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INAZO NITOBE

Bushido

Der Ehrenkodex
der Samurai

VOLLSTÄNDIGE
AUSGABE

AUS DEM AMERIKANISCHEN
NEU ÜBERSETZT
VON KIM LANDGRAF

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Die Deutsche Bibliothek
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detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter
www.dnb.de abrufbar.

© 2006 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Ich widme dieses kleine Buch
meinem geliebten Onkel Tokitoshi Ota,
der mich gelehrt hat, die Vergangenheit zu achten
und die Taten der Samurai
zu bewundern
.

Inhalt

Vorwort zur ersten Ausgabe

Einleitung

I Bushido als ethisches System

II Die Quellen des Bushido

III Redlichkeit oder Gerechtigkeit

IV Mut – der Geist des Wagens und Ertragens

V Milde – das Mitempfinden von Schmerz

VI Höflichkeit

VII Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit

VIII Ehre

IX Die Verpflichtung zur Loyalität

X Erziehung und Ausbildung eines Samurai

XI Selbstbeherrschung

XII Die Rituale der Selbsttötung und Wiedergutmachung

XIII Das Schwert, die Seele des Samurai

XIV Die Erziehung und Stellung der Frau

XV Der Einfluss des Bushido

XVI Ist Bushido noch immer lebendig?

XVII Die Zukunft des Bushido

Anmerkungen

Vorwort zur ersten Ausgabe

Als ich vor etwa zehn Jahren einige Tage bei dem hervorragenden belgischen Juristen, jetzt leider verstorbenen Monsieur de Laveleye zu Gast war, kam das Gespräch während einer unserer Wanderungen auf das Thema Religion. »Wollen Sie sagen«, fragte der ehrwürdige Professor, »dass Sie in Ihren Schulen keine religiöse Erziehung haben?« Als ich diese Frage verneinte, blieb er plötzlich erstaunt stehen und wiederholte mit einer Stimme, die ich so schnell nicht vergessen werde: »Keine Religion! Und wie befördern Sie moralische Erziehung?« Die Frage verblüffte mich damals. Ich konnte keine passende Antwort geben, denn die moralischen Grundsätze, die ich als Kind erlernt hatte, wurden in der Schule nicht vermittelt; und erst als ich anfing, die verschiedenen Einflüsse zu analysieren, die meine Vorstellungen von Richtig und Falsch geprägt hatten, fand ich heraus, dass es Bushido war, dem ich sie verdanke.

Die eigentliche Veranlassung zu diesem kleinen Buch waren die vielen Fragen meiner Frau nach den Gründen, warum diese und jene Ideen und Bräuche in Japan verbreitet sind.

Indem ich versuchte, Monsieur de Laveleye und meiner Frau befriedigende Antworten zu geben, wurde mir klar, dass die Moralvorstellungen des heutigen Japan ohne das Verständnis von Feudalismus und Bushido ein Buch mit sieben Siegeln bleiben würden.

Ich nutzte also die Zeit der Untätigkeit, die eine lange Krankheit mir aufzwang, und habe einige der Antworten, die ich in unseren Gesprächen zuhause gab, in der Reihenfolge niedergeschrieben, wie sie jetzt der Öffentlichkeit zugänglich werden. Sie bestehen hauptsächlich aus dem, was mir in meiner Jugend beigebracht und erzählt wurde, als es den Feudalismus noch gab.

Zwischen Lafcadio Hearn und Hugh Fraser auf der einen und Sir Ernest Satow und Professor Chamberlain auf der anderen Seite noch irgendetwas über Japan auf Englisch schreiben zu wollen, ist in der Tat entmutigend. Den einzigen Vorteil, den ich ihnen gegenüber habe, ist der, dass ich die Haltung eines persönlichen Verteidigers einnehmen kann, während diese herausragenden Autoren im besten Fall Anwälte und Bevollmächtigte ihrer Sache sind. Ich habe oft gedacht, dass ich Japan gewandter vertreten würde, wenn ich so schreiben könnte wie sie. Doch wer eine fremde Sprache spricht, sollte dankbar sein, wenn er sich überhaupt verständlich machen kann.

Im gesamten Verlauf dieser Abhandlung habe ich versucht, alle wesentlichen Aussagen mit vergleichbaren Beispielen aus der europäischen Geschichte und Literatur zu veranschaulichen, weil ich glaube, dass sie helfen werden, das Thema dem Verständnis des ausländischen Lesers näher zu bringen.

