Saga
Über das russgeschwärzte Gemäuer des inneren Fabrikhofes, der überall die Spuren des englischen Fliegerangriffs aufwies, ragte der blühende Prunus. Frau Helene Martin sah ihn von ihrem Fensterplatz aus, an dem sie ihrer mühsamen Näharbeit für das Putzwäschegeschäft in der Rue Neuve oblag. Die Blütenfülle dieses schlankstämmigen Bäumchens war der einzige Gruss, den der Frühling in die niedrige Erdgeschossstube hereinsandte. Bei der Beschiessung von Lille im vorigen Oktober war hier, in der Nachbarschaft der Wälle, ein grosser Teil der Fabrikanlagen in Schutt und Asche gelegt worden. Zwar blieb damals das Grundstück ihres Mannes wie durch ein Wunder verschont; aber die Überfälle der Flieger im Dezember und nach Neujahr, deren Brandbomben wohl dem Arsenal galten, hatten die beiden Lagerschuppen, das Maschinenhaus und die Ställe bei der Pförtnerswohnung zerstört.
Der blinden Vernichtungswut der Engländer war dabei auch das Gärtchen zum Opfer gefallen, das den Stolz Didelots, des einarmigen, schmalbrüstigen Concierge, gebildet hatte. Die beiden Platanen, die viereckig verschnittenen, streckten ihre kahlen, russgeschwärzten Äste wie anklagend zum Himmel empor; die Gemüsebeete wiesen zwei tiefe Trichter auf; das Buschobst war verbrannt.
Auch die Kletterrosen, deren feines Geästel sich als Netz über die breite Wand des Empfangsgebäudes gespannt hatte, zeigten kein Leben mehr. Als klägliche Reste erinnerten nur das Margueritenbeet und die winzige Wäschewiese mit den blauen und weissen Krokus an die einstige Gartenpracht, die Didelot hier dem poesiearmen Industrieboden der Liller Vorstadt abgerungen hatte. Der grosse, kugelförmige Prunus mit seinem festlichen Blütenzauber bildete nun schon seit dem Aschermittwoch Helenens Augenweide. Er gab dem von der Kriegsunbill heimgesuchten, düsteren Fabrikgelände einen farbenfreudigen Mittelpunkt, er gab ihrem müden, glaubensarm gewordenen Herzen den Keim einer Hoffnung daran: dass einmal wieder Friede sein würde, dass auch für ihr jetzt totes Leben der Weckruf eines neuen Frühlings kommen müsse.
Als der Gattin eines Deutschen, der sich vor dem Kriege in Frankreich hatte naturalisieren lassen, war ihr die Erlaubnis zur Heimkehr in das verlorene Vaterland verweigert worden. Ihr Vater war tot, mit der Frankfurter Verwandtschaft ihres bei der Besetzung von Lille nach Paris geflüchteten Mannes bestand keine Verbindung mehr, ihr Bankkonto beim Crédit du Nord hier war aufgebraucht, die Beitreibungsscheine für die zuerst von den Franzosen, dann von den Deutschen beschlagnahmten landwirtschaftlichen Maschinen hatte sie dem drängenden Bauunternehmer verpfänden müssen: für das im Rohbau steckengebliebene Vorstadthaus, das ihr Mann ihr am Boulevard Madeleine errichten wollte. Aus ihrer Stadtwohnung, in der sie bei der Beschiessung von Lille im vorigen Oktober verschüttet worden war, hatte sie nur das nackte Leben gerettet.
Wer sollte ihr helfen? An wen durfte sie sich wenden? Nicht einmal brieflicher Verkehr mit der alten Heimat war ihr möglich. Und ihre Beziehungen hier? Mit ihren Pensionsfreundinnen hatte sie jede Gemeinschaft abgebrochen: Manon Dedonker wandelte leichte Pfade, Geneviève Laroche stand ganz im Bann ihres Vaters, der ein geheimes, gefährliches Spiel gegen die deutsche Militärbehörde trieb. Sie war trostlos vereinsamt. Wenn sich nicht der alte Pförtner ihrer angenommen, ihr das Wohnstübchen seiner verstorbenen Frau angeboten hätte — ihr wäre nur der letzte Weg übriggeblieben: der in den Deulekanal. Didelot hatte ihr auch die Aufträge des Wäschegeschäfts verschafft. Von der kümmerlichen Einnahme bestritt sie nun ihr Leben; und um dem Alten noch einen Anteil davon zukommen lassen zu können, musste sie sehr, sehr fleissig sein.
Überall begann hier schon die Not. Die Zufuhr zur Stadt war knapp. Da sie im Operationsgebiet lag, blieb der Spionagegefahr halber der ganze Verkehr aufs äusserste beschränkt. Der Ausschuss, der mit spanisch-amerikanischer Hilfe sich der Ernährung der eingeschlossenen Franzosen angenommen hatte, meisterte seine schwere Aufgabe nur unvollkommen. Etwas Reis, etwas Dörrgemüse, etwas Kaffee, genau zugemessenes Brot bildete die einförmige Kost.
Aber noch schlimmer als diese äusseren Einschränkungen war für Helene die innere Vereinsamung. Rundum hauste Gesindel. Sie wagte sich nur selten ins Freie, und die zum Teil in Trümmern liegenden Strassen und Gassen des Fabrikviertels durcheilte sie dann klopfenden Herzens, stets in der Furcht, von dem erbitterten Volk, das hier zwischen dem Rand der Grossstadt und den alten Festungswällen sein lichtscheues Wesen trieb, auf ihre deutsche Abkunft angesprochen zu werden. Ihre Jugend lehnte sich gegen dies graue Gefangenendasein auf. Aber die Furcht schlug immer wieder alle Wünsche nieder.
