Mit Holzschnitten und Federzeichnungen
von Christian Thanhäuser
Titel
Zitat
Adam
Alphabet
Asche des Phönix
Blitzstrahl
Bruderherz
Buch, das erste
Champagner
Chinese in Rom
Diarist
Doppelgemoppel
Druckfehler
Erfindungen
Erotische Akademie
Europa
Flachsenfingen
Fußnoten
Gedankenstrich
Gehen
Geldverdienen
Grimm’sches Wörterbuch
Grundsteinlegung
Heidelberg
Horror
Hundsposttage
Immergrün der Gefühle
Isola Bella
Joditz
Junggesellenmaschine
Kanapee
Kriegserklärung
Kürze
Kutschenfahrten
Lausewenzel
Lebendige Begrabung
Levana
Luftschifferei
Magic 8
Messie
München
Musik
Nasendrücker
Nihilismus, experimenteller
Ochsenkopf
Orthographie
Persönlichkeit, multiple
Perspektivenwechsel
Prominenz
Pudel
Quarantäne
Quirl
Rappel
Reisen
Rezensenten
Rollwenzelin
Schlafrock
Selenomane
Sturz, in den Main
Tod
Traumwelten
Unsterblichkeit
Verein
Vorlesen
Vorsorgen
Weissagung
Wetterprophetien
Xenien
Xylograph
Y-Schreibweise
Yüdenkirschen
Zahnschmerzen
Zucker
Bernhard Setzwein und Christian Thanhäuser
Zu den Autoren
Impressum
Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag
„Um ein solches ABC mit
bunten Bildern bitt’ ich Sie.“
Jean Paul
Adam
„Wo wohnen Sie? Wie heißen Sie? Wer sind Sie? – Ihr Werk ist ein Juwel.“ Man stelle sich vor: Nach einigem Zaudern und Zögern entschließt sich ein eigentlich gar nicht mehr so junger Mann – 29 ist er –, einer Berühmtheit seinen ersten Roman zu schicken, als mehrere hundert Seiten starkes handgeschriebenes Manuskript wohlgemerkt. Denn das Werk hat ja noch keinen Verleger. An einen solchen soll diese Berühmtheit es ja erst vermitteln. Aber man weiß doch: Vielbeschäftigt sind solche Exzellenzen, zumal wenn sie Professor der Königlichen Akademie in Berlin sind wie der Angeschriebene. Und außerdem selbst ein gefeierter Romanautor (deshalb hat man’s ihm ja geschickt, der Mann ist vom Fach). Und wie oft wird ihm das passieren, daß er unaufgefordert Manuskripte zugesandt bekommt, zur wohlwollenden Begutachtung. Eigentlich wäre es ein Wunder, wenn er überhaupt antwortet. Doch dann dieses! Mit noch weiter geöffneten Armen kann man jemanden gar nicht empfangen: „Wo wohnen Sie? Wie heißen Sie? Wer sind Sie? – Ihr Werk ist ein Juwel.“
Karl Philipp Moritz, Verfasser des „Anton Reiser“, war es, der solchermaßen reagierte. Er wußte in der Tat buchstäblich nichts über den Mann, der ihm dieses Manuskript, das wahrscheinlich noch ohne Titel war, zugeschickt hatte. Ließ sich vielleicht aus dem Romangeschehen etwas ableiten über die Person dessen, der das geschrieben hatte? Bekanntlich formen Autoren ja in ihren Erstlingswerken gerne einmal mehr oder weniger verschlüsselt das eigene Leben um. Sollte Moritz tatsächlich so gedacht haben, wäre er damit völlig in die Irre gegangen. Denn die Welt, die in diesem Buch beschrieben war, konnte kaum weiter entfernt sein von dem, was ihr Verfasser in seinem bis dato 29jährigen Leben gesehen und erlebt hatte. Der Roman spielt im Milieu von Fürstenhöfen, sein romantischer Held ist Gustav, der Sohn eines Rittmeisters, an dem ein außergewöhnliches Erziehungsexperiment vorgenommen wird: So als sei er Adam, der erste Mensch, soll Gustav von seiner Geburt an acht Jahre von der Außenwelt abgeschnitten in einer unterirdischen Höhle auf dem Falkenbergischen Rittersitz Auenthal aufwachsen und erzogen werden. Gewissermaßen in einem moralischen Treibhaus ohne Fremdeinflüsse – allerdings auch einem ohne Sonne.
Eine eigenartige Erzählkonstruktion. Was muß das für ein Mensch sein, der sich so etwas ausdenkt? Vielleicht gar selbst ein Rittmeisterssohn? Aber unter der Erde wird er doch wohl nicht aufgewachsen sein? Moritz wurde bald aufgeklärt, denn der überschwenglich Belobigte reagierte postwendend. Nicht nur mit Auskünften darüber, wer er sei und wo er wohne, sondern – nur wenige Wochen nach Zusendung des Romanmanuskriptes – bereits mit einer zweiten Probe seines Schaffens. Diesmal ist es eine weitaus kürzere Erzählung, eine „Art Idylle“, mit Titel „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“. Moritz liest auch diese Erzählung … und ist begeistert. Laut einem seiner Söhne soll er gesagt haben: „Das ist noch über Goethe, das ist was ganz Neues.“ Wohlgemerkt: Zu diesem Zeitpunkt, 1792, galt Goethe bereits unwidersprochen als der Olympier von Weimar, der Unerreichbare. Und nun soll sogar er übertroffen sein, durch diesen Neuling, dem Moritz noch etwas attestieren muß, nämlich: Wer solches wie den „Wutz“ dichte, der könne unmöglich sterblich sein.
