Foto: Marianna Sárközy
Péter Gárdos, 1948 in Budapest geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Film- und Theaterregisseur. Fieber am Morgen ist sein erster Roman, der weltweit in sechsundzwanzig Ländern erscheint und den er selbst fürs Kino verfilmt hat.
Das Zitat stammt aus dem Gedicht An der Donau (1936) von Attila József, deutsch von Wilhelm Droste.
Kleines Kerlchen, noch weißt du nicht, was die Stirn
unseres Erdteils hat so tief zerfurcht,
für dich hier im Norden war’s nur ein Gestirn
das Flugzeug am Himmel, für uns war’s Furcht.
Miklós Gárdos,
An einen schwedischen Jungen
Es war ein verregneter Sommertag, als mein Vater mit dem Schiff nach Schweden gebracht wurde. Das Kriegsende lag kaum drei Wochen zurück. Ein stürmischer Nordwind wehte, und die Fähre schlingerte durch zwei bis drei Meter hohe Wellen über die Ostsee in Richtung Stockholm.
Mein Vater war auf dem Unterdeck untergebracht worden. Die Menschen lagen auf Strohsäcken, die sie verzweifelt umklammerten, um in dem furchtbaren Auf und Ab Halt zu finden. Seit das Schiff abgelegt hatte, war noch keine Stunde vergangen, als es meinem Vater plötzlich sehr schlecht ging.
Zuerst hustete er nur blutigen Schaum und krümmte sich vor Schmerzen, dann wurde sein Atem immer mehr zu einem Röcheln, so laut, dass es fast das Schlagen der Wellen gegen den Schiffsrumpf übertönte.
Da mein Vater zu den schwereren Fällen gehörte, lag er in der ersten Reihe, unmittelbar neben der Luke. Als es ihm nun so schlecht ging, kamen zwei Matrosen und trugen seinen mageren Körper in die Nachbarkajüte.
Der Arzt zögerte nicht. Es war keine Zeit, sich um Schmerzmittel zu kümmern. Mit einer großen Nadel stach er zwischen zwei Rippen hindurch in den Brustkorb meines Vaters. Er vertraute auf sein Glück, dass die Spritze an der richtigen Stelle landete. Während der Arzt ungefähr einen halben Liter Flüssigkeit aus der Lunge meines Vaters zog, wurde das Absauggerät gebracht. Der Arzt tauschte die Spritze gegen ein Kunststoffröhrchen aus und saugte noch schnell anderthalb Liter Schleim ab.
Bald ging es meinem Vater besser.
Als der Kapitän erfuhr, dass der Arzt einem der Passagiere das Leben gerettet hatte, erwies er meinem Vater eine besondere Gunst: Er durfte in dicke Decken gehüllt auf dem Oberdeck sitzen.
Über dem granitgrauen Wasser sammelten sich dichte Wolken. Der Kapitän stand in seiner makellosen Uniform neben dem Liegestuhl meines Vaters.
»Sprechen Sie Deutsch?«
Mein Vater nickte.
In besseren Zeiten hätte das vielleicht der Auftakt zu einer aufschlussreichen Unterhaltung sein können. Mein Vater war jedoch nicht in der Verfassung für ein höfliches Gespräch. Er schaffte es gerade so, seine Kooperationsbereitschaft zu signalisieren.
»Ich lebe.«
Der Kapitän musterte ihn. Aschfahle Haut spannte sich über seinem Schädel, durch die Brillengläser verzerrt, wirkten die Pupillen riesig, und in seinem Mund tat sich eine dunkle Höhle auf. Damals hatte mein Vater so gut wie keinen Zahn mehr.
Was genau geschehen war, weiß ich nicht. Vielleicht hatten drei grobschlächtige Handlanger des Regimes eine schmächtige Gestalt in einem Luftschutzkeller halb totgeschlagen. Vielleicht hatte an der Decke eine einzige, nackte Glühbirne gehangen. Vielleicht hatte einer der Schläger, der mit dem nackten Oberkörper, ein Bügeleisen in der Hand gehabt, mit dem er den Gefangenen mit der eingefallenen Brust, meinen Vater, mehrmals ins Gesicht geschlagen hatte.
Die offizielle Version besagt lakonisch, dass ihm die meisten Zähne 1944 im Zuchthaus am Margarethenring in Budapest ausgeschlagen worden waren.
Aber hier und jetzt lebte er tatsächlich, er atmete, wenn auch etwas pfeifend, und seine Lunge tat ihr Bestes, um die frische Meeresluft aufzunehmen.
Der Kapitän blickte durch sein Fernrohr.
»Wir legen für fünf Minuten in Malmö an.«
Diese Information sagte meinem Vater sehr wenig. Er war bloß einer von zweihundertfünfundzwanzig kranken Menschen in außerordentlich schlechtem gesundheitlichen Zustand, die von Lübeck nach Stockholm gebracht wurden. Manche von ihnen wären schon glücklich gewesen, wenn der Kapitän ihnen hätte versichern können, dass sie den Zielhafen lebend erreichen würden. Einige Minuten Aufenthalt in Malmö spielten für sie nicht die geringste Rolle. Der Kapitän fuhr jedoch fort, als erstattete er einem Vorgesetzten Bericht.