Eine kleine Lebensfreude bot ihr da abends die Begegnung mit den Nachbarn: Frau Babin und ihren beiden Töchtern. Wenn die drei mädchenschlanken Persönchen von ihrer Tagesarbeit aus der Stadt zurückkamen, pünktlich um halb Acht, dann hörte sie die hellen Stimmen, die wie Vogelgezwitscher dem Ohr schmeichelten, immer schon in dem Augenblick, wo das Kleeblatt in die Rue Trochu einbog.
Wie Schwestern wirkten sie: alle drei gleich gross, mit demselben feinen, blassen Gesichtchen, derselben edel geformten Nase, dem aschblonden Haar, den dunklen, seltsam geraden, wie künstlich aufgesetzten Augenbrauen, den veilchenblauen, kindhaft-gläubigen und doch wieder berschmitzten Augen — und alle drei in demselben dünnen, knappanliegenden, der vorigen Sommermode angehörenden Jackenkleid. Frau Babin war eine der seltenen Französinnen, die in dem grossen Kriegsunglück ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen wussten. Von ihrem Mann, dem Oberst, durch die Kriegsereignisse getrennt, aus ihrem hübschen kleinen Landgütchen bei Lesquin durch die Granaten ihrer eigenen Landsleute vertrieben, hatte sie sich im Oktober mit ihren Töchtern zu ihrem Vetter Challier geflüchtet, dem ehemaligen Prokuristen der Martinschen Fabrik. Sie war nicht die Frau, Almosen anzunehmen: seit fünf Monaten arbeitete sie nun schon Schulter an Schulter mit ihren beiden Töchtern im Photographischen Atelier von Bérisal & Co. am Boulevard de la Liberté. Der Weg dahin war weit, die Arbeitszeit lang, der Verdienst schmal. Aber wenn man die drei hübschen Wesen so daherkommen sah, eng aneinandergeschmiegt, zärtlich plaudernd, mit ihren süssen Stimmchen lachend, dann ahnte niemand, wie schwer die Hand des Schicksals auf ihren schmalen Schultern lastete.
Yvonne, die Sechzehnjährige, schleppte zuweilen den linken Fuss ein wenig nach. An solchen Tagen nahmen Mutter und Schwester sie in die Mitte, und dann merkte man es kaum. Aber Challier hatte es Helene einmal verraten: hier herrschte viel Knochentuberkulose, man sah wie in kaum einer anderen Grossstadt wieder so zahlreiche stelzfüssige Männer, Frauen und Kinder, und schon vor Jahren hatte der Arzt um Yvonne Sorge gehabt ...
Helene musste ihnen heute ihren Prunus zeigen. Gerade jetzt fiel ein letzter Strahl der Abendsonne ins Gärtchen und beleuchtete das Bäumchen. Die Stadtbeschiessung hatte in die Brandmauer der benachbarten Chemischen Fabrik eine vielzackige Lücke gerissen; die ward der Üppigkeit des Blütenwunders nun zur Gnade. Selbst Didelot, der spuckend draussen stand und durch die Hornbrille, die er bis auf die Nasenspitze vorgeschoben hatte, das „Bulletin de Lille“ studierte, meinte, sie seien „so schön wie künstlich gemacht“, die Mandelblüten; das bildete bei ihm den Gipfel der Bewunderung.
Frau Babin, Léonie und Yvonne entfalteten natürlich eine reicher gestufte Begeisterung. Sie sprachen alle drei auf einmal — alle drei entsannen sich eines Palmsonntags in Lesquin, wo über Nacht die vier wilden Obstbäumchen am Teich aufgeblüht waren ...
Das war jetzt drei Jahre her, ach, niemand hätte damals daran gedacht, dass man einmal ein langes halbes Jahr in solch einem Kriege stehen würde. Monsieur Babin hatte damals gerade seine Berufung als Major zur Kriegsschule nach Rouen erhalten ... Wo Madame Martin damals gewesen sei?
Helene Martin hatte die schweren, seidigen Wimpern gesenkt. Wenn die so wie ein Vorhang über ihren braunen, schönen, jungen Augen ruhten, dann wirkte ihr blasses Gesicht so bitter leidend. Yvonne hatte bei ihr eingehängt und schaukelte sich leicht mit ihr hin und her. Sie sagte immerzu: „Magnifique, magnifique!“ und starrte das Bäumchen an; aber ihre Mutter fühlte wohl heraus, dass sie sich nur wieder die Schmerzen im linken Fuss nicht anmerken lassen wollte.
„Jetzt vor drei Jahren?“ wiederholte Helene und lächelte wehmütig. „Ach, da lebte ich mit George in Saus und Braus in Brüssel. Wir hatten die Reise gemacht nach Südamerika und nach Japan ... In Kioto das Kirschblütenfest, o, das sind Erinnerungen ... Und nun ist man schon glücklich, das kleine Bäumchen hier zu haben, nicht?“
„Sie haben heute bei Armentières nicht so viel geschossen wie vorgestern nacht,“ sagte Frau Babin. „Es muss ja auch einmal zu Ende gehn. Bérisal hat wieder einen ‚Matin‘ bekommen: Joffre plant eine grosse Frühjahrsoffensive. Damit kommt von Tag zu Tag der Sieg näher. Aber die Tage dehnen sich leider mit Frühjahrsbeginn.“
„Stehn Sie nun wieder besser mit Bérisal?“ fragte die junge Frau ihren Besuch voll aufrichtiger Teilnahme. Frau Babin hatte in den letzten Wochen manche Träne bei ihr geweint.