Doch um zum unsterblichen Autor zu werden, wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn er jetzt vorderhand einmal mit seinem ersten Roman herauskommen würde. Und tatsächlich: Moritz sorgte durch Fürsprache bei seinem späteren Schwager Carl Matzdorf dafür, daß die „Unsichtbare Loge“ in dessen Verlagsbuchhandlung in Berlin erschien, und zwar gleich mit dem „Wutz“ im Anhang. Das Buch erregte einiges Aufsehen. Jetzt stellte sich das literarisch interessierte Deutschland noch einmal jene Fragen, die schon Moritz beschäftigt hatten: Wo wohnt der? Wie heißt der? Wer ist das? Nach und nach sollte das Publikum es erfahren. So wie auch der Leser dieses Alphabets nach und nach alles Wichtige über den Helden unserer Geschichte erfahren wird, so hoffe ich doch zumindest. – Ach ja, er heißt übrigens Jean Paul, unser Held. Beziehungsweise: eigentlich Richter. Johann Paul Friedrich Richter. Wie das? Wird gleich erklärt. Vorher aber noch: Wieso ausgerechnet in der Form eines alphabetischen Wörterverzeichnisses?
Alphabet
Im Grunde ist es wie mit „Frederick“, der Maus, die anders ist als alle anderen Mäusegesichter – wer kennt sie nicht, die bezaubernde Geschichte des Kinderbuchautors Leo Lionni über die Macht von Kunst und Phantasie. Während die anderen für den Winter Körner und Nüsse horten, sammelt Frederick Sonnenstrahlen, Farben und vor allem Wörter. Nichts anderes hat auch Jean Paul getan. Von frühester Jugend an sorgte er für einen Wörtervorrat, wie es keinen zweiten in irgendeiner deutschen Dichterstube je gegeben hat. Die Scheuer, in seinem Fall Exzerpthefte, Notizbücher und Einfallsblätter, waren zum Schluß so randvoll, daß er ein Problem hatte: nämlich dasjenige wiederzufinden, was er gerade brauchte.
So kam Jean Paul auf die Idee mit den Wortregistern. In ihnen listete er ellenlange Kolonnen von Stichwörtern auf, hinter denen rätselhafte Zahlenkombinationen standen. Allein diese Register machen im Nachlaß des Dichters 1244 Seiten aus. Jedes Stichwort darin führt in Verbindung mit einer dahinterstehenden Sigelnummer zu einem Eintrag in einem der Notizbücher, in dem letztendlich der Wörtervorrat lagert. Aus was genau der besteht? Aus allem, was Jean Paul seit seinem fünfzehnten Lebensjahr an Lektüre unter die Finger bekam. Darunter waren theologische Bücher ebenso wie Reisebeschreibungen und naturkundliche Werke über Astronomie und Botanik, Medizinfachbücher und philosophische Klassiker, Zeitschriften sowie Journale en masse, aber auch Lexika, Heiligenviten und der jüngste Schund- und Schauerroman. Aus diesem gewaltigen Lesestoff nahm er sich heraus, was ihm brauchbar schien, später einmal bei Abfassung seiner eigenen Werke: Zitate, kuriose Mitteilungen, naturkundliche Besonderheiten, geistreiche Aussprüche etc. etc. Weil es noch kein Internet gab und folglich auch keine „Favoriten“-Liste, mußte er alles abschreiben. Sein ganzes Schreiberleben lang griff er auf diese Aufzeichnungen zurück. Sie lagen in einem sogenannten „Repositorium“ immer in direkter Nähe von seinem Schreibplatz. Ohne sie konnte er nicht sein. Viele Jahre später, da war er schon verheiratet und lebte mit seiner Familie in Bayreuth, schrieb er einmal seiner Frau von unterwegs einen unter Eheleuten üblichen brieflichen Merkzettel: Sie solle bitte daran denken, daß, wenn es einmal in der Wohnung brenne, unbedingt „die schwarzeingebundenen Exzerpte zuerst zu retten“ seien.
Ja, und deshalb nun also dieses „Alphabet für Jean Paul“, ganz gemäß dem Geist seiner eigenen Arbeitsweise. Allerdings hoffe ich doch sehr, daß hier mehr als nur Stichwörter stehen. Eher schon eine Nacherzählung aller wesentlichen Vorkommnisse in seinem Leben und in seinen Büchern. Und statt kryptischer Sigel bemühe ich mich um nachvollziehbare Querverweise, wo in Jean Pauls labyrinthischem Gesamtwerk für den interessierten Leser weitere Verirrungsmöglichkeiten offenstehen. Denn sich mit Jean Paul beschäftigen, heißt immer auch: bereit sein für Umwege, offen fürs Verlaufen. „Auch bei dem Schreiben mus man sich nirgends anzukommen vorsezen.“
Asche des Phönix
Ich habe noch die drei Fragen zu beantworten. Fangen wir mit der schwierigsten an: Wer sind Sie?
