Clemens Berger
Die Wettesser
Roman
Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.
Walter Benjamin
Competitive eating is among the
most diverse, dynamic and demanding
sports in history. It dates back to the
earliest days of mankind and stands alongside
original athletic pursuits such as
running, jumping and throwing. If you have
30 hungry Neanderthals in a cave
and rabbit walks in,
that is a competitive eating situation. Of course,
in the last two centuries
competitive eating has been practiced with
somewhat more formality.
International Federation of Competitive Eating
© Foto: Andreas Duscha
Clemens Berger, geboren 1979 in Güssing, aufgewachsen in Oberwart, studierte Philosophie in Wien, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Zahlreiche Literaturpreise und Stipendien. Zuletzt erschienen „Ein Versprechen von Gegenwart“ (Luchterhand Literaturverlag 2013) und „Paul Beers Beweis“ (HAYMONtb 2015).
Überarbeitete Neuausgabe der 2007 im Skarabæus Verlag erschienenen Originalausgabe
© 2015
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-3675-7
Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Umschlag: Eisele Grafik · Design, München, unter Verwendung von Bildelementen von Bigstock/elfivetrov
(Hot Dog); Bigstock/Real Callahan (Schild); Bigstock/Alex Staroseitsev (Aufhängung)
Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein
Diesen Roman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Kann man seine Lebensgeschichte neu schreiben? Seit er durch einen Unglücksfall ins Kreuzfeuer der Boulevardpresse geraten ist, will Josef Kelemen nicht mehr er selbst sein. Er taucht in der Wiener Vorstadt unter und streift sich als Franz Schwarz, Arbeitsloser und Fußballfan, eine völlig neue Identität über. Im melancholischen Privatgelehrten Paul Beer findet er einen Freund, der – fasziniert von Schwarz’ Geschichte – immer tiefer in dessen Welt eindringt …
„Wie es sein kann, wenn Gewöhnliches im Leben ein wenig oder auch sehr außer Tritt gerätt, schildert Clemens Berger in ‚Paul Beers Beweis‘ auf ebenso eindringliche wie einfühlsame Art.“
Literatur und Kritik, Klaus Zeyringer
Clemens Berger
Paul Beers Beweis
Roman
ISBN 978-3-7099-3648-1
Diesen Roman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Berti heißt auch Fekete, Robert Pattinson, Ricky, Zorro und Bagheera. Er ist das Ergebnis der unglücklichen Liaison eines Jack Russell Terriers mit einem Straßenköter, er sieht aus wie ein schwarzer Fleck und benimmt sich wie ein übermütiges Kind. Er ruiniert die Geschäfte eines ungarischen Welpenhändlers, bricht einer Zwölfjährigen das Herz, weckt die Lebensgeister eines neurotischen Physikers und landet auf der Müllhalde eines Haustiermessies. Überall, wo er hinkommt, hinterlässt er seine Spuren in den Herzen und in den Leben seiner Menschen, die er als kleiner Schatten ihres Glücks und Unglücks begleitet.
Bettina Balàka erzählt in ihrem neuen Roman nur scheinbar die Geschichte eines Hundelebens: Unter Menschen ist zugleich ein Reigen zwischenmenschlicher Tragödien und Komödien – grandios komponiert, durchtrieben ironisch und unterhaltsam, voll überraschendem Witz und geistreicher Erkenntnis.
„Bettina Balàka hat einen turbulenten, blendend konstruierten, hoch amüsanten Roman geschrieben.“
Die Presse, Rainer Moritz
Bettina Balàka
Unter Menschen
Roman
ISBN 978-3-7099-3591-0
Diesen Roman erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Clemens Berger
Die Wettesser
Mit Ed ging es bergab. Mary saß im Auto. Sie hätte keine Minute, geschweige denn Nacht länger bleiben wollen. Wie ein überdimensionales Baby, das alles mit sich machen läßt, hatte sie Ed ins Taxi gesetzt, in den Aufzug geschoben, ins Zimmer dirigiert, ausgezogen und zu Bett gebracht. Er hatte noch »Bleib« gestammelt, »bitte«. Dann war er eingeschlafen. Sie hatte ihm einen Zettel aufs Nachtkästchen gelegt.