„Gar nicht,“ erwiderte Yvonne an Stelle der Mutter, „und das ist vielleicht das beste. Man darf nur nicht zeigen, dass man Furcht vor ihm hat.“
Trotzdem es ziemlich kühl war, setzten sie sich auf Didelots Steinbank, alle vier eng zusammengedrückt, um sich gegenseitig zu wärmen. Da wurden dann noch rasch die Tagessorgen offenherzig besprochen. Bérisal hatte erst der hübschen Frau Babin, dann ihrer ältesten Tochter nachgestellt. Sie waren beide von seinen Vertraulichkeiten überrascht worden, hatten in ihrer Notlage auch nicht gleich den rechten Abstand zu schaffen gewusst. Yvonnes köstliche Frechheit war ihre Retterin gewesen; nein, was hatte Yvonne lachen können, wenn der verwitterte, eitle Patron seine Huldigungen anbringen wollte.
„Wie ein verliebter Kater sind Sie, Monsieur Bérisal!“ hatte sie zu ihm gesagt. Und sie machte seine süssliche Art nach. Er hatte jetzt ein gefügiges Empfangsfräulein bei sich und liess sie in Ruhe; aber unangenehm scharf konnte er werden, wenn sie sich im Atelier nicht aufmerksam genug gegen seine neue Kundschaft zeigten.
Hauptsächlich deutsche Soldaten waren’s, die sich bei ihm aufnehmen liessen. Léonie konnte den Leder- und Schweissgeruch nicht vertragen, den die meisten Feldgrauen hinterliessen; vielleicht verriet das ihre Miene zu deutlich.
Auch Frau Babin zog die Augenbrauen hoch und war sehr unnahbar, verstand einfach nicht, wenn so ein gewöhnlicher Soldat in seinem schlechten Französisch Ausstellungen an seinen Bildern machte.
Und Yvonne — nun, die platzte ja immer gleich heraus, wenn einer sich versprach.
Heute hatte Bérisal zu Frau Babin gesagt: wenn es ihr nicht mehr passte, bei ihm zu arbeiten — bitte, er konnte jeden Tag Ersatz finden. Platten, Säuren, Papier, es ward sowieso immer schwieriger, noch neue Stoffe hereinzubekommen. Die Kunden, die ja nie lange in Lille blieben, waren ungeduldig, man müsse sie also vertrösten, sich gut mit ihnen stellen, statt sie zu reizen ... Was man, sich dabei im stillen dächte und wünschte, das ginge niemand etwas an; aber klug sein hiesse es jetzt, solang die unglückliche Stadt in Ketten lag.
„Und er hofft ja selbst,“ sagte Léonie, „dass das nicht mehr so lange dauern wird.“
Schon seit Wochen hatten sie verabredet, einmal einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Aus der Stadt heraus durfte man nicht ohne Verkehrsschein, an allen Toren der inneren Festungswälle standen Landsturmposten, auch bei den Durchgängen am Deulekanal, der die Stadt von der Zitadelle schied. Aber die Trambahnfahrt nach Roubaix und Tourcoing war freigegeben. Helene sollte ihnen einmal draussen an dem neuen Boulevard Madeleine ihr Landhaus zeigen.
„Es ist nur bis zum Rohbau gediehen,“ sagte Helene müde lächelnd, „ich bin seit Wochen nicht mehr dort gewesen, und Antoine sagt, jetzt hätte sich die Wache einer Fliegerabwehrbatterie dort eingerichtet, es sei nicht zum Wiedererkennen.“
Léonie wechselte mit Mutter und Schwester einen Blick, sich vorbeugend, und presste dann Helenens Arm noch etwas fester.
„Antoine —! Nun sagen Sie nur, Frau Martin, ist Ihnen nicht auch angst vor dem Mann? Wir sprachen noch auf dem Herweg von ihm. Wenn er mit seinen tückischen kleinen Tollkirschenaugen einen so von der Seite mustert ... Und die Person, mit der er’s hält ... Weisst du,“ wandte sie sich an Yvonne, „das war die mit dem winzigen belgischen Hütchen am vorigen Freitag, um die Herr Bérisal sich so bemüht hat.“
Das Gesicht der Frau Babin sah jetzt abgespannt und alt aus.
„So viel Schmutz schwemmt der Krieg an einen heran,“ sagte sie traurig und strich über die Schulter der Jüngsten.
Helene berichtete, woher sie Antoine kannte. Beim Vater ihrer Freundin Manon Dedonker, dem Notar Léon Ducat am Boulevard Vauban, war Antoine Schofför gewesen. Aus Furcht, von den Deutschen aufgegriffen und nach Deutschland verschleppt zu werden, da er im dienstpflichtigen Alter stand, hielt er sich seit Beginn der deutschen Herrschaft hier verborgen. Es ging ihm schlecht. Von Haus zu Haus hatte er sich als Schlosser, als Mechaniker angeboten; aber nirgends wagte man ihn anzustellen, weil die Deutschen über alle Arbeitskräfte Listen führten. Heute wollte er Manon aufsuchen.
