Wie mein Glaube
durch verfolgte Christen
radikal erneuert wurde
Sei getreu bis an den Tod,
so will ich dir die Krone des Lebens geben.
(Offenbarung 2,10)
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
„The Insanity of God“ bei B&H Publishing Group,
Nashville, Tennessee, USA.
© 2013 by Nik Ripken. Alle Rechte vorbehalten.
Deutsch von Dr. Friedemann Lux
Das Motto auf dieser Seite aus Offenbarung 2,10 ist entnommen aus:
Lutherbibel, revidierter Text 1984,
© Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999
© der deutschen Ausgabe: 2013 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Umschlagfoto: shutterstock
Umschlaggestaltung: Ralf Simon
Satz: DTP Brunnen
Druck: CPI – Ebner und Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-7655-4204-6
eISBN 978-3-7655-7109-1
Meine Erfahrungen
beim Lesen dieses Buches (Markus Rode)
1. „Könnten Sie mich mal eben nach Somalia mitnehmen?“
2. Abstieg in die Hölle
3. Die Fratze des Bösen
4. Berufsziel: Tierarzt
5. Ein Kinderlächeln, das mir das Herz brach
6. Gottes Geschenk: Ruth
7. „Nehmt mein Kind!“
8. „M“ wie Malaria
9. Warum hast du nicht den Mund gehalten?
10. Das sind keine Moskitos, das sind Kugeln
11. Elvis unter der sengenden Sonne
12. Tränen für Somalia
13. Für dich gebrochen – für dich vergossen
14. Ein hoher Preis
15. Wenn aller Einsatz nicht reicht
16. Der Tod kommt nach Hause
17. Ein neuer Anfang
18. Suche nach Antworten in Russland
19. Ein Gefängnis singt
20. Vermächtnis des Glaubens
21. „Wann hast du aufgehört, deine Bibel zu lesen?“
22. Angst oder Freiheit?
23. „Papa, ich bin stolz auf dich!“
24. Geheime Treffen
25. Nur die Kleider auf dem Leib
26. Die Wirkung des Gefängnisses
27. „Machen Sie sich so klein wie möglich!“
28. „Können Sie uns sagen, wie man sich auf das Gefängnis vorbereitet?“
29. Geistliches Feuer und unbändige Freude
30. Träume und Visionen
31. Der gefährlichste Mann, der mir je begegnet ist
32. Jesuslieder
33. Die eigentliche Frage
34. Die Reise beginnt – kommen Sie mit!
Der Dienst von Open Doors
Im Mai 2011, auf einer Konferenz von Open Doors in Toronto, Kanada, hatte ich das Privileg, Nik Ripken und seine Frau Ruth das erste Mal sprechen zu hören. Ich erlebte sie als ein bescheidenes amerikanisches Pastorenehepaar. In ihrem Vortrag erzählten sie, wie sie Gottes Ruf in die „Hölle Somalia“ gefolgt waren. Einem Land im Bürgerkrieg, aus dem sich Hilfsorganisationen schon längst zurückgezogen hatten. Als ich später das Textmanuskript für ein neues Buch erhielt, in dem Nik seine Erlebnisse aufgeschrieben hatte, begann ich voller Erwartung zu lesen. Ich hatte zwar schon manches im Dienst für verfolgte Christen erlebt, doch was Nik in Somalia durchgemacht hatte, überstieg meine Vorstellungskraft. Wie weit können Menschen gehen, um einer Berufung zu folgen? War Nik auf das Böse, das ihm in Somalia begegnen würde, ausreichend vorbereitet gewesen? Gab und gibt es unter den schwierigsten Umständen einer Berufung eine geistliche Überlebensstrategie? Gegen Ende der ersten einhundert Seiten schrieb ich mir folgende Hilferufe des Pastorenehepaars auf, die mich an die verzweifelten Worte eines Hiob erinnerten: „Wenn jeder Mensch eine Seele ist, für die Christus starb, wie war es da möglich, all diesen Schmerz, diesen Tod, diese Unmenschlichkeit zu ertragen? … Wir trafen eine bewusste Entscheidung, in einer Hölle des Wahnsinns Salz und Licht zu sein. Und wir beteten darum, dass mitten in der Nacht dieses Wahnsinns irgendwo das Licht scheinen möge.“
Zu diesem Zeitpunkt meiner Lektüre war ich ziemlich mitgenommen. Wenn es Ihnen beim Lesen auch so geht, legen Sie das Buch nicht aus der Hand! Denn Nik machte sich auf die Suche nach der Auferstehungskraft Christi, die über die Macht des Bösen in Somalia scheinbar nicht siegen konnte. Und so reiste er rund um den Globus in die für den christlichen Glauben gefährlichsten Länder, um dort von Christen zu erfahren, wie sie in härtester Verfolgung ihren Glauben behalten hatten. Ich war von der zweiten Hälfte so gebannt, dass ich immer wieder die Zeit vergaß. In meinem Dienst bei Open Doors hatte ich schon durch persönliche Glaubenszeugnisse verfolgter Christen von Gottes Wundern erfahren. Niks Erlebnisse in Osteuropa, Asien und Nordafrika zeigten mir jedoch in dieser Breite und Intensität eine ganz neue Tiefe von Gottes Handeln. Ich fühlte mich von seinen Schilderungen in die Zeit der ersten Apostel zurückversetzt. Und doch geschieht das alles in unserer Zeit!
Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Sie am Ende dasselbe wie Nik und Ruth sagen können: „Was die verfolgten Christen uns vorgelebt und was sie uns erzählt haben, hat nicht nur unsere Hoffnung erneuert und unsere Wunden geheilt, es hat uns auch einen neuen Blick für die Welt und für unsere Berufung gegeben, unseren Glauben wiederbelebt und unser Leben verändert. Für immer.“
Ich wünsche Ihnen, dass Sie durch die Glaubenszeugnisse unserer verfolgten Brüder und Schwestern das wunderbare Wirken des Heiligen Geistes selbst unter den schwierigsten Umständen auch in Ihrem Leben erkennen können.
Und ich danke Jesus Christus für seine unendliche Gnade, Liebe und Treue!
Kelkheim/Ts., im Frühjahr 2013
Markus Rode
Leiter von Open Doors Deutschland
Als Erstes muss ich etwas beichten. Ich heiße nicht Nik Ripken. Sie werden bald merken, warum ich unter einem Pseudonym schreibe. Doch meine Geschichte und die Personen darin sind sehr real. Viele dieser Menschen sind bis heute in großer Gefahr, und ich möchte ihre Identität schützen (nicht meine). So habe ich für dieses Buch meinen Namen und ihre Namen geändert.
Dies ist mein wahrer Bericht über eine lange, persönliche Reise. Es ist kein Heldenepos; die meiste Zeit bin ich mir vorgekommen wie jemand, der bei Nacht und Nebel durch einen dunklen Wald stolpert. Es ist eine Geschichte mit einem klaren Anfang und einem ungewissen Ende. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Die Geschichte fängt mit einem Anfang an und endet mit einem anderen Anfang.
