Der Herr der Worte
Eine Biographie | C.H.Beck
Rudolf Borchardt war nicht nur ein virtuoser Sprachkünstler, dem tiefsinnige Gedichte, brillante Essays, ironisch-satirische Erzählungen und Reden von sensationeller Wirkung gelangen. Er war auch ein zutiefst politisch empfindender Mensch, der aus dem «Untergang der deutschen Nation» persönliche Konsequenzen zog und – mit der großen Ausnahme des Ersten Weltkriegs – schon früh aus dem Vaterland ausstieg. Peter Sprengel schildert die wechselvolle Biographie eines der berühmtesten Unbekannten der deutschen Literatur.
Als Mieter alter Toskana-Villen erprobte der Emigrant und Monarchist – bis zur gewaltsamen Rückführung in das Deutsche Reich 1944 – den Anschluss an althergebrachte aristokratische Lebensformen. Gleichzeitig war er als Übersetzer (vor allem Dantes) um die Rettung des kulturellen Erbes Alteuropas bemüht. Seine Beschreibungen italienischer Städte geben das Bild einer imaginären Geschichte, einer Geschichte der unrealisierten Möglichkeiten, in der die Verlierer zu Siegern werden.
Die hier vorgelegte Biographie kann auf Hunderte von Briefen zurückgreifen, die in den letzten zwei Jahrzehnten erstmals herausgegeben wurden, und nutzt darüber hinaus unveröffentlichte Materialien. Auf dieser Grundlage gelingen überraschende Entdeckungen wie die einer monströsen Fälschung Borchardts. Hier lernen wir nicht nur den Dichter und Publizisten gleichsam von innen, sondern auch den ‹verlorenen Sohn›, Ehemann und Familienvater, vor allem aber und immer wieder den Liebhaber Borchardt kennen.
Peter Sprengel ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1871 – 1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918 (2004) sowie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012).
Mit fremder Stimme
I. Das goldene Lineal 1877–1895
II. Zwischen Philologie und Dichtung 1895–1900
III. Bad Nassau und Wien 1901/02
IV. Verlobungen – Villa 1903–1906
V. Insel – Intermezzo 1907–1911
VI. Der Mann und der Krieg 1912–1917
VII. Untergang und Familiengründung 1918–1923
VIII. Kulturkampf gegen die Republik 1924–1932
IX. Unfreiwilliges Exil 1933–1944
X. Anabasis 1944/45
Nachwort
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Personenregister
Werkregister
… und wenn er die dämonische Kraft des «Wortes» in ihren Wirkungen verfolgt – Wort, Worte, Beredsamkeit, Meisterschaft, Kunstmittel, mehr gesteht er dem Epos nicht zu – des Wortes, das aus Wahrheit Lüge machen konnte, des Genies, das sich dazu entwürdigte, mit Fabeln zu bestechen, der Blindheit des zusammenlaufenden Pöbels, der sich betrügen und mißbrauchen ließe – so sind die Worte der Bewunderung für diese weltbeherrschende Kunst, in die er ausbricht, nicht Worte des Rühmens, sondern der tragischen Empfindung und der Klage …
(Borchardt über Pindars Verhältnis zu Homer)
Sein Weg war mit Leichen gepflastert. So hat es Rudolf Borchardt selbst mit 24 Jahren gesehen, und so wollte er, jedenfalls im übertragenen Sinn, auch von anderen gesehen werden – vor allem von demjenigen Dichter, um dessen Anerkennung, Freundschaft, künstlerische Mission und Zusammenarbeit er sein ganzes Leben gerungen hat: Hugo von Hofmannsthal. Als Hausgast in Rodaun hat er ihn in der letzten Februarwoche 1902 überfallartig zu erobern gesucht; die beiden nächsten Monate zeigen Borchardt in emsigem Bemühen um Etablierung in der Szene des literarischen Wien – bis hin zu konkreten Anmietungsplänen für eine Villa in Baden bei Wien, in der er nach seiner wahnhaft erstrebten Heirat mit Vivian alias Margarete Ruer wohnen wollte. Doch nicht nur das Heirats-Luftschloss löste sich auf; die ganze gutbürgerliche Fassade, die sich der angebliche Doktor der Philosophie mit einigem Vermögen in Wien gegeben hatte, drohte durch Mitteilungen eines enttäuschten Göttinger Freundes zusammenzubrechen. Borchardt entzog sich allen weiteren Konsequenzen durch eine überstürzte Abreise, die vor allem gegenüber Hofmannsthal, von dem er sich einen größeren Geldbetrag geliehen hatte, einen eklatanten Vertrauensbruch darstellte. Gleichsam als Ersatz gelangte an dessen Wiener Adresse im Mai 1902 – nur kurz bevor Hofmannsthals Tochter Christiane geboren wurde (14. Mai 1902) – ein an Rudolf Borchardt adressierter Brief seines Göttinger Lehrers, des angesehenen Latinisten Friedrich Leo.
Hofmannsthal konnte diesen Brief dem Abgereisten nicht nachsenden, weil Borchardt ihn auf lange Zeit ohne gültige Adresse ließ. Aus «einer Art von Ekel» ließ er den Umschlag angeblich jahrelang ungeöffnet. Möglicherweise hat er ihn erst im Herbst 1906 aufgemacht, als Borchardt ihm höchst unvermittelt Korrekturfahnen seiner Rede über Hofmannsthal zusandte. Hofmannsthals Lektüre des eigentlich nicht für ihn bestimmten umfangreichen Briefs führte zu einer nachhaltigen Korrektur seines Bildes vom einst so meteorartig verschwundenen wie aufgetauchten, ihm eigentlich immer noch fremden Freund: «Mir ist auch erst jetzt klargeworden, dass Vieles was ich bei Borchardt damals für Lügen, Hochstapeleien u. s. w. hielt, doch auch anders zu verstehen ist.»[1] Und das, obwohl es ausdrücklich in Leos Brief heißt: «Der Weg den Sie hinter sich haben wird von Leichen bezeichnet»![2] Hofmannsthal ist von dem menschlichen Gehalt des Schreibens so beeindruckt, dass er es umgehend seinem Freund Harry Graf Kessler zu lesen gibt oder nacherzählt. Jedenfalls berühren sich Kesslers einschlägige Tagebuchnotizen sehr eng mit bestimmten Formulierungen, ja der ganzen Tendenz des Schreibens. Diese hat Hofmannsthal vorrangig in der Zielsetzung gesehen, Borchardts Handlungen «auf einem höheren Standpunkt […] das Niedrige, Gemeine, Kleinliche zu nehmen.» Weiter heißt es in Kesslers Tagebuch vom 31. Oktober 1906:
Leo schreibt ihm: Ich weiss, Sie haben den und den unglücklich gemacht, die Existenz der P. vernichtet, den F. aus seiner Bahn gedrängt, so dass er jetzt gänzlich haltlos dem Untergang entgegengeht, u. s. w. aber doch, wenn ich die vielen tausend Schüler überblicke, die ich gehabt habe, so sage ich mir, es hat sich der Mühe gelohnt, weil Sie mein Schüler gewesen sind. Ich habe nie eine solche Vereinigung von philologischer Schärfe, dichterischem Flug, menschlichem Temperament zu einer solchen Einheit und Ordnung gesteigert u. s. w.[3]
