(On Disobedience and Other Essays)
Erich Fromm
(1981a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung als Sammelband 1981 unter dem Titel On Disobedience and Other Essays bei The Seabury Press in New York. Eine deutsche Erstpublikation erfolgte 1982 unter dem Titel Über den Ungehorsam und andere Essays bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. 1985 erschien der Sammelband als Taschenbuch beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1981 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Was es heißt, menschlicher Natur und dem Ziel einer humanen Gesellschaft gegenüber gehorsam, allen Arten von Idolen und politischen Ideologien gegenüber jedoch ungehorsam zu sein, das hat Erich Fromm in diesen Essays auf den Begriff gebracht.[1] Seine Überlegungen sind nicht überholt. Denn der Ungehorsam gegenüber allen Arten von Konformismus und ein kritischer Standpunkt, was den common non-sense anbelangt, sollten immer noch unser wichtigstes Ziel sein.
Seine psychologische Einsicht in gesellschaftliche und politische Phänomene veranlasste Erich Fromm, für einige Zeit die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten zu unterstützen, sich in der Friedensbewegung und für die Abrüstung zu engagieren. Damit praktizierte er seinen eigenen Ungehorsam allen Formen des sogenannten „gesunden Menschenverstandes“ und des offiziellen politischen Denkens gegenüber. Er gehorchte dem wirklichen rationalen Denken, wie es uns von den Propheten überliefert und von Menschen wie Albert Schweitzer und Bertrand Russell vorgelebt wurde.
Alle Essays in diesem Band waren schon vorher in Büchern und Zeitschriften verstreut veröffentlicht. Hier sind sie zum ersten Male zusammengefasst. Sie zeigen, wie tief und wie leidenschaftlich sich Erich Fromm mit dem Frieden und dem Überleben der Menschheit beschäftigt hat.
Ich möchte allen danken, die bei der Veröffentlichung dieses Buches geholfen haben.
Locarno (Schweiz) 1981
Annis Fromm
Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer.
1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch „Die Kunst des Liebens“ schrieb, sondern auch das Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung.
Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch „Haben oder Sein“. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.
Rainer Funk (geb. 1943) promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und war von 1974 an Fromms letzter Assistent. Fromm vererbte dem praktizierenden Psychoanalytiker Funk seine Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Nachlass. Diese sind jetzt im Erich Fromm Institut Tübingen untergebracht, siehe www.erich-fromm.de.
Darüber hinaus bestimmte er Funk testamentarisch zu seinem Rechteverwalter. 1980/1981 gab Funk eine zehnbändige, 1999 eine zwölfbändige „Erich Fromm Gesamtausgabe“ heraus. Die Texte dieser Gesamtausgabe liegen auch der von Funk mit editorischen Hinweisen versehenen „Edition Erich Fromm“ als E-Book zugrunde.
E-Book-Ausgabe 2015
Edition Erich Fromm erschienen bei Open Publishing Rights GmbH, München
© 1981 Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2015 The Estate of Erich Fromm
für die Edition Erich Fromm © 2015 Rainer Funk
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Sarah Borchert, München
ISBN 978-3-95912-086-9
(The Application of Humanist Psychoanalysis to Marx’s Theory)
(1965c)[4]
Marxismus ist Humanismus.[5] Sein Ziel ist die volle Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen: nicht des von seinen Ideen oder von seinem Bewusstsein her bestimmten Menschen, sondern des Menschen mit all seinen körperlichen und seelischen Eigenschaften, des wirklichen Menschen, der nicht in einem Vakuum, sondern im gesellschaftlichen Kontext lebt, des Menschen, der produzieren muss, um leben zu können. Eben die Tatsache, dass es Marx um den ganzen Menschen, und nicht nur um sein Bewusstsein geht, unterscheidet den Marxschen „Materialismus“ von Hegels „Idealismus“ ebenso wie von der ökonomisch-mechanistischen Reduktion des Marxismus. Die große Leistung von Marx bestand darin, dass er die ökonomischen und philosophischen Kategorien, die sich auf den Menschen beziehen, von ihren abstrakten und entfremdeten Ausdrucksformen befreit und so Philosophie und Ökonomie ad hominem bezogen hat. Marx ging es um den Menschen, und sein Ziel war die Befreiung des Menschen von der Vorherrschaft der materiellen Interessen, aus dem Gefängnis, das seine Form der Lebenspraxis um ihn herum errichtet hatte. Wenn man dieses Anliegen von Marx nicht versteht, wird man weder seine Theorie noch deren Verfälschung durch viele begreifen, die sie zu praktizieren behaupten. Auch wenn der Titel des Hauptwerks von Marx Das Kapital lautet, so ist dieses Werk doch nur ein Teil einer umfassenden Theorie, und es sollte dem Kapital eine Geschichte der Philosophie folgen. Marx diente die Analyse des Kapitals dazu, den verkrüppelten Zustand des Menschen in der Industriegesellschaft kritisch zu durchleuchten. Es war nur ein Schritt in dem großen Werk, dessen Titel – wenn er es hätte schreiben können – vielleicht „Mensch und Gesellschaft“ gelautet hätte.