Als ich in jungen Jahren Gottes Gnade entdeckte, nahm ich sie begierig an. Ich vertraute Gott wie ein Kind, ohne Wenn und Aber. Was man mir über Gottes Liebe und seine Erlösung erzählte, packte mein Herz. Als ich in der Bibel las, dass Gott die Welt liebt, begriff ich, dass ich zu dieser Welt gehörte. Als ich von Gottes Geschenk der Erlösung hörte, wollte ich dieses Geschenk haben. Als ich hörte, dass Gott die ganze Welt mit seiner Gnade erreichen will, wurde mir schnell klar, dass ich eine persönliche Verantwortung hatte, an der Verwirklichung dieses Zieles mitzuarbeiten. Und als ich die Apostelgeschichte aufschlug und Gottes Herz für die Völker entdeckte, war mir klar, dass Gott hier eine Aufgabe für mich hatte.
Damals war alles ganz einfach: Das bietet Gott seinen Leuten an, das möchte er mit ihnen machen, das erwartet er von ihnen – und sie antworten mit Gehorsam und Vertrauen; was denn sonst?
Ich sage nicht, dass ich damals alles verstand; oft lag ich falsch. Aber der Weg des Gehorsams und Gottvertrauens schien mir ganz deutlich zu sein. Und es gab keine Frage, dass ich Gott gehorchen musste.
Ich weiß nicht, ob ich es jemals wortwörtlich so hörte, aber irgendwie kam ich damals zu der Überzeugung: Wenn ich auf Gottes Ruf antwortete, würde ich ein schönes, behütetes Leben haben. Wer Gott gehorsam diente, der konnte damit rechnen, Ergebnisse zu sehen, ja, richtig Erfolg zu haben. Mehr als einmal hörte ich: „Der sicherste Ort der Welt ist im Zentrum von Gottes Willen.“ Was konnte wahrer sein? Und beruhigender?
Nichts an meiner Jugend im ländlich-beschaulichen Kentucky hatte mich auf Reisen in ferne Länder und lebensgefährliche Begegnungen vorbereitet.
Ich war das zweitälteste von sieben Kindern, und als ich mit 18 Jahren mein Elternhaus verließ, reiste ich zum ersten Mal außerhalb des US-Bundesstaates Kentucky. Unsere Familie gehörte nicht zu den Privilegierten. Sie war arm, aber stolz. Meine Eltern gaben uns Kindern einen ausgeprägten Sinn für Familienzusammenhalt, Ehrlichkeit, persönliche Verantwortung, Eigenständigkeit und eine solide Arbeitsethik mit.
Hatte ich eine besonders glückliche oder unglückliche Kindheit? Schwer zu sagen. Die meiste Zeit arbeitete ich oder war anderweitig beschäftigt; da hatte ich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, ob ich nun glücklich war oder nicht. Aber von meinen Eltern und den Nachbarn lernte ich, dass das Leben Arbeit ist und man das Glück bei seinen Verwandten und Freunden findet – zwei einfache Erkenntnisse, die mir im Laufe der Jahre gute Dienste geleistet haben.
Mein Bruder und ich waren die Ersten in unserer Familie, die studieren konnten. Mein Vater verdiente sein Brot in der Baubranche. Meine Mutter war Hausfrau, was bedeutete, dass sie auch Metzgerin, Bäckerin, Kerzenmacherin und vieles mehr war. Abends und am Wochenende bewirtschaftete unsere Familie ein nahe gelegenes Stück Land, wo es immer etwas zu tun gab.
Wochenweise wohnte ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits, die ihr Leben lang arme Pächter waren, und ging ihnen zur Hand. Sie waren von einer Farm zur nächsten gezogen, um für diverse Grundbesitzer aus der Stadt die Äcker und Wiesen zu bewirtschaften und nach dem Vieh zu sehen. Wenn ich bei ihnen war, stand ich meistens um vier Uhr morgens auf, um mit der Arbeit zu beginnen. Oft musste ich zwanzig Kühe melken – ohne Melkmaschine, mit der Hand. Gegen sechs Uhr stand das Frühstück auf dem Tisch. Nach dem Frühstück trabte ich zum Schulbus, der anschließend zwei Stunden lang kreuz und quer über die Dörfer fuhr, um die Schüler einzusammeln. Wenn der Unterricht am Nachmittag vorbei war, ging es die zwei Stunden zurück zur Farm, wo meine Großeltern gerade wohnten. Wir aßen zu Abend und gingen mit den Hühnern ins Bett, um genügend Schlaf zu bekommen, bevor noch zu nachtschlafender Zeit der nächste Arbeitstag begann. Mit so einem Tagesprogramm hatte man weder Zeit noch Gelegenheit, irgendwelche Dummheiten zu machen.
An körperlichem Training hatten wir also keinen Mangel, aber im Sommer spielten meine Brüder und ich zur Abwechslung Baseball in der Little League, einer gemeinnützigen amerikanischen Sportorganisation für Kinder und Jugendliche. In Kentucky war es Ehrensache, dass jedes Kind, das aus den Windeln heraus war, den ganzen Winter vor dem Radio saß und den Heldentaten der „University of Kentucky Wildcats“ mit ihrem legendären Basketballtrainer Adolph Rupp lauschte. Für nicht wenige in Kentucky war Rupp so etwas wie der liebe Gott.
Apropos Gott: Viele unserer Nachbarn und Freunde schienen mit ihm per Du zu sein. Allerdings muss ich zugeben, dass der Name des Herrn in unserem Haus weniger oft und gelegentlich weniger respektvoll genannt wurde als bei vielen unserer Nachbarn.
Meine Eltern waren keine großen Kirchgänger. Am ehesten sah man sie dort noch an Weihnachten, vielleicht auch Ostern – und natürlich dann, wenn ihre Kinder bei irgendeiner Aufführung mitmachten. Ich muss es meinen Eltern lassen, dass sie meine Geschwister und mich oft zur Kirche fuhren. Wir mussten früh aufstehen und unsere besten Sachen anziehen, und dann ging es zur Sonntagsschule und in den anschließenden Gottesdienst.
Es kann gut sein, dass meine Eltern uns nicht wegen unseres Seelenheils so eisern zur Kirche fuhren, sondern vielmehr wegen der Aussicht, zwei Stunden in der Woche frei von ihren Elternpflichten zu sein und die Kinder versorgt zu wissen. Die religiöse Unterweisung zu Hause beschränkte sich auf das jährliche Vorlesen der Weihnachtsgeschichte und die gelegentlich offen geäußerte Kritik meines Vaters an den Sünden und Schwächen der ihm bekannten „Frommen“ – gerade so, als wollte er uns (und vielleicht auch sich selbst) davon überzeugen, dass unsere Familie nicht schlechter war als die anderen – vielleicht sogar besser und ganz bestimmt weniger heuchlerisch …
Ich ging eigentlich ganz gerne in die Kirche. In der Sonntagsschule traf ich meine Freunde aus der Schule wieder. Ich mochte auch den Gottesdienst. Vor allem die Chorstücke hatten es mir angetan; hier erlebte ich zum ersten Mal so etwas wie Ehrfurcht. Die Kirche war auf eine schöne Art anders als mein Alltagsleben. Was allerdings auch bedeutete, dass die Gottesdienste und das „wirkliche Leben“ wenig miteinander zu tun zu haben schienen.
