Behutsam trugen vier Fremde, der Kleidung nach Männer aus Böhmen, mit Stangen einen riesigen, allerdings sehr schmalen Holzkasten von der Kirche San Bartolomeo, gleich hinter dem Fondaco dei Tedeschi, zur Anlegestelle. Der Blick der kräftigen Männer fiel kurz auf die Rialtobrücke, bevor sie den aufsehenerregenden Kasten auf das Ruderschiff verluden. Ihre Umsicht verriet selbst dem flüchtigen Beobachter, dass man ihnen eine kostbare Fracht anvertraut hatte.
Auf der Terra ferma erwarteten sie schwerbewaffnete Reiter, die sie auf ihrem Weg nach Prag eskortierten. Von allerhöchster Stelle war den Trägern für den Fall, dass die Fracht unterwegs Schaden nähme, mit drakonischen Strafen gedroht wurden. Deshalb hatten sie das 162 mal 194,5 cm große Altarbild in Teppiche gewickelt und mit Baumwolle gepolstert, schließlich in mehrere Tuchlagen eingeballt und in einen hölzernen Kasten gestellt. Die ungewöhnliche Entscheidung, das Gemälde von Trägern transportieren zu lassen, wurde gefällt, nachdem sich kein Fuhrmann bereitgefunden hatte, dafür zu garantieren, dass es unbeschadet in Prag einträfe. Die Befürchtungen, die der leidenschaftliche Sammler hegte, stützten genügend Gründe. Angesichts der Straßenverhältnisse wäre die Fracht beim Transport mittels Wagen oder Kutsche gehörig durchgerüttelt worden, so dass Farbschichten hätten abplatzen oder sogar sich hässliche Risse bilden können. Den Maler hatten seine Mitbürger schon vor über siebzig Jahren in Nürnberg zu Grabe getragen, so dass ihn keine Bitte mehr erreichen würde, Reparaturen an seinem Werk vorzunehmen.
Während sich die vier Böhmen durch die Alpen quälten, wartete in der Prager Burg ungeduldig Rudolf II., der begeisterte Mäzen und unterschätzte Kaiser, auf das »Rosenkranzbild«, das Albrecht Dürer genau einhundert Jahre zuvor in Venedig im Auftrag der deutschen Kaufmannschaft für die Kirche San Bartolomeo, die von ihnen genutzt wurde, gemalt hatte. Rudolf II. war ein echter Friedenskaiser, und so passte Albrecht Dürers venezianisches Altarbild wohl zu niemandem besser als zu dem kunstsinnigen Habsburger.
Nichts wussten die starken Knechte von dem Nürnberger, der im Jahre 1505 nach Venedig gereist war, zum zweiten Mal übrigens in seinem Leben, um just mit diesem Gemälde in der bedeutenden Metropole Zeugnis abzulegen, dass er nicht nur ein Zeichner und Kupferstecher von Weltrang war, sondern als Maler über nicht geringere Qualitäten verfügte.
Den äußeren Anlass für die Reise des Meisters gab damals der wohl erste Urheberrechtsprozess in der Geschichte, den er gegen den Stecher Marcantonio Raimondi anstrebte, um ihm das Plagiieren Dürer’scher Stiche gerichtlich untersagen zu lassen. Dürers Klagebegehren besaß durchaus Berechtigung. So war der Vorwand zwar einsichtig und willkommen, doch in Wahrheit trieb ihn der brennende Ehrgeiz, den er nur dem Finanzier der Reise, seinem Freund Willibald Pirckheimer verriet, nicht nur als genialer Zeichner, dessen Kupferstiche und Holzschnitte guten Absatz fanden und selbst in Italien als unübertrefflich gerühmt wurden, anerkannt zu sein, sondern darüber hinaus von den in Sachen Kunst und Bildung immer etwas überheblichen Italienern auch als vortrefflicher Maler gerühmt zu werden. Nur drei Städte eigneten sich für die künstlerische Demonstration, mit der er seinen Ruhm für alle Zeiten aufzurichten gedachte: Rom, Florenz oder Venedig. Er wählte die Serenissima, weil die Nürnberger in der Lagunenstadt über genügend politischen Einfluss verfügten und der Prestigeauftrag, der an ihn erging, sich ideal dafür eignete, die eigene Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen.
