Biografie
Henning Mützlitz, geboren 1980, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Neuere Geschichte in Marburg und absolvierte anschließend ein Volontariat in einer Zeitschriftenredaktion. Seit der Kindheit wandert er mit Begeisterung durch phantastische Welten jedweder Art – was ihn schließlich dazu führte, seine eigenen zu erschaffen.
Ende 2008 veröffentlichte er in der Das Schwarze Auge-Romanreihe gemeinsam mit Christian Kopp sein Debüt Das Zepter des Horas. Mit dem Band Hundswache im Rahmen der Novellenreihe Hundstage folgte der zweite Titel für Deutschlands bekanntestes Rollenspiel. Daneben ist er u.a. für das Genre-Magazin Geek! tätig und hat mehrere Sachbücher veröffentlicht.
Henning Mützlitz lebt mit seiner Familie in Heidelberg.
Titel
Henning Mützlitz
Der Ring des Namenlosen
Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Impressum
Ulisses Spiele
Band 11088EPUB
Titelbild: Anna Steinbauer
Aventurienkarte: Ralph Hlawatsch
Lektorat: Michael Fehrenschild
Buchgestaltung: Ralf Berszuck
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
Copyright © 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.
Print-ISBN 978-3-86889-299-4
E-Book-ISBN 978-3-86889-859-0
Widmung
Für Amélie
Prolog
Vinsalt, Sotterranea, im Rahja 1031 nach Bosparans Fall
Den Toten Bosparans war keine Ruhe vergönnt. Entgegen der landläufigen Meinung war die alte Kaiserstadt mitnichten vollständig untergegangen. Tief unter der horasischen Capitale Vinsalt existierte das einstmalige Zentrum eines den Kontinent umspannenden Imperiums weiter. Kammern und Gänge, Keller und Katakomben, Kanäle und Tunnel erstreckten sich unter nahezu der gesamten Altstadt. Mehr als eintausend Jahre nach der Zerstörung Bosparans bildeten sie gemeinsam mit den Zisternen und Leitungen Vinsalts die Sotterranea, die Stadt unter der Stadt. Tod und Verfall waren die Herrscher dieses unterirdischen Reiches. Die Trümmer von Villen und Tempeln, aber auch die weitläufigen Gebeinhallen und Nekropolen boten allerlei Gesindel Unterschlupf, bargen aber auch so manches Geheimnis für besonders mutige Zeitgenossen. Normalerweise wagten sich nur diejenigen hierher hinab, die das Licht des Tages zu fürchten hatten. Diebe, Hehler, Verschwörer oder gar Anhänger von Kulten, die sich allem Möglichen verschrieben hatten, aber keinesfalls der Ordnung der Zwölfgötter, trieben sich bevorzugt dort unten herum. Traf man lediglich Schergen der Königin der Unterwelt, Niam von Bosparan, konnte man von Glück reden. Bei anderen Begegnungen tat man gut daran, um sein Leben oder gar sein Seelenheil zu flehen.
Doch daran verschwendete der Mann keinen Gedanken, als er die Gewölbe der antiken Patriziergruft durch einen Rundbogen betrat. Er war mit einem Kapuzenmantel aus schwerem Stoff bekleidet, dessen Farbe in der, vom Licht einer Öllampe kaum durchbrochenen, Finsternis nicht auszumachen war.
Spuren im Staub verrieten ihm, dass die anderen bereits eingetroffen waren. Er beschleunigte seine Schritte und hatte schon bald das Herz der Gruft erreicht. Die aus bosparanischen Herrschaftszeiten stammende Gewölbekammer war längst ihrer Kostbarkeiten beraubt worden und diente nun einer Gruppe als Versammlungsort, der die versteckten Orte der Sotterranea gelegen kamen wie kaum jemand anderem. Niemand außer ihnen wusste von der Existenz dieses lange vergessenen Gewölbes.