Ich versuchte wacker, den Predigten zu folgen, was mir indes nur gelang, wenn der Pastor eine gute Geschichte erzählte. Am wenigsten gefiel mir an den Gottesdiensten das Schlusslied, denn am Ende des Gottesdienstes rief jeder Prediger, der etwas auf sich hielt, alle, die ihr Leben Jesus übergeben wollten, dazu auf, nach vorne zum Altar zu kommen. Just in dem Augenblick, wo es mir in den Füßen juckte, endlich wieder etwas anderes zu machen, und mir beim Gedanken an das gute Mittagessen das Wasser im Mund zusammenlief, ausgerechnet jetzt, wo das gnädige Ende der Veranstaltung zum Greifen nahe schien, kam diese abrupt, wenn auch nicht unerwartet zum Stillstand. Man wusste nie, wie lange der Bekehrungsaufruf des Pastors dauern würde. Und gefährlich war die Sache auch, denn diese Aufrufe konnten peinlich persönlich klingen.
Eines Sonntagsnachmittags, nach dem Gottesdienst, zogen mein älterer Bruder und ich uns zu Hause für den gemütlichen Teil des Tages um. Plötzlich wurde mein Bruder ganz ernst und sagte: „Nik, es ist Zeit, dass du dich bekehrst.“
Was meinte er denn damit? Er sah meinen fragenden Blick und erklärte: „Darum ging es heute in meiner Sonntagsschulklasse, und da musste ich denken, dass du eigentlich alt genug bist, um das mit der Bekehrung zu verstehen. Also, Nik, wenn der Pastor am nächsten Sonntag die Leute wieder dazu aufruft, nach vorne zum Altar zu kommen, dann gehst du, klar? Und sagst ihm, warum du da bist. Okay?“
Ich nickte brav, aber ganz verstehen konnte ich meinen Bruder immer noch nicht. Ich war sieben Jahre alt.
Nun gut, der nächste Sonntag kam, und als während des Abschlusslieds der Prediger seinen Aufruf aussprach, stieß mein Bruder mich in die Seite. Ich schaute zu ihm hoch und er zeigte nach vorne, zum Altar. Ich wusste beim besten Willen nicht, ob ich für das, was jetzt kommen würde (was immer das war), bereit war, aber meinen großen Bruder enttäuschen wollte ich auch nicht. Deshalb schob ich mich aus der Bank und ging ganz langsam nach vorne.
Der Pastor nahm mich vor dem Altar in Empfang, beugte sich zu mir und fragte mich, warum ich nach vorne gekommen war. Ich sagte: „Weil mein Bruder das wollte!“ Der Pastor machte ein komisches Gesicht und sagte, dass er sich nach dem Gottesdienst mit mir unterhalten würde. Ich kann mich nicht mehr groß an dieses Gespräch erinnern, das in seinem Büro stattfand, außer dass er es mit einer Frage begann, auf die ich keine Antwort wusste. Darauf stellte er mir eine zweite Frage; meine Antwort schien ihm auch diesmal nicht zu gefallen. Was wollte er bloß von mir? Es dauerte nicht lange, und ich begann vor lauter Elend und Verlegenheit zu heulen. Damit war das „seelsorgerliche“ Gespräch über mein Seelenheil beendet.
Einige Jahre später erfuhr ich, dass der Pastor meine Mutter ein paar Tage danach angerufen hatte, um ihr von dem Gespräch zu berichten. „Ich bin mir nicht sicher, ob Nik verstanden hat, was Erlösung ist“, sagte er, „oder was es bedeutet, die Vergebung der Sünden zu bekommen. Aber ich befürchte, dass wir ihn in seinem Glauben zurückwerfen, wenn wir ihn nicht bald taufen.“ Und so wurde ich getauft, gleich am nächsten Sonntag. Von dem Taufgottesdienst ist mir am besten in Erinnerung, wie kalt das Wasser war; ansonsten hatte er mir nicht viel zu sagen.
Das erste echte, persönliche geistliche Erlebnis, das ich in der Kirche hatte, kam erst vier Jahre später. Es war Ostersonntag und ich war elf Jahre alt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre.
Als wir ankamen, war die Kirche schon voll; unsere „Stammplätze“ waren belegt und wir mussten uns trennen. Ich schob mich auf einen leeren Platz in einer Bank ziemlich weit vorne. Vielleicht war es das Gefühl, dass diesmal alles ein bisschen anders war, das mich an diesem Morgen besonders aufnahmebereit machte.
Es war ein strahlender Tag. Die Sonne schien besonders hell; so prächtig und leuchtend waren mir die Buntglasfenster noch nie vorgekommen. Die Gemeinde schien begeisterter zu singen als sonst. Der Chor auch; er klang richtig triumphierend und ich merkte, wie mein Herz mitging.
Diese noch nie da gewesene innere Begeisterung hörte auch nicht auf, als der Pastor auf die Kanzel trat und mit seiner Predigt begann. Er erzählte von den letzten Tagen von Jesus auf dieser Erde. Es war die altbekannte Geschichte, aber diesmal – ja, diesmal packte sie mich.
Die Worte des Pastors klangen für mich wie die Stimme des Erzählers in einem Film, während vor meinem inneren Auge, ja tief in meinem Herzen die Szenen der Karwoche und all das, was Jesus und seine Jünger da erlebt hatten, lebendig wurden. Ich spürte sie in mir: die Liebe und Freundschaft zwischen Jesus und den Jüngern beim Abendmahl. Ich spürte die Traurigkeit, die Enttäuschung, den Schmerz und die Angst im Garten. Ich war hell empört, als seine Feinde Jesus während des Verhörs und dann am Kreuz schlugen und quälten. Es juckte mich in den Fingern einzugreifen. Und warum griff Gott nicht ein, warum tat er nichts gegen dieses schreiende Unrecht?
Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich etwas davon, was für einen Preis Jesus gezahlt hatte für die Sünden der Welt, ja für meine Sünden. Ich verstand sie auf einmal, die tiefe Verzweiflung, die die Jünger gespürt haben mussten, als er dann tot war und sein Leichnam in ein Grab gelegt wurde. Was für ein finsterer Tag musste der Karsamstag gewesen sein!
Als der Pastor dann zum Ostermorgen kam, zu dem weggerollten Stein, dem Engel, dem leeren Grab und dem auferstandenen Jesus, da wollte etwas tief in mir laut „Hurraaa!“ schreien. Ich hatte Lust, in den Jubel der Menge in Jerusalem am Palmsonntag einzustimmen.