Helene seufzte.
„Da werde ich nun hören, wie’s ihr die Zeit über ergangen ist. Aber es graut mir vor jeder Begegnung mit ihm. Er hat einen Hass auf die ganze Welt — wenigstens auf alle, denen es besser geht als ihm.“
Léonie wusste von Didelot, dass Antoine sich von seiner Freundin Adèle unterstützen lieh. Solange sie Geld habe, sei alles gut, aber wenn sie dann wieder in die Bar müsse, um zu verdienen, gerate er immer ganz aus dem Häuschen.
„Dann ist er eifersüchtig, wisst ihr!“
Sie schraken zusammen, denn man hörte in der Küche sprechen. Didelot hatte Besuch bekommen.
Helene lauschte.
„Antoine —!“ sagte sie stockend und erblasste.
Sofort erhoben sich die drei Damen. Das kleine Sonnenfeuerwerk in der Prunuskugel war auch schon erloschen, und es wurde empfindlich kühl. Wie eine zwitschernde Vogelschar verliess der Besuch den Fabrikhof. Helene trat in die Pförtnerswohnung und entzündete in ihrem halbdunklen Zimmer die Petroleumlampe. Das Herz klopfte ihr. Nebenan, in der Kuche, in der Didelot wohnte, weilte Antoine. Er sprach laut und erregt. Natürlich würde er mit ihr reden wollen. Es war besser, sie ging gleich hinein, als dass er wie neulich anklopfte und bei ihr eintrat. Wenn er seine Freundin in der Bar wusste und seine Eifersucht in Absinth ertränkte, den er sich trotz der Strafbestimmungen der Deutschen noch immer zu verschaffen wusste, dann musste man alles vermeiden, um ihn zu reizen.
Der ehemalige herrschaftliche Schofför steckte in einem blauleinenen Arbeitsanzug, die schwarze Schildmütze hatte er zurückgeschoben, so dass die dichten, schwarzen Haarbüschel ihm in die niedere Stirn hingen. Er rauchte eine Zigarette, war aber schon beschäftigt, eine neue zu drehen. Unter Rauchen, Spucken und Räuspern berichtete er.
„... und ich soll Sie auch grüssen, Frau Martin. Und sie hätte Ihnen alles vergeben, lässt sie Ihnen sagen. Und wenn Sie Geld brauchten, könnten Sie’s haben. Und sie würde ihre Freundin Geneviève Laroche zu Ihnen schicken. Und warum Sie sich hier in der Fabrik vergraben hätten? Sie könnten es doch viel besser haben. Und gelacht hat sie, lustig war sie ...“
„Antoine!“ Ganz bleich vor Schreck sah sie den kleinen, schwarzen Franzosen an. „Sie hatten mir doch versprochen, nichts zu verraten —?!“
„Es kam halt so.“ Er spie an Didelot vorbei im Bogen aus. „O, wir hatten eine sehr spannende Unterhaltung. Eine feine Frau, eine schöne Frau. Ja, die weiss die Feste zu feiern, wie sie fallen. Ich erzählte schon Herrn Didelot. Was, Alterchen?“
Der Einarmige klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie neu, indem er sie zwischen die Knie klemmte. „Sie hätten die hundert Francs nehmen sollen, Antoine, das wäre klüger gewesen, statt sich zu verzürnen.“
„Pah, hundert Francs. Damals, als sie’s noch mit ihrem Vetter hielt, dem Major, da war ich’s doch, der ihnen im Keller die Regimentskasse eingemauert hat. Vierzigtausend waren darin. Mich mit hundert abspeisen? Sie hätte die Kasse Laroche gegeben, der braucht das Geld für Unterstützungen. Und grossmütig: ich sollte auch auf die Liste kommen, wie alle französischen Soldaten, die sich hier noch verborgen hielten. Da bekäme ich neun Francs die Woche. Sie hätte ihr Konto bei der Bank aufgebraucht. Ja, aber Champagner trinken sie dort. Und elegante deutsche Offiziere liegen bei ihr im Quartier. Und da wird nicht gespart. Die kleine Liddy ist auch nicht geizig mit dem, was sie hat. Bande —! Dreitausend hab’ ich verlangt. Ja, da machte sie Augen.“
„Vielleicht hat sie’s wirklich nicht,“ sagte Helene, schwer atmend. „Sie sagten doch, Antoine, Sie wollten ihr nur ins Gewissen reden, weil so viel Schlechtes über sie umläuft.“
Der Schwarzäugige warf seinen Zigarettenstummel in die Ecke.