Sollte irgendjemand meine Anspielungen auf religiöse Themen oder Menschen als anstößig empfinden, vertraue ich darauf, dass meine Einstellung zum Christentum selbst nicht in Frage gestellt wird. Es sind die Methoden der Kirche und bestimmte Ideen, die die christliche Lehre verdunkeln, für die ich wenig Sympathie hege, es ist nicht die Lehre selbst. Ich glaube an die Religion, die Gott uns gelehrt hat und die uns das Neue Testament überliefert, und an das Gesetz, das im Herzen geschrieben steht. Außerdem glaube ich, dass Gott ein Testament hinterlassen hat, das von allen Völkern und Nationen »alt« genannt werden kann – Juden oder Nichtjuden, Christen oder Heiden. Doch ich will die Geduld meiner Leser mit weiteren Einzelheiten meiner Theologie nicht belasten.

Ich schließe dieses Vorwort mit meinem Dank an Anna C. Hartshorne für viele wertvolle Hinweise.

I. N.

Einleitung

Sehr gerne steuere ich auf Bitten seines Verlegers, dem Dr. Nitobe mit Blick auf die Vorbemerkung einige Freiheit gelassen hat, ein paar einführende Worte zu dieser Neuausgabe von Bushido bei. Ich kenne den Autor seit über 15 Jahren, bin aber mit seinem Thema, in gewisser Weise zumindest, seit 45 Jahren vertraut.

Es war 1860 in Philadelphia (wo ich 1847 erlebte, wie die »Susquehanna«, das Flaggschiff von Kommodore Perry, vom Stapel gelassen wurde), als ich zum ersten Mal einem Japaner begegnete und Botschaftsmitglieder aus Tokio traf. Ich war sehr beeindruckt von diesen Fremden, für die Bushido ein lebendiger Kodex von Idealen und Verhaltensweisen darstellte. Später, als ich drei Jahre am Rutgers College in New Brunswick/N.J. verbrachte, hatte ich zahlreiche junge Männer aus Nippon um mich, die ich entweder unterrichtete oder als Kommilitonen kannte. Rasch wurde deutlich, dass Bushido, über das wir oft sprachen, etwas überaus Gewinnendes hatte. Wie das Leben dieser zukünftigen Gouverneure, Diplomaten, Erzieher und Bankiers, ja, sogar noch die letzten Stunden von mehr als einem, der auf dem Friedhof von Willow Grove die letzte Ruhestätte fand, zeigten, war der Duft dieser wohlriechendsten Blüte des weit entfernten Japan sehr süß. Ich werde nie vergessen, wie der sterbende Samurai-Knabe Kusakabe, als man ihn zum nobelsten aller Dienste, zur größten aller Hoffnungen lud, zur Antwort gab: »Selbst wenn ich in der Lage wäre, Jesus, euren Meister, zu verstehen, würde ich, was übrig ist von einem Leben, Ihm nicht darbieten.« In unserer Freizeit also, »am Ufer des alten Flusses Raritan«, wie es im Studentenlied heißt, beim Sport oder wenn wir beim Mittagessen Witze über die Unterschiede zwischen irgendetwas Japanischem und Amerikanischem machten, und in den Diskussionen über Ethik und Werte war ich durchaus geneigt, die Rolle des »versteckt missionarischen Erwiderers« einzunehmen, wie mein Freund Charles Dudley Warner einmal schrieb. In einigen Punkten unterschieden sich die Regeln der Moral und des Anstands, aber doch eher im Kleinen und Marginalen, ohne dass die Regelsysteme sich gegenseitig ausschlossen oder überschatteten. Mir ging es wie ihrem eigenen Dichter, der – war es vor tausend Jahren? –, als er ein Moor überquerte, die taufeuchten Blüten seine Robe streiften und ihre glitzernden Tropfen auf seinem Brokat zurückließen, schrieb: »Wegen seines Duftes streiche ich diesen Tau nicht von meinem Ärmel.« Und in der Tat, ich war froh, die ausgetretene Spur zu verlassen, von der man sagt, sie unterscheide sich vom Grab nur durch ihre Länge. Denn ist der Vergleich nicht das Wesen von Wissenschaft und Kultur? Ist es nicht wahr, dass beim Studium der Sprachen, Ethiken, Religionen und Verhaltenskodizes »der, der eine kennt, keine kennt«?