Hier wird natürlich einiges zusammengezogen, was der umfangreiche Brief auseinanderhält, der exkulpatorische Tenor des Schreibens, das als einziger Fremd- oder An-Brief in die Ausgabe von Borchardts Briefen 1895–1906 aufgenommen wurde (mit einem Recht, über das noch zu sprechen ist),[4] scheint aber genau getroffen. Vergegenwärtigen wir uns kurz die Hauptpunkte. In einem knappen ersten Teil geht Leo auf nicht näher erläuterte «Ausstreuungen» ein, die offenbar von einem früheren Freund Borchardts und Schüler Leos stammen; er ist wahrscheinlich mit jenem «G.» identisch, der im zweiten Absatz genannt wird und unter dem wir uns Heinrich Goesch, den wichtigsten Freund und Briefpartner in der ersten Phase von Borchardts Göttinger Studienzeit (1898–1900), vorstellen dürfen. Goesch, der gewisse Gründe hatte, sich von Borchardt persönlich betrogen zu sehen (dazu gleich mehr), trug nach dessen Meinung die Hauptverantwortung für sein sinkendes Renommee an der Donau. Der Brief, den Borchardt am 18. April 1902 aus Wien an einen anderen Freund in Göttingen, nämlich seinen langjährigen Unterstützer Otto Deneke, richtet, klingt schon fast nach Verfolgungswahn:
Oft habe ich Zweifel ob es mir überhaupt gelingen wird, hier dauernd etwas zu erreichen. Bei Hofmannsthal sind neulich aus München Briefe gewesen, die unter Berufung auf meinen lieben alten Goesch einen angesammelten Göttinger Schmutzhaufen bei ihm ausleerten. Hofm. sagte er hätte die Briefe gar nicht zu Ende gelesen [was man bezweifeln darf, P. S.] und benahm sich so gross und fein dass mir über alles hinweggeholfen wurde. Aber das wird sich wiederholen, und auch von Berlin her beginnt Kot durchzusickern. Goesch ist in grauenhaftester Weise aktiv, betreibt den Tratsch und die Atmosphärenvergiftung in einer grossen Manier und scheint fest entschlossen mir die Hunde auf den Fersen zu halten. Ich sehe den Tag kommen, an dem ich aufpacken muss.[5]
Was dann auch drei Wochen später geschah. Der Brief nun, der unmittelbar nach diesem «Aufpacken» in Rodaun eintraf, beruhigt den Adressaten gleich im ersten Absatz hinsichtlich solcher «Hinterhalte» und ihrer «Tücke». Sein Verfasser hat mittlerweile die Familie des Denunzianten informiert und erhofft sich von der Autorität des Vaters die Unterdrückung aller bösartigen Gerüchte. Zu Letzteren gehörte offenbar auch die Behauptung, Friedrich Leo und seine Frau Cécile hätten sich von ihrem bisherigen Schützling Borchardt abgewandt; dessen dadurch veranlasste – vom Schreiber bereits als Kränkung aufgenommene – Nachfrage nach der jetzigen Stellung der Familie zu ihm bildet, so suggeriert es der Brief, die Basis der nachfolgenden Ausführungen Leos, die geradezu den Charakter einer Rekapitulation oder Bilanz der Göttinger Universitätszeit Borchardts annehmen.
Wir erfahren also Eindrucksvolles über die privilegierte Stellung als Lieblingsschüler und Hausfreund, die Borchardt zuwuchs, seit er «im Herbste vor drei [richtig: vier] Jahren nach Gött.» kam. Wir erfahren aber ebenso Eindrucksvolles über die menschlichen und fachlichen Enttäuschungen, die der jüngere Freund seinem Lehrer und dessen Gattin zufügte. Zusammenfassend heißt es einmal: «Sie unterbrechen Ihr Studium, verlassen begonnene und versprochene Arbeiten […] entschwinden der festen Gemeinschaft Ihrer Freunde, zerreißen ein Herzensband en passant und verlieren sich vollständig in ein abenteuerliches und abenteuerndes Schicksal.» Aufgelistet werden im Einzelnen die abrupten Reisen im Frühjahr und Sommer 1899 nach Bonn, Koblenz und England, aber auch Italien, sowie 1900 nach Darmstadt, Köln, Trier und wieder England. Daneben (und zum Teil damit verbunden) steht ein Leporello-Katalog von Liebesaffären: zunächst mit Agnes Kaibel, der Tochter des anderen Göttinger altphilologischen Lehrstuhlinhabers, sodann mit einer Reisebekanntschaft aus Koblenz und (der hier namenlos bleibenden) Margarete Ruer aus Saarbrücken. Der Briefschreiber zählt nicht nur die gebrochenen weiblichen Herzen, sondern benennt auch die männlichen Kollateralschäden: das vergiftete letzte Lebensjahr des Gräzisten Georg Kaibel, das Duell mit Agnes’ frischgebackenem Ehemann («Loß ist für Jahre auf den Strand geworfen»),[6] das gescheiterte Lebensglück und vorzeitige Dienstende des mit Margarete verlobten «Premierlieunants Patant in Saarbrücken».
Man sieht: dieser Doktorvater kennt sich im Privatleben seines Schülers ungewöhnlich gut aus. Ebenso ungewöhnlich sind aber auch das Verständnis und die Toleranz, mit denen er selbst auf so – nach damaligem Ehrenkodex – heikle Tatbestände wie die kompromittierenden Treffen mit der bald darauf sitzengelassenen Professorentochter Agnes in Borchardts Wohnung eingeht: Schließlich habe ihr Vater «mit dürren Worten» dem jungen Mann sein Haus verboten, war Borchardts Abschiedsbrief «mit großer Zartheit und Schonung» verfasst und sollte man die «Statuierung einer Verpflichtung für zwei Menschen, unglücklich zu werden», den Juristen überlassen. So geschrieben nicht in einem Künstleratelier in Schwabing, sondern an einem Professorenschreibtisch in der Provinzstadt Göttingen, von einem Klassischen Philologen, der bald darauf zum Korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde! Auch im Hinblick auf die eigene Ehe erweist sich der Leo dieses Briefs als ausgesprochen vorurteilsfrei. Die freundschaftliche Beziehung seiner Frau zum jungen Studenten erfährt seine Billigung und seinen Respekt: «Ursprünglich hat Cécile Ihnen schreiben wollen. Sie hat leider wieder einen Anfall ihrer Malaria und hat es aufgeben müssen, was ich bedaure, weil ich weiß, daß sie immer die Fähigkeit gehabt hat, Ihr Herz in seinem Mittelpunkte zu treffen.» Genau dieser ungewöhnlichen Wendung bedient sich Borchardt 1913 in einem Liebesbrief an Christa Winsloe.[7] Es ist in jedem Fall eine Wendung, die die emotionale Dimension seiner Beziehung zu Cécile Leo weit stärker betont, als es aus der Perspektive eines wilhelminischen Ehemanns, der um die Ehre seiner Frau besorgt sein müsste, zu erwarten wäre.