„Eine Kanaille ist sie. Das sind nun die Führer der Stadt. Ihr Vater auf und davon, sobald es hier brenzlig wurde. Und sie — charmiert mit jedem erstbesten Boche. Wenn ihr Mann das wüsste. Ja, der sitzt drin in Deutschland im belgischen Gefangenenlager und kann sie nicht überraschen. So gibt es hier viele. Aber ich hab’ ihr gesagt, ich sorge dafür, dass sie auf die schwarze Liste kommt. Sobald der Krieg aus ist, wird abgerechnet. Ja, das hab’ ich ihr gesagt. Und das sass. Wie ein Peitschenhieb. Ei, ist sie da aufgefahren. Die Wut —! Ja, und da hat sie sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt, die — die ...“
Rasch fiel Helene ein: „Sie müssen nicht schelten, Antoine. Wir sind alle so unglücklich. Schelten macht es nur hässlicher.“
Er sog an der frisch gedrehten Zigarette. „Die Wahrheit hab’ ich ihr endlich einmal sagen müssen. Ah, das hat wohl getan. Und ihre hundert Francs — auf die pfeife ich. Dreitausend — unter dem nicht.“
Didelot machte ein bekümmertes Gesicht und sagte zu Frau Martin: „Sie hat ihm gedroht, bös gedroht.“
„Gedroht? Womit?“
Antoine lachte. „Nun, womit wohl? Da lebt doch wieder ein hübscher, junger deutscher Offizier in ihrem Haus. Dem wird sie mich anzeigen, hat sie gesagt, wenn ich mich noch einmal bei ihr sehn lasse. Und dann würden sie mich holen und abführen. Und sie würden nun alle vor das Feldgericht gestellt, die dienstpflichtigen Franzosen, die sich noch hier in Lille verborgen halten. Ob ich nicht die Bekanntmachung des Gouverneurs gelesen hätte? Zweimal sei Frist gegeben worden, sich zu melden. Die letzte sei nun verstrichen. Und da würde ich die Kugeln pfeifen hören. Ein Pflänzchen, wie? Ja, das war einmal meine gnädige Herrin. Die schöne Frau Manon. Die elegante Frau Manon. Und wie ich immer schweigen oder lügen musste, he, wenn ich sie im Auto fuhr und wir einen Umweg machten ... Davon hat ihr Vater nie erfahren, ihr Mann erst recht nicht ... Und jetzt hundert Francs!“
„Also sind Sie im Zorn von ihr gegangen?“ fragte Helene stockend.
„Gegangen? Bewahre. Gejagt hat sie mich. Auf die Tür ist sie losgefahren, wo der Deutsche war. Da hiess es Fersengeld geben. Nicht den Sou in der Tasche, nicht den Sou. Aber ich kaufe sie mir noch. Die Boches werden einmal die Stadt räumen — so oder so — und dann kommt der Tag des Gerichts. Sie ist schon reichlich lang, die schwarze Liste.“ Er patschte dem Pförtner aufs Knie. „Alterchen, wie ist das nun mit einem Erfrischungsschluck? Die Flämin im Estaminet drüben soll noch einen ganzen Schrank voll verborgen haben vor den deutschen Spürhunden. Aber mich lässt sie ja nicht mehr ein. Alls haben sie Furcht vor mir, die feigen Hunde.“
Helene hielt schon die ganze Zeit über einen Fünf-Francs-Schein in der Linken. Sie wusste nicht, ob sie’s wagen sollte, ihm das Geld anzubieten. Endlich fasste sie Mut. „Antoine, wenn Fräulein Laroche wirklich einmal herkommen sollte — bitte, bitte, nicht ausplaudern, wo ich bin.“
Er zuckte die Achseln. „Wenn Didelot nicht schwatzt —!“ Natürlich hatte er den Liller Stadtschein in ihrer Hand schon bemerkt. „Nur geliehen!“ sagte er mit Nachdruck, indem er ihr das Papier abnahm.
„Nur geliehen!“ beeilte sie sich zu versichern.
Pfeifend ging er. An der Tür entsann er sich seiner herrschaftlichen Erziehung und wünschte Guten Abend. Draussen pfiff er weiter. Quer über die Strasse ging er auf das Estaminet los.
„C’est la guerre,“ sagte Didelot und sog an seiner erloschenen Holzpfeife. „Er war ein so vornehmer Mensch, der Antoine. Und er liebt Fräulein Adèle. Oh, wie liebt er sie. Nie wird er sich mit einer andern einlassen. Aber es schmerzt ihn, wenn sie in die Bar muss. Ist es ein Wunder? Er hatte gehofft, seine frühere Herrin würde ihm aus der Patsche helfen. Daher nun seine Wut.“ Und er schloss mit der ewigen Formel: „C’est la guerre.“
Noch ein Stündchen sass Helene dann, nachdem sie ihren Abendtee genommen, bei der Arbeit. Es war spinnwebfeine Putzwäsche, so reich verziert, wie sie keine Deutsche tragen würde. Und wohl keine Liller Bürgerin. Sie durfte bei der Arbeit ihre Gedanken nicht schweifen lassen zu denen, die sie tragen würden.
Wie grausam hässlich war ihr Leben geworden!
Nachdem sie die weissschirmige Lampe gelöscht hatte, öffnete sie das Fenster, um den Rauch abziehen zu lassen. Das Rollen und Grollen der schweren Batterien hatte draussen wieder eingesetzt. Es musste in der Richtung von Ypern sein. Alle Tage erwarteten die Franzosen grosse Entscheidungen. Das ging so immer von Mund zu Mund. Sie hörte aber kaum mehr hin, wenn hier die Frauen in den kleinen Kramlädchen, in denen sie ihre Besorgungen machte, die Wissenden spielten und weissagten. Sie waren von so beneidenswerter Hoffnungssicherheit — wie die Kinder waren sie. Hoffnungsleer, mit müd gearbeiteten Augen, suchte Helene ihr Lager auf. Noch lange lauschte sie dem Rollen und Grollen draussen.
