stellt insofern auch die Frage, was vor dieser Szene geschah, damit sie möglich wurde. Und was passiert, wenn das Spiel beendet ist?
Wenn „Inklusion heißt: Gemeinsam nicht abwaschen“, dann ist damit ein Beispiel dafür gegeben, inwiefern Inklusion als Narration verstanden werden kann: Das Plakat erzählt eine Szene und lässt Raum für das, was zu ihr geführt hat und dafür, wie sie sich fortsetzen lässt. Indem wir so in die Erzählung einstimmen, ordnen wir unsere Überlegungen. Diese können sich dann den Themen Umgang mit Zeit, mit Spiel und Arbeit, mit Verschiedenheit oder auch mit Behinderung widmen. Nach Paul Ricoeur liegt die Leistung von Narrativen in solchen lebensdienlichen Ordnungen: Sie formulieren Ereignisse, indem diese chronologisch aneinandergereiht werden. Erst der kausale Zusammenhang jedoch, nach dem die Ereignisse sinnvoll auseinander hervorgehen, macht aus dieser minimalen Grundstruktur eine Geschichte. Er „bringt aus der schlichten Abfolge der Ereignisse eine zeitliche Ganzheit hervor.“3 Verständlich wird diese Form, weil die Leserinnen und Leser die Möglichkeit haben, ihr zu folgen: „Zu erzählen oder einer Geschichte zu folgen bedeutet, das Sukzessive als bedeutungsvolle Ganzheit zu erfassen.“4
Zu dieser sinnvollen Ganzheit gehören für Ricoeur Ungewissheiten, Brüche und Umstürze dazu: „Eine Geschichte mitzuvollziehen heißt, inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter der Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet. […] Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß.“5 Erzählungen füllen also Erlebtes mit Sinn und eröffnen Sinn bzw. Sinnfragen.
Was könnte dies für die Erzählung „Das Wir gewinnt“ heißen? Welche Unterbrechungen sind notwendig? Inwiefern ist Gemeinschaft ein Gewinn? Welches Engagement hat wohl dazu geführt, dass die Wohnbedingungen, wie in der Szene geschildert, erreicht wurden? Oder vorausschauend gefragt, wer wird auf den weiteren Stühlen sitzen und in welchen weiteren Szenen werden sich die Beteiligten bewegen? Was für weitere Orte haben die beiden, die ihnen etwas bedeuten? Wie kann ein Schluss für diese Erzählung aussehen? All diese Fragen bewegen sich auf der Ebene der Narration, durch die sich das Phänomen Inklusion überhaupt erst bildet. Formulierte, veröffentlichte und private, im Kleinen und Großen wahrgenommene Narrative, in denen Menschen zu Wort kommen, verschaffen ihnen Sinn und Gehör und ermöglichen eine Teilhabe an neuen Geschichten.
Neben die narrative Perspektive stellen wir in diesem Band die des Diskurses. Der Diskurs ist aufgrund seiner reflexiv-argumentativen Kraft notwendig, um die Logiken der Narrative auf seine Weise zu prüfen (vgl. hierzu den Beitrag von Bernhard Grümme in diesem Band) und um genauer zu unterscheiden, in welcher Weise Vielfalt verstanden wird bzw. welche narrativen Handlungsoptionen im Umgang mit Verschiedenheit bestehen.
Begrifflich bezeichnet Inklusion den Prozess, der allen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, verschiedener religiöser Überzeugung, individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten Teilhabemöglichkeiten in der kommunalen Gemeinschaft und insbesondere in der Schule eröffnet. Integration, Pluralität, Diversity und Heterogenität oder Vielfalt sind weitere Begriffe, die alle das Zusammenspiel von Verschiedenheit und Gemeinschaft in den Blick nehmen. Sie beschreiben mit unterschiedlichem Fokus Rahmenbedingungen dafür, wie verschiedene Menschen in Gemeinschaft miteinander leben, lernen und arbeiten können bzw. sollen. Um uns der Bedeutung von Inklusion als normativer Handlungsperspektive anzunähern, ist es hilfreich auf diese mitgedachten, mitschwingenden Begriffe einzugehen.
