Über Albrecht den Älteren weiß man zu viel, um über ihn schweigen zu dürfen, und letztlich zu wenig, als dass es gelingen könnte, verlässlich sein Leben nachzuzeichnen. Doch im Hinblick auf die Biographie Albrechts des Jüngeren muss man es wagen, denn die Bedeutung des Vaters für den werdenden Künstler wird aufgrund des Mangels an Quellen und Zeugnissen gemeinhin unterschätzt bzw. ignoriert, was auf das Gleiche hinausläuft. Ein Grund für diese Ignoranz liegt nicht zuletzt darin, dass man sich das Vater-Sohn-Verhältnis eines werdenden Künstlers eigentlich nur konfliktträchtig und nicht harmonisch vorzustellen bereit ist. Schon angesichts Luthers ausgesprochen respektvollen Verhältnisses zu seinem Vater blamiert sich jede psychoanalytische Deutung.12 In der Beziehung zu ihren Vätern ähneln Albrecht Dürer und der gut zehn Jahre jüngere Martin Luther einander, auch in der Krise, die eine wichtige berufliche Weichenstellung betraf13, und in ihrer religiösen scrupulositas, den berühmt-berüchtigten Anfechtungen, den tentationes, die keine Besonderheit der Charaktere Martin Luthers oder Albrecht Dürers darstellten, sondern als wachsender Bestandteil die Religiosität großer Bevölkerungskreise nördlich der Alpen bestimmten.14
Das Verhältnis Albrechts des Jüngern zu Albrecht dem Älteren müssen wir uns hingegen als ausgesprochen harmonische Vater-Sohn-Beziehung vorstellen, in der der Vater, solange er es vermochte, den Sohn förderte und selbst in einem ausgesprochen kritischen Moment in der Lage war, über seinen Schatten zu springen. Albrecht der Ältere war mehr als ein Goldschmied, er war ein künstlerisch ambitionierter Mann, der wesentlich Einfluss auf die frühe und entscheidende Entwicklung seines Sohnes nahm. Man wird im Wesen des Sohnes eine produktive Mischung aus Harmonie und einem unbedingten Ehrgeiz, einem aus der Harmonie entspringenden Wirklichkeitsdrang entdecken, die im positiven Verhältnis zum Vater seinen Ausgang nahm. Als liebenswürdig wird Albrecht der Jüngere beschrieben. Niemals wird er die instinktive Sicherheit des geliebten Sohnes verlieren, wird diese emotionale Ausgeglichenheit Grundlage seines Selbstverständnisses sein. Eigenhändig setzte Albrecht der Jüngere vor des Vaters Chronik, die lediglich die Aufzählung der Geburt der Kinder und der Paten enthält, die Lebensgeschichte des Vaters, »wie er hercumen und blieben und geendet seeliglich«15, und ergänzte sie mit Leben und Tod der Eltern und Schwiegereltern und mit Notizen zu seiner Vita. Hierin eiferte er den Nürnberger Patrizier-Clans nach, für die es zum guten Brauch geworden war, Geschlechterbücher anzulegen, in denen sich die Familie darstellte. Der Wunsch, sich für die Ewigkeit vor aller Welt zu präsentieren, traf sich mit dem äußerst praktischen Effekt, dass ein Familienbuch, das die Geburten, ihre Reihenfolge, auch die Zugehörigkeiten zu den einzelnen Familienzweigen der Dynastien dokumentierte, bei Erbschaftsstreitigkeiten hilfreich war, denn ein amtliches Personenstandswesen existierte erst in Anfängen. Dass sich Albrecht der Jüngere der Mühe unterzog, zeigt zweierlei: Erstens war ihm die Familiengeschichte so wichtig, dass er die Chronik des Vaters überarbeitete und vervollständigte, zweitens besaß er Kenntnis von der Herkunft des Vaters. Sie erhielt er auf doppeltem Wege. Einmal sprach der Vater des Öfteren darüber und hinterließ dem Sohn auch Notizen, die dieser noch benutzte und die leider verloren gingen. Die Erinnerungen des Vaters wurden noch ergänzt von Nikolaus, Albrechts Vetter, der aus Gyula kommend bei seinem Onkel in die Lehre gegangen war. Als Albrecht Dürer der Jüngere 1520 in die Niederlande reiste, machte er bei seinem Vetter, der inzwischen in Köln wohnte, Station. Drei Jahre nach dieser Reise überarbeitete er die Chronik. So ist es mehr als wahrscheinlich, dass er auch mit seinem Vetter über die Heimat seines Vaters gesprochen hat, die Albrecht selbst nicht kennengelernt hatte, in der Nikolaus hingegen noch geboren worden war und die er erst als Lehrling verlassen hatte. Dass er über zwanzig Jahre nach dem Tod des Vaters noch mit dieser unmittelbaren Betroffenheit über ihn schreibt, verrät ihr enges Verhältnis, lässt ahnen, wie sehr er ihn vermisste. Es greift bei weitem zu kurz, Dürers Vater-Reminiszenzen allein der Konvention eines zeittypischen Memorialstrebens zuzurechnen, als Lug und Trug für die Ewigkeit. Mochte Dürer sich auch so für die Ewigkeit darstellen, dann liegt doch in der Selbst-Darstellung ein großes Moment der Darstellung des Selbst, zeigte sich Dürer nicht nur, wie er gesehen werden wollte, sondern auch wie er war.