Das Werk von Karl Marx – das des „jungen Marx“ genau wie das des Verfassers von Das Kapital – enthält zahlreiche psychologische Begriffe. Es enthält Begriffe wie „das Wesen des Menschen“ und „der verkrüppelte Mensch“, „Entfremdung“, „Bewusstsein“, „leidenschaftliche Strebungen“ und „Unabhängigkeit“, um nur einige der wichtigsten aufzuzählen. Aber im Gegensatz zu Aristoteles und Spinoza, die ihre Ethik auf eine systematische Psychologie gründeten, enthält das Werk von Marx keine psychologische Theorie. Neben fragmentarischen Bemerkungen zum Beispiel über den Unterschied zwischen „fixen“ Trieben (wie Hunger und Sexualität) und [V-400] solchen, die von der Gesellschaft erzeugt werden, ist in seinen Schriften kaum eine relevante Psychologie zu finden – wie im übrigen auch nicht bei seinen Nachfolgern. Der Grund hierfür ist nicht in einem Mangel an Interesse oder Begabung für die Analyse psychologischer Phänomene zu suchen. (Jene Bände, die den vollständigen Briefwechsel zwischen Marx und Engels enthalten, zeigen sein Talent für eine scharfsinnige Analyse unbewusster Motivationen, die einem jeden begabten Psychoanalytiker Ehre machen würden.) Es liegt vielmehr daran, dass es zu Lebzeiten von Marx noch keine dynamische Psychologie gab, die er auf die Probleme des Menschen hätte anwenden können. Marx ist 1883 gestorben. Freud begann mit der Veröffentlichung seiner Werke erst zehn Jahre nach Marx’ Tod.
Die Psychologie, die Marx zur Ergänzung seiner Analyse gebraucht hätte, hat Freud geschaffen, auch wenn dessen Psychologie noch vieler Revisionen bedurfte. Psychoanalyse ist vor allem eine dynamische Psychologie. Sie befasst sich mit psychischen Kräften, die das Verhalten, das Tun, die Gefühle und Ideen der Menschen motivieren. Diese Kräfte kann man nicht immer als solche erkennen, man muss aus beobachtbaren Phänomenen auf sie schließen und sie in ihren Widersprüchen und Umbildungen analysieren. Um für das marxistische Denken brauchbar zu sein, muss eine Psychologie auch die Evolution dieser psychischen Kräfte als ständigen Interaktionsprozess zwischen den Bedürfnissen des Menschen und der gesellschaftlichen und historischen Realität, an der er teilhat, sehen. Es muss eine Psychologie sein, die bereits vom Ansatz her Sozialpsychologie ist. Schließlich muss es sich noch um eine kritische Psychologie handeln, die besonders dem Bewusstsein des Menschen kritisch gegenübersteht.
Freuds Psychoanalyse erfüllt diese Hauptbedingungen, obgleich weder der größte Teil der Freudianer noch die meisten Marxisten ihre Relevanz für das marxistische Denken erfasst haben. Die Gründe dafür, dass keine Verbindung zustande kam, sind auf beiden Seiten zu suchen. Die Marxisten blieben bei ihrer Tradition, die Psychologie zu ignorieren. Freud und seine Schüler entwickelten ihre Ideen im Rahmen des mechanistischen Materialismus, der sich für die Entwicklung der großen Entdeckungen Freuds als hinderlich und als unvereinbar mit dem „historischen Materialismus“ erwies.
In der Zwischenzeit ist es zu neuen Entwicklungen gekommen. Die wichtigste ist die Erneuerung des marxistischen Humanismus, wovon der vorliegende Band Zeugnis ablegt. Viele marxistische Sozialisten, besonders in den kleineren sozialistischen Ländern, aber auch im Westen, sind sich heute der Tatsache bewusst, dass die marxistische Theorie eine psychologische Theorie des Menschen braucht; außerdem haben sie bemerkt, dass der Sozialismus das Bedürfnis des Menschen nach einem Orientierungssystem und nach einem Objekt seiner Hingabe befriedigen muss; dass er sich mit den Fragen beschäftigen muss, wer der Mensch ist und welchen Sinn und welches Ziel sein Leben hat. Er muss eine Grundlage für ethische Normen und die geistige Entwicklung bieten, die über die leeren Phrasen hinausgehen, welche feststellen, dass „gut ist, was der Revolution dient“ (oder dem Arbeiterstaat, der historischen Entwicklung usw.).