Als ich 1870 als erster Pädagoge nach Japan gerufen wurde, um die Methoden und den Geist des öffentlichen amerikanischen Schulsystems vorzustellen, war ich froh, als ich die Hauptstadt endlich verließ und in Fukui in der Provinz Echizen beobachten konnte, wie Feudalismus in Reinform funktionierte. Hier begegnete ich Bushido nicht als etwas Exotischem, sondern in seiner natürlichen Umgebung. Im täglichen Leben begriff ich, dass Bushido, mit seiner cha-no-yu, dem jiu-jitsu und hara-kiri, seinem höflichen Fußfall im häuslichen Bereich und dem Knicks auf der Straße, den Regeln des Schwertes und der Straße, all seinen familiären Begrüßungsfloskeln und kultiviertesten Sprachformen, Regeln der Kunst und des Benehmens genauso wie seinen Heroismen um Frauen, Mädchen und Kinder, die universelle Überzeugung und Praxis des gesamten Adels in den Städten und auf dem Land bildete. Bushido als eine lebendige Schule des Denkens und Lebens wurde Mädchen und Jungen gleichermaßen vermittelt. Was Dr. Nitobe als Erbe empfing, was er geatmet hatte und worüber er mit einem solchen Verständnis, so viel Einsicht und Weitblick, so anmutig und kraftvoll schreibt, stand mir an diesem Ort unmittelbar vor Augen. Der japanische Feudalismus starb, ohne seinen fähigsten Vertreter und überzeugendsten Verteidiger noch zu Gesicht zu bekommen. Für ihn ist es wie ein verwehender Duft. Für mich war es »die Blume und Blüte des Lichts«.

Da ich den Feudalismus, den Kern des Bushido, erlebt und seinem Sterben beigewohnt habe, kann ich die unbedingte Wahrheit von Dr. Nitobes Angaben, so weit sie reichen, bezeugen und ebenso die Genauigkeit seiner Analyse und seiner Generalisierungen. Er hat die vielen Facetten des Bildes, die tausend Jahre japanischer Literatur so prachtvoll spiegeln, mit meisterhafter Kunstfertigkeit nachgezeichnet und wiedergegeben. Der ritterliche Kodex hat sich im Laufe eines Jahrtausend der Evolution entwickelt und getreulich liest dieser Autor die Blüten auf, die den Pfad übersäen, der von Millionen edler Seelen, seinen Landsleuten, beschritten wurde.

Kritische Studien haben mein eigenes Verständnis von Macht und Wert des Bushido für dieses Land weiter vertieft. Wer das Japan des 20. Jahrhunderts verstehen will, muss etwas über seine Wurzeln in der Vergangenheit wissen. Auch wenn sie für die heutige Generation in Nippon inzwischen ebenso unsichtbar sind wie für den Fremden, deutet der philosophisch interessierte Beobachter die Befunde der Gegenwart aus den überlieferten Kräften vergangener Jahrhunderte. Das Licht verronnener Zeiten hat Sedimente hinterlassen, aus denen Japan heute seine Energie für Krieg oder Frieden schöpft. Tief ausgeprägt sind alle spirituellen Sinne bei denen, die mit Bushido groß wurden. Der Zucker hat den Tee versüßt und ist zerfallen, doch die Zartheit des Aromas bleibt zurück und nötigt uns Jubelrufe ab. In einem Wort, Bushido gehorchte dem höheren Gesetz, das der verkündete, dem sein eigener Stellvertreter Ehre bezeugt, der ihn als seinen Meister erkennt – »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.«1

Hat Dr. Nitobe Bushido idealisiert? Eher möchten wir fragen, wie er es hätte verhindern können. Er nennt sich einen »Verteidiger«. In allen Religionen, Kulten und Systemen verändern sich Vorbilder und Vertreter, während das Ideal an Bedeutung stetig zunimmt. Graduelle Steigerung und das allmähliche Erreichen von Harmonie ist die Regel. Bushido hat ein letztes Ziel niemals erreicht. Dazu war es viel zu lebendig und starb schließlich nur in Glanz und Größe. Der Streit zwischen weltverändernden Umwälzungen – wie wir den Ansturm von Einflüssen und Ereignissen nennen wollen, die auf Perry und Harris folgten – und dem Feudalismus in Japan traf Bushido nicht als einbalsamierte Mumie, sondern als lebendige Seele. Was ihn tatsächlich beeinflusste, war der sich ausbreitende Geist der Humanität. Dann strahlte das Größere auf das Geringere ab. Ohne die wertvollsten Errungenschaften der eigenen Geschichte und Zivilisation zu verlieren, akzeptierte Japan, darin den eigenen adligen Vorgängern folgend, zunächst das Beste, was die Welt zu bieten hatte, um es sich daraufhin anzueignen. Damit war es in der einzigartigen Position, zum Segen für Asien und die Asiaten zu werden, und es hat diese Gelegenheit in immer stärkerem Maße ergriffen. Heute bereichern Blumen, Bilder und andere schöne Dinge aus Japan, seien es Kleinigkeiten des Augenblicks oder Triumphe für die Ewigkeit, nicht nur unsere Gärten, unsere Kunst und unsere Häuser, auch in den Bereichen der Körperkultur, der öffentlichen Hygiene, den Lehren für Frieden und Krieg tritt uns Japan mit reich gefüllten Händen entgegen.