Bereits die erste Frage, ob der um 1427 in Ungarn, im Komitat Békés, geborene Albrecht der Ältere deutscher oder ungarischer Abstammung war, lässt sich nicht klären. Das Beispiel Dürer zeigt, wie die Relevanz der Abstammung sich reduziert, wenn eine Identifikation mit den Werten gegeben ist. Albrecht Dürer der Ältere hatte seine Heimat hinter sich gelassen und sich vollkommen als Nürnberger und als Deutscher gefühlt. Vice versa wurde er von seinen Mitbürgern auch als Nürnberger und Deutscher gesehen. Erst später, im nationenbildenden 19. Jahrhundert, versuchte eine nationalbewusste Kunstgeschichtsschreibung in anachronistischer Manier Albrecht Dürer zu einem Enkel von in Ungarn lebenden Deutschen zu machen. Doch die Konstruktion hält keiner Nachforschung stand. Im Unterschied zu Nordungarn oder zu Siebenbürgen findet sich in dem südostungarischen Komitat kein nennenswerter deutscher Bevölkerungsanteil.16 Allerdings liegt die Stadt Großwardein zwei Tagesreisen entfernt, und hier wohnten Deutsche. Was die Hypothese einer ungarischen Abkunft nahelegt, ist die Tatsache, dass der Großvater in einem kleinen Dorf namens Ajtós in der Nähe des Städtchens Gyula (Jula) geboren wurde. Dass in diesem Dörfchen, das später von den Türken zerstört wurde und seitdem nicht mehr existiert, ausschließlich ungarische Bauern lebten, scheint doch mehr als wahrscheinlich. Die Familie wird kaum von deutschen Umsiedlern, die im 13. Jahrhundert nach Ungarn kamen, abstammen, da es sich bei diesen Einwanderern zumeist um Handwerker, nicht um Bauern handelte. An Handwerkern bestand in Ungarn ein Mangel, nicht an Bauern. Dürers Vorfahren aber waren Bauern. Und so beginnt die Geschichte der Dürers im wahrsten Sinne mit dem Sohn eines vermögenden Bauern, der vor allem Rinder hielt und Pferde züchtete, mit Anthoni. Die Hypothese einer ungarischen Herkunft erhärtet Dürers Eintrag im Familienbuch, der von einem Geschlecht spricht, das sich von Ochsen und Pferden ernährte. Der Begriff »geschlecht« verweist eindeutig auf eine längere Abstammung, auf einen Clan, der seit mehreren Generationen Viehhaltung und Pferdezucht betrieb.
Anthoni wurde in das unter der Herrschaft der Familie der Marothy aufblühende Städtchen Gyula17 in die Lehre eines Goldschmieds gegeben. Sein Lehrherr, der Meister Aurifaber, mochte deutscher Abkunft gewesen sein und einer Familie entstammen, die im 13. Jahrhundert nach Ungarn gekommen war. Dafür spricht doch recht überzeugend, dass Aurifaber eine zum Namen gewordene Berufsbezeichnung ist, denn Aurifaber ist lateinisch und bedeutet auf Deutsch Goldschmied. So konnte beispielsweise aus einem eingewanderten Handwerksmeister Johannes, ein Johannes der Goldschmied und später Johannes Aurifaber werden. Dass man es hier nicht mit einer Legende zu tun hat, die gern sprechende oder symbolische Namen verwendet, beweist, dass der Name Aurifaber in Gyula belegt ist. Zudem ist der Nachname Aurifaber im Ausgang des Mittelalters keine Seltenheit.
Sei es, dass es einen zweiten Anthoni in der Werkstatt gab oder dass man aus anderen Gründen ihn nur »den aus Ajtós« – Ajtósi – nannte, jedenfalls wurde Anthoni nun Anthoni Ajtósi gerufen. Anthoni scheint ein geschickter Goldschmied gewesen zu sein, er konnte es sich leisten, eine Familie zu gründen, und eröffnete wahrscheinlich eine Werkstatt. Seine Frau Elisabeth gebar ihm eine Tochter und drei Söhne. Wirft man einen Blick auf den weiteren Verlauf der Familiengeschichte, fällt auf, dass die Werkstatt nicht in Familienhand weitergeführt wurde, wenn nicht Katharina, Anthonis Tochter, einen Goldschmied geheiratet und die Werkstatt des Vaters übernommen hatte. So bleiben als biographische Alternativen Anthonis früher Tod oder die Möglichkeit, dass Anthoni Alt-Geselle bei seinem Lehrherrn Aurifaber, vielleicht sogar Teilhaber wurde. Im kleinen Gyula, auch wenn die Stadt prosperierte, war der Bedarf an Goldschmieden überschaubar. Die bekannten Daten der Familiengeschichte würden diese Hypothese sogar stützen: Der jüngste Sohn namens Johannes erhielt eine Ausbildung zum Priester und wurde Pfarrer in Großwardein, der mittlere Sohn, Ladislaus oder Lasslen, führte ebenfalls das Gewerbe des Vaters nicht weiter, sondern wurde Sattler. In Anbetracht dessen, dass die Vorfahren als Großbauern und Pferdezüchter in Ajtós saßen, eine kluge Berufswahl. Albrecht, der älteste Sohn, aber ging beim Vater oder bei Aurifaber in die Lehre.
Man hat Albrecht dem Älteren immer gute Deutschkenntnisse18 zugeschrieben, was die Hypothese der deutschen Herkunft der Familie unterstützte, aber Deutsch könnte er auch bei seinem deutschstämmigen Lehrmeister erlernt haben. Der könnte ihm zudem den Weg nach Norden gewiesen haben. Wohin auch sonst? Im Süden standen die Türken. Vielleicht stammte die Familie Aurifaber aus Nürnberg oder Köln. Und wie es üblich war, machte sich Albrecht der Ältere, nachdem er ausgelernt hatte, auf die Gesellenwanderschaft. Aber das wird letztlich Spekulation bleiben müssen, denn es besteht keinerlei Hoffnung auf Quellenfunde, die dieser Vorgeschichte Fakten beisteuern würden.
Auch warum Albrecht der Ältere, der einzige Goldschmied, der einzige in der Familie, der das Handwerk des Vaters erlernt hatte, nicht nach seiner Gesellenreise zurückkehrte, um die Werkstatt des Vaters zu übernehmen, kann nur vermutet werden. Die Dürer’sche Chronik vermerkt dazu nichts. Es scheint jedoch niemand mit Albrechts Rückkehr gerechnet zu haben. Auffallend ist allerdings, dass der Sohn des Sattlermeisters Ladislaus, Nikolaus, der Goldschmied wurde, sich nicht nur auf die Wanderschaft begab, sondern gleichfalls nicht zurückkehrte und sich nach einer Zeit in Nürnberg letztlich in Köln niederließ. Weil er aus Ungarn kam, wurde er Nikolaus Unger, Nikolaus der Ungar, genannt. Der Bedarf an Goldschmieden in Gyula scheint in der Tat gedeckt gewesen zu sein.
Die Mobilität in der frühen Neuzeit war in Europa hoch, möglicherweise sogar höher als in der Gegenwart. Albrecht und sein Neffe Nikolaus stellten keinen Einzelfall dar. Handwerksgesellen aus Italien, aus Frankreich, aus Ungarn und Siebenbürgen durchwanderten Deutschland, und wenn sie irgendwo ihr Auskommen fanden, so ließen sie sich dort nieder. Familiennahmen wie Unger, Welsch, Walch, Böhme, Böhmer und Schweitzer beispielsweise deuten noch heute darauf hin.
