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Khalil Gibran

Der Prophet

Aus dem Englischen neu übersetzt
von Kim Landgraf

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Titel der englischen Originalausgabe: The Prophet. New York: Knopf 1923

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2006 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

INHALT

Die Ankunft des Schiffes

Von der Liebe

Von der Ehe

Von den Kindern

Vom Geben

Vom Essen und Trinken

Von der Arbeit

Von Freude und Leid

Von den Häusern

Von der Kleidung

Vom Kaufen und Verkaufen

Von Verbrechen und Strafe

Von den Gesetzen

Von der Freiheit

Von Vernunft und Leidenschaft

Vom Schmerz

Von der Erkenntnis des Selbst

Von der Erziehung

Von der Freundschaft

Vom Reden

Von der Zeit

Von Gut und Böse

Vom Gebet

Von der Freude

Von der Schönheit

Von der Religion

Vom Tod

Der Abschied des Propheten

DIE ANKUNFT DES SCHIFFES

Almustafa, der Auserwählte und Geliebte, seiner Tage Morgenröte, hatte in der Stadt Orphalese zwölf Jahre auf das Schiff gewartet, das wiederkommen und ihn zur Insel seiner Geburt zurückbringen sollte.

Und im zwölften Jahr, am siebten Tag des Jelul, des Monats der Ernte, stieg er auf den Hügel außerhalb der Stadtmauern und schaute hinaus aufs Meer. Und er sah sein Schiff, das mit dem Nebel kam.

Da taten sich die Tore seines Herzens auf und seine Freude flog weit hinaus auf das Meer. Und er schloss seine Augen und betete in der Stille seiner Seele.

Doch als er den Hügel hinabstieg, überkam ihn eine Traurigkeit und er dachte in seinem Herzen:

Wie soll ich in Frieden gehen und ohne Trauer? Nein, nicht ohne eine Wunde im Geist werde ich diese Stadt verlassen.

Lang waren die Tage des Schmerzes, die ich innerhalb dieser Mauern verbracht habe, und lang waren die Nächte der Einsamkeit. Und wer kann seinen Schmerz und seine Einsamkeit ohne Bedauern hinter sich lassen?

Zu viele Splitter des Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, und der Kinder meiner Sehnsucht sind es zu viele, die nackt durch diese Hügel laufen, und ich kann sie nicht zurücklassen, ohne die Last zu empfinden und den Schmerz.

Es ist kein Gewand, das ich heute ablege, sondern es ist eine Haut, die ich mir mit eigener Hand vom Leib reiße.

Und es ist auch kein Gedanke, den ich hinter mir lasse, sondern ein Herz so süß von Hunger und Durst.

Aber ich darf nicht länger verweilen.

Das Meer, das seinen Tribut fordert, ruft auch nach mir, und ich muss an Bord.

Denn bleiben, wenn auch die Stunden in der Nacht brennen, hieße erstarren und zu Kristall werden und in eine Gussform gefesselt zu sein.

Gerne würde ich mitnehmen alles, was hier ist. Aber wie sollte ich?

Eine Stimme kann die Zunge und die Lippen nicht mehr tragen, die ihr Flügel verliehen. Den Äther suchen muss sie allein.

Allein auch und ohne sein Nest soll der Adler fliegen zur Sonne.

Als er den Fuß des Hügels erreichte, wandte er sich wieder dem Meer zu und sah, wie sein Schiff dem Hafen sich näherte, und auf dem Vorschiff standen die Seeleute, die Männer seines eigenen Landes.

Und seine Seele schrie ihnen entgegen und er sagte:

Söhne meiner ältesten Mutter, ihr Reiter der Gezeiten,

Wie oft habt ihr meine Träume durchfahren. Und jetzt erscheint ihr in meinem Erwachen, welches mein tieferer Traum ist.

Bereit bin ich zu gehen, und mit gesetzten Segeln erwartet mein Eifer den Wind.

Nur einen letzten Atemzug werde ich in dieser unbewegten Luft noch tun, nur einen letzten liebenden Blick noch zurückwerfen.

Und dann werde ich bei euch stehen, ein Seefahrer unter Seefahrern.

Und du, endloses Meer, schlafende Mutter,

Die du allein bist Frieden und Freiheit dem Fluss und dem Strom,

Nur eine letzte Windung wird dieser Strom noch tun, nur noch ein letztes Murmeln in diesem Gletscher,

Und dann komme ich zu dir, ein grenzenloser Tropfen im grenzenlosen Ozean.

Und während er dahinschritt, sah er von Ferne, wie Männer und Frauen ihre Felder und ihre Weinberge verließen und wie sie zu den Stadttoren eilten.

Und er hörte ihre Stimmen seinen Namen rufen und wie sie schrien von Feld zu Feld und von der Ankunft seines Schiffes einander erzählten.

Und er sagte zu sich selbst:

Wird der Tag des Abschieds ein Tag der Zusammenkunft sein?

Und soll es sein, dass mein Abend in Wahrheit meine Morgenröte war?

Und was soll ich dem geben, der seinen Pflug auf dem Acker zurückließ, oder dem, der das Rad seiner Weinpresse anhielt?

Soll mein Herz ein Baum werden, schwer behangen mit Früchten, die ich ernte und an sie verteile?

Und werden meine Wünsche fließen wie eine Quelle, damit ich ihre Kelche füllen kann?

Bin ich eine Harfe, damit mich die Hand des Allmächtigen berühren kann, oder eine Flöte, damit mich sein Atem durchströmt?

Ich bin ein Sucher der Stille, und welchen Schatz habe ich in dieser Stille gefunden, den ich mit Zuversicht schenken kann?

Wenn dies nun mein Tag der Ernte ist, auf welchen Äckern habe ich den Samen gesät und in welchen vergessenen Jahreszeiten?

Wenn dies tatsächlich die Stunde ist, in der ich meine Lampe erhebe, dann ist es nicht meine Flamme, die darin brennen wird.

Leer und dunkel werde ich meine Lampe emporheben.

Und der Hüter der Nacht soll sie mit Öl füllen und sie entzünden.

All dieses sagte er mit Worten. Doch vieles in seinem Herzen blieb ungesagt. Denn er selbst konnte sein tieferes Geheimnis in Worte nicht fassen.

Und als er die Stadt betrat, strömten die Menschen herbei, ihn zu treffen, und sie riefen zu ihm wie mit einer Stimme.

Und die Stadtältesten traten vor und sagten:

Geht noch nicht von uns.

Ein Lichtblick des Mittags in unserer Dämmerung ward Ihr und Eure Jugend gab uns Träume zu träumen.

Ihr seid uns kein Fremder, kein Gast mehr, sondern Ihr seid unser Sohn und der von Herzen Geliebte.

Lasst es nicht jetzt schon zu, dass unsere Augen nach Eurem Angesicht hungern.

Und die Priester und Priesterinnen sagten zu ihm:

Lasst es nicht zu, dass die Wellen des Meeres uns heute schon trennen und dass die Jahre Erinnerung werden, die Ihr in unserer Mitte verbracht habt.

Ihr habt unter uns gelebt wie ein Geist und Euer Schatten war Licht auf unseren Gesichtern.

Wir haben Euch sehr geliebt. Doch unsere Liebe war sprachlos und mit Schleiern verhüllt.