Nicht nur in seiner Rolle als Fürsprecher und Anwalt der Verteidigung, sondern auch als Prophet und weiser Verwalter, reich an Neuem und Altem, ist dieser Autor in der Lage, uns zu unterrichten. Kein Mensch hat in Japan Regelwerk und Praxis seines persönlichen Bushido in Leben und Arbeit, Körper und Geist harmonischer miteinander vereint. Als Illuminator des alten ist Dr. Nitobe ein wahrer Gestalter des neuen Japan. In Formosa, der jüngsten Region des Kaiserreichs,2 genauso wie in Kioto ist er der Gelehrte und Tatmensch zugleich, vertraut mit neuester Forschung und zugleich ältestem Wissen.

Dieses kleine Buch über Bushido ist mehr eine gewichtige Botschaft an die englischsprachigen Nationen. Es ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Lösung des größten Problems dieses Jahrhunderts – der Versöhnung und Vereinigung des Ostens mit dem Westen.

Einst gab es viele Zivilisationen: In der besseren, kommenden Welt wird es nur eine geben. Die Begriffe »Orient« und »Okzident«, mit allem, was ihnen an Ignoranz und Überheblichkeit dem jeweils anderen gegenüber anhaftet, sind reif, an Bedeutung zu verlieren. Als geeigneter Vermittler zwischen Weisheit und Miteinander Asiens sowie aufstrebender Stärke und Individualismus Europas und Amerikas ist Japan mit unausweichlicher Kraft bereits tätig.

Mit Altem und Neuem vertraut, gebildet in den Literaturen der Welt, ist Dr. Nitobe für eine entsprechende Aufgabe vortrefflich geeignet. Er ist ein legitimer Dolmetscher und Versöhner. Er braucht sich für seine Haltung gegenüber dem Herrn, dem er lange ergeben gefolgt ist, nicht zu entschuldigen und er tut es auch nicht. Welcher Gelehrte, der mit den Wegen des Geistes und der Geschichte der Menschheit vertraut ist, so wie Gott sie geführt hat, würde nicht in allen Religionen zwischen der Lehre des Gründers und den Urschriften und dem, was einzelne Völker, die Vernunft und die Kirche hinzugefügt haben, unterscheiden? Die Doktrin der Testamente, auf die der Autor im Vorwort anspielt, ist die Lehre eines Gottes, der nicht kam, um zu zerstören, sondern um zu erfüllen. Selbst in Japan wird das Christentum, seiner fremdartigen Formen und Hüllen entkleidet, aufhören, etwas Exotisches zu sein und Wurzeln schlagen in einer Erde, auf der Bushido gewachsen ist. Sobald sie ihrer Gewänder und ihres Waffenrocks beraubt ist, wird die Kirche des Gründers dort so heimisch sein wie die Luft.

William Elliot Griffis

Ithaca, im Mai 1905

»Dieser Weg dort

Über den Berg, der dem, der darauf steht, doch

Zweifel eingibt, ob er wirklich eine Straße sei;

Wenn nämlich von der Ödnis her er ihn betrachtet,

Steigt in gerader Linie er vom Fuß zur Spitze auf,

Ganz unverkennbar! Was ist ein Übergang, auch zwei,

Gesehen von der undurchschrittnen Wüste beiderseits?