Ich versuchte mir vorzustellen, was passieren würde, wenn ich das wirklich machte. Verstohlen schaute ich mich um. Ein paar Kinder waren dabei, im Gemeindebrief herumzumalen. Andere zappelten nervös auf ihrem Stuhl oder starrten leer vor sich hin, in ihre Tagträume versunken. Und die Erwachsenen? Die meisten hörten mit dem üblichen Sonntagspredigtgesicht zu, wie an jedem anderen Sonntag und bei jeder anderen Predigt auch.
Ich hätte am liebsten laut gerufen: „Hey, Leute! Hört ihr das?“ Einige von ihnen hatte ich auf dem Sportplatz erlebt, wie sie schrien und tobten. Wie brachten die es bloß fertig, beim Schulfußball am Freitagabend dreimal mehr mitzugehen als bei der Auferstehung Jesu am Ostersonntag? In meinem elfjährigen Gehirn wollte es sich nicht zusammenreimen. Ich konnte nicht begreifen, dass diese schier unglaubliche Geschichte vom Tod und von der Auferstehung Jesu, die wir gerade hörten, anscheinend keinen hier vom Hocker riss.
Es sei denn … und dieser Gedanke ließ meinen inneren Jubel abrupt verstummen. Ja, konnte es sein, dass die Menschen hier um mich herum deswegen keine Begeisterung über die Geschichte von Ostern zeigten, weil sie sie schon so oft gehört hatten – so oft, dass es nur noch eine schöne Geschichte war?
Doch, ich bin sicher, dass sie die Geschichte glaubten. Aber sie schien kaum etwas mit ihrem Alltagsleben zu tun zu haben. Offenbar war es eine Geschichte, die nicht viel an Begeisterung oder Reaktion verlangte. Es war halt die nächste gute, vielleicht sogar großartige Geschichte, die ich zusammen mit x anderen unterhaltsamen und anregenden Geschichten von anderen Gelegenheiten in mein „Es war einmal“-Bücherregal stellen konnte. Und genau das tat ich, als ich an diesem Ostermorgen aus der Kirche ging: Ich legte die Auferstehungsgeschichte innerlich unter der Rubrik „Interessantes“ ab.
Die nächsten sieben Jahre meines Lebens entdeckte ich wenig über die Bibel, die Kirche oder den christlichen Glauben, das mich erneut begeistert hätte.
Viele Jahre später fand ich mich in einer Arbeit am Horn von Afrika wieder, in einem Leben, das alles andere als sicher und geborgen war. An diesem völlig anderen Ort und unter den Umständen, in denen ich mich befand, dachte ich wieder an diese Aufregung damals am Ostersonntag und fragte mich, ob die Auferstehungsgeschichte irgendetwas mit dem wirklichen Leben zu tun hatte – vor allem mit dem realen Leben am Horn von Afrika. Schockiert stellte ich fest, dass ich mich für Gott aufopferte, dass aber kaum etwas dabei herauszukommen schien. Es gab einfach keine messbaren Ergebnisse, und was ich erlebte, waren vor allem Verluste, Leid und Fehlschläge. „Erfolg“ wäre das letzte Wort gewesen, mit dem ich das beschrieben hätte, was ich da erlebte.
Der sicherste Ort war im Zentrum des Willens Gottes – das mochte ja stimmen, aber was bedeutete das Wort „sicher“ in diesem Zusammenhang? Ich hatte den Eindruck, dass ich mit meinem Leben auf Gottes Ruf geantwortet hatte, aber statt mess- und sichtbaren Resultaten oder gar Erfolg erlebte ich einen Verlust, einen Kummer und eine Niederlage nach der anderen. Was war das für ein Gott, der das zuließ?
Die Frage brachte mich schier zur Verzweiflung. Ich sah mich gezwungen, vieles von dem, was ich glaubte und gelernt hatte, auf den Prüfstand zu stellen. Es war ein heftiger innerer Kampf. Noch nie im Leben hatte ich das erlebt – Verzweiflung.
Ich war vertraut mit Entmutigung. Als junger Christ hatte ich gehört, dass es in meinem Leben mit Jesus hin und wieder Zeiten der Entmutigung geben würde. Aber das hier war etwas anderes. So etwas hatte ich noch nie erlebt – und ich merkte bald, dass ich keinen Schimmer hatte, wie ich damit umgehen sollte. Nichts und niemand hatte mich auf das Monster Verzweiflung vorbereitet. Ich wusste noch nicht einmal, wie ich es beschreiben sollte. Wie Hiob wusste ich, dass mein Erlöser lebte – aber warum nur hüllte er sich in dieses schreckliche Schweigen? Ich brauchte so dringend Antworten, aber meine Fragen blieben sozusagen in der Luft hängen:
• Verheißt Gott seinen Kindern wirklich, dass ihnen nichts geschehen kann?
• Geht bei denen, die ihm gehorchen, wirklich am Ende immer alles gut aus?
• Will Gott wirklich von uns, dass wir ihm etwas, ja sogar alles opfern?
• Was passiert, wenn unsere besten Absichten und kreativsten Ideen nicht genügen?
• Ist Gott wirklich an schwierigen und gefährlichen Orten am Werk? Und will er, dass wir dort seine Mitarbeiter sind?
• Kann ich nicht Gott lieben und trotzdem mehr oder weniger so weiterleben wie bisher?
• Was bedeutet es wirklich, wenn Gott uns sagt, dass seine Wege nicht unsere Wege sind?
• Lässt Gott wirklich zu, dass Menschen scheitern, die ihn echt lieben? Und wenn das so ist – kann dieser Gott ein solches „heiliges Scheitern“ zur Durchführung seiner Absichten gebrauchen?
Ich war in einer tiefen Glaubenskrise. Und dann sah ich sie, die Wahl, vor der ich stand. War ich bereit, diesem Gott zu vertrauen, den ich nicht beherrschen konnte? War ich bereit, mit diesem Gott zu gehen, dessen Wege so anders waren als meine? War ich bereit, mich weiter auf diesen Gott zu verlassen, der das Unmögliche von mir verlangte und mir nur seine Gegenwart versprach?
Dies ist die Geschichte meiner Reise.
Eines möchte ich vorweg betonen: Ich habe nicht auf alle meine Fragen Antworten gefunden. Ich weiß immer noch nicht genau, wohin die Reise geht. Aber ich bin sicher, dass es sich lohnt, die Fragen zu stellen – und dass Gott ein geduldiger, wenn auch zuweilen anspruchsvoller Lehrer ist.