Andererseits hat die Kritik, die sich im psychoanalytischen Lager gegen den [V-401] mechanistischen Materialismus erhob, welcher Freuds Denken zugrunde liegt, zu einer kritischen Neubewertung der Psychoanalyse, besonders hinsichtlich der Libidotheorie, geführt. Durch die Weiterentwicklung sowohl des marxistischen wie auch des psychoanalytischen Denkens scheint für die humanistischen Marxisten der Zeitpunkt für die Erkenntnis gekommen, dass die Anwendung einer dynamischen, kritischen, gesellschaftlich orientierten Psychologie für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie und der sozialistischen Praxis von ausschlaggebender Bedeutung ist, und dass eine Theorie, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, nicht länger eine Theorie ohne Psychologie bleiben kann, wenn sie nicht den Kontakt mit der menschlichen Realität verlieren will.
Im Folgenden möchte ich auf einige der Hauptprobleme hinweisen, mit denen sich die humanistische Psychoanalyse bereits befasst hat oder noch befassen sollte. Da es leider nur wenige Autoren gibt, die ebenso versucht haben, die revidierte Psychoanalyse auf das Problem des Marxismus und des Sozialismus anzuwenden, muss ich mich vor allem auf meine eigenen Schriften beziehen.[6] Besonders Jenseits der Illusionen – Die Bedeutung von Marx und Freud (1962a) befasst sich mit der Beziehung zwischen den Theorien von Marx und Freud. – Unter den anderen Autoren, die in ihren Schriften von einem psychoanalytisch-marxistischen Standpunkt ausgehen, ist Wilhelm Reich der bedeutendste, auch wenn seine Theorien und meine eigenen wenig Gemeinsames haben. Sartres Versuche, eine marxistisch orientierte humanistische Analyse zu entwickeln, leiden darunter, dass er zu wenig klinische Erfahrung besitzt und deshalb trotz seiner glänzenden Formulierungen mit der Psychologie nur sehr oberflächlich umgeht.
Das erste Problem, das hier erörtert werden soll, ist das des Gesellschafts-Charakters, also jener gemeinsamen Charakter-Matrix einer Gruppe (etwa einer Nation oder einer Klasse), die konkret das Tun und Denken ihrer Mitglieder beeinflusst. Dieser Begriff ist eine Weiterentwicklung des Freudschen Charakterbegriffs und ebenso wie dieser dynamisch zu verstehen. Freud sah im Charakter die relativ stabile Manifestation verschiedener Arten libidinöser Strebungen, das heißt auf verschiedene Ziele ausgerichteter und aus verschiedenen Quellen stammender psychischer Energie. In seinen Begriffen des oralen, analen und genitalen Charakters lieferte Freud ein neues Modell des menschlichen Charakters, welches das Verhalten des Menschen als Ergebnis bestimmter leidenschaftlicher Strebungen erklärt. Freud nahm an, dass Richtung und Intensität dieser Strebungen aus frühen Kindheitserfahrungen entsprechend den „erogenen Zonen“ (Mund, Anus und Genitalien) stammen und dass – von konstitutionellen Elementen abgesehen – für die Entwicklung der Libido hauptsächlich das Verhalten der Eltern verantwortlich sei.
Der Begriff des Gesellschafts-Charakters bezieht sich auf die Matrix der einer Gruppe gemeinsamen Charakterstruktur. Dabei wird angenommen, dass der grundlegende Faktor bei der Bildung des „Gesellschafts-Charakters“ die Lebenspraxis ist, wie sie durch die Produktionsweise und die sich daraus ergebende gesellschaftliche Schichtung zustande kommt. Der Gesellschafts-Charakter ist jene besondere Struktur der [V-402] psychischen Energie, die durch die jeweilige Gesellschaft so geformt wird, dass sie deren reibungslosem Funktionieren dient. Der Durchschnittsmensch muss das tun wollen, was er tun muss, um so zu funktionieren, dass die Gesellschaft sich seiner Energien für ihre Zwecke bedienen kann. Die menschliche Energie erscheint im Gesellschaftsprozess nur teilweise als einfache physische Energie (zum Beispiel beim Pflügen eines Feldes oder beim Straßenbau); teilweise tritt sie auch in spezifischen Formen psychischer Energie in Erscheinung. Ein Angehöriger eines primitiven Volkes, das davon lebt, andere Stämme anzugreifen und zu berauben, muss den Charakter eines Kriegers mit einer Leidenschaft für den Krieg, das Töten und Rauben besitzen. Angehörige eines friedlichen, ackerbautreibenden Stammes müssen eine Neigung zur Zusammenarbeit und nicht zur Gewalttätigkeit haben. Eine Feudalgesellschaft gedeiht nur, wenn ihre Mitglieder danach streben, sich der Autorität zu unterwerfen und die über ihnen Stehenden zu ehren und zu bewundern. Der Kapitalismus funktioniert nur in einer Gesellschaft von arbeitsamen, disziplinierten, pünktlichen Menschen, die vor allem am finanziellen Gewinn interessiert sind und deren Hauptziel im Leben der Profit aus Produktion und Warenaustausch ist. Im Neunzehnten Jahrhundert brauchte der Kapitalismus Menschen, die sparsam waren, um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts braucht er Menschen, die ein leidenschaftliches Interesse am Geldausgeben und am Konsum haben. Der Gesellschafts-Charakter ist die Form, in welche die menschliche Energie gebracht wird, um sie als Produktivkraft im Gesellschaftsprozess benutzen zu können. Der Gesellschafts-Charakter wird mit allen einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mitteln verstärkt: durch ihr Bildungssystem, ihre Religion, Literatur, Lieder, Witze, Sitten und vor allem durch die Erziehungsmethoden der Eltern. Letztere sind deshalb so wichtig, weil die Charakterstruktur jedes Menschen in beträchtlichem Ausmaß in seinen ersten fünf oder sechs Lebensjahren geformt wird. Aber der Einfluss der Eltern ist im wesentlichen nicht individueller oder zufälliger Art, wie die klassischen Psychoanalytiker meinen. Die Eltern sind sowohl aufgrund ihres eigenen Charakters wie auch aufgrund ihrer Erziehungsmethoden primär die Agentur der Gesellschaft. Sie unterscheiden sich nur in geringem Ausmaß voneinander, und diese Unterschiede verringern im allgemeinen ihren Einfluss auf die Bildung der gesellschaftlich wünschenswerten Matrix des Gesellschafts-Charakters.