»Laß dich nicht unterkriegen. Es kommt nur aufs Innere an. Das kenne ich am besten. In Liebe, M.«
Ed war romantisch. Er war aufmerksam. Er war süß. Er war ganz anders, als man es sich vorstellte. Das hatte Mary auch dem Journalisten erzählt, der neulich angerufen hatte. Weiß der Teufel, wie er an ihre Nummer gekommen war; woher er wußte, daß sie und Ed einmal ein Paar waren. Am liebsten hätte sie ihn unverzüglich aus der Leitung geworfen. Wie hinterhältig er über Ed gesprochen hatte. Von oben herab, belächelnd; jedes Wort schien unter Anführungszeichen gesagt, hinter einem Sogenannt zu lauern. Dabei war Ed dreimal so intelligent wie er. Als der Journalist nach dem Intimleben gefragt hatte, wie das um alles in der Welt funktioniert habe, mit Ed, dem Tier, hatte sie aufgelegt.
Vielleicht waren es tatsächlich die Niederlagen, die Ed nicht verwinden konnte. Jedesmal, wenn sie jemandem bei der Selbstzerstörung zusehen mußte, war Mary fassungslos. Wenn sie den lallenden, weggetretenen Ed, der sich dort, von wo er nichts erzählen konnte, wohler als überall sonst zu fühlen schien, zurückzuholen versuchte, gab es ihr einen Riß, und ihre mühsam zusammengestückelte Welt begann zu bröckeln.
Sie versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, an etwas anderes zu denken. Unweigerlich drängten sich ihr die schrecklichsten Bilder auf. Ein Lenkradverreißen, ein Aufprall, tot, alles vorbei, was sie dann ja nicht mehr spüren würde. Oder jemand anderen auf dem Gewissen haben, selbst querschnittgelähmt, was beides viel schlimmer wäre. Die Straße war ihr unheimlich, das Auto, in dem sie saß, die späte Uhrzeit, zu der nur Grauenhaftes passieren konnte. So war sie doch sonst nicht. Alles wegen Ed.
Ed verdiente gut als Ingenieur im Kraftfahrzeugbau. Man schätzte ihn und seine Fähigkeiten; er würde als einer der Letzten entlassen werden. Er müßte nicht mehr wettessen. Merkwürdig. Kein Mann war jemals so aufmerksam gewesen. Von keinem hatte sie Blumen bekommen, Grußbillets, kleine Überraschungen. Noch gestern hatte sie beim Abendessen, als sie auf der Toilette in ihrer Handtasche gekramt hatte, eine Bonbonniere ihrer Lieblingsmarke gefunden. Wenn Ed trank, war er nicht süß. Dann war er reines Selbstmitleid, die ganze Welt gegen ihn, den kleinen Großen. Solange, bis er weit weit weg verschwand, sein Gesicht zerknautscht, die Augen wässrig und starr, ein Häufchen Elend.
Das Mobiltelefon läutete; Mary erschrak.
»Baby. Ich, ich, ich brauch dich doch.«
»Ich bin ja für dich da. Schlaf jetzt, Ed.«
»Du mußt mich retten.« Er schluchzte.
»Ich kann dir dabei nur helfen.«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
»Komm wieder zu mir. Ich meine, überhaupt.«
»Laß das, Ed. Schlaf jetzt.«
Sie hörte noch ein ersticktes »Bis bald«, dann leises langgezogenes Atmen und wußte, wenn sie nicht auflegte, würde Ed, auch wenn sie nichts sagte, am Telefon bleiben, bis er einschliefe. Sie beendete das Gespräch und schlug gegen das Lenkrad. Warum setzte er ihr so zu? Sie war ja nicht seine Mutter. Was war es nur, das Ed in diesen unbändigen Selbsthaß trieb?