Wie die Geschichte enden wird – ich weiß es nicht. Aber angefangen hat sie, so kam es mir vor, mit einem Flug in die Hölle …
Nicht, dass ich das vorher gewusst hätte. Das Wort „Hölle“ kam in unserem Flugplan nicht vor. Ich wusste eine ganze Menge nicht, als ich an einem hellen Februarmorgen des Jahres 1992 am „Wilson Airport“ in Nairobi auf das Rollfeld spazierte und in eine zweimotorige Maschine des Roten Kreuzes stieg. Ich hatte meinen Flug ganze zehn Minuten vorher „gebucht“, als ich zu dem Europäer mit dem offiziell aussehenden Rote-Kreuz-Overall trat, der wohl der Pilot sein musste, und ihn fragte: „Wo fliegen Sie hin?“
Er sagte mir, dass er Medikamente nach Somalia brachte. Ich nickte zu dem kleinen Kistenstapel neben dem Flugzeug hin und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“
„Da sag ich nie Nein“, erwiderte er. Während wir die Kisten in den Frachtraum hinter der sechssitzigen Passagierkabine luden, stellte ich mich dem Piloten vor und erklärte ihm, warum ich mich für seinen Somaliaflug interessierte. Dann holte ich Luft und fragte: „Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?“
Er nickte achselzuckend und meinte etwas zögernd: „Ich kann Sie gerne da reinfliegen, kein Problem. Ich kann Ihnen nur nicht versprechen, wann wir Sie da wieder rausholen können.“ Er musste flexibel sein mit seinen Flügen; es hing alles vom Wetter und der aktuellen Lage in Somalia ab. „Vielleicht komme ich schon nächste Woche wieder hin, vielleicht aber auch erst in zwei, drei Wochen oder in einem Monat. Manchmal spielen die Dinge in dem Land halt verrückt, da machen wir keine festen Pläne.“
Unser Flug an jenem Tag führte uns weg von den fruchtbaren grünen Hügeln Nairobis über das ausgedörrte braune Gebiet in Nordostkenia und weiter über die unwirtlichen Berge und die trostlose Wüsteneinöde Südäthiopiens. Und dann verließen wir den Himmel und stiegen zur Hölle hinunter. Deren Eingang war die einzige Landepiste eines zerbombten Flugplatzes an der staubigen Peripherie einer Stadt namens Hargeysa.
Hargeysa war die Hauptstadt eines Gebietes, das in der Kolonialzeit Britisch-Somaliland geheißen hatte. Erst vor ein paar Jahren hatte es seine Unabhängigkeit erklärt und versucht, sich von der Demokratischen Republik Somalia zu lösen, was den kampfbereiten somalischen Präsidenten veranlasst hatte, seine Luftwaffe zu schicken, um die zweitgrößte Stadt seines Landes mit Bomben zur Räson zu bringen.
Keine fünf Minuten nach meiner Ankunft wusste ich, dass ich noch nie an einem Ort gewesen war, ja mir keinen Ort hätte vorstellen können, der so trostlos war wie diese Stadt. Die erst vor Kurzem reparierte Landebahn war ein Flickenteppich, bei dem nur die größten Löcher und Einschlagtrichter notdürftig aufgefüllt waren. Jeder Mann, der auf dem Flugplatz arbeitete oder herumlief, trug ein automatisches Gewehr bei sich. In der Nähe eines Lagerschuppens stocherten Frauen und Kinder müde in Abfallhaufen herum, auf der Suche nach Essbarem.
Im Schuppen, der nur drei Wände besaß und dessen Dach die Bomben beschädigt hatten, dösten zwei somalische Wachmänner auf einem ganzen Stapel von Kisten mit Handgranaten, Kalaschnikows, Bazookas, Landminen und diverser anderer Munition und Mordwerkzeugen. Das Waffenlager mochte bald zwanzig Meter breit, fünf Meter tief und drei Meter hoch sein – für mein ungeübtes Auge groß genug, um ein mittleres Entwicklungsland in Grund und Boden zu schießen.
Die Leute vom Roten Kreuz besorgten mir ein „Taxi“ in Gestalt eines privaten Pkws mit Fahrer, und dann dankte ich dem Piloten, dass er mich mitgenommen hatte. Er erinnerte mich daran, dass es zwischen einer Woche und einem Monat dauern konnte, bis er zurückflog, und versprach mir, dem Flughafen rechtzeitig Bescheid zu geben.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich vom Flugplatz in die Stadt fuhr. Dies war nicht die geplante Fünf-Kilometer-Spritztour, dies war eine Stadtrundfahrt durchs nackte Elend. Wenn ich je eine Illustration des Ausdrucks „vom Krieg gezeichnet“ gesucht hatte – hier bot sich an jeder Straßenecke ein passendes Bild. Die paar Passanten, die ich auf den Straßen erblickte, schienen nicht zu gehen, sondern herumzuirren, wie Roboter oder wie Menschen, die weder Hoffnung noch Ziel hatten. Mein Fahrer erklärte mir, dass 70.000 Menschen diese zerschundene Stadt immer noch ihre Heimat nannten. Und dass es in ganz Hargeysa noch sieben Häuser mit intakten Dächern gab.
Gut, die heiße Phase des Bürgerkrieges war längst vorbei. Nach den Bomben waren die Granatwerfer und Bazookas gekommen und hatten die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Danach hatten die Regierungstruppen ihre Aufmerksamkeit wieder den Rebellenclans im Süden des Landes und dem Kampf um Mogadischu und den Rest des Landes zugewandt. Die Rebellen hatten schließlich gewonnen, und der Diktator war ins Exil geflohen. Worauf die Rebellenkoalition alsbald zerbrach und die ehemaligen Verbündeten im Kampf um die Macht einander an die Kehle gingen.
Der Krieg war weitergezogen, aber der Tod und die Zerstörung, die Hargeysa jahrelang heimgesucht hatten, waren geblieben. Während mein Fahrer vorsichtig um gähnende Bombentrichter und die Trümmer eingestürzter Häuser herumfuhr, erzählte er mir, dass die Stadtbewohner immer noch täglich bis zu fünfzig Landminen fanden – viele schlicht dadurch, dass Tiere oder spielende Kinder sie aus Versehen auslösten.
Das war Somalia in den ersten Monaten des Jahres 1992. Jetzt hatte nach dem unglaublich brutalen Bürgerkrieg auch noch eine tödliche, nie da gewesene Dürre eingesetzt. Und es würde noch viele Monate und unzählige weitere Tote brauchen, bevor das ganze Elend dieses kaputten Landes endlich auf dem Bildschirm der Weltöffentlichkeit erscheinen und diese zum Handeln aufrütteln würde.
Als ich auf dem Flugplatz landete, kannte ich in Hargeysa keine Menschenseele. Ein Bekannter, der vor dem Bürgerkrieg in Somalia gearbeitet hatte, hatte sich für mich mit einem Freund in Verbindung gesetzt. Dieser, ein junger Europäer, leitete seit Jahren zusammen mit einer deutschen Krankenschwester und einer Niederländerin ein Waisenhaus in Hargeysa. Die beiden Frauen waren meine einzigen Kontaktpersonen in der ganzen Stadt. Mein Fahrer – wer hätte das gedacht? – wusste zufällig, wo die beiden wohnten. Er fuhr mich hin und sie luden mich ein, ihr „Haus“ für die Dauer meines Aufenthalts zu meinem Hauptquartier zu machen.