Abgesehen davon, daß jeder Autor, zumal wenn er figurenreiche Romane schreibt, viele sein können muß, bleibt der alte Streit: Ist man das Produkt seiner Eltern, seines Umfeldes, seiner Herkunftsgegend oder ist man das, was man selbst aus sich macht? Eine Mischung aus beidem wird es wohl sein und allenfalls über die Gewichtung der einzelnen Anteile läßt sich streiten. Jean Pauls „Herkunftskomplex“ ist jedenfalls klar einzugrenzen: Seine Vorfahren sind samt und sonders tief verwurzelt mit der Gegend des Fichtelgebirges und seiner Ausläufer. Eine waldreiche Gegend ist das heute und war es auch schon zu Jean Pauls Zeiten, allerdings mit einigen Unterschieden. Die Wälder waren lichter, der Artenreichtum größer, auch dominierte der Wacholder noch wesentlich stärker das Landschaftsbild, das immer wieder auch weite Blicke über halbwegs freie Flächen bot. Nebelverhangen und einschichtig konnte es hier sein, von urwelthafter geologischer Gestalt mitunter, denkt man etwa an die Vulkankegel Parkstein und Rauher Kulm (am Fuße des letzteren, in Neustadt am Kulm, kam Jean Pauls Vater Johann Christian Christoph Richter zur Welt, 1727). Paul Nerrlich, der frühe Biograph Jean Pauls zu Ende des 19. Jahrhunderts, sah vieles in dieser Landschaft angelegt, was sich auch bei unserem Dichter später deutlich ausprägen sollte. Weltabgeschiedenheit auf der einen Seite, eine sich „dem Wunderbaren und Überirdischen zuwendende Phantasie“ auf der anderen. Das mit Granitbrocken übersäte Land jedenfalls bezeichnet Nerrlich als Boden „für eine Fülle origineller, ihre Eigenheiten zäh festhaltender und leicht ins Komische übergehender Charaktere“.
Komische beziehungsweise eigenwillige Charaktere bevölkern Jean Pauls Humoresken zuhauf. Oft sind es Hungerleider und arme Schlucker. Wie deren Existenz sich ausnahm, konnte der Autor zumindest in der ersten Hälfte seines Lebens ausgiebig studieren. Denn auch bei den Richters mußte man sich schon immer nach der Decke strecken. Auch wenn man sich Schulmeister nennen durfte oder gar Rektor, wie der Großvater väterlicherseits. Viel wisse er von ihm nicht, schreibt Jean Paul, außer daß das Schulhaus in Neustadt am Kulm, dem er vorstand, für ihn wie ein Gefängnis gewesen sei, „zwar nicht bei Wasser und Brot, aber doch bei Bier und Brot“.
Allzu abschreckend kann das Los des armen Schulmeisterleins jedoch nicht gewesen sein, denn auch der Sohn, Jean Pauls Vater also, schlug dieselbe Laufbahn ein. Man kann das nicht mit einem heutigen womöglich gar Gymnasiallehrer vergleichen. „Schulmeister“, das war jemand, der die Kinder einer Dorfschule unterrichtete, ein Universitätsstudium war dafür nicht zwingend notwendig. Eher mußte man sozialpflegerischer Allrounder sein, der nebenbei noch, wenn’s sein mußte, Pfarr- und Organistenstelle der jeweiligen Dorfkirche ausfüllen konnte. So war es auch mit Jean Pauls Vater, der nach dem Umzug nach Joditz 1795 dort die Pfarrstelle bekleidete. Zuvor war er seit 1760 Tertius in Wunsiedel gewesen, also der dritte Lehrer innerhalb der Schulhierarchie nach Rektor und Konrektor. Verehelicht war er mit Sophia Rosina Kuhn, einer Tuchmacherstochter aus Hof. Womit nun auch die zweite Frage beantwortet wäre: Wie heißen Sie? Mit vollem Namen Johann Paul Friedrich Richter wurde der Erstgeborene des Schulmeisterehepaars in das Taufregister der Pfarrkirche von Wunsiedel eingetragen, als er am 21. März 1763 dort zur Welt kam. Rufname während der Kindheit war Fritz. – Aber wann und wie tauchte schließlich das Autorenpseudonym Jean Paul auf?
Seine ersten beiden Bücher hatte der Autor noch anonym erscheinen lassen. Beim dritten, dem Roman „Die unsichtbare Loge“, traute er sich endlich und wollte einen Namen nennen. Allerdings nicht den bürgerlichen, sondern einen, der ausschließlich für sein Autoren-Ich stehen sollte. Das war gewissermaßen jetzt geboren, mit dem Auf-die-Welt-Kommen dieses dicken Romans. Der neue Name sollte etwas Besonderes sein. Modernität und Weltläufigkeit assoziierend. Etwas französisch Klingendes wäre nicht schlecht. Das war damals en vogue. Zumindest teilweise französisch sollte es sich anhören. Es herrscht ja der alte Streit, ob der Nachname deutsch „Paul“ oder französisch „Pohl“ auszusprechen sei. Der Autor selbst hat im „Vita-Buch“ den Hinweis gegeben: „Ich habe nur ¼ meines Namens übersetzt.“ Demnach wäre der erste Bestandteil seines Taufnamens Johann zu Jean geworden und zwar als Verbeugung vor Jean-Jacques Rousseau, dem großen Vorbild, und Paul wäre nach wie vor unübersetzt deutsch auszusprechen. Also Jean Paul! Briefe unterschrieb er sowieso weiterhin mit „Richter“, übrigens meistens auch die Vorworte und Vorreden, nur in den Büchern selbst tritt der Autor von nun an als „Jean Paul“ auf, sozusagen als von ihm selbst geschaffene Romanfigur.