Voraussetzung für Inklusion ist die Annahme einer heterogenen Gesellschaft bzw. von Diversity. Diversity meint Vielfalt bezogen auf Menschen in einem gemeinsamen Kontext. Unterschieden wird dabei zwischen internen Dimensionen von Diversität wie Alter, Gender, Ethnizität, sexuelle Orientierung und körperliche Voraussetzungen, und externen Dimensionen wie Wohnort, Ausbildung, Sozialisation, Familienstand, Religion, Einkommen etc.6 Diversity meint aber immer auch die Einbeziehung von Gemeinsamkeiten. Es geht um das Zusammenspiel von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, von verschiedenen und gleichen Merkmalen bei Menschen in einem gemeinsamen Kontext.7 Denn die Bedeutungen der jeweiligen Merkmale ergeben sich erst im jeweiligen Kontext und in konkreten Beziehungen. Der Begriff der Heterogenität wird wiederum als legitime Vielfalt, radikale Pluralität oder bestehende Differenz verstanden. Anders als Diversity bezieht sich der Heterogenitätsbegriff nicht zwangsläufig auf Menschen, sondern auf verschiedene Phänomene. Er bezeichnet die von Pluralität geprägte Postmoderne, in der Kunststile, Musikrichtungen und Weltanschauungen ebenso heterogen sind wie Lebensentwürfe und Religionen. Heterogenität blickt auf die Gesellschaft als Ganze und die in ihr repräsentierte Pluralität. Im Mittelpunkt steht nicht der Einzelne mit seinen je individuellen verschiedenen Merkmalen (Diversity), sondern die in der Gesellschaft in allen Bereichen repräsentierte Vielfalt im Gegensatz zur vormodernen Einheit.8 Heterogenität in Bildungskontexten meint in der Regel die durch die pluralistische Gesellschaft bedingten unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, die für gemeinsames Lernen relevant sind. Wird eine homogene Beschulung angestrebt, werden hingegen Vielfaltsaspekte, die hierbei nicht hinderlich sind, in der Regel außer Acht gelassen.9 Welche Denkfiguren diese Zusammenhänge aufnehmen, zeigt Nushin Hosseini-Eckardt in ihrem Beitrag auf.
Unter Inklusion versteht die UNECSO einen Antwortprozess auf wahrgenommene Diversity. Die verschiedenen Bedürfnisse der Lernenden sollen ihre Berücksichtigung finden. Exklusion soll durch Bildung und in Bildungssituationen vermieden werden. Das Ziel ist eine umfassende Teilhabe an Bildung, Kultur und Gesellschaft.10 Dabei wird Inklusion – anders als Integration – als eine Haltung begriffen, die im Sinne der Diversity jedes Subjekt in seiner komplexen Individualität in den Blick nimmt und dieses zum Ausgangspunkt allen Handelns macht. Wörtlich bedeutet Inklusion „Einschluss“ (lat. „inclusio“) im Sinne von Zugehörigkeit. Anders als das Konzept der Integration (lat. „integrare“: wiederherstellen, erneuern, wieder aufnehmen), das eine Ganzheit mit den zuvor Ausgeschlossenen wieder herstellen will, versucht die Inklusion, derartige Ausschlüsse prinzipiell zu vermeiden und Teilhabe und Zugehörigkeit vorauszusetzen. Eine Integration von exkludierten Minderheiten oder marginalisierten Teilgruppen in ein bestehendes System ist in dieser Zielperspektive nicht mehr notwendig, weil dem Risiko der Exklusion von vornherein vorgebeugt wird. Der Fokus liegt darauf, Systeme, in denen Menschen sich bewegen, so umzugestalten, dass individuelle Differenzen nicht mehr zum Ausschluss führen. Beispiele für Integrationsperspektiven hingegen sind die Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund in die bestehende deutsche Gesellschaft, das eingliedernde Unterrichten von Schülerinnen und Schülern, die zuvor mit der Diagnose des sonderpädagogischen Förderbedarfs unterschieden wurden, an einer „Regelschule“ oder die Beteiligung von Menschen unterhalb der Armutsgrenze an der Marktwirtschaft. Auch die Integrationsforschung im Bildungskontext legt ihren Fokus auf die Förderung von Schülerinnen und Schülern, die von Exklusion bedroht sind. Die Inklusionsforschung hingegen nimmt verstärkt den Umgang mit bestehender Diversität im Bildungssystem und der Gesellschaft in den Blick. Im Fokus stehen die Strukturen und Konzeption bzw. Implementierung neuer Systeme, die Inklusion ermöglichen11 (vgl. hierzu den Beitrag von Britta Baumert in diesem Band, die diese Begriffe als Allegorie in religionstheologischer Perspektive vertieft).