Mary kannte ihn seit zwanzig Jahren. Sie hatte Ed in New York in der Pizzeria kennengelernt, in der sie damals bediente. Die hatte einem Inder gehört, der Italiener spielte; sein »Ciao bella«, sein »Grazie mille« hatte sie noch immer im Ohr. Sie war achtzehn, Ed zwanzig. Sie kam aus einer verwahrlosten Familie, mit der sie früh nichts mehr zu tun haben wollte, er aus einer besseren. Ein schmuckes Häuschen, ein Garten mit Gemüsebeet und Blumen, ein Swimmingpool, eine stets gemähte Wiese, ein Hund, Bruder, Schwester, eine aufopfernde Mutter. Vor Eds Vater hatte Mary immer Angst gehabt. Noch heute sah sie die Wände vor sich. Überall blickte er einem mit undurchdringlichem Blick entgegen: Mr. Krachie, der Marine, Mr. Krachie bei der Angelobung, Mr. Krachie in Vietnam, Mr. Krachie wird ausgezeichnet, Mr. Krachie hier, Mr. Krachie da. Er war gegen sie. »Das ist kein Mädchen für dich, Ed, sie tut dir nicht gut.« Zum Glück war er selten zu Hause, wenn Mary mit Ed im Zimmer war. Während sie miteinander schliefen, hörte sie Eds Mutter staubsaugen.
Ed war wunderbar, anders als die Jungen, die sie kannte. Aber er sprach kaum. Er erzählte nichts von sich. Er konnte stundenlang mit ihr zusammensein, sie anlächeln und schweigen. Er streichelte sie, er sagte ihr unvermittelt die schönsten Sätze, die einem Menschen gesagt werden konnten, er sah sie pausenlos an und schien glücklich dabei. Übers Wetter, übers Fernsehen, übers Wochenende. Sonst nichts. Daß er einmal davon geträumt habe, Pilot zu werden, in der Luft, umhüllt von Wolken, kreuz und quer über die Welt. »Schlag dir das aus dem Kopf, dafür sind wir nicht geboren.« Da war der Vater kein Marine mehr, sondern Polizist. Einer der Hartgesottenen, die man in die Ghettos schickte, auf die Straße, zu den Erledigten, den Drogen, den Waffen. Der in dem Thriller lebte, vor dem alle anderen Angst hatten. Ed sprach ehrfürchtig von ihm, bewundernd. Er beschloß, auch zur Polizei zu gehen. »Du bist zu fett, zum Bürositzen sind wir nicht geboren.« Ed wurde Ingenieur.
Als Ed beim dritten Mal, daß sie ihn bediente, mit aufgeregt piepsender Stimme »Hallo, ich bin Ed« sagte, »wollen wir mal einen Kaffee trinken?«, war er schon dick, sehr sehr dick, ein Berg, dessen Alter schwer zu schätzen war. Umso erstaunter war Mary später vor den Bildern gestanden, die einen ganz normalen Jungen zeigten. Mit sechzehn ging es los – und Ed aus den Fugen. Warum, hatte er nie erklären können. »So bin ich, so werd ich immer sein. Deswegen wirst du mich einmal verlassen.«
Es war nicht deswegen gewesen. Mary fuhr geradeaus, zügig, den Zeigefinger im Takt gegen das Lenkrad klopfend, leise beruhigende Musik. Lichter vor ihr, hinter ihr, neben ihr. Alles in Ordnung. Von Ed nach Hause, ins eigene Leben, ins Geregelte, Normale, nach dem sie sich so sehnte und das so schwer zu haben war, war jedesmal eine Zeitreise in der Achterbahn. Auch wenn sie wieder mit einem Mann zusammenlebte, war Ed ihr bester Freund. Ihr Herzensmensch, ihr Seelenverwandter. Die Beziehung mit ihm war einfach gescheitert, hätte auch niemals geklappt. Außerdem war es zwanzig Jahre her, daß sie gesagt hatte: »Ed, wir sind bessere Freunde als Geliebte.« Kurz danach war er nach Florida gezogen. Gerade eben hatte er zum ersten Mal mit dem Was wäre wenn? begonnen.