In der Geschichte verbergen sich zuweilen auch für die Gegenwart lehrreiche Fakten. Die hohe Migration im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit funktionierte nicht zuletzt auch deshalb unproblematisch, weil in Gestalt des Christentums ein einheitlicher Werte- und Verhaltenskanon existierte. Schwieriger wurde es, als es durch die Reformation zu einem europäischen Schisma kam, aber auch dann blieben Grundwerte noch identisch. Die Entstehung mehrerer Konfessionen brachte jedoch Probleme mit sich. Man kann das gut verfolgen an der schwierigen Integration der griechischen Flüchtlinge in Italien, vor allem in Venedig nach dem Fall von Konstantinopel 1453.
Deutsche Gesellen machten sich auf den Weg in die spanischen, in die italienischen Lande, nach Siebenbürgen, nach Nordungarn, das heute eher Südmähren ist, nach Italien, nach Frankreich, in die Niederlande, einige sogar bis nach England. Mal trafen sie dort bereits auf Kolonien von Landsleuten, mal assimilierten sie sich einfach. Hin und wieder ordnete man sie einer Nation zu, doch bedeutete der Begriff kein Ausschlusskriterium oder ein Synonym für den Anderen oder den Fremden, sondern schlicht und ergreifend nur, dass jemand anderswo geboren worden war.
Der Begriff der Nation leitet sich von natus sum her, und gab zunächst einmal an, woher jemand stammte. Insofern geht man fehl, wenn man den Begriff der Nation, wie er in der frühen Neuzeit gebraucht wurde, mit dem im 19. Jahrhundert geprägten modernen Begriff der Nation verwechselt. Der Unterschied ist immens. Es bleibt faszinierend zu sehen, wie die Vorstellung der Nation in der frühen Neuzeit größere Freizügigkeit nicht behinderte, sondern eher beförderte, ja sogar selbst Ausdruck dieser Freizügigkeit war. Oft stößt man hier nicht auf die Zuordnung zur deutschen oder zur italienischen Nation, sondern findet stattdessen die Bezeichnung: Florentiner, Venezianer, Lombarde oder Toskaner, wie man dem Kölner, Nürnberger, Niederdeutschen, Franken oder Schwaben in den Quellen begegnen kann. Im Übrigen erkannte man die Menschen an ihrer Kleidung, welchem Stand sie angehörten und aus welcher Gegend sie stammten. Die Leute kleideten sich entsprechend den Eigenheiten ihrer Landschaft nach ihrem Beruf. Der Landsknecht war als Landsknecht, der Handwerker als Handwerker und der Kaufmann als Kaufmann zu erkennen. Es herrschte im Allgemeinen die Überzeugung vor, dass man an der Stelle in der Weltordnung stand, die Gott, der Schöpfer aller Dinge, für einen vorgesehen hatte.
Die aus heutiger Sicht scheinbar lange Gesellenreise Albrechts des Älteren stellte also keine Besonderheit dar. In Deutschland nannte er sich allerdings nicht Albrecht Unger, sondern blieb beim Namen seines Vaters: Ajtósi, der aus Ajtós, nur dass er den Namen Ajtósi verdeutschte. Ajtó heißt auf Ungarisch Tür, wie Ajtós als Dorfname Tür bedeutet, so dass sich Albrecht nicht mehr Albrecht Ajtósi nannte, sondern Türer, woraus in der oberdeutschen Aussprache Dürer wurde. Dürers Familienwappen, die geöffnete Tür, stützt diese Etymologie sinnbildkräftig. Die Tür steht sperrangelweit offen, und der Türer geht durch sie in die Welt hinaus. Albrecht der Ältere sollte zeitlebens mit »Albrecht Türer« unterschreiben.19
Siebzehn Jahre alt dürfte Albrecht der Ältere gewesen sein, als er sich auf die Wanderschaft begab. War man sich beim Abschied bewusst, dass es ein Abschied für immer sein würde? Das ist sehr wahrscheinlich, denn es stellte keine Besonderheit dar, dass die Gesellen ihre Heimat verließen und so lange mit längeren oder kürzeren Arbeitsaufenthalten unterwegs waren, bis sie an einem Ort eine Möglichkeit gefunden hatten, entweder eine Werkstatt zu gründen oder in eine Werkstatt einzuheiraten, also sie eines Tages vom Schwiegervater zu übernehmen und dadurch sesshaft zu werden. Das spiegelt sich noch in vielen deutschen Volksliedern wieder:
»Raus, raus, raus und raus.
Aus Breslau muß ich ’raus.gefertigte Gemlde
Raus, raus, raus und raus.
Aus Breslau muß ich ’raus.
Ich schlag’ mir Breslau aus dem Sinn
Und reise dann nach Hamburg hin.
Mein Glück muss ich probieren,
Marschieren.«20
So begab sich Albrecht der Ältere etwa um 1443 auf die Wanderschaft, um sein Glück zu probieren. Im Jahr 1444, am 8. März, tauchte in einer Nürnberger Ratsurkunde der Name Albrecht Dürer in der Aufstellung der Armbrust- und Büchsenschützen auf. Zeitlich würde das passen, und dieser Albrecht Dürer könnte in der Tat der wandernde Handwerksbursche sein, der inzwischen Nürnberg erreicht hatte. Das Kontingent, das aus Söhnen der Bürger und aus Gesellen zusammengestellt wurde, sollte in einem Kriegszug gegen die Ritter Fritz und Hans von Wadenfels kämpfen.
Zu den großen Unsicherheiten dieser Zeit gehörte das Fehdewesen. Es trug erheblich zur Gefahr und Unwägbarkeit des Reisens bei, auch für Gesellen, die plötzlich in Auseinandersetzungen gerieten, von deren Existenz sie nicht einmal etwas ahnten.
Die lange Fehde zwischen den Brüdern von Wadenfels, die unter anderem auf den Burgen Wadenfels und Lichtenberg hausten, und den Reichsstädten Nürnberg, Windsheim und Rothenburg, rührte daher, dass sich der Ritter Fritz von Wadenfels in der Bamberger Trinkstube im Gefolge des Bamberger Bischofs von Bürgern aus Windsheim und Rothenburg beleidigt und bedroht gefühlt und daher Fehde geschworen hatte. Die Reichsstadt Nürnberg wurde wegen älterer Streitereien, die sie mit Fritzens Vater Caspar von Wadenfels austrug, in die Fehde hineingezogen. Weder dem Markgrafen Johann von Brandenburg noch dem deutschen König21 Friedrich III. gelang es, die Fehde beizulegen.