Inklusion geht also konzeptionell und sozialethisch über Integration hinaus. Der normative Anspruch wird in Definitionen wie den folgenden deutlich: „Inklusion geht es um die Schaffung einer besseren Welt für alle.”12 „Inklusion heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu: zu unserer Gesellschaft, unserer Kommune, zu jeder kleinen oder großen Gemeinschaft. Alle werden anerkannt und alle können etwas beitragen. Unsere Gesellschaft wird reicher durch die Vielfalt aller Menschen, die in ihr leben.“13 Nach dieser Auffassung verpflichtet die Idee der Inklusion die Gesellschaft dazu, alle Hindernisse und Barrieren zu beseitigen, die eine umfängliche, selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft einschränken oder verhindern. Als umfassendes Recht auf Teilhabe verstanden, bezieht sich die Inklusion auf sämtliche Lebensbereiche, zu denen alle barrierefreien Zugang haben und in denen sich alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten entfalten können sollen.
Hervorzuheben ist in diesem Kontext insbesondere das Anerkennungsgebot. Menschen werden nicht mehr nach ihren Unterschieden oder „Normabweichungen“ hierarchisiert oder sozial bewertet. Eine inklusive Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Individuen in ihrem Sosein angenommen und wertgeschätzt werden, unabhängig von ihrer körperlichen, sozialen oder kognitiven Leistungsfähigkeit.14
Annedore Prengel entwickelt ein für diese Sicht leitendes Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit: „Gleichheitsvorstellungen ohne Ausgrenzungen implizieren die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und gehen damit über die Gleichheitsvorstellungen, die nur für Gleichartiges gelten und Abweichendes ausgrenzen, qualitativ hinaus. Gleichheit als Gleichwertigkeit des Differierenden stellt damit erst die Einlösung der mit dem universell formulierten, aber nur reduziert gemeinten Gleichheitsbegriff verbundenen Versprechungen dar.“15
Mit diesen Perspektiven leiten Inklusionsbegriffe selbst wieder in Narrative über.16 Sie erinnern an solche Erzählungen, die als „große Erzählungen“ Reformanliegen und eine noch einzulösende Zukunft beschreiben.17 Die derzeitigen Ansätze zu inklusiver Pädagogik und Fachdidaktik tragen hierzu insbesondere hinsichtlich struktureller und normativer Fragen bei. Forschung zu Inklusion ist weitgehend der Perspektive der dritten Person verpflichtet, so Markus Dederich in seinem Beitrag. Im Fokus der Debatte stehen vor allem Bedingungen der Möglichkeit für Inklusion sowie situativ wirksame Variablen, die aus Sicht der Organisatoren das Gelingen oder Misslingen beeinflussen, was zweifellos wichtige Aspekte darstellt. Inklusion kann nur zum Erfolg kommen, wenn sie zu einem zentralen Anliegen der Politik wird und verbriefte Rechte umgesetzt und durchgesetzt werden. Ein Defizit sieht Dederich jedoch in der damit verbundenen Einseitigkeit der Debatte, weil sie die subjektive Seite der Inklusion vernachlässige: Die persönlichen Erfahrungen, Sorgen, Ängste und Perspektiven von Menschen in ihrer Vielfalt werden häufig überhört, nicht wahrgenommen und somit nicht berücksichtigt. Dass diese Erfahrungen als Narration zu Wort kommen, ist das Ziel dieses Bandes. Insofern wird die große Erzählung von Inklusion durch die kleinen Erzählungen, d.h. die subjektiven Narrative, wenn auch nicht im Sinne Lyotards ersetzt, so aber doch qualitativ mit Bedeutungen gefüllt.18