»Den Befehl habe ich über Funk erhalten. Diese Unterbrechung war in der planmäßigen Route nicht vorgesehen.«
Das Schiffshorn tutete. Im Nebel tauchten die Docks des Hafens von Malmö auf. Mein Vater blickte nach oben, über ihm kreisten Möwen.
Sie legten ganz am Ende der Mole an.
Zwei Matrosen seilten sich ab und rannten die Mole entlang. Sie trugen einen leeren Henkelkorb, einen Korb, so hat es mein Vater beschrieben, in dem normalerweise traurige Waschfrauen die Wäsche auf den Dachboden trugen. Am Ende der Mole war eine Schranke, hinter der eine Gruppe von Frauen mit Fahrrädern wartete.
Es waren vielleicht fünfzig Frauen. Stumm und reglos standen sie da. Sie umklammerten die Lenker ihrer Fahrräder, viele von ihnen trugen schwarze Kopftücher. Sie sahen aus wie Raben, die auf einem Ast hockten.
Erst als die beiden Matrosen bei der Schranke ankamen, fiel meinem Vater auf, dass an den Fahrradlenkern kleine Päckchen und Körbe hingen. Der Kapitän legte seine Hand auf die Schulter meines Vaters.
»Dahinter steckt ein umtriebiger Rabbi. Er hat eine Anzeige in den Morgenzeitungen schalten lassen, worin steht, dass Sie und all die anderen mit diesem Schiff nach Schweden unterwegs sind. Er hat sogar erreicht, dass wir hier anlegen.«
In kürzester Zeit füllten die Frauen den großen Henkelkorb mit dem, was sie mitgebracht hatten. Eine, die etwas weiter hinten stand, ließ ihren Lenker los, und das Rad kippte um. Vom Deck des Schiffs aus hörte mein Vater das metallische Scheppern, als das Fahrrad auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug, was aus so einer Entfernung eigentlich unmöglich war. Aber wenn er später von dieser Szene erzählte, vergaß er nie, dieses Geräusch zu erwähnen.
Als sie alles eingesammelt hatten, rannten die Matrosen mit dem Korb zwischen sich zurück zum Schiff. Dieses Bild setzte sich in der Erinnerung meines Vaters fest: die merkwürdig leere Mole, die Matrosen, wie sie mit dem Henkelkorb rannten, und im Hintergrund die seltsame, reglose Truppe von Frauen.
In den kleinen Päckchen war Kuchen, den unbekannte schwedische Frauen gebacken hatten, um ihre Ankunft in Schweden zu feiern.
Mein Vater ließ das feine, weiche Gebäck in seinem zahnlosen Mund zergehen. Es schmeckte nach Vanille und Himbeere.
»Schweden möchte Sie willkommen heißen.«
Das oder etwas in der Art brummte der Kapitän, als er fortging, um anzuordnen, dass sie nun ablegen konnten, und kurz darauf entfernte sich das Schiff bereits vom Ufer.
Mein Vater schluckte genüsslich den Kuchen.
Am Himmel drehte zwischen den Wolken ein Doppeldecker zwei Begrüßungsrunden über ihnen. Allmählich bekam mein Vater das Gefühl, tatsächlich am Leben zu sein.
Am 7. Juli 1945 lag mein Vater bereits mit einem Kissen im Rücken in einem Krankensaal mit sechzehn Betten im Krankenhaus von Lärbro, einem Dorf auf Gotland, und schrieb einen Brief.
Das Sonnenlicht fiel in goldenen Strahlen durch die Fenster. Zwischen den Betten liefen Schwestern in gestärkten Blusen, weißen Hauben und bodenlangen Leinenröcken geschäftig umher.
Mein Vater hatte eine sehr schöne Handschrift: wohlgeformte Buchstaben, elegante Schleifen und genau der richtige Abstand zwischen den Wörtern.
Nachdem er den Brief beendet hatte, steckte er ihn in einen Umschlag, den er zuklebte und an einen vollen Wasserkrug lehnte, der auf seinem Nachttisch stand.
Den Umschlag nahm zwei Stunden später eine Krankenschwester namens Katrin an sich und brachte ihn zusammen mit den Briefen der anderen Patienten zur Post.
Mein Vater durfte nur selten aus seinem Krankenhausbett aufstehen. Elf Tage später war es ihm aber zumindest schon erlaubt, sich auf den Gang des Krankenhauses von Lärbro zu setzen. Er hatte sich irgendwoher ein dünnes Heft mit karierten Seiten besorgt, in das er Namen notierte.
Am Vormittag war die Post verteilt worden. Auch für ihn war ein Brief dabei gewesen, der direkt von der Zentralen Meldebehörde für Flüchtlinge in Schweden kam.
Der Brief enthielt die Namen und Adressen von hundertsiebzehn Frauen.
Mein Vater hielt die Anschrift von einhundertsiebzehn jungen Frauen und Mädchen in der Hand, die ins Leben zurückzuholen man sich in provisorisch eingerichteten Krankenhäusern in ganz Schweden bemühte.