Obwohl das Rittertum in der Vorstellung der Zeit noch einen hohen Rang einnahm, der nördlich der Alpen in Sachen Lebensstil, Etikette, Kunst und Luxus tonangebende Hof des Herzogs von Burgund das Rittertum mit Turnieren, Spielen und Festen, bildnerischen und literarischen Werken feiern ließ, die Ritterromane und Epen von Luigi Pulcis Morgante bis Joan Martorells Tirant Lo Blanc eine begeisterte Leserschaft fanden, lieferte die Realität dazu einen herben Kontrast. Es war der Kult der schönen Leiche. Zwischen dem Selbstwertgefühl der Ritter und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung klaffte eine riesige, von Jahr zu Jahr größer werdende Lücke, denn die aufkommenden Landsknechtshaufen und die neue Waffe der Artillerie beraubten sie zunehmend ihrer militärischen Funktion. Damit hing der teils dramatische Rückgang ihrer Einkünfte zusammen. Die Ritter versuchten sich ihrerseits schadlos zu halten, indem sie Fehden vom Zaun brachen, um Dörfer, Städte und Warenzüge zu überfallen und Beute zu machen. Das bedrohte immer stärker den Reichsfrieden, doch gelang es den Kaisern und Königen nicht, dem Einhalt zu gebieten. Erst mit dem Ausbau der Landesherrschaft der Fürsten wurde das inzwischen zur Landplage ausgeartete Raubrittertum vernichtet. Mit dem Tod Herzog Karls des Kühnen von Burgund 1477 und Kaiser Maximilians 1508, des »letzten Ritters des Reiches«, verlor das Rittertum extrem an Rückhalt.
Um die Sicherheit der Warenzüge zu gewährleisten, stellten die Nürnberger ein Heer auf, das am 26. Februar 1444 auszog, um Fritz und Hans von Wadenfels militärisch zu schlagen, ihre Burgen zu schleifen und sie zur Herausgabe des Raubgutes und zum Schwur der Urfehde zu zwingen. Der Schwur der Urfehde bedeutete den beeideten Verzicht auf die Fehde. Der Bruch dieses Schwurs galt als Meineid und wurde demzufolge mit großer Härte verfolgt. Das Heer zusammenzuhalten erwies sich als schwierig, und man musste die Reihen immer wieder auffüllen, weil in der Truppe gemeinhin wenig Begeisterung für den Kriegszug herrschte, und wer konnte, auch desertierte.
Burg Wadenfels wurde von dem Nürnberger Heer, in dem sich, wenn man den Albrecht Dürer der Liste mit dem wandernden Goldschmied aus Ajtós gleichsetzen darf, der Geselle Albrecht befand, geplündert und geschleift. Brandschatzend, teils auch mordbrennend zog das Nürnberger Heer dem Kriegsstil der Zeit entsprechend zur Burg Lichtenstein, auf der sich die Ritter verschanzt hatten. Die Belagerung schlug letztlich fehl und das Heer kehrte unverrichteter Dinge nach Nürnberg zurück. Die Fehde konnte erst im Jahre 1445 beigelegt werden. War diese Auseinandersetzung zwischen Rittern und Städten oder anderen Adeligen ihrer Dimension nach ungewöhnlich, so gehörte das geschilderte Fehdewesen doch beinah zum Alltag im Reich. Niemand ging zimperlich vor. Man trachtete danach, den anderen zu töten, auszurauben und die Besitztümer des Gegners zu schädigen, seine Güter zu plündern, ihn am besten physisch, wenigstens aber seine wirtschaftliche Existenz zu vernichten. Und dazu gehörten auch die Bauern; ob die Opfer leibeigen oder frei waren, wurde nicht gefragt. Die Wut, die 1525 bei den Bauern losbrechen sollte, wurde auch dadurch genährt, dass sie ein Jahrhundert lang von den hohen Herrn wie das Vieh behandelt worden waren, dass man sie, um dem adligen Widersacher zu schaden, bei einer Fehde ohne Gewissensbisse gelegentlich abschlachtete.
Wann, wie, warum Albrecht der Ältere Nürnberg verließ, um seine Wanderung fortzusetzen, liegt im Dunkeln. Wahrscheinlich ist es, dass der gerade in Nürnberg angekommene Geselle zum Kriegsdienst für die Stadt gepresst wurde und während der unerquicklichen Belagerung oder bereits während des Marsches das Heer verließ, um seine Wanderung fortzusetzen. Albrecht der Ältere suchte Unterweisung, um sich zu vervollkommnen, und eine berufliche Perspektive, nicht aber den Tod oder die Verstümmelung im Dienste einer Stadt, die nicht einmal, noch nicht zumindest, seine Heimat war. Als Abkömmling eines Bauernclans fand er sicher kein Vergnügen daran, wie das Heer mit den Bauern und dem Vieh des Gegners umging, wie geraubt, gebrandschatzt und gemordet wurde. Eine kriegerische Natur wie etwa Willibald Pirckheimer war Albrecht der Ältere nicht. Dass man ihn zu den Armbrust- und vor allem Büchsenschützen steckte, hing mit seinem Beruf als Goldschmied zusammen, mit seiner Kenntnis von Metallen und Mechanik – auch das stützt die Gleichsetzung des Albrecht Dürer der Nürnberger Ratsurkunde mit dem wandernden Goldschmiedegesellen aus Ungarn. Um die auffällige Dauer von Albrechts Gesellenreise zu verstehen, muss man bedenken, dass er einem anspruchsvollen Handwerk nachging, das nicht nur sehr angesehen war, sondern auch großer Übung und profunder Kenntnisse bedurfte. Eine ausgedehnte Gesellenreise stellte nicht zuletzt ein erstklassiges Curriculum dar. Da man die berühmten Meister kannte, gehörte es zur Karriere, bei ihnen gearbeitet zu haben. Der noch sehr junge, aus Ungarn stammende Geselle, der über wenig Erfahrung verfügte, würde bei einer Koryphäe wie Hieronymus Holper in Nürnberg nicht unterkommen, eher bei einem mittelmäßigen Handwerker, wenn er nicht eine ansehnliche Liste von Meistern, für die er gearbeitet hatte, vorweisen konnte. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass Albrecht der Ältere 1444 bereits in die Holper’sche Werkstatt eintrat, aber dass Hieronymus Holper ein Meister war, den sich der junge Geselle als möglichen Arbeitgeber gern vorstellte, dürfte zutreffen.