Aber vielleicht ist es gar nicht Leos Perspektive, die die Logik dieses Briefs bestimmt, sondern diejenige des Adressaten? Wird nicht alles, was uns bisher als exzeptionell oder paradox auffiel, völlig selbstverständlich und naheliegend, wenn man den ganzen Brief als Wunschphantasie Borchardts versteht? Der hoch angesehene Wissenschaftler, dem er wie keinem anderen – ebenso wie dessen Frau als Ersatz-Mutter – Elternrechte an seiner akademischen Existenz zuerkannt hat, sichert ihm darin ungebrochene menschliche Solidarität zu über alle Verschiedenheit der Lebensentwürfe hinweg («Ihr neuer Weg hat unsere Billigung nicht») und spricht ihm zugleich höchste fachliche Kompetenz zu. Zwar wurde manche Seminararbeit nicht abgegeben oder manche Vorlesung nicht besucht – aber auch ohne nennenswerte Vorbereitung legte dieser Schüler ein (sonst nur aus dem fragwürdigen «Siegestelegramm»[8] und zugehörigen Fehlmeldungen bekanntes) «glänzendes Examen» ab und treffen bei Leo die «Druckbogen mit den Resultaten Ihrer ausgezeichneten Forschung und Ihres schneidend festen Urteils» ein. Man hat in dieser Formulierung ein beachtenswertes (nämlich das einzige) Zeugnis für den fortgeschrittenen Zustand von Borchardts Dissertation über die Gattungen der griechischen Lyrik gesehen, von der sich doch sonst nichts erhalten hat, weder gedruckt noch ungedruckt,[9] und genauso ist diese Aussage wohl auch gemeint. Zusammen mit der hochgelehrt daherkommenden, sachlich aber unauflösbaren[10] abschließenden textkritischen Fußnote zu «pg. 192 alin 12» soll sie den Leser Hofmannsthal offenbar vom Vorliegen eines ausgereiften umfangreichen Buchs überzeugen – dabei war Borchardt gerade in Wien auf der Suche nach einem neuen Doktorvater[11] und ließ Deneke gegenüber verlauten, dass «das Ganze» seines Manuskripts noch längst nicht «im Reinen» war (was vielleicht auch schon eine geschönte Version darstellte).[12]
Wir sehen, dass wir uns unter der Hand verraten und die Ungeheuerlichkeit, die hier enthüllt werden muss, vorzeitig preisgegeben haben: die Theorie nämlich (wie man vorsichtigerweise zunächst sagen sollte), dass der ganze hier verhandelte Brief Leos an Borchardt gar nicht von Professor Friedrich Leo stammt, sondern von Borchardt selber verfasst wurde – äußerlich an sich selbst gerichtet, eigentlich aber für Hofmannsthal bestimmt, dessen Brief-Neugierde und beschränkte Diskretion Borchardt offenbar hinlänglich durchschaut hatte. Keinem anderen Briefschreiber kann man wohl eine solche Volte zutrauen wie die Selbsteinladung Leos zu Borchardts angeblich bevorstehender Hochzeit – unmittelbar nach der vorangegangenen Missbilligung des Lebenswegs und der katastrophalen Bilanz Borchardt’scher Liebesaffären. Oder den größenwahnsinnigen Vergleich zwischen dem Philologiestudenten Borchardt und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff als der absoluten Nummer Eins im altertumswissenschaftlichen Betrieb um 1900 auf nationaler wie internationaler Ebene. Noch im hohen Alter wird Borchardt seinen Huldigungsessay über Friedrich Leo mit eigentümlich deplatzierten Betrachtungen über die Größe von Wilamowitz schließen, den er doch im Gespräch über Formen offensiv kritisiert hatte![13] Wer anders als ein maßloser Narzisst[14] könnte auf die Idee kommen, seinen eigenen Lehrer brieflich zu sich sagen zu lassen, «daß Sie der hinreissendste junge Mensch gewesen sind, dem ich seit Wilamowitz begegnet bin»?
Abb. 1: Friedrich Leo: Postkarte an Konrad Burdach, 26. Juni 1904
Abgesehen von solchen inhaltlichen Hyperbeln und Unwahrscheinlichkeiten (von Leo aus gesehen), sprechen für die Autorschaft Borchardts die Wiederkehr einzelner Lieblingswendungen[15] und -motive,[16] vor allem aber der souveräne stilistische und narrative Duktus der ganzen Darstellung, der auch nach dem Urteil von Thomas Poiss keine Parallele im überlieferten (durch einen gepflegten, aber konventionellen Stil geprägten) Œuvre Leos findet.[17] Das alles sind vielleicht noch relativ ‹weiche› Kriterien; der – anscheinend bisher noch nie angestellte – Handschriftenvergleich erstickt jedoch den letzten Zweifel. Der im Frankfurter Hofmannsthal-Nachlass zusammen mit einem Umschlag überlieferte Brief, auf dem Hofmannsthal eigenhändig vermerkt hat: «Brief von Professor Leo in Göttingen an Rudolf Borchardt», ist kein Brief Leos, dessen Hand- und Unterschrift einen völlig anderen schräg-flüssigen Duktus zeigen, sondern eine Fälschung, die Borchardt mit verstellter Hand produzierte – und nur so produzieren konnte, denn Hofmannsthal besaß ja genug Zeugnisse seiner eigentlichen Handschrift. Also benutzt er jetzt die Sütterlinschrift, die in seinen übrigen Manuskripten eher ausnahmsweise vorkommt, und schreibt dabei mit steifer Feder (ohne die für Leo charakteristischen Aufstriche bei t oder s), gerade am Schluss fast zu Einzelbuchstaben übergehend und nur gelegentlich bei Füllwörtern wie «und» in die übliche Schreibroutine verfallend. Besonders missglückte ihm die Unterschrift, wie ein Vergleich mit unterschiedlichen Varianten von Leos Hand deutlich macht. Als Ersatz-Beglaubigung dürfte der Göttinger Poststempel auf dem verlorenen Originalumschlag gewirkt haben, denn Borchardt kehrte unmittelbar zuvor nach Göttingen zurück.
Abb. 2: Erste Seite des gefälschten Briefs vom 10. Mai 1902
Abb. 3: Letzte Seite des gefälschten Briefs vom 10. Mai 1902
Man versteht jetzt, warum Borchardt keinerlei Reaktion zeigt, als ihm Hofmannsthal 1918 – auch nicht in allen Punkten ehrlich – von dem «schönen Brief Deines Lehrers Leo» schrieb, «den ich seit 16 Jahren in Händen hatte, zu lesen nie verlangte oder nie wagte, und den ich nun einmal u. für immer gelesen habe.»[18] Hätte man hier nicht eine neugierige Rückfrage erwarten dürfen, zumal Leo 1914 gestorben war und Borchardt dessen Andenken über den Tod hinaus pflegte? Da der Text aus seiner eigenen Feder stammte (insofern geht im höheren Sinn auch die Aufnahme unter die Briefe 1895–1906 in Ordnung), konnte Borchardt jedoch auf jede Nachfrage nach dem Schriftstück verzichten. Auch dürfte ihm in der Phase des vitalen Neubeginns von 1918 die Erinnerung an seine jugendliche Fälschungssünde nur peinlich gewesen sein.