Mary erinnerte sich oft an den Tag, als Ed sie zum ersten Mal zu einem Wettkampf mitgenommen hatte. Ein überfülltes Lokal, laute, aggressive Musik, dicht an dicht schwitzende Menschen, es war verraucht und aufregend. Um Mitternacht wurde die Musik abgedreht, ein paar Männer mit Nummernschildern vor der Brust stellten sich neben dem Ansager auf, der die Regeln erläuterte. Wer nach einer Viertelstunde, ohne zu kotzen, am meisten Bier getrunken hatte, hatte gewonnen. Der Sieger und fünf Bekannte mußten an diesem Abend nichts bezahlen, er bekam Kinogutscheine, ein T-Shirt, das ihn als Sieger des Bewerbes auswies, einen Bericht in der Lokalzeitung. Ed gewann, und es wurde ein fabelhafter Abend. Von da an kam Mary öfter mit. Kleine Bars, Mitternachtseinlagen in größeren Diskotheken, allerlei Kneipen und Spelunken, in denen Ed sich mit anderen beim Essen und Trinken maß, um nachher die Preise entgegenzunehmen. Und alle, die dabei waren, gingen mit der Erinnerung an den großen, fetten, wütenden Ed Krachie nach Hause. »Wer soll den bezwingen«, erzählten sie ihren Freunden. Davon war Mary überzeugt.
Und trotzdem, oder deswegen, war Ed kein Mann für sie. Er veränderte sich auf diesen Bühnen, im Scheinwerferlicht, wurde laut, ausfällig, grob, selbstverliebt bis zur Besessenheit. Da war ein Unmaß, das Mary sich nicht erklären konnte, ein schwer beschreibbarer Abgrund, weite Augen, ein aufgerissener Mund, verzerrte Züge, die ihr zusehends Angst einflößten. Nach zwei Jahren mußte sie herausfinden, daß Ed seinen ersten kleinen Ruhm ausgerechnet dazu verwendete, die Mädchen, die ihn fotografierten, seinen Bauch betatschten und auf seinem Schoß sitzen wollten, ins Bett zu bringen. Mary war wütend. Mary war traurig. Mary war enttäuscht.
»Weißt du was«, sagte sie, nachdem er sich heulend wieder und wieder entschuldigt, sie angefleht, ihr das Blaue vom Himmel versprochen hatte, »wir werden jetzt die besten Freunde, die’s je gab«. Und Ed begann zu sprechen, hörte zwanzig Jahre lang nicht mehr damit auf. Er sprach immer nur vom Jetzt, höchstens vom Morgen. Von seiner Kindheit, seiner Jugend, von Zuhause, von der Zeit vor Mary schwieg er.
Mary war froh, als sie ihr Auto in der Garage parkte, die Eingangstür zu ihrer Wohnung aufsperrte und Fred schnarchen hörte. Würde das nie aufhören? Sie hatte selbst genug Probleme. Am Telefon kam sie mit Ed noch am besten zurecht.
Sandra war dreiundzwanzig. Sie haßte die Welt, wie sie war, und träumte von einer ganz anderen. Die ganz andere Welt, und deshalb saß sie mit ihren Freundinnen und Freunden zweimal wöchentlich beisammen, mußte mit der Befreiung der Tiere beginnen. Die Unschuldigsten, die Ausgebeutetsten, die Wehrlosesten, die von der Industrie gewinnbringend zu Nahrungsmitteln und Bekleidung verarbeitet wurden, hatten keine Stimme, keine Lobby, keine Rechte. Ein Urhuhn hatte zwei, drei Eier jährlich gelegt; seine hochgezüchteten Nachfahren mußten täglich Höchstleistungen erbringen. Männliche Küken wurden sofort ermordet und dem Futter für die weiblichen untergemischt. Die Hälfte der Geschlüpften. Warum sah das niemand? Warum hörte man den Aufschrei dagegen nicht? Daß man anderswo Hunde und Katzen fraß, erweckte Ekel; bei Hühnern und Rindern kam er nicht hoch. Verlogene Doppelmoral, gleichgültige Welt.