Das nächste Jahrzehnt im Leben Albrechts des Älteren, die Zeit zwischen seinem 18. und seinem 28. Lebensjahr, liegt weitgehend im Dunkeln. Der Sohn notierte später in der Familienchronik, dass Albrecht der Ältere »lang in Niederland gewest bej den großen künstern«.22 Eine allzu karge Auskunft über eine bedeutende Zeit. Für einen Edelhandwerker wie für einen Goldschmied stellte allerdings eine so lange Gesellenreise nichts Ungewöhnliches dar. Da die Konkurrenz groß war, konnte das auch schon mal heißen, ein Jahr abzuwarten und woanders unterzukommen, bevor man eine Gesellenstelle beim gewünschten Meister antrat.
Auf den Sohn, auf Albrecht den Jüngeren, übte die niederländische Malerei einen so großen Einfluss aus, dass gelegentlich vermutet wurde, der junge Dürer habe während seiner Gesellenreise die Niederlande besucht. Das jedoch war nicht erforderlich, denn auf verschiedenen Wegen erhielt er sogar praktische Kenntnis von der Malerei des Nordens.
Die erste, ursprünglichste und wichtigste Quelle stellte sein Vater dar – und genau das verbirgt sich hinter der zwar knappen, dennoch aussagekräftigen Stelle: dass Vater Dürer eine längere Zeit in den Niederlanden bei den großen Künstlern gelebt hatte. Die großen Künstler dieser Zeit waren in der Malerei Jan und Hubert van Eyck, Roger Campin, Petrus Christus, Rogier van der Weyden, Dierick Bouts mit ihren Gesellen und Schülern, den Werkstattmitarbeitern.
Jan van der Weyden, Rogiers Sohn, wurde Goldschmied und das lenkt unseren Blick auf den oft übersehenen Fakt, dass unter den großen Künstlern nicht nur die Maler, sondern auch die Goldschmiede zu verstehen sind, die Maler aber auch, denn es ist der Maler Albrecht Dürer, der diese biographische Notiz über seinen Vater verfasste. Nicht der Sohn, sondern der Vater wanderte als Geselle in den Norden.
In Köln wurde er Zeuge einer Sensation. Dort löste um 1445 die Aufstellung des Dreikönigsaltars in der Ratskapelle St. Maria in Jerusalem Staunen und Bewunderung aus. Bei Albrecht hinterließ Stephan Lochners Gemälde einen so tiefen Eindruck, dass er seinem Sohn davon berichtete. Albrecht der Jüngere jedenfalls zahlte zwei Weißpfennige gut fünfundsiebzig Jahre später während seiner berühmten Reise in die Niederlande, ihm die »taffel auff zusperren, die maister Steffan zu Cöln gemacht hat«23 und drei, damit er sie besichtigen durfte.
Dem Genre entsprechend blickte man bei geschlossenen Flügeln des Altargemäldes auf eine Verkündigungsmadonna und auf einen Verkündigungsengel. Der Engel besitzt eine große Ähnlichkeit mit dem Engel auf dem Mérode-Triptychon des Meisters von Flémalle, der mit dem Maler Robert Campin identifiziert wurde. So eng ist die Verbindung dieses Polyptychons mit dem flämischen Stil, mit der Entfaltung von Pracht, der lustvollen Narration des Bildgeschehens, der Größe des Dargestellten, des raffinierten Wirkungsbewusstseins, mehr noch der Affektsicherheit und Einheit der Struktur des Bildes, dass vermutet wurde, Stephan Lochner habe zuvor in der Werkstatt von Robert Campin gearbeitet.
Vater und Sohn beeindruckten im Abstand von fünfundsiebzig Jahren die drei Tafeln, auf denen bei geöffneten Flügeln links die heilige Ursula zu sehen ist, rechts der heilige Gereon, der in der Komposition einen Einfluss van Eycks erkennen lässt24, in der Mitte schließlich die überraschende Anbetung der Heiligen Drei Könige. Die Bezüge zu Köln sind evident, denn die heilige Ursula erlitt ihr Martyrium hier. Auf der Rückreise von Rom nach England wurde sie vor der Stadt mit den 11 000 Jungfrauen, die sie begleiteten, von den Hunnen getötet. Der Anführer der Hunnen hatte ihr angeboten, sie zu verschonen, wenn sie ihn heiraten würde. Aus Zorn über die Zurückweisung durchbohrte er sie mit einem Pfeil. So weit die Legenda aurea.25 Zum Zeichen ihres Martyriums trägt sie auf dem Bild den Pfeil in der Hand.
Gerade die in Komposition, Dynamik und Zeichnung großartige Mitteltafel mit ihrer mystischen Jungfrau Maria enthält eine bemerkenswerte Besonderheit, die den heute vergessenen, damals aber außerordentlich geschätzten spirituellen Wert des Bildes ausmachte. Der engste Berater Kaiser Friedrichs I. (Barbarossa), der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, brachte von einem Kriegszug aus Mailand drei Leichen mit, die er aus der Kirche, die dem heiligen Eustorgios, dem neunten Bischof von Mailand, geweiht war, entwendet hatte. Als Reliquien besaßen die drei Mumien einen kaum zu übertreffenden Wert, denn man hielt sie für die sterblichen Überreste der Heiligen Drei Könige. Die Translation nach Köln machte die Stadt zu einem beliebten Pilgerziel im Mittelalter und verlieh ihr eine immense politische Bedeutung. Der Maler Stephan Lochner soll nun die Gesichter der damals noch mumifizierten Körper abgezeichnet haben, so dass – und darin bestand weit vor der künstlerischen Qualität die Bedeutung des Gemäldes für die Zeitgenossen – man den Heiligen Drei Königen ins authentische Antlitz schauen konnte. Wenn die Reliquien echt waren, woran niemand zweifelte, blickte man in anbetender Betrachtung des Bildes Kaspar, Balthasar und Melchior in die Augen. So sahen im Abstand von fünfundsiebzig Jahren Vater und Sohn die drei Heiligen an, wobei den Vater, mehr noch aber den Sohn im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossen auch die malerische Technik interessierte: wie es gemacht war.