Bleibt noch die Frage: Wo wohnen Sie? Die ist etwas schwer zu beantworten, weil Jean Paul in seinem Leben sehr oft umgezogen ist. Er wohnte in Hof, Schwarzenbach, Töpen, Meiningen, Coburg, auch in Leipzig, Weimar und Berlin, da aber jeweils nur kurze Zeit. Die längste Periode an nur einem Ort war sein Lebensabend in Bayreuth. Daß er in einem sehr kleinen Dorf aufwuchs, in Joditz, wohin seine Eltern umzogen, als er zwei Jahre alt war, empfand er als einen ausgesprochenen Glücksfall. „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen“, heißt es in der „Selberlebensbeschreibung“, Jean Pauls Autobiographie, die er gegen Ende seines Lebens in Angriff nahm. Es sind nur ungefähr 60 Druckseiten geworden, die seine frühe Kindheit und die erste Schulzeit in Schwarzenbach an der Saale beschreiben. Danach verlor Jean Paul das Interesse und das Manuskript bricht ab. Nichtsdestotrotz ist dieser Text ein Juwel. Nicht nur, weil Jean Paul hier auf eine ungemein innige Art über eine Zeit seines Lebens schreibt, über die wir sonst kaum etwas wüßten. Sondern auch, weil es ein einzigartiges Dokument ist: Mir fiele kein zweites Zeugnis einer Kindheit auf dem Lande aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, noch dazu so ein emphatisch geschriebenes.
Und in dieser „Selberlebensbeschreibung“ ist also nun genau dargelegt, wieso Jean Paul der Auffassung war, daß es für einen Dichter nur förderlich sein könne, wenn er auf dem Land aufwachse. Der ideale Autor ist Provinzler, ist ein Landei. Das stellen wir jetzt einfach mal als Grundthese auf. Kann ja jeder an Beispielen selbst überprüfen, ob’s stimmt. Zwei werfe ich gleich einmal in die Debatte: Stratford-upon-Avon war zu Shakespeares Zeiten ein Kaff, und Bohumil Hrabal wäre nicht Bohumil Hrabal geworden, wenn er nicht in Nymburg, dem herrlich verschlafenen Städtchen an der Elbe, aufgewachsen wäre.
Es hat etwas mit der Wohldosiertheit der Eindrücke zu tun, die auf einen einströmen. „Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein. Das Leben erschöpft sich an ihm in der Knabenzeit.“ Dagegen auf dem Dorfe hat alles seine Dauer, seine Weile, ruhig auch lange Weile. Dort herrscht ein „herrliches Teilnehmen an jedem, der ein Mensch, welches daher sogar auf den Fremden und Bettler überzieht“. Bedürftig ist das Leben, manchmal sogar armselig, aber welche poetischen Funken gerade die Not, die eben auch literarisch erfinderisch macht, schlägt, hat keiner so überzeugend vorgeführt wie Jean Paul. Er hat sich aus der Ärmlichkeit seiner Herkunft aufgeschwungen wie der berühmte totgesagte Vogel. Gerade weil es ihm nicht an nichts mangelte. Denn merke: „Wenn in die Flammen der Jugend und vollends der heißen Kräfte zugleich noch das Öl des Reichtums gegossen wird: so wird wenig mehr als Asche vom Phönix übrig bleiben.“
Blitzstrahl
„An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein Ich‘ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“ Der Ort dieser dem kleinen Fritz widerfahrenden Epiphanie, er läßt sich noch heute besuchen und begutachten und er sieht im wesentlichen noch immer so aus wie vor knapp 250 Jahren. Joditz, das 600-Seelen-Dorf an den Ufern der Saale, müßte für jeden wahren Jean-Paul-Freund im Grunde das sein, was Mekka für den gläubigen Moslem ist: Der Ort, an dem er mindestens einmal in seinem Leben gewesen sein sollte. Für diese Behauptung gibt es mehrere Gründe, auf die ich noch zurückkommen werde. Jetzt aber soll es um jene Schwelle gehen, auf der Jean Paul als Kind stand und vom Blitzstrahl getroffen wurde. Es war dies die Haustürschwelle des Joditzer Pfarrhauses, in das die Familie im Sommer 1765 eingezogen war. Das Haus steht noch immer, gleich neben der Kirche. Die petrolblaue Haustüre mit der viergeteilten Glasscheibe in der Mitte ist sicher neueren Datums. Aber der Türstock mit der Inschrift auf dem Sturz Hs. No 1 könnte tatsächlich der originale sein, unter dem schon Jean Paul gestanden hat, als ihn jene existentielle Erkenntnis durchfuhr, nämlich ein einzigartiges Ich zu sein unter tausend Millionen anderen Ichs. 1804, hat man errechnet, machte die Weltbevölkerungszahl gerade den Sprung über die Einmilliardengrenze. Um 1600 herum waren es noch halb so viele Erdbewohner gewesen. Während ich dies schreibe, im Oktober 2011, melden die Zeitungen, nun sei bereits die Sieben-Milliarden-Marke überschritten. Macht es diese Zahl, sieben Milliarden, etwa schwieriger, „ich bin ein ‚Ich‘“ zu denken? Und davon so erschüttert zu werden, wie Jean Paul erschüttert war, jenes oberfränkische Dorfkind, das mit drei, vier Händen voll Nachbarn und angenommenen Erdmitbewohnern aufwuchs? Wohl kaum. Die Erkenntnis der eigenen unverwechselbaren Individualität, daß wir denken können „ich bin ein ‚Ich‘“, bleibt eines der Mysterien des menschlichen Bewußtseins. Jean Paul wurde davon erfaßt … und zwar just auf der Türschwelle des Joditzer Pfarrhauses.