Dabei hatte schon Leonardo da Vinci gesagt, die Tötung eines Tieres werde dereinst genauso bewertet werden wie die eines Menschen. Franz Kafka war Vegetarier gewesen, der Sprintweltmeister Carl Lewis sogar Veganer, die Tennisspielerin Martina Navratilova Veganerin, Paul und Linda McCartney, Bob Dylan, Boy George, Danny de Vito, Lanny Kravitz, Kim Basinger lebten vegetarisch, Einstein, Buddha, Darwin, Gandhi, Thoreau, Newton, Pythagoras in der Ahnengalerie, wie viele andere noch. »Auch Hitler«, hatte Jeremy einmal gesagt. Sie waren ihm böse gewesen. Hitler sei, Andrew zufolge, nicht aus ethischen, sondern aus ernährungstechnischen Gründen Vegetarier gewesen. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich habe Goebbels den Deutschen einen heldenhaften Asketen präsentieren wollen.
Wie in den Jahren zuvor waren sie am Vierten Juli nach Coney Island gefahren, wo sich die größten Dummköpfe der Welt versammelten, um Hot Dogs um die Wette zu fressen oder, was noch schlimmer war, dabei zuzusehen. »Du bist, was du ißt«, war auf einem ihrer Plakate gestanden, und darunter: »Ein Schwein«. Zwar hatte man sie böse angesehen und beschimpft. Aber es stimmte. Hunde waren das, nicht mehr und nicht weniger, allerdings entartete. Kein Hund fraß, bis er sich erbrach. Kein Hund fraß, um mehr als der andere zu fressen. Aber Hunde hatten auch keine Kultur. Wie viele Tiere, vollgepumpt mit Hormonen und Antibiotika, in abscheulichster Massenhaltung geschlachtet werden mußten, damit die größten Dummköpfe der Welt sie um die Wette verzehren konnten, war haarsträubend. Das eigentlich Himmelschreiende war, daß die noch größeren Dummköpfe dabei zusahen, klatschten, kreischten, jubelten, vor Ort oder auf dem Bildschirm zu Hause als selbstverständlich serviert bekamen, daß man Kadaver fraß. Daß nichts dabei sei. Das Morden in der Ordnung.
Sandra war mit Jeremy, Sophie und Andrew angereist. Im Auto waren sie wieder über die Frage aneinandergeraten, was man gegen die Fleischfresser tun könne. Eigentlich müßte man einen erschießen, hatte Jeremy gesagt, nachdem Andrew von Überzeugung und Aufklärung und fehlendem Problembewußtsein geschwafelt hatte, und dabei Sandra leicht in die Schulter gezwickt, als wollte er sagen: Was wird er jetzt antworten, unser Herr Umsichtig? Sandra hatte gehofft, Jeremy würde seine Hand noch länger auf ihrer Schulter lassen, Sophie hatte gelacht und Andrew geschwiegen, bis Jeremy nachgelegt hatte.
Eigentlich müßte man jeden Menschen erschießen, der jährlich mehr als eine bestimmte Menge Fleisch esse, und diese bestimmte Menge sei die Obergrenze für verblendete Dummheit, sozusagen ein Index der höchstzugelassenen Idiotie. Vielleicht sollte man sich nicht mit Menschen abgeben, hatte Andrew gesagt und auf die Fahrbahn gestarrt, die eine bedenkliche Nähe zum Faschismus hätten. Und Sandra hatte gesagt, ehe Jeremy auf Andrew losgehen und Sophie beide zu Idioten hatte erklären können, Andrew und Faschismus, das sei die lächerliche Hoffnung, den Faschisten gut zuzureden, doch bitte nicht so gemein zu sein. Dann war es lange still gewesen, bis Jeremy die Stöpsel seines Discmans in die Ohren gesteckt hatte. »Ist ja wahr«, hatte Andrew gesagt, und Sophie hatte gelacht.