Die drei Europäer wohnten sehr bescheiden in den unbeschädigt gebliebenen Räumen der Ruine eines gemieteten Hauses. Es lag ein paar Straßen vom Waisenhaus entfernt. Sie betreuten die etwa 30 Kinder mit der Hilfe einiger somalischer Mitarbeiter. Meine Gastgeber hatten keinen Strom, kein fließendes Wasser und keine richtigen Möbel in ihrer Wohnung. Mithilfe eines kleinen Holzkohleofens bereiteten sie das Abendessen – ein paar Stücke zähes Ziegenfleisch in Brühe mit Kartoffeln und grünem Gemüse. Wir saßen auf dem Boden, sowohl während des Essens – meiner ersten Mahlzeit in Somalia – als auch während des langen Gesprächs, das folgte.
Die drei erzählten mir von ihrer schwierigen Arbeit im Waisenhaus und von den Kindern dort. Ich staunte nur so über ihr Engagement und ihr weites Herz, nicht nur für die Jungen und Mädchen in ihrer Obhut, sondern für all die verzweifelten Menschen in Somalia, ob jung oder alt, die schon so lange so viel leiden mussten.
Meine Gastgeber wollten natürlich wissen, wer ich war, warum ich nach Hargeysa gekommen war und was ich dort vorhatte. Ich erzählte ihnen von meiner Frau Ruth und unseren Söhnen in Nairobi und dann einiges über mich selbst – wie ich auf einer Farm in Kentucky aufgewachsen war, als Zweiter in meiner Familie studieren konnte und nach dem Studium in mehreren kleinen Gemeinden in Amerika als Pastor gearbeitet hatte, bevor ich vor sieben Jahren nach Afrika kam, um dort in zwei verschiedenen Ländern Gemeinden zu gründen.
Auf den Gesichtern meiner Zuhörer stand Interesse, aber auch Besorgnis geschrieben. Ich beeilte mich, ihnen zu versichern, dass ich wusste, dass ich in Somalia nicht so würde arbeiten können wie vorher in Malawi und Südafrika. Neue, strikte Vorschriften hatten es für Europäer und Amerikaner, die auch nur um drei Ecken religiös motiviert waren, äußerst schwierig gemacht, in Somalia zu leben oder auch nur einzureisen; jetzt, so kurz nach dem Bürgerkrieg, war es praktisch unmöglich.
Ich hatte versucht, mich über die Zahl der Christen in Somalia schlauzumachen. Nach den seriösesten Quellen schien es im ganzen Land mit seinen immerhin sieben Millionen Einwohnern gerade genug Christen zu geben, um vielleicht die Bänke einer kleinen Kirche zu füllen, wie ich sie aus Kentucky kannte. Es gab keine einzige Gemeinde und nirgends genügend Gläubige am selben Ort, um auch nur eine kleine Hausgemeinde zu gründen.
Ich erklärte meinen Gastgebern also, dass Ruth und ich für mehrere säkulare Organisationen arbeiten würden, die dem Land die so dringend benötigte humanitäre Hilfe bringen wollten. Als Christen hofften wir natürlich, dass wir den Menschen damit die Liebe Gottes nahebringen konnten, im Gehorsam gegenüber dem Gebot von Jesus, zu seinen „geringsten Brüdern“ zu gehen. Wir wollten den Durstigen zu trinken und den Hungrigen zu essen geben, den Nackten Kleidung und den Obdachlosen ein Heim, wir wollten die Kranken pflegen und die besuchen, die ihre Freiheit verloren hatten. Wie der barmherzige Samariter wollten wir die Wunden unserer „Nächsten“ verbinden und ihnen helfen, wo wir konnten.
Uns war bewusst, dass nicht daran zu denken war, die äußeren „Strukturen“ des Christentums, wie Kirchengebäude, ordinierte Geistliche und Predigerseminare, in ein so feindliches Milieu wie Somalia einzuführen. Schon gewisse Wörter wie „Kirche“, „Missionar“, „Christen“ und viele andere wären hier nur hinderlich.
Wenn meine drei Gastgeber mich an diesem Abend als einen von diesen „naiven Amerikanern“ abgehakt hätten – sie hätten recht gehabt. Aber sie hörten mir aufmerksam zu und versicherten mir, dass ich, sobald ich begann, Hargeysa zu erkunden, mehr als genug „Nächste“ finden würde, die mehr brauchten, als ich mir je vorstellen konnte.
Später, als ich auf einer Schlafmatte auf dem nackten Zementfußboden lag und Revue passieren ließ, was ich da in den letzten Stunden alles gesehen und gehört hatte, merkte ich, wie mich die Last des bisher Erlebten schon jetzt schier erdrückte. Und dabei hatte ich bestimmt nicht viel mehr getan, als an der Oberfläche zu kratzen.
Ich begann zu beten. „Vater im Himmel, warum ausgerechnet ich? Und warum hier?“ Ich erinnerte Gott daran, dass absolut nichts in meiner Kindheit, meiner Ausbildung oder meiner Berufserfahrung mich dafür qualifizierte, in einem Land wie Somalia zu leben oder zu arbeiten. Ich betete weiter – lauter Klagen und Bitten. „Was um alles in der Welt soll ich deiner Meinung nach hier tun, Herr? Hier gibt’s keine Gemeinden und kaum Christen! Keine Pastoren oder Diakone, keine Ältesten, keinen Kindergottesdienst, keine Bibelstunden. Hier ist mir alles fremd, hier gibt es nichts zu tun, was meinen Fähigkeiten entspricht! Ich bin hier auf verlorenem Posten, allein in Feindesland. Bitte, Jesus, hol mich hier raus!“
Die Monate des Planens und Vorbereitens, die hinter mir lagen, hatte ich vergessen. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, den Piloten vom Roten Kreuz zu kontaktieren und ihn dazu zu bringen, mich am nächsten Tag wieder zurückzufliegen, wäre ich ins Flugzeug gestiegen und nie mehr zurückgekommen.
Der Besuch im Waisenhaus am folgenden Tag hob meine Stimmung etwas, obwohl der Weg dorthin sich als das nächste Abenteuer erwies. Hargeysa war definitiv ein gefährliches Pflaster. Was ein zehnminütiger Spaziergang um acht Straßenecken hätte sein sollen, glich hier einer Expedition durch vermintes Gelände. Ich folgte meinen Gastgebern vorsichtig durch verlassene Gassen; mehrere Male machten wir einen großen Umweg um einen ganzen Block, weil dort Minen lagen, die noch niemand geräumt hatte. Als wir endlich unser Ziel erreichten, hatte ich das Gefühl, zum Ende der Welt gelaufen zu sein.
Das Waisenhaus entpuppte sich als eine Oase der Freude und Hoffnung in dieser großen Wüste der Verzweiflung. Die Kinder in dem kleinen Gebäude gehörten zu den am besten ernährten somalischen Kindern, die ich je sehen würde.