Die vorliegenden Beiträge greifen Situationen auf, in denen solche Narrative geschaffen werden. Dabei sind diese zum Teil fiktive und zum Teil faktuale Texte. Faktuale Texte „sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden.“19 Bei den fiktionalen Texten ist es im Grunde ebenso, dass ein realer Autor für einen realen Leser schreibt. Sie sind jedoch komplexer als die faktualen, weil sie „außer der realen auch noch einer zweiten imaginären Kommunikationssituation angehören.“20 Die Sätze der fiktiven Erzählung gehören dem fiktiven Erzähler. Für ihn, nicht für den Autor, sind sie authentisch. Begrifflich unterschieden wird als Urheber der fiktiven Erzählung der reale Autor, der eben die fiktive Wirklichkeit erschafft: „Durch das reale Schreiben eines realen Autors entsteht so ein Text, dessen imaginär authentische Sätze eine imaginäre Objektivität schaffen, die eine fiktive Kommunikationssituation, ein fiktives Erzählen und eine fiktive erzählte Geschichte umfaßt. Die fiktionale Erzählung ist zugleich Teil einer realen wie einer imaginären Kommunikation und besteht deshalb je nach Sichtweise aus real-inauthentischen oder aus imaginär-authentischen Sätzen.“21 Die Sätze der fiktionalen Erzählung lassen dabei die Illusion einer faktualen Erzählung entstehen, sind aber fiktiv. Und zugleich geschieht der Entwurf eines imaginierten Weltzustandes doch in real-authentischer faktualer Rede.22 In dieser Sicht auf Fiktionalität gilt dann: „Die fiktiven Welten der Literatur entstehen aber nicht durch kontra-faktuale Beschreibungen unserer realen Welt, sondern durch fiktionale Beschreibungen einer imaginierten Welt.“23 Dieser Doppelcharakter fiktionaler Rede wird in den dokumentierten Narrativen in diesem Band genutzt, so dass sich natürliche, übernatürliche und unmögliche erzählte Welten entwickeln.
Die Verwobenheit von einer Erzählung und denjenigen, die sie rezipieren, deutet sich hiermit an. Geläufig wird formuliert, dass durch eine Erzählung etwas vorweg genommen werde, was noch nicht da sei, so auch in der Utopie der inklusiven Gesellschaft. Im Anschluss an die hier geschilderten Überlegungen ist diese Sicht ergänzungsbedürftig. Vielmehr lässt sich von gestalteten Welten sprechen, die sich aufeinander beziehen. Dies gilt für vergangene wie für zukünftige Zeiten, die in Erzählungen einfließen. Für vergangene Zeiten ist die Überschneidung beider Formen klar: Die Geschichtsschreibung und jede Erinnerung realisieren ihre Aufgabe durch Mittel der Fiktionalisierung und gestalten um verbliebene Spuren eine Welt, die nicht mehr da ist. Anders herum erzielt auch eine fiktive Erzählung Wirkungen, indem sie Ressourcen einer Historisierung nutzt.24 Ebenso gehen Erzählungen mit Ereignissen um, die noch nicht geschehen sind. Nicht nur ein Nach-Erzählen, sondern auch ein Voraus-Erzählen gibt es, wobei diese erzählten Zeiten im Erzählen gegenwärtig werden. Erzählungen sind also erzählte Zeit.