Drei Gestalten standen in seiner Mitte um einen Steinsockel, der einem Altar glich. Er war mit einem Tuch abgedeckt, und ein goldener Kandelaber in Form einer Krone mit dreizehn schwarzen Kerzen bildete seinen Mittelpunkt. Von den Wänden wurde zudem das unruhig flackernde Licht von Fackeln zurückgeworfen, welches das Purpur ihrer Roben offenbarte. Goldene Masken verdeckten ihre Antlitze, und auch die Augen waren hinter den Schlitzen nicht zu erkennen.
Der Neuankömmling, dessen Gesicht ebenfalls mit einer Maske bedeckt war, trat zu ihnen.
»Archon Arkaniston«, sagte er und verneigte sich ehrerbietig vor dem Mittleren der drei. Sein Blick schweifte kurz über die beiden anderen Personen in der Kammer. »Archon, Archonta.«
»Tritt vor uns und sprich, Archon«, forderte ihn die Gestalt in der Mitte auf, offenbar der Anführer.
Der Mann kniete kurz nieder und streckte die rechte Hand vor. Der Zeigefinger fehlte, an seinem Ringfinger trug er einen breiten Silberring, auf dessen Oberfläche eine Reihe Tridekarii, dreizehnzackige Sterne, rotgolden schimmerten. In der Mitte umfasste ein Hörnerkranz einen Stein, der einem Achat ähnelte, jedoch halb durchsichtig und mit bräunlichen Schlieren im Inneren.
»Der Ring. SEINE Weisheit hat dir also den Weg zu ihm gewiesen«, stellte der Mann in der Mitte fest.
»Ja, ich ließ mich leiten und folgte unbeirrt SEINEN Wegen. Es ist bereitet. Die Dinge haben sich zusammengefügt, wie es beabsichtigt war.«
»Die Zweifler?«
»Ahnen von nichts.«
»Exzellent. Ganz so, wie wir es vorhergesehen haben. Was sind deine nächsten Schritte, Archon?«
»Es gilt, die Ernte dessen einzufahren, was uns erwachsen ist. Fünf Unschuldige aus den Tagen im Namen des Güldenen, fünf pulsierende Herzen zur Entfachung seiner Kraft. Alles ist bereitet. Sind sie zusammengetragen, wird mich nichts daran hindern, in ihrem Blute die Macht des Rings zu entfesseln.«
»Der Träger falscher Kaiserwürde wird erzittern vor seiner Macht«, sagte die Person zur Linken, bei der es sich um eine Frau handelte. »Er ist schwach. Naivität lenkt ihn und jene, die ihn schützen. Sein Verderben ist nahe.«
»Er wird erzittern und vergehen«, bestätigte der Anführer. »Dann geh, Archon, verrichte dein Werk. Jenem zu Diensten, der in Ketten liegt.«
»IHM zum Dienst, Archon Arkaniston.«
Der einst angesehene und hoch geachtete Mann verließ die Sotterranea. Sein altes Leben ließ er endgültig hinter sich.
Auf ihn wartete Größeres.
***
Vinsalt, 3. Tag des Efferdmondes, 1032 nach Bosparans Fall
Schatten haben sich erhoben. Schatten aus der Vergangenheit, von denen ich annahm, Sie würden ewig ruhen. Doch diese Ewigkeit hielt kaum länger als einen Götterlauf. Nicht mal ein Wimpernschlag im Angesicht der Äonen.
Vielleicht bin ich mir zu sicher gewesen, dass der Kampf vorläufig zu unseren Gunsten entschieden wurde. Der Krieg um den Thron, die offenbarten Geheimnisse der vorherigen Dekaden, die Vernichtung des Zepters von Kaiser Silem-Horas – haben wir in den letzten Götterläufen nicht schon genug Schlachten gegen die Lakaien des Gesichtslosen geschlagen? Soll uns keine Ruhe vergönnt sein, in der wir Wunden lecken, tote Freunde betrauern und neue Kraft schöpfen können?
Offenbar nicht, denn im Gewisper der Capitale erheben sich Stimmen, die davon künden, dass die Gefahr durch die Diener des Dreizehnten im Horasreich keineswegs gebannt ist. Nicht nur in den schmutzigen Winkeln, in denen das Rattenkind seine Dienerschaft versammelt, werden wieder Ränke geschmiedet, sondern auch auf der großen Bühne treten neue, gleichsam unerwartete Protagonisten auf den Plan. Wie viele Schergen des Gefallenen lauern hinter den Masken des gesellschaftlichen Einerleis, um uns den Dolch in den Rücken zu stoßen, wenn wir uns in Sicherheit wiegen?