Sechzehn Jahre später erinnert sich Borchardt an die «schöne rührende, sehr grossmütig urteilende Antwort», die Leo in den Semesterferien 1900 dem «20–30 Seiten» starken Brief erteilte, in dem sich der Student über die «Krise» seiner gespaltenen Stellung zwischen «Philologie und Poesie» ausgesprochen hatte.[19] Das verschollene Schreiben Leos gab gleichsam die Blaupause für den fingierten Brief nach Rodaun ab.
Im Übrigen handelte es sich in Borchardts Beziehung zu Hofmannsthal nicht um die erste und einzige Fälschung, mit der sich die Forschung auseinanderzusetzen hat. Erst vor wenigen Jahren musste der Herausgeber des Briefwechsels mit Hofmannsthal eingestehen, dass er die Ausgabe von 1994 mit einem gar nicht von diesem stammenden Text eröffnet hatte: nämlich der vermeintlichen Widmung Hofmannsthals in Borchardts Exemplar des Theaters in Versen (1899).[20] Die damals veröffentlichte Abschrift entstammte einem Brief Borchardts an den uns schon bekannten Heinrich Goesch und war schlicht erfunden (unter Benutzung eines an entlegener Stelle faksimilierten Gedichts Hofmannsthals). Als später Borchardts eigenes Exemplar im Antiquariatsbuchhandel auftauchte, zeigte sich nämlich, dass die – von der Wiedergabe im Brief noch dazu abweichende – angebliche Widmung Hofmannsthals in einer bizarren Handschrift eingetragen war, die keinerlei Ähnlichkeit mit derjenigen des Wiener Dichters kennt. Offenbar konnte es Borchardt nicht abwarten, von seinem geliebten Vorbild ein Zeugnis persönlicher Anerkennung zu besitzen, obwohl ihm das zutiefst Unsinnige einer solchen ‹Widmung› für den Fälscher-Besitzer doch wohl bewusst gewesen sein muss.[21] Auch war gegenüber dem misstrauischen Freund Vorsicht geboten. Als Goesch nämlich auffiel, dass die Verse aus Hofmannsthals angeblicher Widmung für Borchardt schon im Prospect-Buch der exklusiven Zeitschrift Pan standen, reagierte Borchardt mit perfekt gespielter Naivität: «Dass die verse Hofmannsthals in denen ich ein kostbares ineditum zu besitzen glaubte, bereits abgedruckt sind vermindert meine freude ein wenig.»[22]
Abb. 4: Drei Unterschriften Friedrich Leos und Borchardts Imitation (ganz rechts)
Warum, fragt sich der unbefangene Leser, lügen Freunde einander an? Greift der Anspruch des Ästhetizismus so tief in die menschliche Kommunikation seiner Anhänger ein, dass ihnen jeder Maßstab für Lebenswahrheit und Authentizität verloren geht? Hat Walter Benjamin Recht mit seiner auf Nietzsche anspielenden Behauptung, der «Eine Zug, der Borchardts moralisches Wesen entscheide», sei der «Wille zur Lüge»?[23] Für einen Biographen dieses Autors ergeben sich durch seine Bereitschaft zu Falschaussage und Fälschung gravierende Probleme.
So stellt sich natürlich die Frage nach den Konsequenzen aus dem hier nachgewiesenen Fälschungstatbestand für den künftigen Umgang mit dem Pseudo-Leo-Brief. Gewiss verliert das Schriftstück schlagartig den Wert eines unabhängigen Zeugnisses, den ihm die Hofmannsthal-Forschung seit 1978 bis in jüngste Zeit zugesprochen hat;[24] verschiedene für Borchardts Eitelkeit besonders schmeichelhafte Aussagen wie die Wilamowitz-Parallele, die Bemerkung über das «glänzende Examen» und das Lob der Dissertation (an deren fortgeschrittene Existenz jetzt keiner mehr glauben dürfte) sind mit einem übergroßen Fragezeichen zu versehen. Aber ist denn zwangsläufig alles falsch, was den Inhalt des gefälschten Briefs ausmacht? Gerade die lange Liste von Borchardts (aus der Sicht des fingierten Schreibers gesprochen) Verfehlungen und Versäumnissen entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität; einzelne Daten daraus lassen sich auch anderweitig belegen. Man tut gut daran, sich die Zweckbestimmung des Briefs vor Augen zu halten: Er soll beim Über-Ich Hofmannsthal um Verständnis für die Schwächen Borchardts werben, indem er diese motiviert und entschuldigt, und ihnen andererseits ausgleichende Stärken gegenüberstellt. Borchardt hat offenbar nicht das Selbstbewusstsein und die Reife der Identität, um das in eigenem Namen zu tun. Stattdessen leiht er sich die fremde Stimme einer wissenschaftlichen Autorität, die übrigens in einer entfernten Verwandtschaftsbeziehung zu ihm stand und durch die weiblich-mütterliche Rolle Céciles ergänzt wurde. Was man bisher als überlegene menschliche Qualität aus Leos Brief herausgelesen hat, ist also die Utopie einer toleranten Vater- und Mutter-Instanz, wie Borchardt sie in seiner Berliner Familie nicht gefunden hat. In der Maske einer solchen kompensatorisch erträumten Eltern-Position spricht sich der Sünder Absolution aus, in Abgrenzung von den von ihr vertretenen (bildungs-)bürgerlichen Werten kann er sich überhaupt zu dem fast zwanghaft ergriffenen künstlerischen Lebensweg – «abenteuerlich und abenteuernd» – bekennen.
Der Dichter, der das Leben eines Hochstaplers führte, lebte die Abgründe der Ich-Spaltung aus, die das Sonett auf sich selbst thematisiert – jenes Gedicht, das Borchardt gleich zu Beginn seines Besuchs in Rodaun in Hofmannsthals Stammbuch schreibt. Die noch titellose Erstfassung hatte er drei Wochen zuvor seinem Göttinger Freund Otto Deneke gewidmet: notiert auf der Rückseite eines Porträtphotos aus Bad Ems von 1901! Darin lauten die beiden Quartette:
Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich sass
In einen Spiegel starrt ich lang hinein,
Und wusste nicht von mir, und sah mit Pein
Ein fremdes Haupt feindlich aus tiefem Glas
Emporgesandt. Von fleckiger Schatten Schein
Die Lippe überwildert schien etwas
Dumpf hinzureden zwischen Angst und Hass –
Ich betete: ich möchte dies nicht sein![25]
Dies Fremdwerden seiner selbst ist die Urszene aller Fremdheitserfahrungen und -erzeugungen in Borchardts weiterer Entwicklung.
