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Khalil Gibran

Der Narr

Seine Gleichnisse
und Gedichte

Aus dem Englischen neu übersetzt
von Kim Landgraf

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Die Originalausgabe erschien 1918 bei Alfred A. Knopf in New York unter dem Titel The Madman. His Parables and Poems.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2008 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

INHALT

Wie ich ein Narr wurde

Gott

Mein Freund

Die Vogelscheuche

Die Schlafwandlerinnen

Der weise Hund

Die zwei Einsiedler

Über das Geben und Nehmen

Die sieben Seelen

Krieg

Der Fuchs

Der weise König

Ehrgeiz

Die neue Freude

Die andere Sprache

Der Granatapfel

Die zwei Käfige

Die drei Ameisen

Der Totengräber

Auf den Stufen des Tempels

Die selige Stadt

Der gute und der böse Gott

»Unsieg«

Die Nacht und der Narr

Gesichter

Das Größere Meer

Gekreuzigt

Der Astronom

Die große Sehnsucht

Sagte ein Grashalm

Das Auge

Die zwei gelehrten Männer

Als mein Kummer geboren wurde

Und als meine Freude geboren wurde

»Die vollkommene Welt«

GLEICHNISSE UND GEDICHTE

WIE ICH EIN NARR WURDE

Ihr fragt mich, wie ich ein Narr wurde. Es geschah so: Eines Tages, lange bevor viele Götter geboren wurden, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und sah, dass alle meine Masken gestohlen worden waren – die sieben Masken, die ich sieben Leben lang gestaltet und getragen habe. Ich lief maskenlos durch die belebten Straßen und rief: »Diebe, Diebe, die verfluchten Diebe.«

Männer und Frauen lachten mich aus, und manche liefen in ihre Häuser, weil sie Angst vor mir hatten.

Und als ich den Marktplatz erreichte, rief ein Junge von einem Hausdach herunter: »Er ist ein Narr.« Ich hob den Kopf, um ihn zu sehen, und zum ersten Mal küsste die Sonne mein eigenes nacktes Gesicht. Zum ersten Mal küsste die Sonne mein eigenes nacktes Gesicht, und meine Seele entflammte in Liebe zur Sonne, und ich wollte meine Masken nicht mehr. Und wie verzückt rief ich aus: »Gesegnet und gepriesen seien die Diebe, die meine Masken stahlen.«

So bin ich zum Narren geworden.

Und ich habe sowohl Freiheit als auch Sicherheit in meinem Wahnsinn gefunden; die Freiheit des Alleinseins und das Bewahrtsein vor dem Verstandenwerden. Denn die, die uns verstehen, versklaven etwas in uns.

Aber ich will nicht allzu stolz auf diese Sicherheit sein. Auch ein Dieb im Gefängnis ist sicher vor einem anderen Dieb.

GOTT

Als in uralten Tagen das erste Beben der Sprache meine Lippen erreichte, stieg ich den Heiligen Berg hinauf und sprach zu Gott: »Herr, ich bin Dein Sklave. Dein verborgener Wille ist mein Gesetz, und ich will Dir ewig gehorchen.«

Aber Gott antwortete nicht und zog wie ein mächtiger Sturm vorüber.

Und tausend Jahre später stieg ich noch einmal den Heiligen Berg hinauf und sprach zu Gott: »Schöpfer, ich bin Deine Schöpfung. Aus Lehm hast Du mich geschaffen, und Dir verdanke ich alles, was ich bin.«

Aber Gott antwortete nicht, sondern zog vorüber wie tausend rasende Schwingen.