Weiter noch, um fortzuspinnen den Gedanken,

Was, wenn diese Übergänge selbst sich endlich

Als nur höchst vollendete Erfindungen erweisen,

Sein Gesicht zu schulen, ihn, was Glaube ist, zu lehren?«

ROBERT BROWNING, Verteidigung des Bischofs Blougram

»Es gibt, wenn ich so sagen darf, drei mächtige Geister, die sich von Zeit zu Zeit über die Wasseroberfläche bewegen und die dem moralischen Empfinden und den moralischen Kräften der Menschheit einen wesentlichen Anstoß gegeben haben. Es sind die Geister der Freiheit, der Religion und der Ehre.«

HENRY HALLAM, Europa im Mittelalter

»Ritterlichkeit ist selbst die Poesie des Lebens.«

FRIEDRICH SCHLEGEL, Philosophie der Geschichte

KAPITEL I

Bushido als ethisches System

Ritterlichkeit ist eine Blume, die auf dem Boden Japans nicht weniger heimisch ist als ihr Symbol, die Kirschblüte. Sie ist kein vertrocknetes Blatt einer uralten Tugend, die im Herbarium unserer Geschichte verwahrt wird, sondern ein lebendiges Etwas von Schönheit und Macht, das unter uns weilt. Auch wenn sie keine fassbare Form oder Gestalt hat, erfüllt sie die moralische Luft, die wir atmen, nicht minder mit ihrem Duft und lässt uns wissen, dass wir noch immer unter ihrem machtvollen Bann stehen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die sie hervorgebracht und genährt haben, sind lange verschwunden. Doch wie jene weit entfernten Sterne, die es einst gab und die jetzt nicht mehr sind, ihre Strahlen weiter zu uns herabsenden, erleuchtet das Licht der Ritterlichkeit, ein Kind des Feudalismus, noch immer unseren moralischen Weg und überlebt seinen eigenen Ursprung. Es ist mir eine Freude, über dieses Thema in der Sprache Burkes zu sprechen, von dem der bekannte, bewegende Nachruf am vernachlässigten Totenbett ihres europäischen Prototyps stammt.3

Es zeugt von einem traurigen Mangel an Kenntnissen über den Fernen Osten, wenn ein so hochrangiger Gelehrter wie George Miller nicht zögerte zu versichern, dass Ritterlichkeit – oder irgendein ähnliches Phänomen – weder unter den Völkern der Antike noch bei den heutigen Orientalen je existierte.4 Diese Ignoranz ist jedoch vollauf entschuldbar, da die dritte Auflage von Millers Werk in dem Jahr erschien, als Kommodore Perry an die Tore unseres abgeschlossenen Inselstaats klopfte.5 Mehr als ein Jahrzehnt später, als der Feudalismus in Japan bereits in den letzten Zügen lag, lenkte Karl Marx im Kapital die Aufmerksamkeit seiner Leser auf den besonderen Vorteil des Studiums der sozialen und politischen Einrichtungen des Feudalismus, wie man sie damals in lebendiger Form nur noch bei uns beobachten konnte. In ähnlicher Weise möchte ich den angehenden Historikern und Ethikstudenten des Westens das Studium der Ritterlichkeit im Japan der Gegenwart empfehlen.

So reizvoll eine vergleichende historische Abhandlung über Feudalismus und Ritterlichkeit in Europa und Japan auch sein mag, es ist nicht das Anliegen dieses Buches, darauf ausführlicher einzugehen. Ich möchte vielmehr versuchen, erstens Ursprung und Quellen unserer Ritterlichkeit, zweitens ihren Charakter und ihre Lehre, drittens ihren Einfluss auf die breitere Bevölkerung und viertens das Fortdauern und die Beständigkeit ihres Einflusses zu beschreiben. Punkt eins werde ich nur kurz und kursorisch behandeln, weil ich in das verschlungene Labyrinth der Geschichte unseres Landes sonst allzu tief eindringen müsste. Beim zweiten Punkt werde ich länger verweilen, da er wahrscheinlich am ehesten geeignet ist, Studenten der Internationalen Ethik und der Vergleichenden Ethologie für unsere Art des Denkens und Handelns zu interessieren. Alles Übrige werde ich begleitend erörtern.