Die fremde Stimme seines Gastes beklagte Hofmannsthal auch in anderem Sinn: irritiert durch die dröhnende Lautstärke, mit der Borchardt noch die zartesten Verse deklamierte, und den ungewohnten norddeutschen Akzent.[26] Bald sollte diese Stimme ganze Säle füllen. Borchardt, der schon 1902 vor einem halbstudentischen Publikum in Göttingen seine fragmentarische Rede über Hofmannsthal gehalten hatte (eines der komplexesten Zeugnisse in der Geschichte der literarischen Kritik), entwickelte sich in den Jahren des Ersten Weltkriegs und dann verstärkt in der Zeit der Weimarer Republik zu einem öffentlichen Redner sui generis. Ob er über Pindar sprach oder über die Krise des deutschen Buchhandels, über das «Dichterische» oder den «deutschen Völkergeist» – sein Ausgangspunkt war stets der Verlust einer früheren Form kultureller Integrität, sein Anliegen deren «schöpferische Restauration». Insofern war Borchardt auch da, wo er sich in politische Debatten einmischte, ein Romantiker des Geistes, ein dichterischer Visionär. Und von höchstem künstlerischen Anspruch war, wie zahlreiche Augenzeugenberichte belegen, sein rhetorisches Auftreten ohnehin. Weitgehend ohne Manuskript oder ohne die Benutzung eines solchen extemporierte Borchardt eine Kunstprosa, deren weitausladende hypotaktische Fügung und pathetische Wortwahl selbst nüchterne Hörer in Rauschzustände versetzten.
Abb. 5: In Bad Ems, 1901
Im modernen Medienzeitalter bildete dieser neue Demosthenes naturgemäß einen irritierenden Fremdkörper. Verlieh schon die antikische Schulung seiner Rhetorik in den Ohren der Zeitgenossen einen fremden Klang, so war ihre Wahrnehmung doch noch von weiteren Fremdheits-Aspekten bestimmt. Der erste – von Borchardt gern zur Schau gestellt – war seine selbstgewählte Exilposition. Seit 1903 hielt sich Borchardt, von der Zeit des Ersten Weltkriegs und den unmittelbaren Folgejahren abgesehen, überwiegend in Italien, und zwar in der Toskana (vor allem im Umkreis von Lucca) auf, wo er – im Wesentlichen mit dem Geld seiner Ehefrauen – historische Villen anmietete. Darin drückte sich nicht nur, wie es der Essay Villa (1907) nahelegt, ein Bekenntnis zum abendländischen Kulturerbe, sondern auch ein sozialer Superioritätsanspruch aus, den Borchardt von seinem Elternhaus (einer Berliner Bankiersfamilie) übernahm. Zugleich demonstrierte der Schriftsteller damit seine Unabhängigkeit von jeder Form heimischen «Klüngels», insbesondere dem George-Kreis, dem er anfangs nahegestanden hatte (war seine eigene Lyrik doch wesentlich von George beeinflusst), zu dem er ab 1906 aber in bewussten Gegensatz trat – bis hin zu den maßlosen sexistischen Beschimpfungen, die er noch nach Georges Tod gegen den Kreisgründer und seine Anhänger richten sollte.
Abb. 6: «Von fleckiger Schatten Schein/Die Lippe überwildert» – Borchardts Sonett auf sich selbst auf der Rückseite eines Porträtphotos
Mit der Entscheidung für die Toskana als «geistige Lebensform» war auch die Hinwendung zu Dante verbunden, dessen Divina Comedia Borchardt in jahrzehntelanger Arbeit übersetzte. Mit Dante verehrte und verklärte Borchardt auch die Stauferkaiser, die sich eine Süderweiterung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zum Ziel gesetzt hatten, ja er sah sich selbst als Ghibelline und Erbe einer im Mittelalter angelegten, aber nur punktuell und unvollständig realisierten Öffnung zur südlichen Kultur. Von hier aus versteht sich seine Aufwertung des Campo dei Miracoli von Pisa zum deutschen «Reichsforum» in einem einzigartigen Buchessay (entst. 1932), aber auch seine Entscheidung für eine Übertragung von Dantes Epos in eine quasi mittelhochdeutsche (insbesondere dem Alemannischen nachempfundene) Kunstsprache. «Dante. Deutsch von Rudolf Borchardt» stand auf dem Titelblatt der Übersetzung, die Borchardt 1933 in einer von ihm selbst beschriebenen Audienz Mussolini überreichte. Sie war mehr und Anderes als eine Handreichung zum Verständnis für den deutschen Leser: nämlich der Versuch einer Annexion, einer Hinübernahme Dantes in den Gang der nationalen Kultur seit dem Mittelalter.
Borchardts archaisierende Übersetzungspraxis war ein Versuch der verfremdenden Aneignung, des Sprechens mit eigener und fremder Stimme. Nicht umsonst hat er eine Sammlung seiner Übertragungen unter dem Titel Die fremde Muse geplant, die freilich erst postum realisiert wurde. Ohne die Feststellung einer primären Fremdheit, des Abgrunds nämlich, den die Moderne von der Ursprünglichkeit früherer Kulturtraditionen trennt, ist für Borchardt der Zugang zum künstlerischen Erbe gar nicht möglich. Das zeigt etwa seine Sammlung Ewiger Vorrat deutscher Poesie, in der Hölderlin- und Heine-Gedichte teilweise als künstliches Fragment dargeboten werden: wie die kümmerlichen Reste, die wir von Sappho-Gedichten besitzen, als Textinseln mit Pünktchen dazwischen für die (angeblichen) Lücken der Überlieferung. Die Optik der Papyrus-Edition soll die etablierten Konventionen der bürgerlichen Rezeption aufbrechen, eine nachträglich implantierte Fremdheit den Blick auf das Eigentliche öffnen.
Eine weitere Form der Fremdheit jedoch hat Borchardt nie an sich heranlassen wollen, sie ist ihm nachgerade aufgezwungen oder – als Bekenntnis – abgerungen worden: die jüdische Herkunft. Sein Wunsch nach Abgrenzung vom ‹Mammonismus› des Elternhauses ging vielmehr so weit, dass er bei verschiedenen Gelegenheiten sein Judentum vollständig bestritt, auf die mütterliche Seite einschränkte oder durch Betonung der vordatierten bzw. fingierten Konversion seiner Vorfahren relativierte. Im Zuge der kulturzionistischen Neuformation des europäischen Judentums nach 1918 waren es jedoch gerade jüdische Schriftstellerkollegen wie Willy Haas, die Borchardt die Verleugnung seiner familiären Wurzeln vorwarfen und die pseudoaristokratische Mimikry des Villenbewohners von Lucca als raffinierte Maske des «jüdischen Selbsthasses» verdächtigten. Wer wollte, konnte also in der sonoren Stimme des konservativen Redners noch ein anderes Element der Fremdheit ausmachen, das Gundolf und Wolfskehl schon früh als «Mauscheln» identifizierten und denunzierten.