Die schlimme Nachricht über seinen eigenen Gesundheitszustand hatte man ihm zu diesem Zeitpunkt bereits mitgeteilt.
Mein Vater presste den Brustkorb gegen die Innenseite des Röntgengeräts und versuchte, sich nicht zu bewegen.
Chefarzt Doktor Lindholm rief ihm aus dem Nachbarzimmer seine Anweisungen zu.
Lindholm war ein hagerer Mann von zwei Metern, der ein lustiges Ungarisch sprach. Die langen Vokale klangen bei ihm fast alle gleich, er sprach sie so aus, als würde er einen Luftballon aufblasen. Er war seit zwölf Jahren Chefarzt des Krankenhauses von Lärbro. Seine Frau Márta – eine Frau von erstaunlich kleinem Wuchs, mein Vater schätzte sie auf gerade mal einsvierzig – war Ungarin, was seinen erheiternd bravourösen Umgang mit der Sprache erklärte.
»Halten Sie Luft an! Nicht zappeln!«
Ein Klicken, ein Summen, und schon war das Röntgenbild fertig.
Mein Vater durfte die Schultern wieder hängen lassen.
Lindholm stand bereits neben ihm. Er blickte mitleidig, gar nicht wirklich zu meinem Vater, eher ein wenig über seinen Kopf hinweg. Mein Vater stand einfach da, neben dem Röntgengerät, halb nackt, mit eingefallenem Brustkorb, als wollte er sich nie wieder anziehen.
Seine dicken Brillengläser waren leicht beschlagen.
»Was ist Ihr Beruf, Miklós?«
»Ich war Journalist. Und Dichter.«
»Ach, ein Seeleningenieur. Wie schön.«
Mein Vater verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Er fror.
»Ziehen Sie sich Sachen an, was stehen Sie so herum?«
Mein Vater schlurfte in die Ecke des Raumes und zog seine Pyjamajacke an.
»Ist es schlimm?«
Lindholm sah ihm nicht in die Augen. Er ging hinüber in sein Zimmer, bedeutete meinem Vater mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und murmelte die Antwort nur wie nebenbei.
»Ja, es ist schlimm.«
Von Doktor Lindholms Zimmer aus blickte man in den Garten. An diesen warmen Sommerabenden glänzte die Insel Gotland in einem messinggelben Licht, in das die Landschaft aus allen erdenklichen Winkeln getaucht wurde. Das Dunkelbraun der Möbel strahlte Wärme und Sicherheit aus.
Mein Vater, im Pyjama, saß in einem Ledersessel.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtischs, saß Doktor Lindholm, er hatte sich umgezogen und trug nun eine Weste.
Besorgt durchforstete er die Akte mit den Befunden meines Vaters. Dann schaltete er die meergrüne Schreibtischlampe an, obwohl das gar nicht notwendig war.
»Wie viel Kilos wiegen Sie jetzt, Miklós?«
»Siebenundvierzig Kilo.«
»Na, sehen Sie. Das läuft doch wie Schnürchen.«
Er spielte darauf an, dass es mithilfe seiner drastischen Kur gelungen war, das Gewicht meines Vaters von neunundzwanzig auf siebenundvierzig Kilo zu erhöhen.
Mein Vater knöpfte seine Pyjamajacke auf und zu. Sie war ihm viel zu groß und hing an ihm herunter wie ein Sack.
»Wie hoch war Ihr Fieber heute Morgen?«
»Achtunddreißig Komma zwei.«
Lindholm warf die Befunde auf den Tisch.
»Gut, ich gehe nicht mehr um den heißen Brei herum. Sagt man so? Sie sind inzwischen stark genug, um die Tatsachen anzusehen.«
Mein Vater musste schmunzeln.
Fast alle seine Zähne waren aus Wipla. Dabei handelte es sich um eine Metalllegierung für Zahnprothesen, die säureresistent, billig und hässlich war. Mein Vater war gleich am Tag nach seiner Ankunft in Lärbro von einem Arzt besucht worden, der einen Abdruck anfertigte, um neue Zähne für ihn machen zu lassen. Er warnte ihn, dass sein vorläufiges Gebiss eher praktisch als ästhetisch sein würde. Und dann setzte er ihm diesen Metallhaufen in den Mund. Das Lächeln meines Vaters war alles andere als herzerwärmend.
Aber Lindholm zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ich komme zur Sache direkt. So ist es einfacher. Sie haben noch sechs Monate zu leben, Miklós.« Er nahm eine Röntgenaufnahme vom Tisch und hielt sie vors Fenster. »Sehen Sie sich an. Kommen Sie näher.«
Mein Vater sprang auf und beugte sich über den Schreibtisch. Lindholms schmale Finger bewegten sich über die verschwommene Landschaft der Röntgenaufnahme.