Das japanische Wort, das ich grob mit Ritterlichkeit übersetze, bedeutet im Original weitaus mehr als die Kunst des Reitens. Bu-shi-do heißt wörtlich »Wege soldatischer Ritter« – Wege, denen die soldatische Nobilität im Alltag wie in Ausübung ihres Berufes zu folgen hat; mit einem Wort, die »Regeln des Ritterstandes«, das noblesse oblige der kämpfenden Klasse. Es sei mir nach Aufschluss des Wortsinns gestattet, diesen Begriff fortan im Original zu gebrauchen. Die Verwendung des japanischen Wortes empfiehlt sich auch deshalb, weil einer Lehre von so spezieller und einzigartiger Bedeutung, die eine derart spezifische, landestypische Geisteshaltung und Charakterformung hervorbringt, das Zeichen ihrer Einmaligkeit aufgeprägt sein muss. Denn manche Worte tragen ein nationales Timbre, das bestimmte Eigenschaften eines Volkes so deutlich zum Ausdruck bringt, dass auch der beste Übersetzer ihnen nur unzureichend gerecht werden kann, wenn er ihnen nicht sogar offenkundig Unrecht tut. Welche Übersetzung bereichert den Sinn des deutschen Wortes Gemüt? Wer spürte nicht den Unterschied zwischen dem englischen gentleman und dem französischen gentilhomme, zwei Worten, die etymologisch eng miteinander verwandt sind?6

Bushido ist also der Kodex moralischer Vorschriften, die zu befolgen man von den Rittern verlangte. Es ist kein schriftlicher Kodex. Er besteht bestenfalls aus einigen wenigen Leitsätzen, die von Generation zu Generation mündlich überliefert wurden bzw. von irgendeinem bekannten Krieger oder Gelehrten stammen. In der Regel jedoch ist es ein unausgesprochener, ungeschriebener Kodex, der umso mehr die machtvolle Legitimation der Tat und der Wahrheit des Herzens genießt. Bushido gründet weder auf der schöpferischen Kraft noch im Leben eines einzelnen Menschen, wie fähig oder wie angesehen auch immer. Es ist über Jahrzehnte und Jahrhunderte der Ausformung einer militärischen Klasse gewachsen. Möglicherweise hat es innerhalb der Geschichte der Ethik die gleiche Bedeutung wie die englische Verfassung in der politischen Geschichte. Hingegen hat es nichts mit der Magna Carta oder dem Habeas Corpus gemein.7 Zwar wurden im frühen 17. Jahrhundert die Militärischen Statuten (Buké Hatto) veröffentlicht; ihre 13 kurzen Artikel jedoch beschäftigen sich hauptsächlich mit Eheschließungen, Schlössern, Bündnissen usw., während erzieherische Maßnahmen nur am Rande berührt werden. Wir können den Ursprung des Kodex deshalb nach Zeit und Ort nicht mit Bestimmtheit benennen. Da Bushido im Zeitalter des Feudalismus zu Bewusstsein erwacht, kann man seine Entstehung in diese Epoche verlegen. Doch der Feudalismus ist selbst aus zahlreichen Fäden gesponnen und Bushido teilt dessen komplexe Natur. So wie man von den politischen Einrichtungen des Feudalismus in England behaupten kann, dass sie auf die normannische Eroberung 1066 zurückgehen, so kann man auch sagen, dass seine Entstehung in Japan mit der Machtübernahme Yoritomos im späten 12. Jahrhundert zusammenfällt. In England jedoch lassen sich die sozialen Elemente des Feudalismus schon wesentlich früher, in der Ära vor Wilhelm dem Eroberer ausmachen. Ebenso reichen die Wurzeln des Feudalismus in Japan weit hinter die erwähnte Periode zurück.

Sowohl in Japan als auch in Europa trat mit der formellen Einführung des Feudalismus der professionelle Berufsstand der Krieger in den Vordergrund. Man nannte sie die samurai, was wörtlich, wie das altenglische cniht (Knecht, Ritter), Wachen oder Gefolgsmänner bedeutet. Von ihrer Bedeutung her ähnelten sie den soldurii, die Caesar in Aquitanien erwähnt, den comitati, die laut Tacitus zu seiner Zeit Gefolgsmänner der germanischen Stammesoberhäupter waren, oder den milites medii des europäischen Mittelalters, um eine noch spätere Parallele aufzugreifen. Ebenso gebräuchlich wurde ein sino-japanisches Wort, Bu-ke oder Bu-shi, das kämpfende Ritter bedeutet. Sie bildeten eine privilegierte Klasse und müssen ursprünglich ein ziemlich rauer Haufen gewesen sein, der den Kampf zum Beruf machte. Diese Klasse rekrutierte sich über einen langen Zeitraum ununterbrochener kriegerischer Auseinandersetzungen naturgemäß aus den mannhaftesten und wagemutigsten Kriegern; ein Ausleseprozess, der sich fortsetzte, so dass die Schwachen und Ängstlichen ausschieden und nur »ein derbes Geschlecht, ganz Männlichkeit und viehische Kraft« zurückblieb, um einen Ausdruck von Emerson zu gebrauchen.8