Seine Parabeln
und Reden
Aus dem Englischen neu übersetzt
von Kim Landgraf
»Acht Verse nur …«
für Nina
Der Wanderer
Kleider
Der Adler und die Lerche
Das Liebes-Lied
Tränen und Gelächter
Auf dem Jahrmarkt
Die zwei Fürstinnen
Der Blitz
Der Einsiedler und die Tiere
Der Prophet und das Kind
Die Perle
Körper und Seele
Der König
In den Sand
Die drei Geschenke
Frieden und Krieg
Die Tänzerin
Die zwei Schutzengel
Die Statue
Der Tausch
Liebe und Hass
Träume
Der Narr
Die Frösche
Gesetze und Gesetzgebung
Gestern, Heute und Morgen
Der Philosoph und der Schuster
Die Brückenbauer
Das Zaadfeld
Der goldene Gürtel
Die rote Erde
Der Vollmond
Der einsiedlerische Prophet
Der alte, alte Wein
Die zwei Gedichte
Lady Ruth
Die Maus und die Katze
Der Fluch
Die Granatäpfel
Gott und viele Götter
Die taube Ehefrau
Die Suche
Das Zepter
Der Weg
Der Wal und der Schmetterling
Ansteckender Frieden
Der Schatten
Siebzig
Gott finden
Der Fluss
Die zwei Jäger
Der andere Wanderer
Ich traf ihn an der Kreuzung, einen Mann nur in Mantel und Stock, das Gesicht verschleiert von Schmerz. Und wir grüßten einander, und ich sagte zu ihm: »Komm in mein Haus und sei mein Gast.«
Und er kam.
Meine Frau und meine Kinder empfingen uns an der Haustür, und er lächelte ihnen entgegen, und sie freuten sich über sein Kommen.
Dann saßen wir gemeinsam zu Tisch, und wir waren glücklich, dass der Mann bei uns war, denn eine Stille und ein Geheimnis umgaben ihn.
Und nach dem Essen setzten wir uns ans Feuer, und ich fragte ihn nach seiner Wanderschaft.
Er erzählte uns viele Geschichten in dieser Nacht und auch am nächsten Tag, doch was ich jetzt aufschreibe, kam aus der bitteren Härte seiner Tage, auch wenn er selbst voller Güte war, und seine Erzählungen handeln vom Staub und vom Erdulden seiner Wege.
Und als er nach drei Tagen wieder aufbrach, hatten wir nicht das Gefühl, dass ein Gast uns verließ, sondern dass einer von uns noch draußen im Garten war und demnächst hereinkommen würde.
Eines Tages trafen sich die Schönheit und die Hässlichkeit am Ufer des Meeres. Und sie sagten zueinander: »Lass uns baden gehen im Meer.«
So legten sie die Kleider ab und gingen in den Wassern schwimmen. Und nach einer Weile kam die Hässlichkeit ans Ufer zurück, kleidete sich in die Gewänder der Schönheit und ging davon.
Dann kam auch die Schönheit aus dem Wasser zurück und fand ihre Kleider nicht mehr, und weil sie zu schüchtern war, um nackt zu gehen, legte sie das Gewand der Hässlichkeit an. Und die Schönheit ging ihrer Wege.
Und bis zum heutigen Tag halten Männer und Frauen die eine für die andere.
Einige aber haben das Antlitz der Schönheit gesehen, und sie erkennen sie trotz der falschen Kleider. Und es gibt andere, die um das Antlitz der Hässlichkeit wissen, und das falsche Tuch kann sie vor ihren Augen nicht verbergen.
Eine Lerche und ein Adler trafen sich auf einem hohen Berg auf einem Felsen. Die Lerche sagte: »Ihnen einen guten Morgen, Sir.« Und der Adler sah auf sie herab und sagte matt: »Guten Morgen.«
Und die Lerche sagte: »Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Sir.«
»Ja«, sagte der Adler, »uns geht es gut. Aber hast du vergessen, dass wir der König der Vögel sind und dass du uns nicht ansprechen darfst, bevor wir nicht selbst gesprochen haben?«
Da sagte die Lerche: »Mich dünkt, wir gehören zur selben Familie.«
Der Adler sah sie verächtlich an und sagte: »Wer hat dir erzählt, dass wir zur selben Familie gehören?«
Die Lerche antwortete: »Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass ich genauso hoch fliegen kann wie Sie, und ich kann singen und den anderen Geschöpfen dieser Erde Freude schenken. Ihr aber schenkt weder Freude noch Vergnügen.«
Da wurde der Adler ärgerlich und sagte: »Freude und Vergnügen! Du winzige, eingebildete Kreatur! Mit einem einzigen Hieb meines Schnabels könnte ich dich vernichten. Du bist ja gerade mal so groß wie mein Fuß.«
Da flog die Lerche auf, setzte sich auf den Rücken des Adlers und begann, seine Federn zu zerpflücken. Der Adler war verärgert und schwang sich rasch hoch in die Lüfte, weil er den kleinen Vogel loswerden wollte. Doch er schaffte es nicht. Schließlich kehrte er zurück zu jenem Felsen auf dem hohen Berg, erzürnter als je und mit der winzig kleinen Kreatur noch immer auf seinem Rücken, und verfluchte das Los der Stunde.
Just in diesem Moment kroch eine kleine Schildkröte vorbei und lachte, als sie das sah, und sie lachte so sehr, dass sie fast auf ihren Rücken fiel.
Und der Adler sah auf die Schildkröte herab und sagte: »Du träges, kriechendes Wesen, immer nur eins mit der Erde, was gibt es da zu lachen?«
Und die Schildkröte sagte: »Nun ja, ich sehe, Ihr seid zum Pferd geworden und ein kleiner Vogel reitet Euch, und wie’s aussieht, ist der kleine der bessere Vogel.«
Darauf sagte der Adler zu ihr: »Kümmere dich um deine eigenen Dinge. Dies ist eine Familienangelegenheit zwischen meiner Schwester, der Lerche, und mir.«
Ein Dichter schrieb einst ein Liebes-Lied, und es war ein schönes. Und er machte zahlreiche Abschriften und schickte sie an seine Freunde und Bekannten, Männer wie Frauen, und auch an eine junge Frau, die er nur einmal getroffen hatte und die jenseits der Berge lebte.
Ein oder zwei Tage später kam ein Bote von der jungen Frau und brachte einen Brief. Und sie schrieb in diesem Brief: »Ich darf Euch versichern, dass mich das Liebes-Lied tief berührt hat, das Ihr für mich geschrieben habt. Kommt rasch und trefft meinen Vater und meine Mutter, dann bereiten wir die Verlobung vor.«