Geneviève Laroche liess sich so leicht nicht abspeisen. Der alte Didelot hatte einen harten Stand. Das Fräulein sagte ihm auf den Kopf zu, dass Frau Martin bei ihm wohne. Antoine Bergerat, der Schofför, hatte es ihrer Freundin Manon Dedonker verraten. Sie war auch schon in dem Wäschegeschäft in der Rue Neuve gewesen, in dem Helene jeden Mittwochmorgen ihre Arbeit ablieferte. Sie hatten ja alle angenommen, dass Helene Martin längst nach Deutschland zurückgekehrt sei. Ein Offizier, ein Jugendfreund von ihr, habe ihr doch den Reisepass verschaffen wollen. Ob der sich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal hier habe blicken lassen? Ihr könne er’s ruhig sagen, sie meine es gut mit Frau Martin. Und auch ihr Vater. Er liege heute mit Fieber zu Bett, sonst wäre er gleich mitgekommen, um nach Helene zu sehen. Das sei ja unverantwortlich, dass sie sich so vergraben habe ...
So war Geneviève in die Pförtnerswohnung und in Helenens kleine Stube gekommen. Ganz erschüttert sah sie sich um. Das rot gestrichene Tannenholzbett der verstorbenen Frau Didelot, ein kleiner Petroleumherd, ein Kleiderrechen mit einem Vorhang von Kattun, eine Kommode, ein Waschständer, der Arbeitstisch mit der Handnähmaschine — und an den Wänden die Bilder aus Didelotschem Besitz, die Helenens Taktgefühl nicht zu entfernen wagte.
Hier hauste die Erbin von Millionen, die verwöhnte Tochter des Kommerzienrats Kampff, der bei seinem Tod eine Firma von Weltruf hinterlassen hatte, hier hauste die junge Frau des „smarten“ George Martin, dem die schönsten Perlen, das rascheste Auto, die kostbarsten Orchideen, die prächtigste Villa noch eben gut genug für sie hatten scheinen wollen. Geneviève, trotzdem sie früher als freiwillige Helferin des Roten Kreuzes, später im Dienst des Geheimen Hilfsausschusses ihres Vaters schon Tausende von Gängen in Armenwohnungen und Krankenstuben hinter sich hatte, konnte doch kaum hinwegkommen über die krasse Vorstellung, dass Helene hier Zuflucht gesucht hatte, ihre Freundin Helene, die sie in der Pension in Dinant wegen ihrer vornehmen Haltung, wegen ihrer schönen Erscheinung, wegen ihres gewinnenden Wesens alle, alle so leidenschaftlich angeschwärmt hatten.
Didelot war durch das Elend stumpf geworden, auch durch die Untätigkeit. Früher hatte ihn die Aufsicht hier auf dem grossen Fabrikanwesen dauernd in Atem gehalten. Nach Kriegsausbruch war er lange Zeit hindurch ganz allein in der Fabrik gewesen. Da hatte er täglich einen Angriff des Gesindels, das bei den Wällen hauste, befürchten müssen.
Es hiess, die Fabrik sei deutscher Besitz. Es hing an einem Haar, dass geplündert und verwüstet wurde. Besonders damals, als die Deutschen Brüssel und Antwerpen einnahmen. Aber die Besitzerin hatte nachgewiesen, dass ihr Mann französischer Bürger war; der Wachtmeister von der Porte de Valenciennes hatte es selbst am Fabriktor mit grossen Buchstaben angeschrieben. Von da an liessen sie das Grundstück in Ruhe. Später hatte eine deutsche Militärbehörde alle Vorräte an landwirtschaftlichen Maschinen abgeholt. Und die englischen Flieger hatten dann noch die leeren Schuppen in Trümmerstätten verwandelt.
Seitdem gab es nichts zu befürchten, nichts zu verwalten mehr. Didelot musste zufrieden sein, dass ihm Frau Martin die kleine Miete zahlte. Von der Mairie bekam er wöchentlich eine Anweisung an die spanischamerikanische Lebensmittelverteilung. Vor dem Verhungern war man geschützt. Und „c’est la guerre“ — damit tröstete er sich wie Millionen andere in dem vom Feind besetzten Land.
Mit Leuten seines Schlages wusste Geneviève gut zu sprechen. Sie war ein tapferer Mensch. Ihr Vater, der glühende Patriot, gab ihr Tag für Tag ein Beispiel. Er war durch den Krieg von seinen Weingütern in der Champagne abgeschnitten — Gott mochte wissen, wie es auf denen aussah —, auch mit seinen Zweiggeschäften in Arras und Armentières hatte er keine Verbindung mehr, — aber alles, was er hier an Geldmitteln flüssig machen konnte, opferte er der Sache Frankreichs. Da galt es, Unglücklichen zu helfen, besonders den hungernden Soldaten, die sich seit der Einnahme der Stadt verborgen hielten, noch immer auf die Vertreibung der Deutschen hoffend, oder denen man Mittel und Wege wies, heimlich über die holländische Grenze zu entkommen, um drüben dem Vaterlande ihre Dienste wieder widmen zu können.
Der Einarmige stand an dem kalten Ofen und sog an der erloschenen Pfeife. Ab und zu warf er einen scheuen Blick nach der Tür oder durchs Fenster. Dann musterte er wieder das ernste junge Ding, das ihn nach dem und jenem der Schützlinge ihres Vaters fragte. Solche Französinnen gab es hier nicht in seinem Bereich. Die Weiber klagten nur, die Mädchen beklatschten einander. Eine trug es der andern nach, wenn sie’s mit einem Deutschen hielt. Aber wenn sie hübsch genug waren und Geld brauchten — und sie hatten ja keinen Verdienst sonst mehr —, dann sträubten sie sich nicht allzu ernstlich.