Von Köln ging es für Albrecht den Älteren weiter Richtung Westen. Wichtige Kunstzentren dieser Zeit, die er auf seiner Gesellenreise besucht haben dürfte, waren Ypern, Gent, Mechelen, Brüssel, Antwerpen und Brügge. Brabant, Flandern, der Hennegau und Holland befanden sich unter der Herrschaft des Herzogs von Burgund, Philipps des Guten, der danach strebte, ein eigenes Königreich zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich zu errichten, um so Kaiser Lothars (795–855) mittleres Königreich zwischen Westfranken und Ostfranken, das sogenannte Lotharii regnum, wiederauferstehen zu lassen. Philipp zur Seite stand als Kanzler und Berater einer der klügsten, der reichsten und skrupellosesten Männer seiner Zeit, Nicolas Rolin, der bereits Philipps Vater, Johann Ohnefurcht, gedient hatte. Der Herzog und sein Kanzler hatten begriffen, dass ihr Plan nur aufgehen konnte, wenn sie sehr aktiv die Kunst, die Wissenschaft und die Wirtschaft fördern würden. In Flandern, in Brabant und im Hennegau stützten sie sich dabei auf ein durch Handel und Gewerbe reich gewordenes Bürgertum, das in die höchsten Kreise der Gesellschaft aufsteigen wollte und das dementsprechend mit dem Adel und dem Herzog im Ausstellen von Pracht und Luxus wetteiferte. In den Niederlanden wie in Süddeutschland, in der Toskana oder in Venedig stößt man zu dieser Zeit auf eine Schicht mächtiger Bürgerfamilien, die eine neue Nobilität bildeten und dem Hochadel in politischem Bewusstsein, Machthunger und einem Mäzenatentum, das auf dem Wunsch der Verewigung der eigenen Familie, der Memorialstiftung oder dem »Gedechtnus« beruhte, in nichts nachstanden. Nicolas Rolin wurde von den besten Malern dieser Zeit in bewunderungswürdigen Bildern, die Maßstäbe in der Kunst des Porträts setzten, verewigt, von Jan van Eyck und Rogier van der Weyden. Diese Werke, einmal das 1443 von Rogier van der Weyden gefertigte Gemälde Gründer des Hôtel-Dieu in Beaune, heute im Louvre zu besichtigen, und die weitaus berühmtere, 1435 für die Kirche Notre-Dame-du-Châtel in Autun gemalte Von Kanzler Nicolas Rolin angebetete Madonna, ebenfalls heute im Louvre, könnte er betrachtet haben. Selbst wenn Albrecht der Ältere diese beiden Gemälde nicht gekannt haben sollte, hatte er jedenfalls einiges in der Art gesehen, denn die großen Werkstätten der Meister waren sehr produktiv. Vieles, was im Auftrag des Bürgertums entstand, ist aus den unterschiedlichsten Gründen nicht auf uns gekommen. Der Wechsel der Zeiten oder auch nur unsachgemäße Behandlung haben ihre vernichtende Wirkung getan. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Nur der geringste Teil der Werke der großen Maler und ihrer Werkstätten hat überdauert. Schlimmer noch erging es den Goldschmiedearbeiten, denn das meiste wurde irgendwann, gerade wenn es sich im bürgerlichen Besitz befand, wieder eingeschmolzen und umgearbeitet.
Ein Sujet erfreute sich in den Jahren, in denen Albrecht der Ältere sich auf der Wanderschaft in den Niederlanden befand, großer Beliebtheit: das gezeichnete Porträt. Dass der fleißige Albrecht seine Zeit zum »Abmachen« nutzte, zum Kopieren also, lag auf der Hand. Nicht allein für Maler, sondern für jeden Goldschmied, der außer Ketten und Ringe anzufertigen auch skulptural arbeiten oder Reliefe gestalten wollte, war ein Fundus an Motiven und Figuren, die er nutzen und neu arrangieren konnte, geradezu Gold wert. Vorlagenbücher gehörten zu den Werkzeugen einer Maler-, aber auch Goldschmiedewerkstatt und vor allem machten sie einen Teil des Wertes der Werkstatt aus.
Von seiner Gesellenreise brachte Albrecht der Ältere zudem noch eine Vorliebe für die Arbeit mit dem Silberstift mit, der in der niederländischen Malerei weit verbreitet war. In Oberdeutschland favorisierte man hingegen noch Feder und Pinsel. Das sollte sich erst Ende des 15. Jahrhunderts ändern.26
Als Goldschmiedegeselle arbeitete Albrecht der Ältere für das Repräsentationsbedürfnis der guten Gesellschaft und wurde Zeuge der großen Umzüge, der Ritterspiele und Turniere, der »lebenden Bilder«, der Aufzüge, die man sich mit gespielten Szenen, die sich abwechselten, weit lebendiger und imposanter als heutige Karnevalsumzüge vorstellen muss – der rauschenden Feste, die zudem sakral orchestriert waren mit gelegentlichen paganen Kadenzen. Zu den Aufgaben der Maler und Bildhauer, auch eines Jan van Eyck und eines Rogier van der Weyden oder Claus Sluter, gehörte die Ausstattung der Festumzüge und Prozessionen. Festumzüge wurden im Gegensatz zu den Prozessionen veranstaltet, wenn ein Kaiser, ein König, ein regierender Fürst, ein Kardinallegat aus Rom »in die Stadt eingeholt wurde«. Bilder, Wimpel und Tücher, Skulpturen und Kulissen wurden für den Tag hergestellt und überdauerten ihn selten.