Ricoeur sieht die Überschneidung der beiden Zeiten, also der erzählten Zeit und der vergangenen bzw. der zukünftigen Zeit in einer Drittzeit, die er „narrative Identität“25 nennt. Diese Form von Identität geht über das hinaus, was etwa die Zuschreibung eines dauerhaften Eigennamens leisten kann. Narrative Identität als Erzählung eines Lebens entfaltet Sinnzusammenhänge einschließlich Brüchen und Fragen und stellt sich so der Frage danach, wie ein Schluss (oder zumindest ein Zwischenfazit) formuliert werden soll, um auf die Fragen „Wer bist du?“ „Wer bin ich?“ oder „Wer sind wir?“ zu antworten.26 In ihrer dynamischen Grundstruktur vergleicht Ricoeur dieses narrative Selbst mit der poetischen Komposition eines narrativen Textes: „Vom Selbst läßt sich demnach sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. Im Unterschied zur abstrakten Identität des Selben kann die […] narrative Identität auch die Veränderungen und Bewegtheit im Zusammenhang eines Lebens einbegreifen. Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall, wie Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiographie bestätigt, wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten.“27
Auch aus religiöser, in unserem Fall christlicher Perspektive ist solche Identität nicht vom Menschen allein zu entwickeln, quasi aus sich heraus. Vielmehr greifen Menschen im Konfigurieren auf Figuren zurück, die ihnen in Erzählungen im Alltag und in der Literatur begegnen. Wenn sie auf den Schatz von Symbolen und Geschichten zurückgreifen, den die Glaubenstraditionen bergen, nehmen Menschen nicht nur an der Gestaltung ihrer Zeit in religiöser Weise teil, sondern auch an der Zeitgestaltung der Religion.28
Für unseren Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass Erzählungen sich zum einen gleichen. Beispiele aus ganz verschiedenen Epochen und Kulturen legen es nahe, eine „historisch und kulturell relativ stabile narrative Kompetenz [anzunehmen], die darüber bestimmt, welche Erzählungen wohlgeformt und erzählenswert sind.“29 Ein Beispiel für solche Struktur stellt Walter Burkert dar. Er beschreibt die Sequenzen „Bewußtwerden des Bedürfnisses [des Protagonisten], Verlassen der Basis, Entdeckung des rechten Ortes, Begegnung mit Konkurrenten und potentiell gefährlichen Gegnern, Erfolg, der das Bedürfnis stillt; die Rückkehr nach Hause kann schwierig werden, es kann Verfolgung durch Konkurrenten geben; das Ziel ist die Rettung, die Selbsterhaltung.“30
Auf der anderen Seite kann eine Geschichte, die wir als dieselbe Geschichte wiedererkennen, auf sehr unterschiedliche Weisen, ja auf unzählig verschiedene Weisen repräsentiert werden.31 Sie kann von verschiedenen Personen, zu verschiedenen Zeiten, mit verschiedenen Medien (also z.B. als Film oder als mündliche Darstellung) und mithilfe der verschiedenen literarischen Darstellungsmittel unterschiedlich vermittelt werden und wird doch wiedererkannt. Die Unterscheidung des dargestellten Inhalts und der präsentierenden Darstellung ist in der Literaturtheorie mit wechselnder Schwerpunktlegung bestimmt worden. Nach dem französischen Erzähltheoretiker Gérard Genette kann eine Dreiteilung vorgenommen werden. Die Erzählung/récit meint „den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs“, also die Abfolge von Zeichen, wie sie geschrieben oder erzählt wird. Die Geschichte/histoire bezeichnet „das Signifikat oder den narrativen Inhalt“ mit seinen erzählten Ereignissen. Sie bildet die Abfolge von Ereignissen, nicht die Erzählfolge ab.32 Die Narration/narration bleibt als Erzählform dem „produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten, in der er erfolgt.“33 Narration ist somit eine Textform, die in verschiedenen Textgattungen vorkommen kann – in der Prosa ebenso wie in der Lyrik, dem Drama oder der Biografie.34 Texte sind entweder vorwiegend narrativ, deskriptiv, explikativ, argumentativ oder instruktiv, können aber auch verschiedene Erzählformen vereinen.
Genette fasst in seinem Zitat den Narrationsbegriff noch weiter, indem er auch intratextuelle Erzählsituationen als narrativ bezeichnet. Die Erzählung, die ein historischer Autor einmal verfasst hat, kann auf verschiedene Weise durch fiktive Erzähler als Narration erzählt werden. Dabei können diese zu einem bestimmten Zeitpunkt erzählen, von einem bestimmten Ort aus, in einer bestimmten Stellung zum erzählten Geschehen (z.B. als erlebendes Ich, das als leibliche Person als Sprecher in der Erzählrede eine Figur darstellt, oder aber als dritte Person, die ausschließlich erzählend wirkt35) und in der Weise, dass der fiktive Erzähler Subjekt und/oder Adressat des Erzählens ist.36 Hieraus entstehen Freiräume für eigene Interpretationen in einem Rahmen einer geteilten Erzählung. Auch in die Narration des eigenen Narrativs kann diese geteilte Erzählung einfließen.