Das Haus selbst war im arabischen Stil erbaut, der für so viele Städte am Horn von Afrika typisch ist: ein einstöckiges Gebäude mit Flachdach, dessen Wände aus sonnengetrockneten Ziegeln innen und außen weiß verputzt waren. Die Sonne schien durch vergitterte glaslose Fenster. Die Außenwände waren von Einschusslöchern übersät. Nachts schliefen die Kinder dicht nebeneinander auf dem Fußboden, auf eigens ausgerollten Schlafmatten. Wie der Rest der Bewohner Hargeysas lebten auch die Menschen im Waisenhaus ohne Strom, außer wenn es gelang, etwas Benzin für den kleinen Generator aufzutreiben, mit dem man eine Handvoll Lampen betreiben konnte. Fließendes Wasser gab es nicht. Die Mitarbeiter mussten jeden Tag hinausgehen, um irgendwo etwas Frischwasser zu kaufen. Die Toiletten waren simple Löcher im Boden, darunter lagen in die Erde gegrabene Fäkaliengruben.
Nicht ein Mal an diesem Tag (oder auch bei späteren Besuchen) erlebte ich, dass eines der Kinder nach draußen ging. Ihre ganze Welt bestand aus dem Inneren des Waisenhauses und dem winzigen Hof. Es war eine Welt ohne Spielsachen. Es gab nur wenige Bücher, keine modernen Geräte, keine Möbel. Es war eine primitive Welt – aber der Gegensatz zwischen ihr und der Außenwelt hätte nicht größer sein können. Draußen hatte ich die Fratze des Bösen gesehen und was es aus diesem Land gemacht hatte; hier im Waisenhaus entdeckte ich eine Oase des Glücks, wo Kinder lachten und spielten.
Mein erster „Erkundungsgang“ erfolgte später am gleichen Tag. Ich begleitete die Frauen vom Waisenhaus auf ihrem täglichen Gang zum Markt, um zu sehen, was sie den Kindern am Abend zu essen bieten konnten. Wenn das Hilfswerk, das ich vertrat, in Zukunft dieses Waisenhaus mit Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern versorgen wollte, machte ich mich wohl besser kundig, was es vor Ort zu kaufen gab.
Die Antwort war: Nicht sehr viel. Das einzige Fleisch auf dem Markt war Ziegen- oder Kamelfleisch. Dabei wusste man allerdings nie so genau, ob das Tier frisch geschlachtet war oder ob ein Bauer versuchte, aus der Not eine Tugend zu machen, indem er den Kadaver eines verendeten Tieres aus seiner Herde in Portionen schnitt. Es mochte verdurstet, irgendeiner Krankheit erlegen oder auch vor einer Weile in ein Minenfeld gewandert sein.
Auf dem ganzen Markt gab es nichts, was man als „Qualitätsfleisch“ hätte bezeichnen können. Aber da ich zu Hause auf der Farm zur Genüge geschlachtete Tiere gesehen hatte, machten mir die rohen Fleischhälften und -viertel, die vom Dach der Metzgerstände herunterhingen, weiter nichts aus. Die Frauen trafen ihre Wahl und zeigten auf etwas, was wie eine ganze Ziege aussah. Ich musste schlucken, als der Verkäufer dem Tierrumpf einen kräftigen Schlag mit der Klinge seiner Machete versetzte, um die Fliegenwolke zu verscheuchen, bevor er eines der dünnen Beine abschnitt.
Das eine Ziegenbein würde kaum für einen Bissen für jedes Waisenhauskind reichen, aber vielleicht konnte man mit dem Fleisch dem kleinen Sack halb verschrumpelter Kartoffeln, den ein anderer Händler feilbot, etwas Würze geben. Dazu noch ein paar Zwiebeln und zwei zu klein geratene Kohlköpfe, und der Einkauf war komplett – zwangsweise, denn mehr hatte der Markt nicht zu bieten.
Später konnte ich noch ein paar andere Stadtviertel erkunden. Was mir am meisten auffiel, war nicht das, was ich sah, sondern was ich nicht sah. So schien es in dieser 70.000-Einwohner-Stadt keine einzige funktionierende Schule zu geben. Auch kein Krankenhaus, das die vielen Kranken und Verhungernden hätte versorgen können.
Was meine Freunde mir auch zeigten, es war immer das gleiche Lied: „Hier stand mal eine Schule.“ – „Das Gebäude da gegenüber war früher ein Krankenhaus.“ – „Hier war früher die Polizeistation.“ – „Da war mal ein Laden.“ – „Das hier war früher ein Sportplatz.“
Ich musste denken: „Gibt es für diese Stadt, wo alles zerstört ist, was eine Stadt braucht, eigentlich noch eine Zukunft?“
Wenn ich heute an diesen ersten Trip nach Somalia zurückdenke, frage ich mich oft: Was, um alles in der Welt, hast du dir damals dabei gedacht? Noch heute kommt mir das, was ich erlebte, in vieler Hinsicht genauso unwirklich vor wie damals.
Bei meinen Erkundungsgängen in Hargeysa stieß ich auch auf das Minenräumkommando einer britischen Firma. Die Aufgabe der Männer war, Landminen, die in der Stadt und ihrer Umgebung herumlagen, aufzuspüren, unschädlich zu machen und zu entfernen.
Eine ganze Weile schaute ich fasziniert (und aus sicherer Entfernung!) zu, wie diese Männer einen sogenannten Minenräumer bedienten – eine Art gepanzerten Bulldozer, dessen Kabine so weit hinten angebracht war wie möglich und der vorne einen langen Arm mit einer sich drehenden Welle hatte, die lange, schwere Stahlketten nach vorne warf, um nicht explodierte Minen zur Explosion zu bringen, worauf die Trümmer mit der schweren Schaufel beiseitegeschoben wurden.
Als die Männer eine Pause machten, trat ich zu ihnen, um mich mit ihnen zu unterhalten. Ihr Minenräumer war vor allem auf die Beseitigung von Antipersonenminen ausgelegt. So eine Mine wird gerade so tief in den Boden eingegraben, dass ihre Oberseite bündig mit der Oberfläche ist oder knapp darunter liegt. Ihre Umhüllung ist typischerweise aus Plastik, sodass sie nicht auf Metalldetektoren anspricht. Der Zünder ist ein simpler Druckteller oder Knopf; sobald jemand darauf tritt, wird sie ausgelöst. Dafür genügen schon ein paar Pfund Belastung. Diese Minen sollen Menschen töten oder mindestens verkrüppeln und werden eigentlich eingesetzt, um den Vormarsch feindlicher Kräfte zu behindern. Ein riesiges Problem ist, dass sie auch dann noch da sind, wenn der Krieg vorbei ist und die Soldaten nach Hause gegangen sind; noch nach Jahren, ja Jahrzehnten sind sie scharf – tückische Todesfallen, die keinen Unterschied machen zwischen Freund und Feind, Soldat und Kleinkind.