Das Bild also, das die Männer durch das Friaul, durch Kärnten, die Steiermark bis nach Prag schleppten, steht in mehrfacher Hinsicht geradezu paradigmatisch, im Grunde sogar symbolisch für Albrecht Dürer. Mit ihm begründete er tatsächlich seinen internationalen Ruf als Künstler, der nicht nur exzellent mit Feder, Stift, Griffel und Nadel, sondern auch mit Pinsel und Farbe umzugehen verstand. Ihm widerfuhr die einzigartige Ehre, als Humanist des Bildes gerühmt zu werden, wo doch als Medium der Humanisten allgemein das Wort und der Text und nicht die bildende Kunst zählte. Religiosität trifft sich in Dürers venezianischem Gemälde mit Selbstbewusstsein, denn der Maler, der rechts im Hintergrund in prächtiger Robe mit wallendem rötlichem Lockenhaar und kräftigem Bart vor einem Baum steht, schaut aus dem Bild hinaus auf die Betrachter, als wollte er sagen: »Sieh her, du unbekannter Betrachter. Das bin ich. Und ich bin es, der diese herrliche Szene und dieses großartige Bild geschaffen hat, in einer Art, wie es das nicht ein zweites Mal geben wird.«
Im Porträtieren seiner selbst hatte ihn immer wieder die Vorstellung vergnügt und auch motiviert, dass die Menschen sein Bild Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert betrachten, sich vor seinen Figuren und Farben drängen, leben und sterben würden, doch er – Albrecht Dürer – würde weiterhin dastehen und immer neuen Generationen in die Augen schauen, Äon für Äon, wenn man nur das rechte Firnissen von Zeit zu Zeit nicht vernachlässigte.
Die Szenerie selbst – Maria und der Jesusknabe teilen Rosenkränze aus, die von unermüdlichen Putten herbeigeschafft werden – wirkt heiter, freundlich und versöhnlich. Die Gruppe, die sich versammelt hat, repräsentiert zum einen die Gesellschaft des Heiligen Römischen Reiches, zum anderen meint man, zumindest in Teilen in eine Privatsoiree von Dürers damaliger venezianischer Bekanntschaft geraten zu sein. So verschränken sich – wie auch in der Natur des Künstlers – Ausgeglichenheit, Gottvertrauen, Lebensfreude und tiefe Religiosität, Privates, Persönliches mit Offiziellem und Politischem.
Dennoch trübt sich die Freude rasch ein, denn so sehr man sich es auch wünscht, steht man vor dem Bild, das Kaiser Rudolf II. voller Stolz, nachdem es endlich in Prag angekommen und auf dem Hradschin ausgepackt worden war, betrachtete, in Wahrheit vor einer Ruine, denn die Zeit, vor allem aber die Restaurierungsversuche haben Dürers Rosenkranzbild zerstört. Das rechte Firnissen wurde vergessen, die einzigartige Pracht des Gemäldes ist unwiederbringlich dahin. Der Betrachter steht nur noch vor einem dürftigen Abglanz verlorener Pracht. Und so muss uns das, was sich unserem Auge darbietet, fragwürdig werden.
Aber diese Frage trifft tiefer, greift schließlich die Patina der Geschichte an: Ähnelt das Bild, das wir uns von Albrecht Dürer machen, auf das wir schauen, in seinem Zustand nicht dem Rosenkranzfest? Wird aus einer Distanz von fünfhundert Jahren unser vermeintliches Wissen über den bekanntesten deutschen Maler nicht problematisch? Natürlich geht es nicht ohne Forschung und Recherche, ohne Wissen, aber all dies wäre nichts, wenn nicht etwas hinzukäme, das die deutsche Sprache mit einem langsam in Vergessenheit geratenen Ausdruck »sich ein Herz fassen« nennt. Zum Wissen, zum Forschen und zum Recherchieren müssen das Schauen und das Staunen treten. Doch wie man zur Vorstellung der ursprünglichen Gestalt des Bildes Stück für Stück zurückgelangt, so vermag man sich auch beherzt Dürer, dem Bekannt-Unbekannten, zu nähern.
Der Anblick der »Ruine« überrascht und verblüfft. Es ist niemand anderes als der Meister selbst, der uns anblickt. Unmittelbar. Direkt. Treten wir in das Gemälde hinein? Kommt er uns entgegen, tritt er gar aus dem Gemälde heraus? Begegnen wir einander in einem Zwischenraum, einem Ort absoluter Synchronität? Dürers Blick löst die Zeit auf. Nun liegt es einzig am Betrachter, ob es zur Begegnung kommt, einzig daran, dass er dem Blick standhält. Authentischer geht es nicht: Leibhaftig steht vor uns der Albrecht Dürer des Jahres 1506, man kann sogar den Tag angeben: nämlich den 8. September. Es ist die Stunde des autarken Künstlers, in der er selbstbewusst von den Italienern fordert, zum König der Maler gekrönt zu werden. In einer Haltung gelassener Strenge sagt er in die Runde: Wer einen Einwand dagegen vorzubringen hat, dass mir die Krone gebührt, der soll sich jetzt äußern, es mir ins Angesicht sagen oder für immer schweigen.
Dürer, der 34-jährige Künstler, fordert nicht nur heraus, er fordert auch Respekt. Das ist schon viel, aber er will mehr, er verlangt, mit dem Betrachter in Konversation zu treten. Sicher, die Nachwelt hat das berühmte und großartige Gemälde so gründlich verschandelt, dass die Kommunikation gestört ist. Doch Dürers Kunst erweist sich als stärker, und wohl auch die Kraft seiner Persönlichkeit, aus der diese einzigartige Kunst erwuchs. Dieser Persönlichkeit, ihren Lebenswegen nachzuspüren, sie – analog zum Bild – zu rekonstruieren, das soll auf den folgenden Seiten geschehen.