Für unser Anliegen, Inklusionsprozesse nach Narrationen zu untersuchen, bedeuten die geschilderten Konturen, dass es sich lohnt, Lebensgeschichten von denjenigen zu hören und zu untersuchen, die an diesen Prozessen beteiligt sind bzw. die durch den Inklusionsdiskurs stärker in das Interessensfeld von Bildungszusammenhängen rücken. Welche narrativen Identitäten stellen die beteiligten Personen her und wie gehen sie hierbei mit Narrativen von Zugehörigkeit und Ausschluss um? Hierzu entfaltet der Beitrag von Ansgar Schnurr die These zur Verschiebung von Grenzen in der Migrationsgesellschaft mittels Beispielen von Selbsterzählungen von Jugendlichen in sozialen Netzwerken und in Gestalt ihres Jugendzimmers. Zu welchen fiktiven und faktualen Erzählungen haben bzw. finden sie Zugang, die sie irritieren, ermutigen und anregen? Auf welche greifen sie zurück, um Spannungen und Brüche zu erzählen? Welche werden pädagogisch zur Interpretation eröffnet? Hier bieten die Ausführungen von Lissy Weidner und die von Mariele Wischer Inneneinsichten zur Gestaltung von inspirierenden Interpretationsräumen von biblischen Erzählungen, hier dem Text von der sogenannten Tempelreinigung mit ihrer Raummetaphorik und der David-und-Goliat-Erzählung, deren Figuren jeweils vielseitige Identifikationsangebote machen. Welche Unterstützung ist notwendig, um Texte als Quelle für die eigene Erzählung einbeziehen zu können und selbst Texte zu formulieren? Der Beitrag von Natascha Bettin greift die angeleitete Begegnung mit einem Raum als Erzählsituation auf. Janieta Bartz zeigt auf, wie Jugendliche aus Alltagswissen heraus biblische Bilder verstehen und auch missverstehen können. Der Beitrag von Nadja Damm bietet schließlich Beispiele dafür, wie Menschen befähigt werden, Lebensgeschichten von Personen aus ihrem Umfeld zu recherchieren und zu erzählen, um so eigene Narrationen von Narrativen zu entwickeln.
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https://www.aktion-mensch.de/presse/pressemitteilungen/detail.php?id=1351
1 Vgl. https://www.aktion-mensch.de/begegnung/menschen-begegnen/casting-der-besonderen-art.html (Zugriff am 30.5.2015)
2 Vgl. https://www.aktion-mensch.de/presse/pressemitteilungen/detail.php?id=1351 (Zugriff am 30.5.2015)
3 Mattern 1996, 162.
4 Ebd., 163.
5 Ricoeur 1988, 108.
6 Vgl. von Dippel 2009 und Gardenswartz/ Rowe 1994.
7 Vgl. Roosevelt 1996, 6.
8 Vgl. Welsch 1994.
9 Vgl. Trautmann/ Wischer 2011.
10 Vgl. UNESCO 2005, 13.
11 Vgl. Merz-Atalik 2014.
12 http://www.inclusion-international.org/en/ Übers. d. d. Verf..
13 Montag Stiftung 2011, 18.
14 Vgl. Dederich 2014, 14 und Roebben 2012.
15 Prengel 2006, 47.
16 Vgl. hierzu ausführlicher Büttner/ Kammeyer 2014, 157ff.
17 Vgl. Lyotard 1987, 33.
18 Vgl. Roebben/ Kammeyer/ Burggraf/ Hanneken 2013.
19 Martinez/ Scheffel 2007, 17.
20 Ebd., 17.
21 Ebd., 18.
22 Vgl. ebd., 130.
23 Ebd., 130.
24 Vgl. Mattern 1996, 174f.
25 Vgl. Ricoeur 1991, 395ff.
26 Vgl. Mattern 1996, 175.
27 Ricoeur 1991, 395f.
28 Vgl. hierzu ausführlich Streib 1994, 181.
29 Martinez/ Scheffel 2007, 153.
30 Burkert 1998, 82 zit. nach Martinez/ Scheffel 2007, 154.
31 Vgl. Martinez/ Scheffel 2007, 21.
32 Vgl. Genette 1994, 16 und Vogt 2002, 98f.
33 Genette 1994, 16.
34 Vgl. Vogt 2002, 98f.
35 Vgl. Martinez/ Scheffel 2007, 81. Hierzu gehört die bekannte Unterteilung von Franz K. Stanzel der auktorialen Erzählsituation, der Ich-Erzählsituation und der personalen Erzählsituation, vgl. ebd., 90f.