Sandra studierte seit ein paar Semestern Recht und hatte den anderen die Situation auseinandergesetzt. Was zu tun sei, wenn man von privaten Sicherheitskräften angegriffen werde, welche Nummern zu wählen seien, um im Fall einer Festnahme einen engagierten Anwalt bereitgestellt zu bekommen, wie man sich auf der Wachstation zu verhalten habe. Im Vorhinein hatten sie Transparente bemalt und Flugblätter vervielfältigt. »Fleisch ist Mord. Du bist, was du ißt. Zehn Gründe für ein fleischloses Leben. Die Lügen der Todesindustrie. Der vergessene Holocaust. Werdet jetzt vegan.«
Das waren sie alle, Sandra und ihre Bekannten. Beinahe alle Menschen, mit denen sie zu tun hatten und die sie mochten, lebten vegan. Was das war, mußte man den Durchschnittsbürgern immer noch erklären, obwohl es schleichend besser wurde. In Großbritannien waren Lebensmittel längst als vegetarisch oder vegan gekennzeichnet, es gab entsprechende Reiseführer, immer mehr vegane und vegetarische Restaurants. Sie aßen nicht nur keine toten Tiere; sie nahmen überhaupt nichts Tierisches zu sich. Sie verwendeten auch keine tierischen Produkte. Kein Leder, keine Seide, keine an Lebewesen getesteten Kosmetika. »Auch keinen Honig?«, wurde sie dann regelmäßig gefragt. Natürlich nicht. Wo war da der Unterschied zu Milch? Das eine wurde wie das andere denen weggenommen, für die es da war. »Und du hast keine Mangelerscheinungen?«, wurde dann nachgehakt, »das kann ja nicht gesund sein, ich esse auch nicht viel Fleisch, aber Menschen sind nun mal Allesfresser.« Genau darauf wartete Sandra nur. Carnivoren, Omnivoren – alles Stumpfsinn, meistens Rechtfertigung, Gewissensberuhigung. Da setzte ihre Gegendarstellung an, Argument folgte auf Argument – mit Quellenangabe, wenn es jemand trotzdem nicht wahrhaben wollte. Nur blieben die Quellen kaum angezapft, obwohl alles längst an die Oberfläche drängte.
Anfangs war es nicht einfach gewesen, richtig vegan zu leben. Sie hatten den Sprung gemeinsam gewagt, nachdem alle vier jahrelang vegetarisch gelebt hatten. Sie hatten Bücher gelesen, Broschüren studiert, im Netz recherchiert und monatelang diskutiert. Natürlich hatten sie anfangs viele Fehler gemacht. Es war ja kein kleiner Schritt. Man mußte sehr genau hinsehen, jedes Produkt aufmerksam auf seine Zusammensetzung prüfen, wissen, daß Gelatine aus Rinderknochenmark hergestellt wurde, daß Sojalecithin schon, herkömmliches nicht vegan war. Dazu gab es eine Liste jener Konservierungsmittel, die tierische Elemente enthielten, ein kleiner Zettel, auf dem alle unreinen Emulgatoren vermerkt waren. Man konnte nur ausgewählte Toilettenartikel verwenden, um sicher zu sein, daß sie nicht in Horrorkabinetten an Tieren ausprobiert worden waren. Man mußte sich in Kleinstädten in jedem Lokal beschreiben lassen, was die Speisen enthielten, ob ein Ei zur Bindung verwendet, die Sauce mit Milch gemacht werde – hunderttausend Kleinigkeiten, die man den Leuten so schwer erklären konnte, die ihnen Entsetzen in die Gesichter zauberten, obwohl sie so einfach waren. Im Ausland war es ohnehin besser, selbst zu kochen oder einen Ratgeber zu befragen. Man mußte ein neues Leben beginnen. Ohne neues Leben keine neue Welt. Ohne neue Welt kein richtiges Leben.