»Hier, hier, hier und hier. Sehen Sie diese Stellen, Miklós? Überall Dünnheiten Ihrer Lunge vom Fleckfieber. Und Sie sehen diese dunklen Stellen? Das ist Ihre Tuberkulose. Das sind Schäden fürs Leben. Leider keine Möglichkeit, die rückgängig zu machen. Sie rückgängig zu machen. Es ist schlimm, so etwas auszusprechen. Man könnte sagen, die Krankheit … verschlingt Ihre Lunge. Kann man so sagen auf Ungarisch? Verschlingen?«
Sie betrachteten eingehend die Röntgenaufnahme.
Mein Vater stützte sich ein wenig auf dem Schreibtisch ab, er war nicht ganz bei Kräften. Dennoch nickte er, um zu signalisieren, dass der Herr Doktor sich geschickt durchs Dickicht der ungarischen Sprache bewegte. »Verschlingen« war ein ausreichend präziser Ausdruck, um ohne medizinischen Fachjargon die gar nicht so ferne Zukunft zu veranschaulichen.
Mein Großvater väterlicherseits hatte vor dem Krieg eine Buchhandlung in Debrecen gehabt. Das Geschäft befand sich im Gebäude des Bischofspalastes, unter den Arkaden, mitten in der Stadt, nur einige Minuten Fußweg vom Marktplatz entfernt. Diesen Teil des Bischofspalastes nannte man Gambrinus-Hof, dementsprechend hieß der Laden Gambrinus-Buchhandlung. Sie bestand aus drei schmalen, hohen Räumen. Mein Großvater verkaufte auch Schreibwaren, und manche Bücher konnte man sich bei ihm sogar ausleihen.
In diesem Laden hatte sich mein Vater in seiner Jugend auf der obersten Sprosse einer langen Holzleiter durch die Weltliteratur gelesen. Er wusste Lindholms poetische Formulierung also durchaus zu schätzen.
Doktor Lindholm blickte meinem Vater tief in die Augen.
»Sie sind unheilbar krank, nach allem, was die Medizin heute weiß. Es wird bessere Perioden geben. Und schlechtere. Ich werde Ihnen immer beistehen. Aber ich will Ihnen nichts vormachen. Sechs Monate. Höchstens sieben. Das schnürt mir das Herz ein. Aber das ist die Wahrheit.«
Mein Vater richtete sich auf. Er lächelte immer noch. Er wirkte beinah heiter, als er sich wieder in den großen Ledersessel fallen ließ.
Doktor Lindholm war sich nicht sicher, ob mein Vater die Diagnose verstanden und begriffen hatte. Dabei war mein Vater einfach mit wichtigeren Fragen als seiner Lebensdauer beschäftigt.
Zwei Wochen nach dem Gespräch mit Lindholm durfte mein Vater bereits kurze Spaziergänge im prachtvollen Garten des Krankenhauses machen. Dann setzte er sich unter einen Baum auf eine Bank, in den Schatten der dichten Krone.
Er blickte selten auf. Er schrieb seine Briefe, einen nach dem anderen. Er schrieb mit Bleistift, in seiner wunderschönen Handschrift. Als Schreibunterlage benutzte er die schwedische Ausgabe eines Romans von Martin Andersen Nexø. Er bewunderte Nexø für seine politischen Ansichten, und in seinen Romanen gefielen ihm die einfachen Arbeiter mit ihrem wortkargen Mut. Vielleicht ging ihm sogar der Gedanke durch den Kopf, dass der große Däne ebenfalls an Tuberkulose erkrankt und davon genesen war.
Mein Vater schrieb schnell. Die fertigen Briefe beschwerte er mit einem Stein, damit sie nicht vom Wind weggeweht wurden.
Am nächsten Tag klopfte er an die Tür des Chefarztes. Er war fest entschlossen, Doktor Lindholms Herz mit entwaffnender Offenheit zu erweichen. Er war auf seine Hilfe angewiesen.
Tagsüber führte Lindholm die Gespräche mit seinen Patienten stets auf dem Sofa. Er saß in seinem weißen Kittel auf der einen Seite des Ledersofas, auf der anderen saß mein Vater, im Pyjama.
Der Arzt sah sich überrascht die vielen Umschläge an.
»Normalerweise wir fragen unsere Patienten nicht, wem sie schreiben und warum. Und auch jetzt frage ich nicht aus Neubegier …«
»Ich weiß. Aber ich möchte Sie unbedingt in die Sache einweihen.«
»Miklós, Sie sagen, das hier sind hundertsiebzehn Briefe. Ich gratuliere Ihnen für Ihre rege Korrespondenz.« Lindholm hob einen der Briefstapel ein wenig an, als wollte er dessen Gewicht abwägen. »Ich sage der Schwester gleich Bescheid, sie soll Briefmarken kaufen. Kommen Sie bei finanziellen Angelegenheiten vertrauensvoll zu mir.«
Mein Vater schlug ein Bein übers andere und saß in einer Haltung da, die von einer gewissen Unbescheidenheit zeugte. Er lächelte.
»Bei den Adressaten handelt es sich um lauter Frauen.«
Lindholm hob die Augenbrauen.
»Tatsächlich?«
»Junge Frauen. Ungarinnen. Aus Debrecen und Umgebung. Ich wurde auch dort geboren.«
»Ich verstehe.«
Lindholm verstand gar nichts. Er konnte sich nicht vorstellen, was mein Vater mit all diesen Briefen vorhatte. Aber er bemühte sich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck, schließlich hörte er einem Todgeweihten zu.