36 Vgl. ebd., 69.
Eine erfahrungsbasierte und narrative Annäherung an Fragen der Inklusion findet sich bis heute in der inzwischen vielstimmig geführten Debatte über Inklusion nur in Ansätzen. Die nachfolgenden Überlegungen skizzieren in groben Strichen die Konturen eines narrativen Zugangs zur Inklusion. Dies geschieht, indem nach einer kurzen Erläuterung zum Begriff der Inklusion in einem Doppelschritt eine Grundlegung erfolgt: Zunächst wird der in den Wissenschaften üblichen Forschungsperspektive, die hier „Perspektive der dritten Person“ genannt wird, die „Perspektive der zweiten“ sowie die „Perspektive der ersten Person“ zur Seite gestellt. Sodann werden einige allgemeine Kennzeichen von Narrationen erläutert. Im anschließenden dritten Abschnitt werden drei exemplarisch ausgewählte Aspekte der Thematik dargestellt: Die Bedeutung von Narrationen für unser Verständnis von Behinderung, der Zusammenhang von Narrationen und dem Welterleben schwerstmehrfachbehinderter Menschen sowie der in das Feld der Ethik verweisende Zusammenhang von Narration, Behinderung und Stellvertretung.
Wörtlich bedeutet der Begriff Inklusion ‚Einschluss’ (lat. ‚inclusio’) im Sinne von Einbeziehung oder Zugehörigkeit. Während nach einer heute verbreiteten Auffassung Integration eine Ganzheit wieder herstellen will – also das vormals Ausgeschlossene nun wieder ‚zurückgeholt’ und einbezogen wird –, beruht Inklusion darauf, vorgängige Ausschlüsse prinzipiell zu vermeiden und Zugehörigkeit und Teilhabe von Anfang an zu gewährleisten. An diesem Punkt also geht Inklusion zumindest konzeptionell und sozialethisch über Integration hinaus. Letzterer Hinweis ist wichtig, denn der Begriff ‚Inklusion‘, wie er in den erziehungswissenschaftlichen Debatten in der Regel verwendet wird, ist keine ausschließend beschreibende oder analytische Kategorie, sondern auch ein Wertbegriff. Dies wird unmissverständlich deutlich, wenn man etwa bei ‚Inclusion International’ liest: „Inklusion geht es um die Schaffung einer besseren Welt für alle.”1 Auch folgende Erläuterung des Inklusionsbegriffs stellt die normative Dimension heraus: „Inklusion heißt, Menschen willkommen zu heißen. Niemand wird ausgeschlossen, alle gehören dazu: zu unserer Gesellschaft, unserer Kommune, zu jeder kleinen oder großen Gemeinschaft. Alle werden anerkannt und alle können etwas beitragen. Unsere Gesellschaft wird reicher durch die Vielfalt aller Menschen, die in ihr leben.“2
Nach dieser Auffassung verpflichtet die Idee der Inklusion die Gesellschaft dazu, alle Hindernisse und Barrieren zu beseitigen, die eine umfängliche, selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft einschränken oder verhindern. Als umfassendes Recht auf Teilhabe verstanden, bezieht sich die Inklusion auf sämtliche Lebensbereiche, zu denen alle barrierefreien Zugang haben und in denen sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten entfalten können sollen. Ebenfalls bedeutsam ist das im Zitat der Montag-Stiftung aufgegriffene Anerkennungsgebot. Unterschiede zwischen Menschen – auch solche Unterschiede, die als Abweichungen von als ‚normal‘ gesetzten oder als ‚natürlich‘ angesehenen Eigenschaften gelten, etwa der körperlichen Leistungsfähigkeit oder einem Mindestmaß an Intelligenz – verlieren ihre Bedeutung als soziales Bewertungs- und Hierarchisierungsinstrument. In einer inklusiven Gesellschaft werden Individuen, wer auch immer sie seien, nicht mehr anhand vereinheitlichender Maßstäbe verglichen und beurteilt, sondern in ihrem Sosein angenommen und