In den Jahren nach 1933 war dieser von außen zugewiesenen Fremdheit eine bedrohliche Veräußerlichung und Festschreibung beschieden. Das selbstgewählte Exil verlor mit dem Machtwechsel schlagartig den Charakter der Freiwilligkeit; Borchardt, der nur noch über eingeschränkteste Publikationsmöglichkeiten verfügte, verstand sich jedoch weiterhin als Deutscher (nicht als Jude) und vermied jede öffentliche Distanzierung von der NS-Regierung. Der Belastungsprobe durch den persönlichen Umgang mit deutschen Wehrmachts- und SS-Offizieren (im Zuge des Zurückweichens der deutschen Italienfront 1944) waren seine Nerven freilich nicht gewachsen. Indem er den Zwangstransport, den der gescheiterte Fluchtversuch nach sich zieht, nach dem Vorbild seines Lieblingsschriftstellers Xenophon als Anabasis verarbeitete, gab er noch dieser demütigendsten Etappe seiner unter das Verdikt der Fremdheit gestellten Existenz einen heroischen Sinn. Der Name «Xenophon» heißt übrigens nichts anderes als «fremder Klang, fremde Stimme».
Abb. 7: Die Eltern Robert Martin und Rose Borchardt um 1880 mit Tochter Else
Die Borchardts waren Teehändler in Königsberg in Ostpreußen. Sie vertraten damit einen typischen Geschäftszweig der Residenz- und Hafenstadt, die lange Zeit als Brückenkopf im englisch-russischen Teehandel diente. In der Tradition der Familie zeichnete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings ein Zug zur Vergeistigung ab, der an ähnliche Vorgänge in Thomas Manns Buddenbrooks gemahnt: Die drei Schwestern von Rudolf Borchardts Vater heirateten akademisch hochgebildete Männer. Einer von ihnen war Ernst Burow, der frühverstorbene Leiter der Königsberger Augenklinik. Auch Robert Martin Borchardt (1848–1908) hatte weit über das Kaufmännische hinausgehende Neigungen, sah sich aber nach dem Tod seines ältesten Bruders Gustav im Deutsch-französischen Krieg 1870/71 in der Pflicht, das väterliche Geschäft fortzuführen. Von 1874 bis 1882 leitete er die Moskauer Vertretung des Handels-Vereins Borchardt, Hirschfeld & Comp, an dem mehrere Königsberger Verwandte als Gesellschafter beteiligt waren.[1]
Er zog zu diesem Zweck in die russische Hauptstadt, wo er und seine 1874 noch in Königsberg geheiratete Frau Rosalie Bernstein (1854–1943) die ersten vier Kinder französisch-reformiert taufen ließen; Robert Martin Borchardt selbst war schon vor der Eheschließung aus der jüdischen Gemeinde aus-, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten.[2] Auf Rudolfs Geburtsurkunde ist seine Religionszugehörigkeit dann mit «evangel[isch]» angegeben, wogegen bei Rosalie – ein Faktum, das ihr Sohn sich und anderen nie einzugestehen wagte – dort immer noch «mosaisch» vermerkt ist. Rudolf (eigentlich «Rudolph») Borchardt, das zweite Kind und der älteste Sohn, wurde am 9. Juni 1877 geboren – freilich nicht in Moskau, sondern in Königsberg: während eines Besuchs der Eltern in ihrer Heimatstadt, die auch von Borchardt künftig zur ideellen Heimat aufgewertet werden sollte. Dabei hat er die Stadt der preußischen Könige, Herders, Hamanns und Kants nur wenige Wochen als Säugling bewohnt und nach kürzeren Aufenthalten in der Kindheit lediglich 1927 für drei Tage besucht.
Übrigens scheint es gar nicht so sicher, dass Borchardt wirklich genau in Königsberg geboren wurde. Zweifel daran stützen sich – mit einiger Spitzfindigkeit – auf das Geburtsdatum im Reifezeugnis[3] sowie – mit größerer Plausibilität – auf das Zeugnis von Borchardts zweiter Frau: «Geboren 9. Juni in Königsberg, vielmehr auf der Bahnfahrt von Moskau nach Königsberg, da die Bahn Verspätung durch Achsenbruch hatte.»[4] Im Gegensatz zu dieser Familiensaga steht jedoch die Aussage von Borchardts Vater, der in einem Geburtstagsgruß an den Sohn klipp und klar erklärt: «In meiner Geburtsstadt erblicktest auch Du das Licht dieser Welt.»[5]
Abb. 8: Geboren um halb vier morgens von einer Mutter «mosaischer Religion»: Königsberger Geburtsurkunde vom 11. Juni 1877
Über das Moskauer Leben der Familie Borchardt wissen wir wenig außer der grundlegenden Situation der Sprachendifferenz und -konkurrenz als Primärerfahrung des Knaben.[6] Wenn die Eltern von den Kindern nicht verstanden werden wollten, wichen sie aufs Russische aus. Im Übrigen sprach man eher Französisch als Deutsch, weshalb denn auch für Rudolf Borchardt, als er 1885 in Berlin erstmals zur Schule ging, das Französische Gymnasium gewählt wurde. Auch eine Reihe von Übersetzungen, die der Gymnasiast zusammen mit dem Vater anfertigte,[7] zeigt den hohen Stellenwert der Mehrsprachigkeit im Elternhaus. Dennoch lag dem Umzug der Familie nach Berlin 1882 nicht zuletzt die Absicht zugrunde, der wachsenden Kinderschar eine einheitliche deutsche Ausbildung zu verschaffen; nach Else (1876–ca. 1963), Philipp (1879–1952) und Helene (1880–1963) wurden hier noch Veronika/Vera (1882–1954), Ernst (1886–1931) und Robert (1890–1916) geboren. Der Teehandel trat in den Hintergrund; der Vater trug sich wohl mit Plänen, sich ganz aus dem Geschäft zurückzuziehen, bevor er das Ausmaß der finanziellen Möglichkeiten erkannte, die ihm seine russischen Handelskontakte im Wirtschaftsboom der Reichshauptstadt boten. Nach schweren Verlusten, die ihm der Konkurs seines Schwiegervaters Jacob Bernstein 1885 zufügte, wurde Borchardt Senior 1898 Teilhaber der Berliner Bank Breest & Gelpcke. Nach der Fusion mit der Berliner Handelsgesellschaft im Besitz von Carl Fürstenberg und Hermann Rosenberg war er Mitglied in deren Verwaltungsrat.[8]