Diese magische Stelle müssen wir uns natürlich ansehen. Und fahren also nach Joditz. Von der Autobahn Regensburg–Hof herkommend folgen wir der A 72 Richtung Dreieck Bayerisches Vogtland. Joditz lag einmal unmittelbar im Schatten der „Zonengrenze“, die das Reich des Guten vom Reich des Bösen trennte. Gar nicht weit entfernt liegt Mödlareuth, jenes berühmt gewordene Dorf mit seinem heutigen Freilichtmuseum, mitten durch das hindurch 41 Jahre lang die deutsch-deutsche Grenze verlief, mit einem kleinen Wachturm, Betonsperrmauer und Plattenwand. Jean Paul hätte diese groteske Situation wahrscheinlich überhaupt nicht verwundert. Er war mit solchen deutsch-deutschen Grenzabsurditäten bestens vertraut, sie waren im Fleckerlteppich der damaligen Kleinstaaterei allerorten Realität. Im Roman „Flegeljahre“ wachsen die Zwillingsbrüder Walt und Vult im Haus des Dorfschulzen Harnisch auf, welches in dem Dorfe Elterlein steht. „Elterlein war zweiherrig“, heißt es im Roman, stoßen hier doch das Herrschaftsgebiet eines Fürsten und die Besitzungen eines Edelmannes aneinander. Und die Grenze verläuft genau durch das Haus des Dorfschulzen. „Mit unsäglichem Vergnügen sah er oft in seiner Wohnstube – die an der Wand ein fürstlicher Grenz- und Wappenpfahl abmarkte – sich um und warf publizistische Blicke bald auf landesherrliche, bald auf ritterschäftliche Stubenbretter und Gerechtsame und bedachte, daß er nachts ein Rechter wäre – weil er fürstlich schlief – und nur am Tage ein Linker, weil Tisch und Ofen geadelt waren.“ Bei der Hausgeburt der Zwillinge schiebt man übrigens das Bett der Kreißenden zwischen der Ankunft des erstgeborenen Walt und des nachfolgenden Vult schnell über die Grenze, damit auch ganz gerecht beide Landesherren einen neuen Untertan bekommen. – Mit anderen Worten also: Hätte Jean Paul vom zerschnittenen Dorf Mödlareuth und seiner besonderen Geschichte erfahren, hätte er wahrscheinlich abgewinkt und lediglich gesagt, „solche Fälle kenn’ ich doch“, und von Elterlein erzählt.
Aber zurück zum Pfarrhaus von Joditz. Es steht heute, wie könnte es anders sein, in der Jean-Paul-Gasse 1 gleich neben der Kirche. Wir lugen über die Mauer, die den Garten einfriedet. Wäsche hängt dort zum Trocknen. Der Blick geht zur Haustüre. Alles noch wie damals, nur keine Holzlege mehr an der Hauswand, dafür steht dort eine Kinderrutsche aus bunten Plastikteilen. Hinter den Fenstern des Erdgeschosses spielten sich jene Szenen ab, die Jean Paul in so anrührender Weise in der „Selberlebensbeschreibung“ festhält. Vom Vater heißt es: „Am Morgen saß er an einer Fensterecke und lernte seine Sonntagspredigt auswendig und wir drei Brüder Fritz (das bin ich selber) und Adam und Gottlieb (denn Heinrich kam erst gegen das Ende des Joditzer Idyllenlebens dazu) trugen abwechselnd die volle Kaffeetasse zu ihm, um noch froher die leere zurückzuholen, weil der Träger die ungeschmolzenen Reste des gegen Husten genoßnen Kandiszucker frei aus ihr nehmen durfte.“
Vom Pfarrhaus hinüber zur Kirche sind es nur wenige Schritte. Selbstverständlich war der kleine Fritz mit dabei, wenn am Sonntag der Vater die auswendig gelernte Predigt hielt, vor einer Schar von der Feldarbeit müder Bauersleute. Das Kind mußte nur dieses eine Mal die Predigt hören und beim Einstudieren in der Wohnstube verstohlen die Ohren spitzen, um das ein oder andere aufzuschnappen, und schon konnte es bedeutende Teile daraus auswendig hersagen. Bei den Joditzern war der kleine Fritz gefürchtet, die Bauern gingen ihm aus dem Wege, es war bekannt, daß er an jedem seine Redegabe ausprobieren mußte. Weil aber, wie gesagt, die meisten ihm auswichen oder vor ihm davonliefen, mußte er sich andere Opfer suchen, denen Weglaufen verunmöglicht war. Zum Beispiel eine schwerkranke Greisin, die „gichtbrüchig darniederlag“. Vor ihrem Bett baute sich der kleine Fritz auf, der sich von seinem Vater abgeschaut hatte, wie man als Geistlicher Krankenbesuche macht, und begann der Frau aus dem Gesangsbuch vorzulesen. Die solchermaßen Beglückte soll sich nicht weiter drum gekümmert haben, der kleine Fritz aber, ergriffen von seiner eigenen salbungsvollen Rede, brach in Tränen aus. Es scheint, als ob er schon damals die Macht der wohlgesetzten Worte spürte, vor allem an sich selbst. Und vielleicht ahnte er schon da, daß er diese Macht einmal würde ausüben können. Das würde ein Teil, ein ganz wesentlicher, seiner Individualität werden. Das war sein Ich. Aber das hatte er ja nun bereits geschaut. Und zwar auf ewig.