Um einen Begriff des Gesellschafts-Charakters formulieren zu können, der durch die Lebenspraxis in jeder beliebigen Gesellschaft geformt wird, war eine Revision von Freuds Libidotheorie, welche die Grundlage seines Charakterkonzepts darstellt, nötig. Die Libidotheorie wurzelt in der mechanistischen Vorstellung vom Menschen als einer Maschine, deren Energiequelle (neben dem Selbsterhaltungstrieb) die Libido ist. Diese wird vom „Lustprinzip“ gesteuert, welches die verstärkte libidinöse Spannung auf ihr normales Niveau reduziert. Im Gegensatz zu dieser Auffassung habe ich (in Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 29-36) zu zeigen versucht[7], dass der Mensch primär als soziales Wesen zu verstehen ist und dass die verschiedenen Strebungen des Menschen sich als Resultat seiner Bedürfnisse nach Assimilierung (von Dingen) und Sozialisation (mit anderen Menschen) entwickeln, wobei die Formen der Assimilierung und Sozialisation, also seine Hauptleidenschaften, von der Struktur der Gesellschaft, in der er lebt, abhängen. Nach meiner Auffassung ist der Mensch durch leidenschaftliche [V-403] Strebungen gegenüber Objekten – Menschen und Natur – gekennzeichnet sowie durch sein Bedürfnis, selbst mit der Welt in Beziehung zu stehen.
Mit dem Begriff des Gesellschafts-Charakters lassen sich wichtige Fragen beantworten, mit denen sich marxistische Theorie nicht hinreichend befasst hat.
(1) Woher kommt es, dass es einer Gesellschaft gelingt, die Gefolgschaft der meisten ihrer Mitarbeiter zu gewinnen, auch wenn diese unter dem System leiden, ja selbst dann, wenn ihnen ihr Verstand sagt, dass sie sich mit ihrer Loyalität schaden? Warum dominiert nicht ihr reales Interesse als menschliches Wesen über ihre fiktiven Interessen, welche mit allen möglichen ideologischen Beeinflussungen und mit Hilfe von Gehirnwäsche produziert werden? Weshalb ist das Bewusstsein ihrer Klassensituation und der Vorteile des Sozialismus nicht so wirksam, wie Marx es erwartete? Die Antwort gibt das Phänomen des Gesellschafts-Charakters. Wenn es einer Gesellschaft erst einmal gelungen ist, die Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen so zu formen, dass er das, was er tun muss, gern tut, ist er mit den Umständen zufrieden, die ihm die Gesellschaft auferlegt. Ibsen gestaltet seinen Peer Gynt entsprechend dieser Einsicht: Er kann alles tun, was er tun will, weil er nur das tun will, was er tun kann. Es erübrigt sich zu sagen, dass ein Gesellschafts-Charakter, der sich beispielsweise mit der Unterwerfung zufriedengibt, ein verkrüppelter Charakter ist. Aber verkrüppelt oder nicht, er dient den Zwecken einer Gesellschaft, die, um richtig zu funktionieren, unterwürfige Menschen braucht.