Albrecht der Ältere lernte bei den großen Goldschmiedekünstlern in den Niederlanden die Herstellung von Tafelaufsätzen, Trinkgeschirren, Pokalen, Bestecken für die erlesenen Gastmahle, die aber auch Kaiser und Könige und Fürsten geschenkt bekamen, und die Anfertigung von kunstvollen Ringen, Ketten und Verschlüssen, wie man sie auf den Gemälden der Zeit bewundern kann. Nicht zu vergessen die Tischbrunnen, die sich großer Beliebtheit erfreuten, und allerlei verblüffende Mechaniken für Darstellungen verschiedener Art. Albrecht der Jüngere wurde auf seiner niederländischen Reise 1520 noch Zeuge des großen Umzuges zu Ehren Kaiser Karls V. in Antwerpen, eines Umzuges, wie ihn Albrecht der Ältere des Öfteren auf seiner Gesellenreise und wohl noch prächtiger erlebt haben dürfte, denn er hielt sich zur Zeit der größten Prachtentfaltung Burgunds in den Niederlanden auf. Das Tagebuch Albrechts des Jüngeren gewährt einen Eindruck vom großen Spektakel dieser Prozessionen: »Ich sah am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt (19. August) den großen Umgang von Unser Frauen Kirche zu Antwerpen, wo die ganze Stadt versammelt war von allen Handwerkern und Ständen, ein jeder nach seinem Stande auf das Kostbarste gekleidet.«27 Interessant ist die Reihenfolge der Handwerker: »die Goldschmiede, die Maler, Steinmetzen, Seidensticker, Bildhauer, Schreiner, Zimmerleute etc.«28 Nicht überraschend die Goldschmiede an erster Stelle, dann erst die Maler. Dazwischen immer wieder die Theaterszenen und lebenden Bilder: »In diesem Umgange waren gar viele herzerfreuende Dinge angebracht und gar köstlich hergerichtet. Denn da führte man viele Wägen mit Schauspielen auf Schiffen und anderem Bollwerk. Darunter war der Propheten Schar und Ordnung, danach das Neue Testament, als: Der englische Gruß [Mariä Verkündigung – der Verf.], die Heiligen Drei Könige auf großen Kamelen und auf anderen seltsamen Wundertieren [...].«29 Prüde jedenfalls war man damals nicht, denn dort, wo es die dargestellte Geschichte verlangte, traten die Darsteller auch nackt auf: nackte Göttinnen, Nymphen und Sirenen. Jean de Roye (1425–1495) schwärmte in seinem Journal, das auch unter dem Namen Chronique Scandaleuse bekannt ist, von dem Einzug Ludwigs XI. in Paris 1461: »Und dann gab es noch drei schöne Mädchen, die vollkommen nackte Sirenen darstellten, und man sah ihre schönen Brüste, gerade, frei, rund und hart, was sehr hübsch war; sie sangen kleine Motetten und Schäferlieder [...].«30 Die Sirenen gaben ein außerordentlich beliebtes Motiv ab – man kann sich vorstellen warum, denn beim Einzug Philipps des Guten in Gent 1457 beispielsweise schwammen Mädchen »nackt und mit offenen Haaren wie gemalt«31 als Sirenen in der Leie. Beliebt waren auch lebende Tableaus wie »Das Urteil des Paris«, wobei die drei Göttinnen in ihrer ganzen Schönheit, also nackt, von Paris zu begutachten waren. Dieses lebende Bild durfte bei ihrem Einzug in Brüssel 1496 die junge Tochter der Katholischen Könige Isabel von Kastilien und Ferdinand von Aragon, Johanna, bewundern, die der Nachwelt durch ihr fürderhin bemitleidenswertes Schicksal unter dem Beinamen »die Wahnsinnige« in Erinnerung bleiben sollte. Anlässlich dieses spektakulären Empfangs erfreute man die Prinzessin aber auch mit schauerlichen Bildern wie Siseras Ermordung durch Jaël mittels eines Zeltpflockes, den sie dem Schlafenden durch die Schläfe trieb, oder die Tötung Abimelechs, dem eine Frau während der Belagerung der Burg von Tebez einen Mühlstein auf den Kopf warf. Weitere Belege ließen sich hinzufügen.
Im Übrigen dokumentiert das Tagebuch Albrecht des Jüngeren den häufigen, fast täglichen Umgang des Malers mit den Goldschmieden vor Ort, ganz gleich, in welche niederländische Stadt er auch kam. Das ist beachtlich und legt Erinnerungen an die Berichte des Vaters nahe. Es wurde vermutet, dass Albrecht der Ältere als Goldschmied in die Dienste Philipps des Guten getreten war. Viel Zeit hatte er jedenfalls in Flandern verbracht und dabei Werke von Jan und Hubert van Eyck, von Petrus Christus, der in einem eindrucksvollen Bild den Patron der Goldschmiede, Sankt Eligius malte, von Dierick Bouts und den gerade entstandenen Sakramentsaltar von Rogier van der Weyden angeschaut. Möglicherweise hatte er Rogier van der Weyden oder Dierick Bouts auch persönlich kennengelernt, vorrangig sah er sich aber im Umfeld der Goldschmiede um und lernte eifrig von ihrer Kunst.
Für den heutigen Menschen unvorstellbar ist die Gleichzeitigkeit, sind die harten Kontraste. Dieselben Menschen, die an einem Tag dem Luxus und dem Spektakel frönten, unterwarfen sich tags darauf harter Askese, um bald schon wieder das Wohlleben zu genießen. Mit einer großen religiösen Erneuerungsbewegung, die achtzig Jahre zuvor in Deventer ihren Anfang genommen hatte, gerade ihre Blüte erlebte und bis tief nach Deutschland hineinstrahlte, die Hildesheim und Magdeburg, Erfurt und Eisenach, Nürnberg und Speyer, Tübingen und Heidelberg erreichte, kam er in den Niederlanden in Berührung, und zwar mit der devotio moderna. Ein echter Bestseller wurde das vielleicht wichtigste Werk der devotio moderna, das Erbauungsbuch De imitatione Christi des Augustiner-Chorherren Thomas a Kempis32, der seine Kindheit bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben zugebracht hatte. Das Ziel des Buches bestand darin, dem Gläubigen einen persönlichen, individuellen Heilsweg zu eröffnen, indem das Leben Christi als Symbol dieses Heilsweges verstanden und empfohlen wurde, Christus nachzufeiern, seinem Vorbild zu folgen und demgemäß den Weg – und hierin steht das Buch in der Tradition der Mystik33 – in sich zu entdecken: »Halte dich fest an Jesus im Leben und im Sterben, und überlass dich ganz der treuen Liebe dessen, der da allein noch helfen kann, wo alle andere Hilfe versagt [...]. Wenn du Jesus überall suchst, dann wirst du ihn auch überall finden. Wenn du aber dich selbst suchst, dann wirst du dich selbst auch überall finden, aber zu deinem eigenen Nachteil. Denn der Mensch, der Jesus nicht sucht, schadet sich selbst ungleich mehr, als alle Welt und alle seine Feinde ihm schaden können.«34 Wenn Thomas a Kempis empfiehlt, Jesus nachzueifern, so heißt das unmissverständlich, ihm auf dem Kreuzweg nachzufolgen: »Warum säumst du, dein Kreuz auf deine Schultern zu nehmen, da doch der Weg vom Kreuz zum Thron der kürzeste und sicherste ist? Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Schutz vor den Feinden, im Kreuz ist Stärke des Gemüts, im Kreuz ist Geistesfreude, im Kreuz ist höchste Tugend, im Kreuz ist vollendete Heiligung zu finden. Es ist kein Heil der Seele, keine Hoffnung des ewigen Lebens außer im Kreuz. Nimm also dein Kreuz auf dich und folge Jesus nach, und du bist auf dem geradesten Weg zum ewigen Leben.«35 Ohne diese Schrift ist Albrechts des Jüngeren Gemälde Christus als Schmerzensmann kaum denkbar. Albrecht der Ältere, der viele Jahre im Zentrum dieser religiösen Erneuerungsbewegung zugebracht hatte, kann unmöglich diesem Gedanken nicht begegnet sein. Er wird sein religiöses Empfinden nachhaltig beeinflusst haben, ein Empfinden, das er seinen Kindern, natürlich auch Albrecht, vermittelt hat. Gerade in dem spannungsvollen Nebeneinander von ausufernder Pracht und immensem Luxus auf der einen Seite und einer hochasketischen Frömmigkeit auf der anderen wird die Instabilität dieser Zeit deutlich. Die uns heute fast schizophren anmutende Spannung bestand nicht nur in der Gesellschaft, sondern zuallererst in den Menschen selbst. Herzog Philipp der Gute frönte dem Luxus, zugleich empfand er tief religiös. Die größten Verschwender dieser Zeit zogen sich auch immer wieder zu Gebet und Askese zurück – und genossen letztere. Hohe Damen trugen unter Seide und Brokat rauen, härenen Stoff. Prachtentfaltung und Ausstellung von Luxus gehörten zu unverzichtbaren Mitteln der Herrschaftslegitimation und dienten der Untermauerung des Machtanspruchs, der Propaganda. Wollte Philipp der Gute ein neues Königreich schaffen, musste er den französischen König und den Kaiser an Reichtum und höfischem Glanz in den Schatten stellen. Auch zum Verständnis der bildenden Kunst dieser Zeit ist es notwendig, sich der hohen Zeichenhaftigkeit dieser Epoche bewusst zu sein. Die Menschen glaubten an die Zeichen, die für sie Signaturen göttlichen Willens waren, mithin bestand Herrschaftsausübung auch und nicht zuletzt in der wohlerwogenen Geste, im treffsicher gesetzten Zeichen. Und ein solches konnte nur setzen, wer über die notwendigen Mittel verfügte, wobei wir wieder beim burgundischen Hof angelangt wären.