Bruderherz
Vier jüngere Brüder hatte Jean Paul, Adam, Gottlieb, Heinrich und Samuel. Zwar kamen in Joditz auch noch zwei Schwestern zur Welt, doch die verstarben schon im Kleinkindalter an den Blattern. Die Kindersterblichkeit lag vor 1800 bei 50 Prozent, in besonders ärmlichen Gegenden sogar bei zwei Drittel, und die Oberpfalz beziehungsweise das fränkische Fichtelgebirge waren nicht nur ärmlich, sondern sogar bitterarm. Aus der Gegend um Fuchsmühl ist zum Beispiel bekannt, daß bei Rekrutenaushebungen unter den jungen Burschen dort kaum jemand genommen werden konnte, so schlecht war ihr Allgemeinzustand aufgrund eklatanter Mangelernährung. Die Chancen, das Erwachsenenalter zu erreichen, lagen also günstigstenfalls bei fifty-fifty.
Der Tod war sowieso allgegenwärtig und für Kinder und Jugendliche ein Faktum, das zu ihrem Aufwachsen dazugehörte. Auch Jean Paul hat schon früh miterleben müssen, wie ihm liebe und teure Menschen gehen mußten. Als sein Vater starb, war er gerade einmal sechzehn. Wenige Wochen zuvor war er nach Hof gekommen, hatte bei den Großeltern mütterlicherseits ein kleines Zimmer bezogen und seine Zeit am Gymnasium begonnen. Plötzlich fand er sich in der Rolle des ältesten männlichen Familienmitglieds wieder und war mit sechzehn fast schon so etwas wie das Familienoberhaupt. Dabei hatte er doch genug damit zu kämpfen, sich am Gymnasium einen Stand zu verschaffen, man hänselte ihn dort als Landei, kam er doch aus Schwarzenbach und seine Mitschüler waren Hofer Stadtkinder. (Die Stigmatisierung als Provinzler sollte er lange, lange Zeit nicht loswerden, ja im Grunde bis heute nicht, wo man ihn mancherorts noch immer als fränkischen Heimatdichter abtut.)
Der Tod des Vaters war für die restliche Familie eine Katastrophe. Mit einem Mal fiel die Existenzgrundlage weg. Zwar hatte man auch vorher, als Johann Richter noch seinen kärglichen Lohn als Schulmeister und Pfarrer bezog, in großer Anspruchslosigkeit gelebt, nun aber brach die schiere Not aus und die Richters verarmten zusehends. Im Mai 1781 mußte der Rektor des Hofer Gymnasiums, Georg Wilhelm Kirsch, einem seiner Schüler ein „Testimonium paupertatis“ ausstellen, ein Armenzeugnis. Er leitete es ein mit dem Satz: „Da Armut niemandem zur Unehre gereicht, der nach Reichtum an Tugend trachtet, braucht der wahrlich nicht zu erröten, der um dies Zeugnis gebeten hat, der vortreffliche Jüngling J. P. Fr. Richter, ein Sohn des ehemaligen Schwarzenbacher Pastors, ein armer, ja ärmster Mensch.“ Wenigstens von Studiengebühren war er damit befreit, und Jean Paul konnte ein Theologiestudium an der Universität Leipzig antreten. Das war der einzige Studiengang, der Söhnen bedürftiger Familien offenstand, für einen angehenden Dorfpfarrer fanden sich am ehesten Mäzene, die ein Stipendium zahlten oder wenigstens die Kosten für den Freitisch in irgendeiner Studentenspelunke übernahmen. Mit solchem Gönnertum tat man schließlich etwas fürs zukünftige allgemeine Seelenheil und sammelte zusätzlich Pluspunkte für den eigenen Auftritt vorm Jüngsten Gericht.
Jean Paul konnte also – in Maßen zumindest – mit Unterstützung rechnen. Anders die übrige Familie. Vor allem die Mutter traf das Unglück mit voller Wucht. Ohne ihren Mann, der ihr zudem einiges an Schulden hinterlassen hatte, war sie gänzlich unversorgt. Witwenrenten gab es seinerzeit noch nicht. Wären da nicht ihre Eltern gewesen, die alten Kuhns, die in Hof ein Tuchmachergeschäft betrieben, die arme Frau hätte sich mit ihren fünf Söhnen kaum über Wasser halten können. Schließlich starben auch die Eltern. Sophia erbte zwar ein Haus in der Hofer Klostergasse, zog auch von Schwarzenbach dorthin um, doch bald darauf focht ein Schwager von ihr diese Erbschaft an. Der gute Mann war Advokat. Der Prozeß verschlang letztendlich das gesamte Erbe, Jean Pauls Mutter endete in bitterster Armut. Sie zog durch die Straßen Hofs und sammelte Altpapier zusammen, um wenigstens ein paar Kreuzer zu verdienen. Die arme Frau muß ein Bild abgegeben haben wie von Heinrich Zille gezeichnet.