»Wir sind gescheitert.« Jeremy trommelte die Finger gegen den Tisch. »Wir hätten uns die Transparente von diesen Arschlöchern nicht wegnehmen lassen dürfen.«
»Das ist gegen die Meinungsfreiheit«, sagte Sandra, »gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit.«
»Das auf privatem Boden nicht gilt.« Andrew zog die Brauen hoch.
»Na und? Es gibt nur noch privaten Boden.«
»Ich sag ja nur. Wenn fünf Vertreter der Fleischindustrie in deine Wohnung stürmen, um gegen deinen Lebensstil zu protestieren, wirst du auch auf die Versammlungsfreiheit pfeifen.«
»Ist das nicht etwas anderes?« Jeremy schüttelte den Kopf.
»Wir müssen nur wissen, wie unsere Feinde denken.«
»Um so beschissen zu werden wie sie«, sagte Sophie.
»Um beim nächsten Mal besser gewappnet zu sein.«
Sandra lehnte sich zurück. Andrew hatte nicht unrecht. Nur ärgerte sie, daß er immer alles aus allen Perspektiven betrachtete. Solange der Bewerb auf Nathans Grund und Boden stattfand, konnten sie entfernt werden. Da half kein Schreien, kein Treten, die Stiernacken waren in jeder Hinsicht mehr. Sie müßten auf der Straße weiter protestieren, und auf der Straße bräuchten sie eine angemeldete und genehmigte Demonstration. So ging das nicht. So ging das alles nicht.
Was sie im Winter von ihren Freunden aus London gehört hatten, war deprimierend. Zwei Aktivisten der Animal Liberation Front waren auf dem Flughafen Stansted von Antiterrorkräften mit vorgehaltenen Sturmgewehren abgeführt worden. Nur weil sie Kapuzenpullover mit dem ALF-Schriftzug getragen hatten. Der ALF lastete man prinzipiell jeden Brandanschlag auf Großschlachthöfe, jeden zerstochenen Reifen eines Geflügeltransporters, jede eingeschlagene Metzgereischeibe mit zurückgelassenen »Werdet vegan!«-Flugblättern und natürlich jede aufgestoßene Tür, jeden aufgezwickten Käfig, jeden durchbrochenen Zaun zur Freiheit an.
Andererseits tat es gut, im Netz täglich von direkten Aktionen in aller Welt zu lesen, zu denen sich lokale ALF-Gruppen bekannten. »Hier lebt eine Mörderin«, an die Fassade des Wohnhauses einer Konzernsprecherin gesprüht, die Geschäfte mit dem Tod trieb, eingeschlagene Scheiben in Logistiklagern von Pharmaunternehmen, in denen am folgenden Tag wegen des Gestanks der Buttersäure niemand arbeiten konnte, dreißig freigelassene Nerze auf dieser Farm, aufgebrochene Käfige bei jenem Zirkus – eine endlose, ständig aktualisierte Liste.
Eine Woche später hatten sie eine Nachricht von einer Freundin erhalten, im Anhang ein Foto. Da stand sie in der kleinen Küche ihrer Wohngemeinschaft, in der Sandra und Jeremy im Herbst davor zwei Wochen verbracht hatten, die Finger zum Victory gespreizt, dunkle Ringe unter den Augen, ein wenig überzeugendes Lächeln, in einem weißen, unglaublich dünnen Overall, der an einen Raumfahreranzug erinnerte. Ballettschuhe an den Füßen. So hatte sie die Polizei um vier Uhr morgens mitten in London freigelassen. So hatte sie ein Taxi rufen müssen. So hatte der Taxifahrer gewußt, woher sie kam, und einen entsprechenden Preis verlangt.
Und warum? Weil sie mit zwei Kleinbussen in den Norden der Stadt gefahren waren, um vor einem berüchtigten Tierversuchslabor zu protestieren! Aus dem ersten hatten die jungen Männer und Frauen noch aussteigen können, der zweite wurde einfach von zwei Kastenwagen der Polizei in die Zange genommen und unter Blaulicht und Sirenengeheul geradewegs ins Untersuchungsgefängnis geleitet.