Abb. 9: Gründerzeit-Klassizismus: Fassadenentwurf für das Haus Kronprinzenufer 5
Für eine solche Bankierskarriere hatte Robert Martin Borchardt die Wohnung am Kronprinzenufer 5 richtig gewählt.[9] In unmittelbarer Nähe zum 1885 begonnenen Reichstagsbau, schräg gegenüber vom heutigen Hauptbahnhof am Südufer der Spree im sogenannten «Geheimratsviertel» gelegen, verband das 1872/73 errichtete Mietshaus die Vorzüge einer zentralen Lage mit dem Anspruch eines gehobenen gesellschaftlichen Status. Noch einige Jahre später lässt Fontane in seinem Roman Stechlin den Grafen Barby mit seinen Töchtern Armgard und Melusine nur einige Häuser weiter in derselben Straße wohnen. Die Zwölfzimmerwohnung der Borchardts im zweiten Stock (unter ihnen wohnte zeitweise der Adjutant des Kronprinzen Friedrich)[10] zeigte den typischen Schnitt Berliner Wohnungen aus jener Zeit: An drei repräsentative Zimmer zur Straße bzw. zur Spree schloss sich ein sogenanntes Berliner Zimmer an, ein nur unvollständig durch ein Hoffenster erhellter, als Speisezimmer genutzter umfangreicher Raum, der bei Bedarf mit dem davor liegenden Gesellschaftsraum zu einem regelrechten Tanzsaal erweitert werden konnte. Hier wie in den anderen Vorderräumen war Parkett ausgelegt – eben jenes Parkett, das vor jeder größeren Veranstaltung von einem Lohndiener auf zwei Bohnerbürsten aufpoliert wurde[11] und auf dem der fünfjährige Knabe gleich beim ersten Betreten ausgeglitten war.[12]
Abb. 10: «Die Räume brachen im rechten Winkel»: Grundriss des 1. und 2. Stockwerks im Haus Kronprinzenufer 5
«Die Räume brachen im rechten Winkel»,[13] heißt es in Borchardts fragmentarischer Lebensbeschreibung, um die Grenze zu markieren, die zwischen dem vornehmen vorderen Bereich und der dahinterliegenden Welt der Kinder, des Personals und der vom Autobiographen nicht erwähnten gleichfalls zum Haushalt zählenden Schwestern der Mutter bestand. Denn die Kinder verteilten sich auf die Räume zum Hof, die sich an einem langen bis zum Hinterhaus reichenden Korridor aneinander reihten, und hatten zu den Gesellschaftsräumen nur bei besonderer Aufforderung oder einem gemeinsamen Essen Zutritt. Umgekehrt betrat der Vater nach dem Zeugnis von Borchardts Schwester Vera nie die hinteren Räume, und auch die Mutter war daraus, «wenn sie gelegentlich hereinsah, […] schnell wieder verschwunden»: «Ich kann mich nicht besinnen, dass die Mutter sich im Kinderzimmer richtig hingesetzt hätte.»[14] Im trüb beleuchteten Hofzimmer erhielt Rudolf auch den vorbereitenden Unterricht durch einen Privatlehrer namens Schauer.[15]
Man hat Borchardts Autobiographie mit Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 verglichen, weil auch dort der Versuch gemacht wird, an topographischen und architektonischen Details die Prägung des Kindes durch (klassen)gesellschaftliche Faktoren sinnbildlich hervortreten zu lassen.[16] Auch an Kafka wäre zu denken, der gleichfalls Gegebenheiten der elterlichen Wohnung als Ausdruck seiner Unterwerfung unter die Herrschaft des Vaters interpretiert. Im gleichen Sinn spricht Borchardt in seinen Erinnerungen vom «Jahrzehnt der Väter»[17] – in bewusster Abgrenzung von der reformpädagogischen Ausrufung eines «Jahrhunderts des Kindes» durch Ellen Key 1902. Die Macht des Patriarchats der Bismarck-Ära zeigt sich bei ihm nicht nur in der durch die Anlage der «herrschaftlichen» Wohnung unterstrichenen väterlichen Verfügungsgewalt – man denke etwa an seine Erzählung, wie der Knabe in das sonst nie betretene Arbeitszimmer des Vaters zitiert wird, um von diesem zu erfahren, dass er vom nächsten Tag an der Aufsicht eines Hauslehrers unterstellt wird.[18] Sie zeigt sich auch strukturell darin, dass sich das Bild der Eltern in Borchardts rückblickender Darstellung ausschließlich auf den Vater reduziert. Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt (1926/27) ist wohl die einzige moderne Lebensbeschreibung von Gewicht, die der (beim Erscheinen noch lebenden) Mutter keinerlei Erwähnung gönnt! Die «bösen, harten Augen», die Borchardt ihr noch in einem Brief von 1919 zuspricht,[19] sollten keinen Eingang in sein Werk finden.
Er begab sich dadurch auch der Möglichkeit, auf die Vorfahren und Verwandten der Mutter hinzuweisen, deren Name in der Berliner Kultur- und Kunstgeschichte einen guten Klang hat. So gründete Rose Bernsteins Großvater Nathan Levi Lepke 1842 in der Behrenstraße eine angesehene Kunsthandlung und ihr Großcousin Rudolf Lepke 1869 das erste deutsche Kunstauktionshaus. Dessen unehelicher Bruder Louis Tuaillon schuf die monumentale Bronzestatue der berittenen Amazone, die 1895 im Auftrag Kaiser Wilhelms II. vor der Nationalgalerie aufgestellt wurde (eine Kopie steht im Tiergarten). Freilich, mit solchen Vermischungen von Kunst und Geld oder Kunst und Wilhelminismus wollte Borchardt nichts zu tun haben!