Am 25. Juli 1797 starb Sophia Rosina Richter. An seinen Freund Christian Otto schrieb Jean Paul, welche „dramatische Pein“ es ihm bereite, wenn er daran denke, daß seine Mutter „nichts, nichts, nichts auf der Erde gehabt hat“. Diesen Schmerz werden seine vier jüngeren Brüder sicher ganz ähnlich empfunden haben. Ja, einer von ihnen, der sieben Jahre jüngere Heinrich, litt so sehr unter diesen Verhältnissen, daß er sich 19jährig das Leben nahm. Er ertränkte sich in der Saale, zwischen Unterkotzau und Zedtwitz. Es heißt zwar, es sei nie ganz geklärt worden, ob es sich nicht sogar um einen Mordfall gehandelt habe, ein Rotgerber aus der Gegend soll sich beleidigt gefühlt haben und Heinrich nachgeschlichen sein, um ihn von einer Brücke zu stoßen. Doch dazu nicht passen will die Mitteilung in einer Ortschronik von Hof, wonach der Bruder im Schatten eines Felsens außerhalb des Dorfes von Unterkotzau ganz nah des Unglücksortes begraben worden sei. Solches tat man nur mit Selbstmördern, die kein Anrecht hatten, in der geweihten Erde des Gottesackers zu liegen.
Es war dies nicht der einzige tragische Todesfall, den Jean Paul in jungen Jahren miterleben mußte. Da war sein Studienfreund Johann Bernhard Hermann, der mit nur 29 Jahren laut Sterberegister „an Gicht und Ausfluß“ verstarb, wahrscheinlich war es jedoch Lungentuberkulose. Hermann war, obwohl zwei Jahre älter, fast so etwas wie ein Zwillingsbruder. In Hof geboren, die Eltern Tuchmacher genau wie Jean Pauls Großeltern mütterlicherseits, wuchs auch er in ärmlichen Verhältnissen auf und konnte sich nichts anderes leisten als ein Theologiestudium, obwohl doch sein Interesse ganz und gar der Medizin galt. Auch er schrieb, wie Jean Paul, jedoch über naturwissenschaftliche Themen, und hoffte, über Buchhonorare seinen Lebensunterhalt ein bißchen aufzubessern. Es schlug genauso deprimierend fehl wie Jean Pauls Versuche, mit zwei anonym erschienenen Satirebänden zu reüssieren. „Ich und du sind ein Paar Genies, dies beweist unser gleiches elendes Schicksal“, schrieb Hermann an seinen Freund, der das ganz ähnlich gesehen haben wird und dem vor allem am Beispiel Hermanns schmerzlich vor Augen geführt wurde, wie es mit ihm selbst hätte enden können. Diese Erkenntnis kam ihm eines Tages jäh zu Bewußtsein: „Wichtigster Abend meines Lebens“, schrieb er gegen Ende des Jahres 1790 in sein Tagebuch, „denn ich empfand den Gedanken des Todes; daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Plane und alles mir davonschwindet, und daß ich die armen Menschen lieben soll, die sobald mit ihrem bißgen Leben niedersinken.“
Diese Einsicht, daß für Mißgunst, Kritik, Geringschätzung und Ablehnung unser aller Leben eigentlich viel zu kurz ist, sorgte nicht zuletzt für einen entscheidenden Wandel in Jean Pauls Schreibart. Aus dem essigsauren Satiriker wurde der menschenliebende Humorist. Als erstes Belegstück dafür gilt die Erzählung „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“. Sie endet mit der Beschreibung der Sterbeszene Wutzens und die ist von solcher Intimkenntnis dessen, was während dieses Moments des Übergangs geschieht, daß man sich fragt, woher das der knapp 28jährige wußte.
Es hatte da noch jemanden gegeben, dessen Sterben Jean Paul unmittelbar miterlebte, einen weiteren Jugendfreund, Adam Lorenz von Oerthel. Die beiden lernten sich schon während der Gymnasialzeit in Hof kennen, sie diskutierten über Bücher, schwärmten zum ersten Mal Mädchen an, „wertherisierten“ und hielten sich wahrscheinlich für Günstlinge der Götter. Dann starb Oerthel, der schon seit Kindheit Kränkelnde, mit nur 23 Jahren, und zwar in den Armen von Jean Paul. – Im „Schulmeisterlein“ heißt es über den in Agonie liegenden Wutz: „Gegen 4 Uhr morgens konnte er uns nicht mehr sehen, obgleich die Morgenröte schon in der Stube war – die Augen blickten versteinert vor sich hin – eine Gesichtzuckung kam auf die andre – den Mund zog eine Entzückung immer lächelnder auseinander – Frühling-Phantasien, die weder dieses Leben erfahren, noch jenes haben wird, spielten mit der sinkenden Seele – endlich stürzte der Todesengel den blassen Leichenschleier auf sein Angesicht und hob hinter ihm die blühende Seele mit ihren tiefsten Wurzeln aus dem körperlichen Treibkasten voll organisierter Erde … Das Sterben ist erhaben; hinter schwarzen Vorhängen tut der einsame Tod das stille Wunder und arbeitet für die andre Welt, und die Sterblichen stehen da mit nassen, aber stumpfen Augen neben der überirdischen Szene …“
Buch, das erste
Ein Großteil der Faszination, die sich bei Betrachtung des Werdegangs von Jean Paul einstellt, macht dies aus: Wir können hier, wie vielleicht bei keinem zweiten Fall der klassischen Periode der deutschen Literatur, Schritt für Schritt einer Autorenwerdung beiwohnen. Und zwar einer Autorenwerdung, bei der als Endprodukt ein Typus von Schriftsteller dasteht, den es, bevor Jean Paul auftauchte, überhaupt nicht gegeben hat. Ich meine den freiberuflichen, allein von seinen Buchhonoraren lebenden Berufsschriftsteller, der seinen Status mit dem Selbstbewußtsein eines Handwerkers oder Kleinunternehmers postuliert und verteidigt. Einen wie ihn muß es genauso geben können wie einen Polizeiinspektor, einen Hoffiskal, einen Schulrat oder Nachtwächter. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist es, wofür Jean Paul mit all seinem Tun und seiner ganzen Existenz letzten Endes einstand.