Erleichtert fuhr mein Vater fort: »Ich habe mich vor zwei Wochen nach Frauen erkundigt, die in Debrecen oder in der Nähe geboren wurden und die jetzt hier in Schweden gepflegt werden. Aber nur nach Frauen unter dreißig.«
»Sie meinen, in den Krankenhausbaracken? Ah!«
Sie wussten beide, dass es außer dem Krankenhaus in Lärbro noch mehrere Dutzend ähnlicher Einrichtungen im ganzen Land gab – Krankenhäuser, Kurheime, »Ausländerlager« genannte Lazarette, Sanatorien –, in denen die Überlebenden der Konzentrationslager, die mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes nach Schweden gebracht worden waren, medizinisch versorgt und gepflegt wurden.
Mein Vater richtete sich auf. Er war wirklich stolz auf seinen Schlachtplan.
»Ja, es gibt dort unzählige Frauen. Junge Mädchen. Ehefrauen. Sehen Sie, hier habe ich die Namensliste!«
Er holte aus der Tasche seiner Pyjamajacke die Liste hervor. Er errötete, als er das Blatt Doktor Lindholm gab. Die Liste war eingehend untersucht worden. Mein Vater hatte Kreuze, Häkchen und kleine Dreiecke neben die Namen gezeichnet.
»Ach so, Sie suchen nach Bekannten! Das stütze ich unter.«
»Sie missverstehen mich. Ich suche eine Frau. Ich möchte heiraten.«
Mein Vater blinzelte und lächelte. Endlich hatte er es ausgesprochen. Er lehnte sich zurück und wartete Lindholms Reaktion ab.
Doktor Lindholm zog die Stirn in Falten.
»Lieber Miklós, mir scheint, ich habe das letzte Mal nicht eindeutig genug ausgedrückt.«
»Doch, Herr Doktor, das haben Sie.«
»Wahrscheinlich hat mich die Sprache im Stich gelassen! Ungefähr sechs Monate. So viel Zeit bleibt Ihnen noch. Wissen Sie, wenn ein Arzt so etwas sagt, ist das für ihn am schlimmsten.«
»Herr Doktor, ich habe Sie vollkommen verstanden.«
Dazu war nichts mehr zu sagen. Also saßen sie schweigend auf dem Sofa.
So verbrachten sie noch etwa fünf Minuten, die Stille wurde zunehmend unbehaglich. Lindholm dachte darüber nach, ob es zu seinen Aufgaben gehörte, einen Todkranken zu belehren, ihn aufzufordern, seine Möglichkeiten nüchtern zu erwägen. Und mein Vater dachte darüber nach, ob es sich lohnte, einem erfahrenen Arzt zu erklären, was es mit einem optimistischen Weltbild auf sich hatte. Schließlich ließen sie einander aber doch lieber in Ruhe.
Mein Vater wollte Doktor Lindholm nicht unnötig mit den Einzelheiten seines komplizierten Plans belasten, mit dem er sein Vorhaben zu verwirklichen gedachte. Was das Wesentliche betraf, war er ja ehrlich gewesen.
Am Nachmittag legte er sich, wie es die Therapie empfahl, ins Bett und lehnte sich in seine Kissen zurück.
Das Bett stand an der Wand einer größeren Holzbaracke, in die man noch weitere fünfzehn Betten gezwängt hatte. Es war gegen vier Uhr, Zeit für die Nachmittagsruhe, zu der sich die Patienten in der Baracke aufhalten mussten. Viele schliefen, manche spielten Karten, und Harry spielte auf seiner Geige mit nervenaufreibendem Eifer immer wieder die verzwickteste Passage im Schlusssatz einer romantischen Sonate.
Mein Vater versah währenddessen alle hundertsiebzehn Umschläge mit Briefmarken. Er leckte sie an, klebte sie auf, leckte sie an, klebte sie auf. Wenn ihm der Mund trocken wurde, trank er einen Schluck aus dem Glas, das auf seinem Nachttisch stand. Vermutlich erschien ihm Harrys Geigenspiel als ausgesprochen angemessene musikalische Untermalung seiner Tätigkeit.
Die hundertsiebzehn Briefe sahen fast so aus, als hätte man sie mit Durchschlagpapier geschrieben. Sie unterschieden sich nur in einem einzigen Wort: dem Namen in der Anrede.
Ob mein Vater sich wohl je vorgestellt hat, was die Frauen empfanden, als sie den an sie adressierten Brief öffneten? Als sie das Papier aus dem Umschlag zogen und die schöne, regelmäßige Schrift erblickten?
Oh, diese Frauen!
Wie sie auf dem Rand von Krankenhausbetten saßen, auf Gartenbänken, wie sie in einem verborgenen Winkel von nach Medizin riechenden Gängen stehen blieben, vor doppelt verglasten Fenstern, auf schartigen Treppenstufen, unter sanften Linden, am Ufer kleiner Teiche oder wie sie sich gegen kalte gelbe Kacheln lehnten.