Stimmengewirr hat mir Namen zugetragen, von denen ich geglaubt hätte, sie niemals in den Reihen des Feindes vorfinden zu müssen. Niemals … ich sollte mehr Vorsicht mit derlei absolutem Vertrauen walten lassen!
Aber die Fragen bleiben: Hätte man es kommen sehen müssen? Hätte ich etwas spüren, wenigstens etwas ahnen können? Wie viele Opfer werden Lüge und Verrat noch fordern?
Sich dem Zweifel, gar der Verzweiflung hinzugeben, wird die Ränke des Feindes nicht aufhalten! Es gilt umso mehr, den Kampf aufzunehmen und Antworten zu finden. Der Reigen beginnt von neuem, und wieder werde auch ich nicht umhin kommen, meine Rolle darin zu spielen. Ebenso wie andere, an deren Seite ich schon einmal gestanden habe.
Arela Weißblatt setzte den Stift ab. Sie hob den Kopf und blickte durchs Fenster hinaus auf die König-Khadan-Parade, eine der Prachtstraßen der Kaiserstadt Vinsalt. An den Säulen und Friesen des in einiger Entfernung auszumachenden Triumphbogens verlor sich ihr Blick. Die Gedanken an die Ereignisse um das Horaszepter hatten sie aus der Konzentration gerissen. Während die Elfe versuchte, sich die Geschehnisse der Namenlosen Tage des Jahres 1030 ins Gedächtnis zu rufen, erschien das Antlitz eines Mannes vor ihrem inneren Auge. Seine braunen Augen blitzten ihr herausfordernd entgegen, schulterlanges Haar umrahmte sein Gesicht. Ein Krieger, ein Aristokrat – und doch so viel mehr. Die Erinnerung an ihn überdeckte die anderen, und Arela bemerkte, wie sich so etwas wie Traurigkeit in ihre Gedanken stahl.
Doch statt dieser irritierenden und unerwarteten Gefühlsregung nachgehen zu können, riss sie ein Klopfen an der Tür ins Diesseits zurück.
Auf ein fast geflüstertes »Ja, bitte«, hin trat Galas, seit vielen Jahren treuer Diener Arelas, in das Arbeitszimmer.
»Signorina, ich erlaubte mir, Euch eine Kanne Tee aufzugießen.«
»Vielen Dank, Galas. Ich habe gar nicht bemerkt, wie viel Zeit schon wieder vergangen ist.«
Der ältere Mann schlurfte in gebückter Haltung zum Schreibtisch und setzte ein Silbertablett mit Teegeschirr aus Drôler Porzellan und einen Teller mit Biskuitkuchen neben ihr ab.
»Was würde ich nur ohne Euch machen?«, sagte Arela lächelnd und berührte dabei seinen Arm. Ein Kribbeln durchfuhr sie. Erschrocken sprang sie auf, während Galas zwei Schritte zurück trat und die Hände abwehrend erhob.
»Ihr … Ihr seid nicht Galas!«, entfuhr es der Elfe. Die Worte der Formel Gardianum Zauberschild formten sich in ihrem Geist, und binnen weniger Augenblicke befand sie sich innerhalb einer schützenden, gleichwohl unsichtbaren arkanen Kuppel, die sie vor einem feindlichen Zauber schützte.
»Wer seid Ihr?«, rief sie, bereit, den Fremden in der Gestalt ihres Dieners augenblicklich mit einem Fulminictus Donnerkeil niederzustrecken.
»Haltet ein, Signorina! Ich will Euch nichts Böses!«, erwiderte der Mann.
»Dann offenbart Euch!«
Der Fremde legte das Gesicht in die Hände und verharrte einen Augenblick lang in dieser Pose. Sein Körper schien zu wachsen, die Statur wurde kräftiger, und statt des lichten Kranzes fielen innerhalb weniger Sekunden kastanienbraune Haare an den Schläfen herab. Der Mann richtete sich auf, das Gesicht noch immer durch die Hände verdeckt.