(2) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters erklärt auch den Zusammenhang zwischen der materiellen Basis einer Gesellschaft und dem „ideologischen Überbau“. Marx ist oft so interpretiert worden, als habe er sagen wollen, der ideologische Überbau sei nichts anderes als das Spiegelbild der ökonomischen Basis. Diese Interpretation ist jedoch falsch. Tatsache ist, dass in der Theorie von Marx das Wesen der Beziehung zwischen Basis und Überbau nicht genügend geklärt ist. Eine dynamische psychologische Theorie kann zeigen, dass die Gesellschaft den Gesellschafts-Charakter erzeugt und dass dieser dazu tendiert, solche Ideen und Ideologien hervorzubringen und zu verfestigen, die zu ihm passen und die er aus diesem Grunde fördert. Es ist jedoch nicht so, dass nur die ökonomische Basis einen bestimmten Gesellschafts-Charakter schafft, der dann seinerseits bestimmte Ideen hervorbringt. Die einmal erzeugten Ideen beeinflussen ihrerseits den Gesellschafts-Charakter und – indirekt – auch die Wirtschaftsstruktur der betreffenden Gesellschaft. Ich möchte besonders betonen, dass der Gesellschafts-Charakter der Vermittler zwischen der sozio-ökonomischen Struktur und den in einer Gesellschaft vorherrschenden Ideen und Idealen ist. Er ist der Vermittler nach beiden Richtungen: von der ökonomischen Basis hin zu den Ideen und von den Ideen hin zur ökonomischen Basis. Nachfolgendes Schema soll dieses Konzept veranschaulichen:
(3) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters kann erklären, wieso die menschliche Energie von einer Gesellschaft genau wie jeder andere Rohstoff für die Bedürfnisse und Zwecke dieser Gesellschaft genutzt wird. Tatsächlich ist der Mensch eine der formbarsten Naturkräfte: Man kann ihn dazu bringen, so gut wie jedem Zweck zu dienen; man kann ihn veranlassen, zu hassen oder mit anderen zusammenzuarbeiten, sich zu unterwerfen oder aufzubegehren, zu leiden oder glücklich zu sein.
(4) Sosehr dies alles stimmt, so gilt doch zugleich, dass der Mensch das Problem seiner Existenz nur durch die volle Entfaltung der ihm eigenen Kräfte lösen kann. Je mehr eine Gesellschaft den Menschen verkrüppelt, umso kränker wird er, selbst wenn er auf einer bewussten Ebene mit seinem Schicksal zufrieden ist. Unbewusst jedoch ist er unzufrieden, und eben diese Unzufriedenheit macht ihn schließlich bereit, die ihn verkrüppelnde Gesellschaftsform zu ändern. Gelingt ihm dies nicht, dann stirbt diese spezifische Form von pathogener Gesellschaft aus. Gesellschaftliche Veränderungen und Revolutionen werden nicht nur durch neue Produktivkräfte hervorgerufen, die mit älteren Formen der gesellschaftlichen Organisation in Konflikt geraten, sondern auch durch den Konflikt zwischen unmenschlichen gesellschaftlichen Zuständen und unveränderlichen, fortbestehenden menschlichen Bedürfnissen. Man kann mit den Menschen fast alles machen, aber doch nur fast alles. Die Geschichte des Kampfes des Menschen um seine Freiheit ist die aufschlussreichste Manifestation dieses Grundsatzes.
(5) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters ist nicht nur ein theoretischer Begriff, der sich für allgemeine Spekulationen eignet; er ist auch für empirische Untersuchungen brauchbar und wichtig, bei denen man verschiedene Arten des Gesellschafts-Charakters in einer bestimmten Gesellschaft oder in sozialen Klassen nachweisen will. Nehmen wir an, jemand definiere den „Bauerncharakter“ als individualistisch, hortend, eigensinnig, wenig geneigt zur Zusammenarbeit mit anderen und ohne viel Gefühl für Zeit und Pünktlichkeit – dann ist dieses Syndrom von Wesenszügen keineswegs eine Summierung verschiedener Wesenszüge, sondern eine mit Energie geladene Struktur; diese Struktur wird sich mit einem intensiven Widerstand entweder in Form von Gewalt oder von stummer Weigerung zur Wehr setzen, wenn man versuchen sollte, sie zu ändern; selbst wirtschaftliche Vorteile werden kaum wirksam sein. Das Syndrom ist durch die ihnen allen gemeinsame Produktionsmethode entstanden, die für das Leben der Bauern jahrtausendelang charakteristisch war. Das Gleiche gilt für das absinkende Kleinbürgertum, ob es sich nun um dasjenige handelt, das Hitler an die Macht brachte, oder um die verarmten Weißen im Süden der Vereinigten Staaten. Das Fehlen jeder Art von positivem kulturellem Anreiz, das Ressentiment gegen die hoffnungslose Situation, in der diese Menschen von den vorwärtsdrängenden Strömungen zurückgelassen wurden, der Hass auf die, welche ihre Leitbilder zerstörten, auf die sie einst stolz waren, haben ein Charaktersyndrom erzeugt, das aus der Liebe zum Toten (Nekrophilie), einer intensiven und bösartigen Bindung an Blut und Boden und einem intensiven Gruppennarzissmus besteht (wobei letzterer sich in einem intensiven Nationalismus und Rassismus äußert; vgl. Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (1964a), GA II, S. 224-239). Noch ein letztes Beispiel sei erwähnt: Die Charakterstruktur des Industriearbeiters [V-405] ist gekennzeichnet durch Pünktlichkeit, Disziplin und Befähigung zur Teamarbeit. Dieses Syndrom ist die Minimalbedingung dafür, dass ein Industriearbeiter tüchtige Arbeit leisten kann. (Andere Unterschiede, etwa Abhängigkeit – Unabhängigkeit, Interesse – Gleichgültigkeit, Aktivität – Passivität, lasse ich hier beiseite, obwohl auch sie für die Charakterstruktur des Arbeiters heute und in Zukunft von größter Bedeutung sind.)