Ob mein Vater sie wohl vor sich sah, wie sie in ihren Nachthemden oder den gräulich weißen Uniformen die Umschläge öffneten?
Wie sie die Zeilen zunächst verlegen, dann hin und wieder lächelnd, mit immer schnellerem Herzschlag oder einfach nur völlig überrascht lasen – und dann noch einmal lasen?
Liebe Nóra, liebe Erzsébet, liebe Lili, liebe Zsuzsa, liebe Sára, liebe Szeréna, liebe Ágnes, liebe Giza, liebe Baba, liebe Katalin, liebe Judit, liebe Gabriella …
Sie sind wahrscheinlich bereits daran gewöhnt, von Unbekannten angesprochen zu werden, wenn Sie Ungarisch sprechen – unter dem Vorwand, dass die betreffende Person auch aus Ungarn stamme. Langsam verlieren wir jeglichen Anstand.
Ich zum Beispiel habe mir die obige vertrauliche Anrede einzig aus dem Grund erlaubt, weil wir aus derselben Stadt stammen. Ich weiß nicht, ob Sie mich aus Debrecen kennen – ich habe bis zu dem Zeitpunkt, als mich mein Heimatland zum Arbeitsdienst »einberufen« hat, für die Zeitung Független Újság gearbeitet, und meinem Vater gehörte die Buchhandlung im Bischofspalast.
Mir kommt Ihr Name bekannt vor, und auch vom Alter her könnte es stimmen – Sie haben doch im Gambrinus-Hof gewohnt, nicht wahr?
Verzeihen Sie, dass ich mit Bleistift schreibe, aber auf ärztliche Anordnung muss ich einige Tage im Bett verbringen …
Einer der hundertsiebzehn Briefe war an eine gewisse Lili Reich adressiert, ein achtzehnjähriges Mädchen, das zurzeit im Ausländerlager von Smålandsstenar lebte.
Sie öffnete den Brief, las ihn aufmerksam, und nachdem sie festgestellt hatte, dass der junge Mann, der ihr mit seiner schönen Schrift aus dem fernen Lärbro schrieb, sie offensichtlich mit jemandem verwechselte, vergaß sie das Ganze.
Außerdem war sie gerade mit aufregenderen Dingen beschäftigt. Sie und ihre beiden neuen Freundinnen, Sára Stern und Judit Gold, hatten nämlich einige Tage zuvor beschlossen, dem eintönigen, endlos erscheinenden Alltag der langsamen Genesung ein Ende zu bereiten. Judit Gold war eine Frau mit Pferdegesicht, und über ihrem schmalen, strengen Mund wuchsen dunkle Härchen. Sára Stern war ihr genaues Gegenteil: Sie war blond, zerbrechlich und hatte schmale Schultern und schöne Beine.
Die drei Freundinnen träumten von einem ungarischen Abend, den sie auf der Bühne des Kulturhauses im Ausländerlager veranstalten wollten. Alle drei hatten sich früher in irgendeiner Form mit Musik beschäftigt. Lili Reich hatte acht Jahre lang Klavier gespielt. Sára Stern hatte in einem Chor gesungen. Judit Gold hatte vor dem Krieg Tanzunterricht genommen. Erika Friedmann und Gitta Pláner schlossen sich ihnen einfach nur aus Begeisterung an.
Das Programm für die knapp dreißigminütige Aufführung tippten sie auf der Schreibmaschine des Ärztezimmers und hängten es dann an drei gut sichtbaren Stellen aus. All die quietschenden Holzstühle des Kulturhauses waren von Neugierigen besetzt. Die meisten von ihnen waren Patienten aus dem Ausländerlager, aber auch aus der Kleinstadt Smålandsstenar waren Leute gekommen.
Die Aufführung war ein riesiger Erfolg.
Nach dem letzten Teil, einem schwungvollen Csárdás, wollte der Beifall nicht abebben, sodass die fünf jungen Frauen mit schamroten Wangen immer wieder auf die Bühne kommen mussten.
Als sie dann endlich hinter den Kulissen waren, verspürte Lili plötzlich einen starken Schmerz im Bauch, der sich zunehmend verstärkte. Lili krümmte sich, presste die Hand gegen den Bauch und stöhnte leise vor sich hin. Sie legte sich auf den Boden. Ihre Stirn war schweißüberströmt.
Sára, ihre engste Freundin, hockte sich neben sie.
»Was ist los, Lili?«
»Es tut entsetzlich weh.«
Dann verlor sie für eine Weile das Bewusstsein.
Sie erinnerte sich nicht, wie sie in den Krankenwagen gelangt war, in dem sie nun lag und wo sich Sáras verschwommenes Gesicht über sie beugte. Lili sah, dass sie ihr etwas zurief, hörte jedoch nichts.