Da es in und um Hargeysa Tausende, wenn nicht Zehntausende von Minen gab und so ein Minenräumpanzer unglaublich teuer ist, heuerte diese Minenräumfirma auch einheimische Kräfte an, die manuell nach Minen suchten. Es war eine lebensgefährliche Arbeit, bei der die Minensucher sich quasi in der Hocke ganz langsam eine Straße oder ein Feld entlangbewegten und fast schon zentimeterweise den Boden absuchten, manchmal mit einem langen, steifen Draht, den sie vorsichtig nach vorne schoben. Die körperliche und seelische Belastung bei dieser Arbeit ist ungeheuer, der Preis für den kleinsten Fehler kann furchtbar sein. Einer der Männer erzählte mir von einem Suchtrupp von Somalier, die stundenlang das Feld eines Bauern durchgekämmt und dabei etliche Minen aufgespürt und markiert hatten. Als sie endlich eine wohlverdiente Pause machten, setzten sich alle vorsichtig dort hin, wo sie waren, so wie sie es gelernt hatten. Doch dann streckte einer von ihnen seine verspannten Beine aus – und löste eine Mine aus, die ihm beide Füße abriss.
Als ich diesem Minenräumer zusah und diesen Männern, die buchstäblich Leib und Leben riskierten, um die nächste der wer-weiß-wie-viel tausend noch im Boden liegenden Minen unschädlich zu machen, kamen sie wieder, die Fragen, die ich mir seit meinem ersten Tag in Somalia gestellt hatte. Was war das für ein Land, wo die Mütter, wenn ihre Kinder zum Spielen nach draußen gingen, nicht wussten, ob sie lebendig zurückkamen oder von einer Mine zerrissen wurden?
Ich weiß, dass die Bibel keine Detailbeschreibung der Hölle liefert. Dort ist noch nicht einmal zu lesen, wo sie ist. Aber ich erinnere mich an die Aussage von Theologen, dass das Schlimmste an der Hölle die ewige Trennung von Gott ist. Damals, 1992, war ich erst ein paar Tage in Somalia. Aber ich hatte dort bereits genug Böses erlebt, um zu dem Schluss zu kommen, dass dieses Land so total gott-los war, wie ein Land nur sein konnte. Alles, was gut war im Universum, schien unendlich weit weg zu sein. Somalia im Februar 1992 – mein Bedarf an Hölle war gedeckt.
Als ich im Dunkeln auf der Matte lag, war ich so niedergedrückt von all den Manifestationen des Bösen, die ich gesehen hatte, dass ich Jesus immer wieder sagte: „Wenn ich je hier rauskomme, komme ich nie mehr zurück!“ Selbst der wohlvertraute Spruch: „Nimm jeden Tag so, wie er kommt“ war mir zu viel. Für so viele Somalier war es schon Schwerstarbeit, jede Stunde so zu nehmen, wie sie kam.
Selbst als bloßer Besucher war ich derartig überwältigt von all den Eindrücken, dass ich sie unmöglich verarbeiten konnte. Ich versuchte, auf meine Instinkte zu hören und einfach irgendwie weiterzumachen.
Manchmal gelang es mir auch, meine Instinkte zu ignorieren. Als ich ein paar Tage später wieder durch Hargeysa ging, erblickte ich in einer Gasse auf der anderen Seite etwas vor mir: einen kleinen Jungen, der ungefähr die Größe meines fünfjährigen Sohnes Andrew hatte. Er stand mit dem Rücken zu mir da und sah mich nicht kommen. Offenbar konnte er mich auch nicht hören, so vertieft war er in den Gegenstand, den er in den Händen hielt.
Ich war fast auf gleicher Höhe mit ihm, vielleicht noch fünf Meter entfernt, als mein Gehirn endlich realisierte, was meine Augen da sahen. Jetzt, wo ich dem Jungen über die Schulter blicken konnte, erkannte ich, was ihn da so beschäftigte: Er hielt eine tellerförmige Mine an die Brust, während er mit dem Zeigefinger der anderen Hand am Zündknopf hantierte.
Ich weiß nicht mehr, ob mein Herz stehen blieb, aber ich weiß noch, dass jeder Nerv in meinem Körper schrie: Renn! Die Zeit schien stillzustehen – anders kann ich es mir nicht erklären, wie mir so viele Gedanken und Bilder gleichzeitig durch den Kopf schießen konnten.
Mein Gehirn rechnete: Ein Sprint von weniger als fünf Sekunden würde mich wahrscheinlich aus der Explosionszone tragen. Aber dann merkte ich: Wenn du dich jetzt umdrehst und wegrennst, kannst du zu Hause nicht mehr in den Spiegel schauen, falls der Kleine da den Knopf drückt und sich in die Luft jagt.
Es erforderte alles, was ich hatte – meine ganze Energie, Entschlossenheit und Selbstbeherrschung –, um mich aus meiner Erstarrung zu lösen. So schnell und leise wie möglich sprang ich auf die andere Seite der Gasse. Wenn der Junge mich nur nicht hörte und Angst bekam! Die eine Hälfte meines Gehirns versuchte mir einzureden, dass der Finger des Kleinen zu schwach war, um den Zünder zu betätigen. Die andere entwarf einen Plan, wie ich ihm das Teufelsding wegreißen konnte, bevor der Schock und der Schreck ihn den Knopf so fest drücken ließen, dass die Sprengladung uns beide zerriss.
Ich glaube nicht, dass er meine Schritte wahrnahm. Bevor er auch nur den Kopf drehen konnte, schoss meine Hand an seiner Schulter vorbei und riss ihm die Mine aus den Händen. Im gleichen Augenblick merkte ich, dass die Unterseite des Minentellers, die ich nicht hatte sehen können, leer war. Die Sprengladung war nicht mehr an ihrem Platz. Der Junge hatte die leere Minenhülle mit dem Druckteller in der Hand gehalten; mehr hatte ich nicht sehen können.
Ich weiß bis heute nicht, was dieser somalische Junge dachte, als ihm ein Weißer mit schreckverzerrtem Gesicht das Spielzeug, das er da gefunden hatte, wegriss. Lebt er heute noch? Und wenn ja, erinnert er sich dann noch an diese Szene?
Ich erinnere mich noch gut. Ich sehe sie heute noch, die plötzliche Überraschung und die Angst (vor mir) in den Augen des Jungen. Ich werde dieses Erlebnis nie vergessen, denn es zeigte mir einmal mehr das Gesicht und die Handschrift des Bösen in Somalia.
Immer wieder, unzählige Male, sah ich das Gesicht dieses Jungen vor mir. Eines Tages organisierte eine der Waisenhausmitarbeiterinnen eine Autofahrt aus der Stadt hinaus. Mein Ziel bei dieser Erkundungstour war, herauszufinden und zu dokumentieren, was die Menschen in den Dörfern brauchten, als Grundlage für mögliche Projekte meiner Hilfsorganisation in der Umgebung von Hargeysa.