Daß er diese Existenz – und zwar mit einer Ausschließlichkeit sondergleichen – nur und allein dem Schreiben widmen würde, muß ihm schon sehr früh bewußt gewesen sein. Entscheidend ist nicht, daß er als Jugendlicher und Schüler schon eifrig anfing, Texte zu schreiben, über Themen wie „Die Religionen in der Welt“ oder „Das Lob der Dummheit“, das werden andere auch getan haben. Sondern daß er dabei blieb, vor allem auch bei der Behauptung, die er schon während seines Studiums in Leipzig gegenüber der Mutter mehrfach wiederholt hatte: Er werde das, was er im Kopf habe, zu Geld machen, und zwar indem er es aufschreiben und drucken lassen werde! Dieses Behaupten in seiner Doppelbedeutung von großmundigem Versprechen und gleichzeitig standhaftem Verteidigen fällt in eine Zeit, wo es ihm und der Familie gar nicht dreckiger hätte gehen können.
Nur kurze Zeit später flüchtete Jean Paul in einer Nacht- und Nebelaktion aus Leipzig, weil die Leute, denen er Geld schuldete, hinter ihm her waren. Als Studienabbrecher ging er zurück nach Hof zur Mutter, die mittlerweile selbst bettelarm war, zog in ihr Elendsquartier mit ein und separierte sich ein Eckchen im Zimmer, wo er weiterschreiben konnte. Nichts konnte ihn mehr von seinem Entschluß abbringen. Er würde Schriftsteller werden, und sonst nichts. Und alle Stationen auf dem Weg dorthin würden später einmal zur Beurteilung des Ganzen wichtig werden, darum hat Jean Paul auch alles aufgehoben. Selbst seine frühesten Schreibversuche aus der Schulzeit sind uns überliefert. Und all die Satiren, die er nun, während des Theologiestudiums in Leipzig, anfing zu schreiben, Satiren voll „gequältem und quälendem Witz“, wie er später selbst einsah. Vernichtet hat er sie deshalb aber trotzdem nicht, so wie andere Autoren das nicht selten mit ihren Jugendsünden gemacht haben. Maximal schob er sie jemand anderem in die Schuhe, jemandem, der von ihm erfunden war und sich folglich nicht wehren konnte. Im Roman „Siebenkäs“ lesen wir, es sei der Armenadvokat gewesen, der die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ zusammengeschustert habe. Und in den „Flegeljahren“ heißt es, die „Grönländischen Prozesse“ seien von Gottwalt Peter Harnisch, genannt Walt, verfaßt.
Das stimmt natürlich nicht. Die beiden Satiresammlungen hat Jean Paul schon selbst geschrieben. Nur so recht dazu stehen wollte er nicht. Als erstes erschienen die „Grönländischen Prozesse“, und zwar bei Christian Friedrich Voß in Berlin, in zwei Bändchen, Frühjahr und Herbst 1783. Da war Jean Paul gerade 20 Jahre alt. Sie waren das erste Buch des Dichters und hätten seinen Namen in alle Welt hinaustragen sollen. Doch dazu hätte der Name auf dem Buchumschlag stehen müssen. Sowohl die „Grönländischen Prozesse“ als auch die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ erschienen aber ohne Verfasserangabe. Zu diesem Zeitpunkt war der Markenname „Jean Paul“ auch noch gar nicht kreiert, den Einfall hatte Richter erst später. Zum ersten Mal auf einem Buchdekkel tauchte das Autorenpseudonym „Jean Paul“ 1793 auf, bei Richters erstem richtig dicken Roman, „Die unsichtbare Loge“. Deren Verfasser brachte niemand, auch Karl Philipp Moritz nicht, mit den beiden Satirebändchen in Verbindung. Wie auch, da sie doch anonym erschienen waren! Jetzt stellte sich heraus: zum Glück! Denn so war der Name „Jean Paul“ unbelastet von dem kompletten Mißerfolg, den die beiden ersten Bücher des Autors eingefahren hatten. Zehn Jahre lang hatte sich kein Verleger mehr gefunden, der noch etwas vom Satiriker Johann Paul Friedrich Richter veröffentlichen wollte. Der mußte sich erst in den Romancier mit dem menschenliebenden Gefühlsüberschwang verpuppen, ehe sich er unter neuem Namen und mit dem Roman „Die unsichtbare Loge“ wieder vor die Leser wagte.
Champagner
Champagner sei gesteigertes Weißbier, hat sich Jean Paul einmal aufnotiert. Es gibt Hunderte von solchen Bonmots, Aphorismen und Bemerkungen in seinem Nachlaß, ein unfertiges „Ideen-Gewimmel“, das unter eben diesem Titel 1996, herausgegeben von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel, in der „Anderen Bibliothek“ des Eichborn Verlages auszugsweise erschienen ist. Das Thema „Vom Trinken“ nimmt darin seinen notwendigen Raum ein, denn tatsächlich hat sich Jean Paul etliche Gedanken darüber gemacht. Schwerwiegende Gedanken, denn er spürte wohl selbst, daß sein Trinken … na ja, sagen wir es einmal so: grenzwertig war.