So lange dauerte der Krieg jetzt schon — im vorigen Sommer hatte es geheissen, im Oktober spätestens ständen die Verbündeten in Berlin — wo steckten die tapferen Poilus, nach denen sie sich sehnten? Die Jugend, die Einsamkeit und die Not trieb die armen Dinger den Boches in die Arme — was halfen da die schwarzen Listen!
Nun wusste Geneviève genau Bescheid über Helenens Umgebung. Und ihr Entschluss stand fest: sie musste sie hier wegholen. Jetzt würde Helene die ihr gebotene Hand auch wohl dankbar ergreifen. Die deutsche Heimat, in die sie hatte zurückfinden wollen, stiess sie von sich. Sie musste endlich einsehen: sie gehörte dem Lande, das ihr Mann jetzt Heimat nannte, dessen Schutz er genoss, drüben, jenseits der Schützengräben. Es galt den letzten Rest dieser unfruchtbaren Gefühle zu überwinden. Ach, wenn nur erst ihr Vater mit Helene reden konnte, er verstand es, zu Herzen zu sprechen, die Lauen aufzurütteln. Eine Frau wie Helene, die von ihren ehemaligen Landsleuten so mitleidslos ins Elend gestossen worden war, musste den heiligen Hass in sich erwachen fühlen. Und diesen heiligen Hass galt es zu schüren — um ihn für die grosse Sache auszunutzen.
Seit Wochen zum erstenmal hatte sich Helene heute einen arbeitsfreien Sonntag gegönnt. Sie war mit Frau Babin und deren beiden Töchtern nach Tisch spazierengegangen. Wenn es Yvonne nicht zu sehr anstrengte, wollten sie bis zum Boulevard Madeleine. Vielleicht nahmen sie auch die Strassenbahn, die nach Roubaix führte, bis zu dem Bauplatz, auf dem sich der Rohbau des Martinschen Landhauses befand. Didelot konnte nicht sagen, wann die Damen zurückkehren würden. Vor Dunkelwerden wohl kaum.
Geneviève hatte ihrem Vater versprochen, Helene auf alle Fälle sofort mitzubringen. Er lag daheim in der Inkermanstrasse im Billardzimmer auf dem Diwan, hatte fiebrige Augen und heisse Hände. Von dem Augenblick an, da er erfuhr, Helene Martin weile noch in Lille, hatte es ihm keine Ruhe mehr gelassen. Es hatte Genevièves ganzer Überredungskunst bedurft, ihn davon zurückzuhalten, dass er sie begleitete. Mama und die Geschwister waren schon wieder sehr, sehr eifersüchtig auf Helene. Sie alle wussten, wie tief die Neigung zu der schönen jungen Frau in seinem Herzen wurzelte, wie schwer er damals gelitten hatte, als sie unter dem Einfluss ihres Jugendfreundes, des jungen deutschen Offiziers, sich entschlossen hatte, Lille zu verlassen.
„Ich gebe zu Hause nur Bescheid und komme dann gleich wieder zurück,“ sagte sie zu Didelot. Sie steckte ihm einen Liller Stadtschein zu. „Und wenn Sie’s gut meinen mit Frau Martin, wirklich gut, dann helfen Sie mir, sie wegzubringen von hier. Papa gibt Ihnen, was Sie von ihr bekommen haben. Er ist ja herzensgut. Und er schickt gewiss auch Tabak. Ja, soll ich’s ihm sagen? Ich werde öfter nach Ihnen sehn, wenn ich in die Gegend komme. Draussen in der Rue Roiselle hausen ein paar arme Teufel, die vom Ausschuss Unterstützung haben. Warum hat Antoine sich nie gemeldet? Musste er da am Boulevard Vauban so eine hässliche Szene machen?“
Der Pförtner hob seufzend die Schultern. „Neun Francs die Woche — es hält schwer, damit auszukommen, Fräulein Laroche. Alles ist so teuer geworden. Fleisch schon gar nicht mehr zu haben.“
„Es ist ja nur für den Übergang. Papa hat jetzt tüchtige Agenten an der Hand. Ebenezer Drachman richtet den Dienst an der holländischen Grenze ein. Jede Woche bringen sie einen Schub hinüber.“ Sie sah ihn strahlend an. „Vorgestern war es der hundertste.“
„Alles Leute vom fünften und achten Territorialregiment? Die damals vor den Deutschen geflüchtet sind?“
„Hauptsächlich. Aber es sind ja noch immer Hunderte versteckt. Auch von den Dreiundvierzigern. Sie wagen sich bloss nicht ans Licht — vertrauen selbst den nächsten Bekannten nicht mehr. Es gibt ja auch leider so viele Liller, die ihre Landsleute um ein Trinkgeld an die Deutschen verraten würden. Darum heisst es: vorsichtig arbeiten!“
„Und Sie haben gar keine Furcht, Fräulein Laroche, dass irgendein schlechter Kerl Sie einmal angeben könnte?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Feind. So wenig wie Papa je einen Feind hatte.“
„Wären nur alle Franzosen so wie Sie und Ihr Vater.“ Hüstelnd klopfte er die kalte Pfeife aus. „Der Krieg hat hier viele, viele schlecht gemacht, Männer und Frauen. Ich glaube nicht mehr daran, dass Frankreich sich je wieder erholt von diesen Schlägen.“
„Didelot —!“ Sie rief es in hellem Zorn. Ein paar Augenblicke suchte sie nach Worten. Aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte lächelnd: „Sie werden ja bald einmal Papa sehen und hören, Didelot. Der wird Ihnen schon den Kopf zurechtsetzen. Und das Herz.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um, und ein Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht. „Und den Tabak werde ich nicht vergessen.“
Auch als Geneviève zum zweitenmal kam, war Helene von ihrem Sonntagsausflug noch nicht zurückgekehrt. Das war dem Alten ganz unbegreiflich. Es war schon weit über acht Uhr — um Neun aber war Zapfenstreich für die gesamte Bevölkerung. Vielleicht war Frau Martin noch mit den Babins nach der Rue Trochu gegangen. Didelot hätte die junge Dame gern noch dahin begleitet, aber in der Dunkelheit, die hier herrschte, wagte er den nächtlichen Ausflug nicht: wer nach Zapfenstreich einer Patrouille der Deutschen begegnete, der musste zur Wache mit.