wertgeschätzt. Prengel versucht zu zeigen, dass für die Inklusion ein spezifisches Verständnis von Gleichheit und Verschiedenheit leitend sein sollte. Einerseits sollen empirische Unterschiede zwischen Menschen, d.h. Unterschiede, die anhand von bestimmten Kriterien konstatiert werden können, als solche angenommen werden und nicht in eine Werthierarchie gebracht werden. Und genau dies – die Wertschätzung von Differenzen und der Verzicht auf Hierarchisierung – soll die Gleichwertigkeit aller Menschen zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn schreibt Prengel: „Gleichheitsvorstellungen ohne Ausgrenzungen implizieren die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und gehen damit über die Gleichheitsvorstellungen, die nur für Gleichartiges gelten und Abweichendes ausgrenzen, qualitativ hinaus. Gleichheit als Gleichwertigkeit des Differenten stellt damit erst die Einlösung der mit dem universell formulierten, aber nur reduziert gemeinten Gleichheitsbegriff verbundenen Versprechungen dar.“3 An anderer Stelle heißt es: „Radikale Pluralität bildet sich aus der unhintergehbaren Eigenart differenter Lebensweisen und Wissens- und Denkformen, diese genießen jede in ihrer Eigenart hohe Wertschätzung. Indem aber jedem dieser Entwürfe das gleiche Recht auf Eigenart zukommt, wird das Gleichheitspostulat durch die Anerkennung von Verschiedenheit eingelöst.“4
Der traditionelle Blick der Wissenschaft auf die Welt und die Menschen entspricht der Perspektive der dritten Person. Die Welt oder etwas in der Welt ist Gegenstand, ist Objekt der Wissenschaft und wird als ‚er‘, ‚sie‘ oder ‚es’ betrachtet. Die Wissenschaften nähern sich ihren Gegenständen in einer theoretischen Haltung, d.h. ganz wörtlich als Zuschauer, der die Wirklichkeit erfasst, ohne in sie verwickelt zu sein und in sie einzugreifen. Jedoch sind die Gegenstände der wissenschaftlich betriebenen Pädagogik auch Subjekte – leiblich existierende Menschen, die sich von sich her artikulieren, Ansprüche an uns stellen, mit uns in Beziehung treten. Sie haben einen eigenen Blick auf die Welt, erfahren und erleiden ihre Welt auf ihre je eigene Weise, antworten auf oft nicht sicher vorhersehbare Weise auf das, was ihnen begegnet oder widerfährt, versehen dies mit Bedeutung und Sinn, bahnen sich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen, die wie ein Kompass wirken, einen eigenen Weg durch ihr Leben – auch wenn dieser Weg Anderen als Irrweg erscheinen mag.
Die subjektive Dimension des menschlichen Lebens und ihre Bedeutung für die soziale Wirklichkeit ist in den Humanwissenschaften schon lange bekannt. Sie in der Forschung ernst zu nehmen, hat weitreichende wissenschaftstheoretische und methodische Konsequenzen. Dann muss nämlich die Perspektive der dritten Person durch die Perspektiven der zweiten und ersten Person ergänzt werden: Zum einen durch die Erforschung subjektiver Wirklichkeiten im Medium des Gesprächs oder aus der Perspektive einer persönlichen Beziehung, zum anderen durch die narrative Artikulation von erfahrener Lebenswirklichkeit in einem Text oder einer mündlichen Erzählung. Das bedeutet, dass die Erforschung menschlicher Wirklichkeiten sich nicht mehr auf systematische Beobachtungen, Experimente und standardisierte Befragungen sowie deren theoriegeleitete Auswertung beschränken darf. In dieser veränderten Perspektive wird die Forschung zu einem Prozess der Kommunikation, durch den einerseits Erfahrung zur Sprache kommt und der andererseits das Medium ist, in dem und durch das Erfahrung möglich wird.