Der Luxus wurde als Ausflucht aus dem Pessimismus jener Epoche gedeutet. Eher kann man wohl darin, lässt man den skizzierten Herrschaftsaspekt einen Moment beiseite, die fast berstende Spannung eines untergründig vorgehenden immensen Paradigmenwechsels erblicken. Die Welt lag in Wehen.
Diese Spannung brachte eine große Gleichzeitigkeit hervor. Die Synchronität versetzte die Gesellschaft in immer riskantere Vibration. Albrecht dem Älteren war wie auch später seinem Sohn und fast allen Zeitgenossen nichts gewisser, als dass ihr zeitlich befristetes Leben auf Erden nur die Vorstufe eines ewigen darstellte und ein jeder nach individuell verschieden langer Zeit im Purgatorium, im Fegefeuer, entweder in den Himmel oder gleich in die Hölle kam, ihm Erlösung oder Verdammnis zuteil wurden. In gewaltigen Wortbildern hatte Dante Alighieri die Qualen der Hölle dargestellt – und Scharen von Wander- und Bußpredigern zogen durch die Städte und Dörfer wie finstere Propheten. Sie überboten sich in der Farbigkeit der Schilderung der Höllenstrafen. Und sie gaben alles im Vortrag: Sie ermahnten, sie schimpften, sie schrien, sie weinten – aus Mitleid mit den Verirrten. Auf Marktplätzen und Volksfesten malten sie mit allem, was Rhetorik und Wortschatz hergaben, die ewige Höllenmarter für den Sünder aus. Und da sie sich von Almosen nährten, bildete ihre Geschäftsgrundlage die Wirkung, die sie erzielten. Das heißt, je besser es den Predigern gelang, ihren Zuhörern Angst einzujagen, was ihnen beim stets bilderempfänglichen Albrecht dem Jüngeren nicht schwergefallen sein dürfte, und ihre Herzen mit brennender Furcht anzufüllen, desto mehr verdienten sie. Für ihn wie für seine Zeitgenossen stellten neben den öffentlichen Hinrichtungen, den »peinlichen Gerichtstagen«, die bildgesättigten Strafpredigten die frühen und steten Erfahrungen ihrer Existenz dar. Mit den realen und sprachlichen Bildern schrecklicher und grausamer Strafen lebten die Menschen, wurden ihre Phantasien bevölkert. Was die Wirkung der Predigten immens verstärkte, war die Tatsache, dass die Volksfeste, zu denen der Bußprediger als Attraktion dazugehörte, als Verlängerung kirchlicher Feiertage stattfanden, verkürzt gesagt ging es von der Kirche auf den Jahrmarkt. Da jeder Mensch, wie Albrecht der Jüngere wusste, sündhaft war, standen die Tore zur Hölle sperrangelweit offen und eng war die Pforte des Paradieses. Die Wegweiser in den Himmel hießen Buße und Reue, die conversio, die Abkehr vom schlechten Tun und Umkehr zu Jesus Christus, denn dieser hatte ja bereits, wie bei Johannes zu lesen war, verkündet: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« (Joh 14,6)
So wurde Christus für die einen zum Schrecken und für die anderen, besonders später, zur großen Hoffnung dieser Zeit. Zum einen galt Christus als unerreichbar über den Menschen thronender Weltenrichter, der unbestechlich und streng über das ewige Leben eines jeden Menschen das Urteil sprach, zum anderen kam er aber den Menschen entgegen. Eine der Hauptideen der devotio moderna findet sich in dem Vorsatz, Christus im Alltag zu begegnen, nicht Mönch zu werden, sondern durch die eigene rechtschaffene Arbeit Christus zu dienen, dadurch die eigene Tätigkeit zu heiligen und so den Weg zum ewigen Leben zu finden – für einen Handwerker ein alltagstauglicher und geradezu idealer Weg zum Heil. Von dem Drang zum Luxus, dem Albrecht der Ältere in den Niederlanden allerorten begegnete, blieb er unberührt, imprägniert auch durch die devotio moderna – und dabei gehörte er zu jenen, die mit ihrer Hände Arbeit die ganze Pracht erst schufen.
Besser als mit einem großen Fest konnte die stolze Reichsstadt Albrecht den Älteren nicht empfangen, als er am 25. Juni 1455 durch eines der Nürnberger Stadttore trat. Natürlich veranstaltete niemand eine Feier zu Ehren eines wandernden Gesellen. Volksfestcharakter trug die an jenem Tage begangene rauschende Hochzeit des späteren Spitalmeisters Philipp Pirckheimer (gest. 1480) aus dem einflussreichen und sehr vermögenden Pirckcheimer-Clan mit Magdalena Haller. Ganz Nürnberg war auf den Beinen. Und mittendrin Albrecht, der Ankömmling. Folgt man der Schilderung der Familienchronik, wie sie Albrecht der Jüngere nachtrug, sieht man geradezu den Goldschmiedegesellen vor sich, der sein Päckchen in Verwahrung gab und sich in den munteren Reigen, der unter blauem Himmel um die Schlosslinde getanzt wurde, einreihte.
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