Geneviève wartete, wartete. Zehn Minuten vor Neun musste sie’s aufgeben, die Freundin heute noch zu sprechen. Und nun galt es einen Eilmarsch, um noch vor dem neunten Glockenschlag die Rue Inkerman zu gewinnen. Unweit des Hauses befand sich die Post. Der deutsche Wachtposten, der dort an der Ecke stand, würde sie nicht ohne weiteres vorbeilassen. Sie hielten sich an den Buchstaben ihrer Befehle, diese starrköpfigen Landsturmleute aus Göttingen und Kiel.
Das Abendkonzert der Engländer bei Armentières hatte wieder eingesetzt: Geschützdonner rollte, der Regen kündende Westwind trug zuweilen sogar das Prasseln des Maschinengewehrfeuers herüber. Die Gasse, die zur Fabrik führte, lag tot und schwarz da. Nur durch den roten Vorhang des Estaminetfensters drüben drang ein Lichtschimmer auf die Strasse.
Didelot fasste es nicht, dass die stille, ängstliche, vergrämte junge Frau, die hier nun schon seit Monaten nur der Arbeit lebte, es wagte, das strenge Gebot der Deutschen zu übertreten. Es schlug von der Hospitalkapelle bei der Porte de Douai schon zehn Uhr, als hastige Schritte sich näherten. Der Alte tastete sich in den Fabrikhof und öffnete vorsichtig die Nebenpforte. „Madame —?!“
Ja, sie war’s. Bleich und doch erregt, noch atemlos von der Hast, wohl auch von der Angst, unterwegs von einer Patrouille angehalten zu werden, huschte sie herein.
„Gottlob!“ stiess sie aus, als sie in der Pförtnerwohnung war.
Sie ging in ihr Zimmer, legte Hut und Jacke ab und setzte sich im Dunkeln auf die Bettstatt. Inzwischen hatte der Einarmige das Fabriktor und die Haustür geschlossen. Mit der Laterne kam er an die Schwelle ihrer Stube und fragte, ob er ihr die Lampe anzünden sollte.
„Nein, nein, danke.“ Dann entsann sie sich, dass er ihrethalben länger als sonst aufgeblieben war, und gab eine kurze Erklärung. Yvonne Babin war unterwegs ohnmächtig geworden; der Spaziergang hatte die Kleine zu stark angegriffen; sie hatten Mühe gehabt, sie nach Hause zu bringen; und Challier hatte noch einen Arzt herbeigeholt.
Didelot seufzte. Er hätte jetzt wohl wieder sein übliches: „C’est la guerre“ angebracht. Aber etwas Unerwartetes geschah. Die stille, gelassene, sonst immer so unverdrossene junge Frau liess sich plötzlich zur Seite sinken, schlug mit dem Kopf aufs Bett und schluchzte — schluchzte so herzzerbrechend, so hingegeben einem tiefen, schweren Leid, dass der Einarmige seine Formel vergass. Durch seinen Sinn flog etwas wie die Erinnerung an eine Zeit, über die ein Menschenalter hingegangen war, an Frühlingswanderungen in der jung erwachenden Natur Flanderns. Bekümmert, mitleidig und voll Verstehens sagte er: „C’est le printemps, madame!“
Eine Antwort kam nicht. Die junge Frau weinte noch immer. Allmählich klang es etwas ruhiger, leiser. Didelot machte einen Gang durch die Küchenstube. Dann zog er die Wanduhr auf. Darauf wartete er ein Weilchen stillgeduldig. Da das leise Weinen aber nicht aufhörte, schlürfte er auf der knarrenden, sandbestreuten Diele zur Tür, harrte hier abermals einer Weisung, die nicht kam, einer Erklärung, die er nicht erwarten konnte, einer Gelegenheit, über den Besuch von Fräulein Laroche zu sprechen. Sie weinte, weinte ... Da zog er denn endlich so geräuschlos, als das verquollene Holz es zuliess, die Tür ins Schloss, nahm die Laterne auf und begann seinen seit so vielen Jahren gewohnten Rundgang durch die zerstörte Fabrik, in der es nichts mehr zu bewachen gab ...