Arela ließ ihn nicht aus den Augen. Als Meisterin der Täuschung war sie darauf gefasst, sich hinter der vermeintlich entwaffnenden Geste plötzlich einem Angriff gegenüberzusehen.
Eine falsche Bewegung, und magische Schmerzen werden dich verzehren!
Als der Mann die Arme senkte, traf sie ein spöttischer Blick aus smaragdgrünen Augen. Die Konzentration fiel von ihr ab.
»Ihr?«, rief die Elfe überrascht aus.
Ihr Gegenüber lachte. »Bei Phex, wer hätte geglaubt, Euch jemals derart verblüfft zu erleben, Signorina.« Eine Maske verschwand in der Tasche seines Mantels.
Arela benötigte nicht lange, um die Überraschung abzuschütteln und die Kontrolle über ihren Verstand zurückzugewinnen. »Ich hätte Euch töten können, Euer …«
»Keine Titel bitte, Signorina«, unterbrach er sie.
»Ich vermute, in den Schatten, in denen Ihr Euch herumtreibt, gelten Titel wenig«, erwiderte sie, nun ebenfalls lächelnd.
»Nicht wirklich, Signorina«, sagte der Mann und ließ sich in einen Sessel fallen. Er blickte sinnierend an die Decke. »Der Fürst aus den Schatten … ich glaube, das gefällt mir trotzdem ganz gut.«
»Und was führt Euch zu mir?«, fragte Arela.
Das Lächeln ihres Gegenübers erstarb. »Dinge sind in Bewegung geraten. Dinge, die unser Handeln erfordern.«
»Unser Handeln?«
»Es dürfte kaum in Eurem Interesse sein, wenn sich das Spiel anders entwickelt, als wir geplant hatten.«
»Wer sagt denn, dass ich dieses Spiel immer noch spiele?«
Der Mann lachte spöttisch auf. »Ich bitte Euch, Signorina. Ich kenne Euch lange genug, um zu wissen, dass Ihr die Figuren immer noch genau im Blick habt.«
Die Elfe wandte sich ab und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Wieder kam ihr das Antlitz des Aristokraten in den Sinn, und erneut war sie irritiert darüber. »Vielleicht ist das so. Sagt mir, was Ihr beabsichtigt, und unter Umständen helfe ich Euch dabei – wenn es tatsächlich in meinem Interesse ist, so wie Ihr sagt.«
Der Mann stand auf und stellte sich neben sie, den Blick ebenfalls in die Ferne gerichtet. »Ihr müsst nichts weiter tun, als die Figuren in Stellung zu bringen, Signorina.«
***
Der Herbstregen tauchte Vinsalt in einen Schleier aus Feuchtigkeit. Seit Tagen weigerte sich Efferd, seine Schleusen zu schließen, und in den Gassen der Stadt war so mancher Fluch zu vernehmen. Von oben und unten, von vorne und hinten schlug jedem das Wasser entgegen, der sich mehr als drei Schritte aus einem Gebäude wagte. Wer es sich leisten konnte, wurde von Lakaien mit Schirmen vor dem Regen bewahrt und ließ sich ausschließlich per Kutsche durch die Stadt chauffieren. Doch diejenigen, die es sich nicht aussuchen konnten – und das waren die weitaus meisten Einwohner der Stadt – hatten mit völlig durchweichter Kleidung zu kämpfen.
Auch die Kronbeamten auf dem Palasthügel blieben davon nicht verschont, wenn sie allmorgendlich ihre Schreibstuben im Firdayon-Palast aufsuchten. Seit der Orden vom Goldenen Adler seinen Hauptsitz auf der Festung Naumstein genommen hatte, waren die wenigen in Vinsalt verbliebenen Adlerritter im ehemaligen Kaiserpalast untergebracht worden, in welchem seit dem Ende des horasischen Thronfolgekriegs Fürst Ralman von Firdayon-Bethana residierte. Schreib- und Amtsstuben des Adlerordens befanden sich in den Obergeschossen des Nordflügels. Verhörzimmer, Kammern für Vorräte, Ausrüstung und Waffen nebst einer Handvoll Zellen für Delinquenten dagegen in den Kellergeschossen der Residenz.
Mit der Leitung dieser Dependance des Ordens war seit wenigen Monden Großkomtur Pelleas Gavan betraut. Vormals als Sonder-Director mit Verbindungen zum Directorium für Besondere Angelegenheiten und der Connetablia Criminalis Capitale tätig, war er nunmehr für die Zusammenarbeit zwischen Ordensmarschall Amaldo Ravendoza, zugleich Comto-Geheimsiegelbewahrer seiner Horaskaiserlichen Majestät, und Comto-Protector Fürst Ralman zuständig. Dass er daneben die Verbindung zu den städtischen Behörden sowie die Koordination von Ordensrittern und Agenten, den so genannten »Horchern«, von Vinsalt aus steuern musste, machte seine Aufgabe nicht leichter.
Über Arbeit konnte man sich in den Amtsstuben des Adlerordens also nicht beklagen – eine Tradition, die sich trotz aller Veränderungen der vergangenen Götterläufe erhalten hatte.
So war es auch an diesem regnerischen Tag.
Gavan starrte auf die Unterlagen. Er konnte sich nicht konzentrieren, dabei gab es so viel Unerledigtes, das auf ihn wartete. Eigentlich sollte das nach der Rückbildung des Ordens aus einem Heer von Beamten zu einem der Kaiserfamilie verpflichteten Schwurbund der Vergangenheit angehören. Die Realität sah – zumindest hier in Vinsalt – aber anders aus. Es war noch nicht besonders lange her, dass sich der Großkomtur über die Bürokraten und Advokaten in den vom Volksmund spöttisch als »Tintenburgen« bezeichneten Verwaltungsbauten lustig gemacht hatte. Keinen Götterlauf und eine Beförderung später war er selbst zu einem dieser »Paragraphen-Paladine« geworden, als die er sie früher bezeichnet hatte.
Doch das Lesen und Verfassen von Schriftstücken aller Art gehörte nun einmal zu dem, was Marschall Ravendoza als »Verantwortung für die Krone« beschrieben hatte. Die Verantwortung Entscheidungen zu treffen, von denen man glaubte, dass sie das Beste für das Wohlergehen und die Sicherheit des jungen Horaskaisers seien, waren unentbehrlicher Bestandteil der Arbeit eines Großkomturs. Und nicht alle konnten von den ohnehin schon an Überbeschäftigung leidenden Amtsschreibern des Adlerordens bewältigt werden.
»Sei’s drum«, murmelte Gavan und setzte seine Unterschrift unter eine Erklärung des Ordens, die an Bürgermeister Drakenoor gerichtet war.
Kurz darauf klopfte es an der Tür, und Ryano di Jakaris, Gavans rechte Hand und Berater in allen juristischen Angelegenheiten, stürmte in das Amtszimmer. Er verbeugte sich und übergab dem, aufgrund der ungewohnten Hast, verblüfften Großkomtur ein versiegeltes Schriftstück. »Summus pensus! Diese Botschaft traf soeben ein, Exzellenz.« Der Advokat verbeugte sich erneut und entfernte sich, kehrte aber postwendend zurück. »Aus Naumstein, Exzellenz!«
Der Großkomtur erkannte sofort das Siegel des Ordensmarschalls. Eine Nachricht der obersten Priorität, nur für seine Augen bestimmt. Neugierig brach er das Siegel und entrollte das Papier. Er überflog die Zeilen und verharrte dann lange mit halboffenem Mund, als habe ihn eine Starre befallen. Seine Miene verriet nichts über den Aufruhr in seinem Inneren, bis er ruckartig an einer Schnur zog, die mit einer Glocke im Vorraum verbunden war und Jakaris hereinrief.
Augenblicke später erschien dieser in der Tür und blickte ihn fragend an.
»Schafft mir Tarperian her!«, zischte Gavan. »Sofort!«
Wenig später schlenderte ein kleiner Mann in das Amtszimmer des Großkomturs. Obwohl er einen Mantel horasischer Machart trug, erkannte man an den mandelförmigen, leicht schräg gestellten Augen, dass er von der Insel Maraskan weit im Osten Aventuriens stammte. Mit einer Handbewegung grüßte er den Vorgesetzten und ließ sich ohne jede Respektsbekundung in den Stuhl ihm gegenüber fallen.
»Was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte er in einem Ton, als sei ihm völlig gleichgültig, warum man ihn gerufen hatte.
»Lies das. Dann will ich deine Meinung dazu hören.« Gavan reichte Tarperian die Botschaft. Der Maraskaner überflog den Text und zog eine Augenbraue hoch. Sonst ließ er sich nichts anmerken.
»Und?«, fragte Gavan.
Tarperian seufzte und blickte dem Großkomtur in die Augen. »Wenn du mich fragst, hat uns der Dreckskerl verraten.«
»So sieht’s wohl aus.«
»Hätt’ ja nicht gedacht, dass mich nochmal was überraschen kann, nach allem, was wir in den letzten Jahren durchgemacht haben. Manche schaffen es aber trotzdem, alle um sich herum in die Irre zu führen. Und das bei dem Misstrauen, das man walten lässt!« Tarperian schien ernsthaft beleidigt zu sein, wirkte aber gleichzeitig etwas ratlos. »Was willst du deswegen unternehmen?«
»Ihn natürlich finden, was denn sonst? Wir waren ganz schön naiv, dass er uns derart hintergehen konnte.« Gavan seufzte. »Aber wenn’s nur das wäre, könnte man es fast vernachlässigen. Früher stellte er nur eine Gefahr für sich selbst dar, jetzt ist er zu einem Risiko für uns alle geworden. Der Marschall hat mehrfach betont, dass es nicht noch einmal zugelassen werden kann, dass in den Schatten über Jahre hinweg unbemerkt Fäden zum Schaden des Reiches gesponnen werden. Wahrscheinlich war die Einigkeit diesbezüglich noch nie so groß, denn sowohl der Horas, als auch seine Mutter und sein Onkel sind sich ebenso wie der Comto-Protector bewusst darüber, in welchen Abgrund uns solch eine Gefahr zu reißen vermag! Das kann also nur eins heißen: Wir müssen ihn zur Strecke bringen, koste es, was es wolle!«
»Soll ich …«
»Nein, mein Freund! Mit einem Bolzen ist die Sache kaum aus der Welt zu schaffen, so sehr ich es wünschte. Profane Mittel reichen hier nicht aus, das sollte dir klar sein. Du kennst ihn besser als ich, schließlich warst du mit ihm unterwegs.«
»So gut kannte ich ihn auch wieder nicht. Letztlich sind wir nur ein paar Tage miteinander gereist – auch wenn es dabei zu ein paar Komplikationen gekommen ist.« Tarperian setzte ein Grinsen auf. »Es gab Huren, mit denen ich mehr Zeit verbracht habe als mit ihm.«
Gavan nahm mit grimmigem Gesicht ein Blatt Papier zur Hand und begann, einen Text zu verfassen. Nach einer Weile faltete er es zusammen, schob es in einen Umschlag und versiegelte ihn mit Wachs. Mit einer Wucht, als wolle er einen Stein zertrümmern, hämmerte er das Siegel in die weiche Masse und schob den Brief Tarperian zu.
»Du brauchst Hilfe. Du weißt, an wen du dich zu wenden hast. Hier drin steht alles, was sie wissen müssen.«
Der Maraskaner nahm den Umschlag an sich. »Du hörst von uns, wenn es erledigt ist.«
»Bei den Zwölfen, das hoffe ich!« Der Großkomtur nickte und wandte sich wieder den Papieren zu. Als der Maraskaner schon auf der Türschwelle war, schickte Gavan ihm noch eine letzte Anweisung hinterher. »Lasst ihn bluten! Ich will, dass ihr ihm zeigt, was es heißt, uns zu hintergehen!«
Tarperian grinste und verließ den Palast.