Den Vater beschreiben Borchardts Geschwister als Despoten, dessen maßlose Zornausbrüche die ganze Familie in Angst und Schrecken versetzten.[20] Seine eigene Autobiographie spricht von einem «groß aufgebauten, dröhnend schreitenden, dröhnend sprechenden, tiefernsten, ja bitterstrengen Mann».[21] Das ist nicht nur aus der Kinderperspektive gesehen. Auch als Erwachsener muss sich Rudolf Borchardt (dem ebenfalls immer wieder eine dröhnende Stimme attestiert wird) recht schmächtig neben seinem Erzeuger ausgenommen haben – von allen Unterschieden des bürgerlichen Erfolgs abgesehen. So deutlich der Erzähler herausstellt, dass es eben diese Vater-Instanz gewesen ist, von der sich das autobiographische Ich um jeden Preis abgrenzen und freimachen musste («daß ich nichts im Leben getan habe und geworden bin außer darum weil er wollte daß ich das Gegenteil täte und würde»),[22] so spürbar ist doch auch die Empathie, mit der Borchardt fast zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters dessen Porträt nachzeichnet:
Wie er nun vor mir da saß, überwog das Mildere in dem schönen kräftig in Farben abgeteilten, vollbärtigen Männergesichte in dem über den schlafenden Augenlidern ein sonderbarer Müdigkeitsglanz lag den ich nicht wieder vergessen habe. Das links gescheitelte Haupthaar war seit einem schweren Jahre, in dem die Ruchlosigkeit eines gaunerhaften Verwandten sein Geschäft an den Abgrund geführt hatte, von einem makellosen Silberweiß, der blonde viereckige Bart hatte graue Grannen, um Nase, Augen und Nüstern begannen sich in dem noch nicht vierzigjährigen Gesichte strenge Furchen zu schreiben, unter dem starken Halse atmete die athletische Brust des alten Turners und Schwimmers in regelmäßigen Zügen.[23]
Es ist das Bild des schlafenden Vaters, wie es der Knabe auf einer Bahnfahrt in den sommerlichen Ostseeurlaub in sich aufnimmt – als er ausnahmsweise im Abteil des Vaters sitzen durfte. Es zeigt eine virile sportliche Natur – tatsächlich wird Robert Borchardt noch in seinen letzten Jahren an Segelregatten teilnehmen – mit einer Beimischung geistiger Züge; man kann sich vorstellen, dass dieser Mann, der in England ausgebildet war und mehrere Sprachen beherrschte, seine Freizeit mit der Anfertigung von Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen verbrachte. Allerdings nahm der Vater nur selten an den Familienferien im ostpreußischen Seebad Cranz teil, und auch Rudolf wird davon, wenn schulische Erfordernisse dagegen stehen, rigoros ausgeschlossen. Er ist auch nicht dabei, als sich der Großteil der Familie um 1887 für mehrere Sommermonate in eine Datsche am Rande Moskaus zurückzieht – offenbar in Verbindung mit dortigen Geschäftsinteressen des Vaters.[24]
Die Schilderung eines solchen als Verstoßung erlebten Ausschlusses bildet Ende und Höhepunkt des Autobiographie-Fragments. Der mit einer alten Haushälterin und einem (wie sich bald zeigt: ständig betrunkenen) Hauslehrer in der Riesenwohnung allein gelassene Knabe tröstet sich zunächst, indem er die sonst unzugänglichen Vorderräume in Besitz nimmt und sich von den dort ausgestellten Gemälden und Porzellanfiguren ins Märchenreich ritterlicher Ersatzwelten entführen lässt. Auch das Ausmalen Neuruppiner Bilderbögen mit unvermischten Farben verschafft ihm einen einsamen ästhetizistischen Genuss. Die Idylle findet jedoch ein jähes Ende, als der Vater von der Unzuverlässigkeit des Hauslehrers erfährt: Rudolf wird umgehend in ein Knabenpensionat in der Moabiter Turmstraße verfrachtet. Die ärmliche Umgebung und menschliche Niedrigkeit, mit der sich der verwöhnte Sohn aus reichem Hause beim Elementarlehrer «Halbherr» (in Wirklichkeit: Gustav Adolf Hallbauer)[25] schlagartig konfrontiert sah, wird von Borchardt mit einer Intensität vergegenwärtigt, wie sie nur tiefste emotionale Betroffenheit ermöglicht. Tatsächlich heißt es im Anschluss an die Schilderung der ersten Stunden im Moabiter Exil – mit unüberhörbarem Anklang an das Selbstverständnis des Erwachsenen als verlorener Sohn oder verbannter Dichter: «Diesen Tag mit seiner Nacht und seinem Morgen habe ich darum erzählt weil ich ihn im Grunde mein Lebenlang nicht verwunden habe, und er in diesem Sinne für die Bildung meines Charakters und die Beeinflussung meines Naturells von den größten Folgen gewesen ist.»[26]
Immerhin gab es ein Familienmitglied, das dem von den Eltern auf Distanz gehaltenen Knaben warmherzig entgegentrat und sogar besondere Bevorzugung zuteil werden ließ: die Großmutter Emilie Borchardt (geb. Leo, 1817–1902). Der Autobiograph beschreibt das von ihr in den Jahren 1883–1886 bewohnte Haus am Leipziger Platz 18 als zeitenthobene «Insel in der kalten Berliner Wüste»,[27] mit Ahnenporträts an den Wänden und einer eindeutig vor- oder antibismarckschen Gesinnung im Herzen der Bewohnerin. Mit derselben Entschiedenheit, mit der die bekennende Alt- und Ostpreußin Erdbeeren für «Gurrrken» hielt, erklärte sie den Reichskanzler noch 1885 für ein «Krokodil».[28] Philipp und Vera dagegen bezeugen den Ausdruck «Bluthund»; die Schwester weist zudem ausdrücklich die preußisch-nationalen Gesinnungen, die Rudolfs Autobiographie der alten Achtundvierzigerin zuschreibt, als pure dichterische Erfindung zurück.[29] Übrigens erstreckte sich die Zeitgeist-Verweigerung der Großmutter (wie des schon 1875 verstorbenen Großvaters Rudolf Borchardt d. Ä.) auch darauf, dass sie sich dem zeittypischen Zug zur Assimilation verweigerte und – entgegen allen anderslautenden Aussagen ihres Enkels – am Glauben der Väter festhielt. Rudolf und Emilie Borchardt wurden auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg beigesetzt, ihr Grabstein steht noch heute in der Nähe des Eingangs.
Abb. 11: Grabstein der Großeltern väterlicherseits auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin-Prenzlauer Berg. Photo 2014
Die Erzählungen der Großmutter bestätigten das Kind in den Träumen von einer heroisch-ritterlichen Welt, denen seine frühen Lese-Erfahrungen entschiedenen Vorschub leisteten: von Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums über zwei Gedicht- und Balladensammlungen bis zur Älteren deutschen Geschichte für die Kinderstube des Leipziger Unternehmers Franz Otto Spamer (Pseudonym: Franz Otto) mit den suggestiven Kaiserporträts Anton Rethels.[30] Auf den ungeliebten Tiergarten-Spaziergängen unter der Aufsicht verschiedener Gouvernanten ritt der von solchem Stoff erfüllte Junge am liebsten sein eigenes Steckenpferd. Borchardt erzählt eine Urszene seiner Kindheit, wenn er die Isolierung des spielenden Knaben beschreibt, dem das (von außen gesehen) Lächerliche seines Verhaltens beim ersten Versuch der Teilhabe eines anderen sogleich bewusst wird:
Meine Unterhaltung bestand darin, in einer sonderbaren von mir erfundenen Weise immer abwechselnd mit einem langen und zwei kurzen Schritten und besonders aufgerichteter Kopfhaltung, manchmal noch mit einem durch die Beine gesteckten Prügel unterstützt, die Promenade entlang zu fegen – was ich galoppieren nannte und womit ich die Vorstellung einer ausnehmend herrlichen und ritterlichen Bewegung verband. Daß diese Bewegung einsam war und nicht ein geselliges Spiel gab ihr für mich einen erhöhten Reiz. Wenigstens als einmal ein schiefer kleiner Knabe von äußerst gewandter Gesprächigkeit dabei versuchte, diese Galoppaden mit mir zu teilen, sagte ich ihm er sei lächerlich und befliß mich sofort meines gewöhnlichen Schrittes.[31]
In der Tat ein «komischer Junge»![32] In der Entwicklung des träumerischen, in sich verschlossenen Knaben kamen Wirklichkeit und Phantasie einander wiederholt in die Quere. Eine regelrechte Dauerkollision beider Sphären wurde durch den Schuleintritt des Achtjährigen ausgelöst, der bis dahin nur «in grauen Hofzimmern»[333435