Später dachte sie oft daran, dass sie meinen Vater ohne diese Nierenkolik vielleicht nie kennengelernt hätte. Wenn dieser große weiße Krankenwagen sie nicht ins Militärkrankenhaus von Eksjö gebracht hätte. Wenn Judit Gold ihr bei ihrem ersten Besuch außer der Zahnbürste und dem Tagebuch nicht auch den Brief von dem jungen Mann aus Lärbro mitgebracht hätte. Wenn Judit Gold sie bei ebendiesem Besuch nicht dazu überredet hätte, dem netten Jungen entgegen ihrem gesunden Menschenverstand zumindest in ein paar Sätzen zu antworten, allein schon aus Menschlichkeit.
Also nahm Lili Reich an einem der hoffnungslos langen Krankenhausabende, als sich der Lärm auf dem Gang bereits gelegt hatte, das Rattern des Aufzugs seltener geworden war und die Glühbirne über ihrem Bett ihre Decke mit blassem, schwachem Licht beleuchtete, ein Blatt Papier in die Hand und fing nach einiger Überlegung an zu schreiben.
Lieber Miklós!
Wahrscheinlich bin ich nicht die, an die Sie denken, denn ich wurde zwar in Debrecen geboren, habe aber seit meinem ersten Lebensjahr in Budapest gelebt. Trotzdem habe ich oft an Sie gedacht, denn ich fand den Ton Ihrer Zeilen so sympathisch, dass ich die Korrespondenz mit Ihnen gerne fortsetzen würde …
Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Jetzt, da sie durch eine unbekannte neue Krankheit ans Bett gefesselt war, flüchtete sie sich – vielleicht aus Angst, vielleicht einfach nur, um der Langeweile zu entkommen – in Träumereien.
Über mich nur so viel: Tadellos gebügelte Hosen oder eine adrette Frisur imponieren mir nicht; mich ziehen nur die inneren Werte an.
Mein Vater war inzwischen etwas zu Kräften gekommen. Zumindest so weit, dass er mit Harry einen Spaziergang in die Kleinstadt unternehmen konnte. Die Bewohner der schwedischen Ausländerlager bekamen fünf Kronen Taschengeld pro Woche. In Lärbro gab es gleich zwei Konditoreien, und in der einen standen Marmortische, genau wie zu Friedenszeiten in Ungarn.
Kristin, die rundliche schwedische Friseurin, hatten sie unterwegs angesprochen und Glück gehabt. Nun saßen sie also zu dritt um den runden Marmortisch. Kristin aß gedeckten Apfelkuchen, vornehm mit der Gabel. Vor den beiden Männern stand jeweils ein Glas Sodawasser auf dem Tisch. Die Unterhaltung fand auf Deutsch statt, da die beiden Ungarn gerade erst dabei waren, sich der melodiösen schwedischen Sprache anzunähern.
»Sie beide sind sehr nett«, erklärte Kristin. Der blonde Flaum über ihren Lippen war von Puderzucker bestäubt. »Wo genau wurden Sie geboren?«
Mein Vater richtete sich stolz auf.
»In Hajdúnánás«, sagte er, wobei er den Ortsnamen aussprach, als wäre es eine Zauberformel.
»Und ich in Sajószentpéter.«
Natürlich versuchte Kristin das Unmögliche. Sie wiederholte die Wörter. Was dabei herauskam, war ein gurgelnder, alberner Wirrwarr von Lauten.
»Hajdü … nana … Schajü … sent … peter …«
Sie lachten. Kristin widmete sich wieder ihrem Apfelkuchen. Es entstand eine kleine Gesprächspause, die gerade lang genug war, um sich einen Angriffsplan zu überlegen, der einem Husaren alle Ehre gemacht hätte. Darin war Harry unschlagbar.
»Was sagte Adam, als er Eva zum ersten Mal sah?«
Kristin vergaß sogar zu kauen, so gespannt war sie auf die Antwort.
Harry wartete ein wenig und sprang dann auf. Pantomimisch verdeutlichte er, dass sie ihn sich vollkommen nackt vorzustellen hatte.
»Meine Dame, ich bitte Sie, gehen Sie ein Stück rüber, ich weiß nicht, wie lang das Ding noch wird.«
Harry zeigte nach unten, auf seinen Hosenschlitz.
Kristin verstand nicht gleich, aber dann errötete sie.
»Ach, Harry!«
Sie hielt beide Hände vors Gesicht.
Mein Vater schämte sich für seinen Freund, er trank einen Schluck Wasser. Aber Harry kam gerade erst in Schwung.
»Ich habe noch einen anderen. Die Hausherrin fragt das neue Dienstmädchen: ›Haben Sie gute Empfehlungsschreiben?‹ Diese: ›Ja, gnädige Frau, überall war man zufrieden mit mir.‹ – ›Können Sie kochen?‹ Das Dienstmädchen nickt. ›Mögen Sie Kinder?‹ – ›Ja, aber es wäre trotzdem besser, wenn der gnädige Herr aufpassen würde.‹«
Kristin kicherte. Da ergriff Harry ihre Hand und küsste sie. Zuerst wollte Kristin sie wegziehen, als Harry sie jedoch festhielt, gab sie den Widerstand auf.
Mein Vater blickte weg. Trank noch einen Schluck Wasser.
Kristin strich ihren Rock glatt, stand auf.
»Ich werde mich mal frisch machen«, erklärte sie und durchquerte den Raum.