(6) Die wichtigste Anwendung findet der Begriff des Gesellschafts-Charakters darin, dass er unterscheiden hilft zwischen dem zukünftigen Gesellschafts-Charakter einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie Marx im Auge hatte, und dem Gesellschafts-Charakter des Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts, dem es vor allem auf Besitz und Reichtum ankam, sowie dem Gesellschafts-Charakter des Zwanzigsten Jahrhunderts (dem kapitalistischen wie dem kommunistischen), der in den hochindustrialisierten Gesellschaften immer mehr vorherrscht: dem Charakter des homo consumens.
Der homo consumens ist der Mensch, dessen Hauptziel es nicht ist, Dinge zu besitzen, sondern immer mehr zu konsumieren, um auf diese Weise seine innere Leere, Passivität und Angst zu kompensieren. In einer Gesellschaft, die durch Großunternehmen und durch riesige Bürokratien in Industrie, Verwaltung und Gewerkschaften gekennzeichnet ist, fühlt sich der Einzelne, der seine Arbeitsbedingungen nicht mehr selbst unter Kontrolle hat, ohnmächtig, einsam, gelangweilt und von Angst erfüllt. Gleichzeitig verwandelt ihn das Profitstreben der großen Konsumindustrien durch das Medium der Werbung in ein unersättliches Wesen, in einen ewigen Säugling, der immer mehr konsumieren möchte und für den alles zu einem Konsumartikel wird: Zigaretten, Alkohol, Sex, Kino, Fernsehen, Reisen, ja sogar Bildung, Bücher und Vorträge. Neue künstliche Bedürfnisse werden erzeugt, und der Geschmack der Menschen wird manipuliert. (In seinen extremeren Formen ist der Charakter des homo consumens ein wohlbekanntes psycho-pathologisches Phänomen. Man findet es häufig bei depressiven oder angsterfüllten Menschen, die sich in übermäßiges Essen und Einkaufen oder in den Alkoholismus flüchten, um ihre heimliche Depression und Angst zu kompensieren.) Die Konsumgier (eine extreme Form dessen, was Freud als den „oral-rezeptiven Charakter“ bezeichnete), wird in der gegenwärtigen Industriegesellschaft zur dominierenden psychischen Kraft. Der homo consumens lebt in der Illusion, glücklich zu sein, während er unbewusst unter Langeweile und Passivität leidet. Je mehr Macht er über Maschinen besitzt, umso machtloser wird er als menschliches Wesen; je mehr er konsumiert, umso mehr wird er zum Sklaven der ständig wachsenden Bedürfnisse, die das Industriesystem erzeugt und manipuliert. Er verwechselt Sensationslust und aufregende Erlebnisse mit Freude und Glück und materiellen Komfort mit Lebendigkeit. Die Befriedigung seiner Gier wird zum Sinn seines Lebens, das Streben danach wird zu einer neuen Religion. Die Freiheit zu konsumieren wird zum Wesen der menschlichen Freiheit.
Der Konsumgeist ist das absolute Gegenteil des Geistes einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie sich Marx vorgestellt hat. Er hat die dem Kapitalismus innewohnende Gefahr klar erkannt. Sein Ziel war eine Gesellschaft, in der der Mensch viel ist, und nicht eine Gesellschaft, in der er viel hat oder gebraucht. Er wollte den Menschen [V-406] von den Ketten seiner materiellen Gier befreien, so dass er ganz wach, lebendig und empfindungsfähig, und nicht der Sklave seiner Gier sein könnte. „Die Produktion von viel Nützlichem“, schrieb er (K. Marx, 1971, S. 259), produziere „zu viel unnütze Population“. Er wollte die extreme Armut abschaffen, weil sie den Menschen daran hindert, ganz menschlich zu werden, aber er wollte auch den extremen Reichtum verhindern, bei dem der Mensch zum Gefangenen seiner Gier wird. Sein Ziel war nicht der maximale, sondern der optimale Konsum, die Befriedigung jener echten menschlichen Bedürfnisse, die zu einem volleren und reicheren Leben führen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Geist des Kapitalismus, die Befriedigung der materiellen Gier, die kommunistischen und sozialistischen Länder erobert, die mit ihrer Planwirtschaft die Möglichkeit hätten, ihr Schranken zu setzen. Der Prozess besitzt seine eigene Logik: Der materielle Erfolg des Kapitalismus machte auf jene ärmeren Länder in Europa, in denen der Kommunismus den Sieg errungen hatte, einen ungeheuren Eindruck, und man identifizierte den Sieg des Sozialismus mit dem erfolgreichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus, und dies im Geist des Kapitalismus. Der Sozialismus ist in Gefahr, zu einem System zu entarten, welches die Industrialisierung ärmerer Länder schneller erreicht, als es der Kapitalismus könnte, anstatt eine Gesellschaft zu bilden, in der die Entwicklung des Menschen, und nicht die der ökonomischen Produktion das Hauptziel ist. Diese Entwicklung wurde noch durch die Tatsache gefördert, dass der Sowjetkommunismus dadurch, dass er eine vergröberte Version des Marxschen „Materialismus“ übernahm, genauso wie die kapitalistischen Länder den Kontakt mit der humanistischen geistigen Tradition verlor, zu deren größten Repräsentanten Karl Marx gehörte.
Es stimmt zwar, dass die sozialistischen Länder das Problem noch nicht gelöst haben, die legitimen materiellen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen (und selbst in den Vereinigten Staaten leben vierzig Prozent der Bevölkerung „nicht im Überfluss“). Aber es ist äußerst wichtig, dass sich die sozialistischen Ökonomen, Philosophen und Psychologen der Gefahr bewusst sind, dass sich das Ziel eines optimalen Konsums leicht in das eines maximalen verwandeln kann. Die sozialistischen Theoretiker haben die Aufgabe, das Wesen der menschlichen Bedürfnisse zu untersuchen und die Kriterien zur Unterscheidung von unechten und echten menschlichen Bedürfnissen herauszufinden. Sie müssen jene Bedürfnisse namhaft machen, deren Befriedigung die Menschen lebendiger und empfindungsfähiger macht, im Gegensatz zu den synthetischen, vom Kapitalismus geschaffenen Bedürfnissen, welche die Menschen schwächen, sie passiver und gelangweilt und zu Sklaven ihrer Gier nach dem Besitz von Dingen machen.
Mir geht es nicht darum, die Produktion als solche einschränken zu wollen. Sobald aber die optimale Befriedigung des individuellen Konsums erreicht ist, sollte mehr für den gesellschaftlichen Konsum getan werden: für Schulen, Bibliotheken, Theater, Parks, Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel usw. Der stets wachsende individuelle Konsum in den hochindustrialisierten Ländern legt den Gedanken nahe, dass Konkurrenzkampf, Gier und Neid nicht nur durch Privatbesitz, sondern auch durch uneingeschränkten privaten Konsum entstehen. Die sozialistischen Theoretiker sollten die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass es Ziel des humanistischen [V-407] Sozialismus ist, eine Industriegesellschaft aufzubauen, deren Produktionsweise der Entwicklung des totalen Menschen, und nicht der Erzeugung des homo consumens dient, und dass die sozialistische Gesellschaft eine Industriegesellschaft sein sollte, in der menschliche Wesen leben und sich entwickeln können.
(7) Es gibt empirische Methoden, die uns erlauben, den Gesellschafts-Charakter zu studieren. Eine derartige Untersuchung hat zum Ziel, das Vorhandensein verschiedener Charaktersyndrome in der Bevölkerung als Ganzer und innerhalb der einzelnen Klassen aufzudecken, sowie die Intensität der verschiedenen Faktoren innerhalb des Syndroms, und neue oder widersprüchliche Faktoren festzustellen, die durch unterschiedliche sozio-ökonomische Bedingungen verursacht wurden. Alle derartigen Varianten erlauben einen Einblick in die Stärke der vorhandenen Charakterstruktur sowie in den Änderungsprozess, so dass man beurteilen kann, mit welchen Maßnahmen man derartige Veränderungen vereinfachen könnte. Es erübrigt sich zu sagen, dass derartige Erkenntnisse besonders wichtig in Ländern sind, die sich im Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat befinden. Wichtig sind solche Untersuchungen auch in Bezug auf das Problem, wie Arbeiter, die im Kapitalismus oder Staatskapitalismus – also unter entfremdeten Bedingungen – leben, den Übergang zu einem echten Sozialismus bewerkstelligen können. Außerdem können derartige Untersuchungen auch für politische Aktionen hilfreich sein. Wer die politischen „Meinungen“ mit Hilfe von Meinungsumfragen ermittelt, der weiß, wie sich die Menschen vermutlich in der nächsten Zukunft verhalten werden. Wer aber die Stärke der psychischen Kräfte – auch der momentan unbewussten – erkennen will, also etwa das Eintreten der Menschen für Rassismus oder für Krieg oder Frieden, den informieren nur Charakteruntersuchungen der eben besprochenen Art über die Stärke und Richtung der zugrunde liegenden Kräfte, die im Gesellschaftsprozess wirksam sind und die vielleicht erst in einiger Zeit manifest werden. (Die Destruktivität des deutschen Kleinbürgertums zum Beispiel manifestierte sich erst, als Hitler ihr Gelegenheit gab, sich offen auszudrücken.)
Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen Methoden zu erörtern, die man anwenden könnte, um die oben erwähnten Charakterdaten zu bekommen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie den Fehlschluss vermeiden, Ideologien (Rationalisierungen) als Ausdruck der inneren und gewöhnlich unbewussten Realität zu akzeptieren. Als sehr nützlich hat sich hierbei der offene Fragebogen erwiesen, bei dem die Antworten auf ihre nicht beabsichtigte oder unbewusste Bedeutung hin interpretiert werden. Wenn zum Beispiel die Antwort auf die Frage: „Welche historischen Persönlichkeiten bewundern Sie am meisten?“ lautet: „Alexander den Großen, Nero, Marx und Lenin“, während eine andere Antwort lautet: „Sokrates, Pasteur, Marx und Lenin“, dann ist daraus zu schließen, dass der erste Beantworter Macht und strenge Autorität bewundert, während der zweite Beantworter Menschen bewundert, die im Dienst des Lebens arbeiten und Wohltäter der Menschheit sind. Verwendet man einen erweiterten projektiven Fragebogen, so besteht die Möglichkeit, ein zuverlässiges Bild von der Charakterstruktur eines Menschen zu erhalten.[8] Andere projektive Tests, die Analyse von bevorzugten Witzen, Liedern und Geschichten sowie von benachbarten Verhaltensweisen (besonders die psychoanalytisch so aufschlussreichen unkontrollierten [V-408] „Nebenbeschäftigungen“) helfen mit, korrekte Resultate zu erhalten. Methodologisch liegt das Hauptgewicht bei allen diesen Untersuchungen auf der Produktionsweise und der sich daraus ergebenden Klassendifferenzierung, auch auf den wichtigsten Charakterzügen und den von ihnen gebildeten Syndromen sowie auf der Beziehung zwischen diesen beiden Gruppen von Daten. Mit Hilfe von schichtspezifischen Stichproben (samples) kann man ganze Nationen oder größere Gesellschaftsklassen untersuchen, ohne mehr als 1°000 Personen in die Untersuchung einbeziehen zu müssen.
Ein anderer wichtiger Aspekt der analytischen Sozialpsychologie ergibt sich aus dem Freudschen Begriff des Unbewussten. Während es aber Freud hauptsächlich um die individuelle Verdrängung ging, konzentrierte sich die marxistische Sozialpsychologie vor allem auf das „gesellschaftliche Unbewusste“. Dieser Begriff bezieht sich auf die Verdrängung der inneren Realität, die ganze Gruppen miteinander gemeinsam haben. Jede Gesellschaft wird nach Möglichkeit ihren Mitgliedern (oder den Angehörigen einer bestimmten Klasse) verbieten, sich solcher Impulse bewusst zu werden, die – falls sie ihnen bewusst wären – zu Gedanken und Aktionen führen könnten, welche der Gesellschaft möglicherweise gefährlich würden. Es kommt zu einer wirksamen Zensur, und zwar nicht auf der Ebene des gedruckten oder gesprochenen Wortes, sondern indem man verhindert, dass bestimmte Gedanken auch nur ins Bewusstsein dringen, indem man also ihr gefährliches Bewusstwerden unterdrückt. Natürlich variieren die Inhalte des gesellschaftlichen Unbewussten entsprechend den vielen unterschiedlichen Formen der Gesellschaftsstruktur: Es handelt sich je nachdem um Aggressivität, Aufbegehren, Abhängigkeit, Einsamkeit, Kummer und Langeweile, um nur einige Impulse zu erwähnen. Der verdrängte Impuls muss unterdrückt bleiben und durch Ideologien ersetzt werden, die ihn verleugnen oder sein Gegenteil behaupten. Dem gelangweilten, angsterfüllten, unglücklichen Menschen der heutigen Industriegesellschaft wird suggeriert, dass er glücklich und äußerst vergnügt sei. In anderen Gesellschaften lehrt man den seiner Gedankenfreiheit und der freien Meinungsäußerung beraubten Menschen, er habe die vollkommenste Form der Freiheit fast erreicht, wenn im Augenblick auch nur seine Führer im Namen der Freiheit redeten. In manchen Systemen wird auch die Liebe zum Leben unterdrückt und statt dessen die Liebe zum Besitz kultiviert; in anderen wird das Bewusstsein der Entfremdung verdrängt und statt dessen das Schlagwort propagiert: „In einem sozialistischen Land kann es keine Entfremdung geben.“
[V-409]Die Deutsche Ideologie1904Zur Kritik der politischen Ökonomie,MEW 13