Harry wechselte sofort ins Ungarische.
»Sie wohnt hier. Zwei Ecken weiter.«
»Woher weißt du das?«
»Das hat sie gesagt. Hörst du nicht zu?«
»Du gefällst ihr.«
»Du auch.«
Mein Vater warf Harry einen strengen Blick zu.
»Das interessiert mich nicht.«
»Du warst seit Ewigkeiten in keinem Kaffeehaus mehr. Seit Ewigkeiten hast du keine nackte Frau gesehen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Endlich kommen wir mal aus dem Lager raus. Wir müssen wieder anfangen zu leben!«
Da kam Kristin schon zurück, ihr Gang war verführerisch. Harry flüsterte meinem Vater schnell noch etwas zu.
»Was hältst du von einem Sandwich?«
»Was meinst du mit ›Sandwich‹?«
»Wir beide und sie. Kristin in der Mitte.«
»Lass mich da raus.«
Ohne Luft zu holen, sprach Harry auf Deutsch weiter. Dabei streichelte er mit dem Fuß unterm Tisch unauffällig Kristins Knöchel.
»Miklós und ich unterhalten uns gerade darüber, dass ich Ihnen völlig verfallen bin. Darf ich mir Hoffnungen machen?«
Kokett legte Kristin ihren Zeigefinger warnend auf Harrys Lippen.
Kristin lebte in einer winzigen Mietwohnung im dritten Stock im Nysvägen. Durch das offene Fenster drang der mäßige Straßenlärm als leises Surren herein.
Sie setzte sich aufs Bett, damit Harry leicht an sie herankam. Die erste Probe, die er zu bestehen hatte, war, ihren am Rücken zerrissenen Büstenhalter zu nähen. Natürlich behielt sie ihn dabei an.
»Bist du nicht bald fertig?«, fragte sie, während sie das Geschehen im Spiegel ihr gegenüber betrachtete.
»Es wäre einfacher, wenn du ihn ausziehen würdest.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Du folterst mich.«
»Darum geht es ja. Du musst ein bisschen leiden. Halt dich zurück, ein bisschen Hausarbeit schadet dir nicht,« erklärte sie und lachte.
Als Harry endlich fertig war, riss er den Faden mit den Zähnen ab. Kristin sprang auf, stellte sich vor den Spiegel, musterte sich von links, von rechts und ließ das Gummiband schnipsen.
Harry wurde immer röter, während er ihr bewundernd dabei zusah. Dann umarmte er sie und öffnete ungeschickt den BH.
»Ich koche, wasche, putze. Meine Leistungsfähigkeit ist schier endlos«, flüsterte er ihr mit heiserer Stimme zu.
Statt einer Antwort küsste sie ihn.
Als Harry eine Stunde später in die Konditorei zurückkam, traf er meinen Vater immer noch in derselben Ecke an. Er blickte nicht einmal auf, als Harry sich neben ihn fallen ließ. Er hatte den Brief, der vor ihm auf dem Marmortisch lag, schon fast beendet. Der Bleistift schien wie von allein über das weiße Papier zu gleiten.
Harry seufzte tief. Er war am Boden zerstört.
Es dauerte eine ganze Weile, bis mein Vater den Kopf hob. Als er Harrys zerknirschtes Gesicht sah, war er nicht besonders überrascht.
»Bist du nicht mehr verliebt?«
Harry trank den letzten Schluck Sodawasser aus dem Glas meines Vaters.
»Verliebt? Ein Wrack bin ich.«
»Es ist also vorbei?«
»Erst musste ich ihren BH nähen. Dann habe ich sie ausgezogen. Ihre Haut war so straff!«
»Dann ist ja gut. Aber stör mich jetzt nicht. Ich muss diesen Brief beenden.«
Und schon widmete er sich wieder dem Blatt Papier.
Harry sah neidisch zu, wie mein Vater wie auf Knopfdruck die Außenwelt ausschalten konnte. Als wäre Harry gar nicht da.
Etwas später sagte er leise: »Aber ich war nicht straff … Es geht nicht. Es klappt einfach nicht mehr.«
Mein Vater schrieb weiter, wie ein Besessener.
»Was klappt nicht mehr?«
»Bei mir klappt es nicht mehr, bei mir, der ich fünfmal am Tag konnte, der ich einen vollen Wassereimer drangehängt habe und damit auf und ab spaziert bin.«
Mein Vater dachte über ein geeignetes Attribut nach. Aber nebenbei fragte er höflich nach: »Wohin hast du den Eimer gehängt?«
»Und jetzt … jetzt baumelt eine Weinbergschnecke zwischen meinen Beinen. Weiß, weich, unbrauchbar. Es ist hoffnungslos.«
Endlich fand mein Vater das Wort, nach dem er gesucht hatte. Er lächelte. Nun, als es dastand, war er beruhigt. Jetzt konnte er sich auch um Harry kümmern.
»Das ist normal. Ohne Gefühle geht das nicht.«
Harry kaute wütend auf seiner Unterlippe herum. Plötzlich zog er das Blatt Papier zu sich und fing an zu lesen.
»Liebe Lili, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt …«