Johannes Czwalina
Das Schweigen redet
Wann vergeht diese Vergangenheit?
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ISBN 9783865065704
© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfotos: fotolia
Satz: Brendow PrintMedien, Moers
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
www.brendow-verlag.de
Vorbemerkung
Seit meiner Kindheit zieht sich eine Spur der Trauer durch mein Leben, die ich nicht loswerde. Sie setzte ein, als ich erfuhr, dass in dem schönen Haus meiner Jugendjahre zuvor Juden gewohnt hatten, die ihr Leben im Holocaust verloren haben, und sie war auch gegenwärtig beim Schreiben dieses Buches.
Johannes Czwalina
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Spendenstichwort: Schweigen-Buch
Cover
Titel
Impressum
Geleitwort von Albrecht Fürst zu Castell-Castell
Einleitung
Erster Teil: Das Schweigen redet: Wann vergeht diese Vergangenheit?
1. Das Schweigen der Opfer
Abgewiesen von der desinteressierten Umgebung
Erlebte Traumatisierung verschließt den Mund
Zwischen Überlebenskraft und Zusammenbrüchen
Das Schuldgefühl, überlebt zu haben
Innere Unruhe und Unbehagen vor stillen Momenten
2. Das Schweigen der Täter
Schuldbewusstsein wird verdrängt
Rechtfertigungen
Selbstmitleid, Opferrolle, Abschieben der Schuld auf andere
Vorgeschobenes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Familie
Großer Bogen um die einzige Lösung: Schonungslose Offenheit
Fehlgeleitetes Gehorsamsverständnis
Gefangen im abartigen Weltbild vom „perfekten Garten“
3. Das Schweigen der schweigenden Mehrheit
4. Das Schweigen redet: Auswirkungen des Schweigens
5. Das Schweigen der Täterkinder
Generationsübergreifende Übertragung und erdrückende Gefühlserbschaft
Schuldgefühle und das Gefühl, die Schuld der Väter sühnen zu müssen
Diffuse Todesängste und Schlafstörungen
Misstrauen und die Vorstellung, in jedem könnte ein Nazi stecken
Erschwerte Suche nach der eigenen Identität
Schwierigkeiten, nachhaltige Beziehungen zu pflegen
Bewältigungsversuch: Verklärung, Idealisierung, Verharmlosung
Bewältigungsversuch: Hass
Bewältigungsversuch: Die Gegenposition einnehmen
Bewältigungsversuch: Anpassung, nur nicht auffallen
Bewältigungsversuch: Ohne jede Verdrängung sich dem Erbe stellen
6. Das Schweigen der Opferkinder
Psychopathologische Erbschaften durch die Traumatisierung der Eltern
Wie überträgt sich ein Trauma auf die nächste Generation?
Entwicklungshemmnisse und Authentizitätsprobleme
Schuldgefühle und andere Symptome
7. Das Schweigen der Welt
8. Das Schweigen der Kirchen
9. Das Schweigen Gottes
Deutungen der jüdischen Theologie zum Schweigen Gottes
Deutungen der christlichen Theologie zum Schweigen Gottes
Zweiter Teil: Ohne Aufarbeitung wird Vergangenheit zur Gegenwart
10. Die bittere Wurzel
Die bittere Wurzel: Die 68er-Bewegung und die RAF
Neonazis: Die alte Saat geht wieder auf
„Faschismus des Profits“?
Dritter Teil: Das Schweigen brechen: Wann vergeht Vergangenheit?
11. Die Suche nach Perspektiven zwischen Hoffnung und Ablehnung
Südafrikanische Wahrheitskommission: Vergebung für ein ganzes Volk?
Geschichte und Philosophie der südafrikanischen Wahrheitskommission
Erfolge und Schwachstellen der südafrikanischen Wahrheitskommission
Die gesellschaftliche und politische Dimension der Vergebung
12. Was bedeutet Vergebung?
Vergeben unterbricht den Kreislauf der Rache
Vergebbar ist nur das Unvergebbare
Vergebung: keine verfügbare „Methode“
Darf ein Opfer überhaupt verzeihen?
Warum ist das Vergeben für die Opfer so schwierig?
Kann es Vergebung auch ohne die Bitte um Verzeihung geben?
Können andere stellvertretend vergeben?
Ist eine Rehabilitierung des Täters möglich?
Welche Einsichten können die Bereitschaft zu vergeben erhöhen?
Die Täterseite sitzt in uns allen
Die entlastenden Nachwirkungen bei denen, die Vergebung gewähren
Die Wirkungen des Vergebens bei denen, die Vergebung erhalten
13. Aufbruch zur Aufarbeitung – konkrete Schritte
Aufarbeitung in vier verschiedenen Kontexten
Den einzelnen Schmerzanteilen einen Namen geben
Kommunikationsräume öffnen und Vertrauen wagen
Trauer, Schmerz und Gefühle zulassen
Vorurteile entlarven
14. Plädoyer für ein Vergeben ohne Vergessen
Bedeutet Vergebung der Schuld automatisch auch Befreiung der Last?
Vertrauen wagen – unser Geschenk an nachfolgende Generationen
Zur Gedenkstätte für Flüchtlinge in Riehen (Schweiz)
Danksagung
Literaturverzeichnis
Glossar
Holocaust, Shoah
Holocaustüberlebender
Genozid
Trauma
Anhedonie
Zweite Generation
In sorgfältiger, gründlicher Weise hat Johannes Czwalina beschrieben, welche Auswirkung das Schweigen – ich will es zwanghaftes Verschweigen nennen – auf das ganze Leben eines Menschen hat. Das jüdische Volk hat in Europa entsetzliches Leid erlebt. Alle lebten in Angst, und es gibt kaum eine Familie, die von 1933 bis 1945 keine Ermordeten zu betrauern hat. Wer überlebt hat, ist oft lebenslang in seinem Wesen verändert und unfähig, über das Erlebte zu sprechen. Die meisten haben weggeschaut. Vermutungen wurden nicht hinterfragt, sondern verdrängt. Man wollte von den Verbrechen nichts wissen, und man hat geschwiegen. Die Frage der Schuld wurde verneint, schuldig waren nur die anderen. Jeder aber, der in der Nazizeit bereits erwachsen war, hat wohl etwas geahnt von Kriegsverbrechen, Judenverfolgung und Massenmord. Das ist unsere Geschichte, ein traurig-schauriger Abschnitt deutscher Geschichte.
Erst die Atmosphäre und die bildhaften Eindrücke bei Besuchen in Birkenau und Auschwitz haben mir die Augen geöffnet und schließlich auch mein Herz erreicht. Mir ist wie nie zuvor in meinem Leben bewusst geworden, dass auch ich ein Schuldiggewordener bin. Ratlos und Hilfe suchend habe ich diese Mitschuld in einem Beichtgespräch bekannt.
Denn Deutschland, in dessen Namen friedliche Länder überfallen und besetzt wurden und tausende unschuldiger Bürger jüdischen Glaubens ermordet wurden, ist mein Vaterland, für das ich als Soldat in den letzten Kriegsjahren im Einsatz war.
Ich vermute, dass viele Menschen in sich ein Geheimnis tragen, etwas, worüber sie nicht sprechen wollen. Das kann weit zurück liegen: eine Lüge, ein Betrug, eine Verleumdung, ein Missbrauch, eine Verletzung, ein Treuebruch oder auch ein Fluch, der irgendwann einmal ausgesprochen wurde. So gibt es mancherlei, was mit einer „Decke des Schweigens“ zugedeckt und im Verborgenen, in der Verschwiegenheit versteckt bleiben soll.
Ich wünsche allen, die „Das Schweigen redet“ lesen, Mut und Kraft, den Damm des Nichtredens einzureißen und die „Decke des Schweigens“ wegzuziehen.
Albrecht Fürst zu Castell-Castell
Castell, 2013
Der Buchhandel wird heute ständig mit neuem Stoff über das Dritte Reich versorgt. Das war bis in die Mitte der 1990er Jahre noch anders, als man in den Regalen bestenfalls einige Wälzer über die Architekten des deutschen Faschismus fand. Die zahlreichen, in den letzten Jahren oft von Laien geschriebenen Familien- und Schicksalsberichte aus der NS-Zeit markieren einen Wendepunkt in der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit. Der Einzelne, der sein Augenmerk auf Ereignisse legt, die die eigene Familiengeschichte geprägt haben, besticht durch den geschärften Blick der persönlichen Betroffenheit. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den Ausführungen von einigen zeitgenössischen Historikern, deren Professionalität sich in der Wahrung des emotionalen Abstands ausdrückt.
Geschichte ist etwas Flüssiges. Man kann ihr keine feste Form aufzwingen. Sie entwickelt sich weiter mit den Ereignissen, die von Generation zu Generation aus neuen Blickwinkeln gesehen werden. Das macht das Ringen um die Deutungshoheit so offen. Bereits Abgehaktes kann plötzlich wieder als offenes Thema im Raum stehen.
In mühsamer Kleinarbeit rekonstruieren Enkel und Urenkel die Biografien ihrer Groß- und Urgroßeltern. Und fast jeden Monat kommen neue Bücher hinzu.
Es scheint, als sei ein Damm des Schweigens gebrochen worden. Das Schweigen beginnt zu reden, immer lauter erhebt es seine Stimme. Und das ist gut so, denn nur dadurch kann ein umfassender Aufarbeitungsprozess in Gang kommen, den diese Welt heute mehr denn je braucht.
Wie kommt es, dass erst jetzt dieser Damm des Schweigens bröckelt? Nun, zum einen sicher, weil die Enkelgeneration viel unbefangener ist, und zum anderen, weil die letzten Zeitzeugen oft erst in weit vorgerücktem Alter bereit sind zu sprechen, wenn sie nämlich realisieren müssen, dass – bedingt durch einen Verfall ihrer Kräfte – die Mauer des Schweigens ihre vermeintliche Schutzfunktion nicht mehr erfüllen kann.
Der KZ-Überlebende Elie Wiesel formuliert es so:
Die Jugend macht den Unterschied aus. Die jungen Leute wollen heute wissen, was damals wirklich geschehen ist, … weil sie sich sagen, dass das die letzte Chance ist, einem Zeitzeugen zuhören zu können. Sie hören mit einer gesunden Neugier, mit ihren Seelen, mit ihren Blicken. Ich spreche sehr gerne mit jungen Leuten und beantworte ihre Fragen. Sie interessieren sich für unsere Erfahrungen, nehmen sie an und zeigen uns ihr Mitgefühl. Das berührt mich. Es ist einfacher, mit den Enkeln zu sprechen als mit den Söhnen.1
Die Generation, die in den letzten Jahren des Dritten Reichs und unmittelbar danach geboren wurde, hat erfahren müssen, wie die Eltern ihren Fragen über die Zeit des Nationalsozialismus auswichen. Im Geschichtsunterricht in den 1960er Jahren haben wir das Thema „Drittes Reich“ durchgearbeitet. Ich bin während meiner Kindheit und Jugend aber keinem einzigen Menschen begegnet, der sich als ehemaliger Nationalsozialist zu erkennen gab. Muss das nicht nachdenklich stimmen angesichts der Tatsache, dass es nur wenige Jahre vorher offiziell keinen gab, der kein Nationalsozialist war?
Durch dieses Schweigen der Eltern hat die Neugierde, die in der ersten Generation noch weitgehend unterdrückt werden konnte, in der zweiten und dritten Generation umso mehr zugenommen. Das Schweigen hat einige der Kinder zur Verzweiflung oder Resignation getrieben, andere in Rebellion und Wut: Keinem aber hat es das Aufklärungsbedürfnis nehmen können. Bei vielen der Kinder und Enkel entwickelte sich diese Wissbegierde zu einem dringenden Bedürfnis, bis sie endlich ihre Wurzeln ausgraben und den Nebelschleier des Schweigens der Vorfahren auflösen konnten. Sie wollten wissen, woher sie kommen und was sie ausmacht. Sie spürten, dass sie an ihr Innerstes herankommen müssen, um sich selbst zu verstehen.
Dieses – aus heutiger Sich selbstverständliche – Recht haben viele Kinder der ersten Generation – die Kinder der Täter und Opfer – nicht wahrnehmen können. Sie wuchsen in einer Wolke des Schweigens auf und bemerkten oft erst im fortgeschrittenen Alter, welche Hypothek ihnen dadurch auferlegt wurde. Je länger sie mit der Aufarbeitung warteten, desto dringlicher meldete sich das Begehren nach Transparenz. Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Verschwiegenes bleibt in uns wirksam, auch wenn es für lange Zeit verdrängt werden kann.
Claudia Brunner, die Großnichte von Adolf Eichmanns Stellvertreter, der für die Deportation von 130 000 Juden verantwortlich war, bringt den Unterschied der Generationen auf den Punkt:
Je mehr ich zu wissen glaube, umso größer wird das Bedürfnis, noch tiefer einzudringen in dieses dunkle Kapitel, das plötzlich auch meine Familiengeschichte und damit ein Teil meiner eigenen ist … Die Vergangenheit wirft ihre Schatten bis in die Gegenwart, sie wirkt in uns weiter, erst recht, wenn wir versuchen, sie zu verdrängen. … Spätestens beim Thema familiärer Loyalität musste es dann krachen, denn während ich es bisweilen laut herausschreie und meinen Großonkel für seine Taten auch vor anderen laut verurteile – nicht zuletzt, um mich deutlich von seiner Ideologie zu distanzieren –, kommt bei meinem Vater, wie bei vielen der Nachkriegsgeneration, die familiäre Gebundenheit viel stärker ins Spiel, die ihn davor zurückschrecken lässt, deutliche Worte zu finden, sogar mir gegenüber.2
Uwe von Seltmann, dessen Großvater aktiv an der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstandes im Frühjahr 1943 teilnahm, schreibt:
Warum verbringe ich seit drei Jahren meine Zeit mit dem Aufsuchen von Zeitzeugen, mit der Lektüre von Dokumenten und Fachbüchern, warum beschäftige ich mich unaufhörlich mit dem unrühmlichsten Kapitel der deutschen Geschichte, warum rühre ich in diesem unappetitlichen braunen Schlamm und wühle dabei mich selbst und andere auf? Weil ich etwas gutmachen will? Weil ich von den dunklen Seiten in mir selbst ablenken will? Ja, warum gerade ich? ‚Du gehörst zur dritten Generation‘, hat mir meine Tante Ute einmal gesagt, ‚du hast die nötige Distanz.‘ Sie habe mit ihren Nachforschungen aufhören müssen, weil irgendwann der Punkt erreicht war, an dem es ihr – als Tochter – zu naheging. Aber ich als Enkel könne diesen Punkt überschreiten und weiter gehen.3
Die nachgeborenen Generationen suchen nach der Vergangenheit, die sie in sich als Gegenwart spüren. Sie ahnen, dass das vergangene Leben ihrer Eltern mit ihrer gegenwärtigen Befindlichkeit zu tun hat. Sie ahnen, dass sie das Puzzlestück der Vergangenheit dringend zur eigenen Orientierung brauchen, um ihre Herkunft, ihre Gefühlswelt, ihre eigene Identität besser deuten zu können. Um das Schweigen ablegen zu können, müssen sie aus dem Zustand des Unbewussten herauskommen. Sie müssen erfahren, was geschah, und sie müssen erkunden, wer es tat, und sie müssen aufgeklärt werden, warum es getan wurde. Sie verfügen über keine Landkarte dieser gegenwärtigen Vergangenheit. Aber sie wissen, dass die Kenntnis dieser Landkarte für sie enorm wichtig ist. Ohne sie bleibt die Suche nach dem unbekannten Puzzlestück ihrer eigenen Biografie und Persönlichkeitsfindung unvollständig. Sie sehnen sich nach Aufklärung über eine Vergangenheit, die sie nicht erlebt haben, die jedoch einen großen Teil ihrer Gefühle und Identität bestimmt. Das Gefühl, nur halb zu der Gesellschaft zu gehören, die deutlich anders empfindet, belastet sie. So leben sie permanent in zwei Kulturen und wollen um jeden Preis aus diesem Dilemma ausbrechen.4
Geschwiegen haben nicht nur die Täter, sondern genauso die überlebenden Opfer, und nicht zu vergessen die vielen Mitläufer, die keine Gelegenheit auslassen, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Geschwiegen haben die Kirchen. Geschwiegen hat damals die Welt – jedenfalls viel zu lange. Hat auch Gott geschwiegen?
Die Geschehnisse der NS-Zeit führten zu Schuld, Mitschuld und Schuldgefühlen, die niemanden unbeteiligt ließen. Da aber in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg Schuld nur in einem spezifisch juristischen Sinn aufgearbeitet wurde, blieb sie in vielen anderen Formen erhalten: Moralische, psychologische und kollektive Formen von Schuld lassen sich nicht vor Gericht verurteilen. Um ein funktionierendes Leben führen zu können, schwieg man sich aus – schuldig waren schließlich Leute wie Eichmann, und für die gab es große Prozesse. Nicht vor den eigenen Kindern, in vielen Fällen nicht einmal vor sich selbst, gestand die große Masse der Mitläufer und Profiteure ihre Mitschuld ein: Alle schwiegen.
Die zahlreichen Publikationen, die sich auf die Suche nach der Familienvergangenheit machen, versuchen, dieses Schweigen zu brechen. Sie lassen sich als Ausdruck einer diffus empfundenen Belastung deuten – ein Erbe der unmittelbar betroffenen Generation.
So tragen viele, oft auch unbewusst, ein transgenerationelles Erbe mit sich. Dieses Erbe hat die bewussten Erlebnisse der Täter- und Opfergeneration in ein unbewusstes Dilemma der nächsten Generationen verwandelt. Das Erbe wird als Last empfunden, aber es fehlt die Orientierung, damit umzugehen. Es ist bisweilen schwerer zu verkraften als das, was die Eltern oder Großeltern auf der bewussten Ebene erlebten.
Der erste Teil dieses Buches dokumentiert, auf welche Weise diese unbewusste kollektive Schuld (denn wie sich zeigen wird, leiden auch die Opfer und ihre Nachkommen an subjektiv empfundenen Schuldgefühlen) sich in Einzelschicksalen als psychische Belastung auswirkt.
Hermann Hesse formulierte den tiefgehenden Satz: „Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist.“ Vergangenheit, die nicht durch Aufarbeitung geklärt wurde, kommt wieder. Schweigen, das sich durch Aufarbeitung nicht aufgelöst hat, hält das Verborgene am Leben. Angenommen, Hesses Behauptung stimmt und wir würden uns eingestehen, dass in der deutschen Vergangenheit Aufarbeitung durch das Schweigen der Täter und Mitläufer unzureichend stattgefunden hat; müssten wir dann nicht genauer analysieren, was wiedergekommen ist und was am Leben bleiben konnte, obwohl es für tot erklärt wurde?
Wir müssen uns der Frage stellen, was anders gelaufen wäre, wenn die Großväter und Väter schonungslos, betroffen und vorbehaltlos das Schweigen gebrochen und sich wahrhaftiger zu ihrer Schuld bekannt hätten.
Konnten sich gar bestimmte gesellschaftliche und politische Strömungen in Deutschlands Nachkriegszeit erst dadurch entwickeln, dass schweigende Mitläufer vor den kritischen Fragen ihrer Kinder in den Konsum und die Karriere geflüchtet sind? So lange, bis die junge Generation ihre Fragen einstellte und ihre aufgestaute Frustration auf die Straße hinaustrug und radikale Gruppierungen bildete, die auch vor Attentaten nicht zurückschreckten? Diese Kinder wollten von ihren Eltern erfahren, warum sie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht widersprochen hatten, warum sie nicht nachgefragt oder protestiert hatten, als Juden in ihrer Nachbarschaft abtransportiert wurden. Mit dem Durchbrechen ihres Schweigens hätten sie bei den jungen Menschen Achtung gewonnen. Durch ihr Schweigen oder Verschweigen aber haben sie eine doppelte Hypothek auf sie gelegt.
Könnte also das wütende und verzweifelte Aufbegehren der 68er-Generation mit dem hartnäckigen Schweigen ihrer dem materiellen Wohlstand nachjagenden Eltern zusammenhängen? Wären wir von dem RAF-Terror verschont geblieben, der Deutschland ein Jahrzehnt lang erschütterte?
Die Täter und Mitläufer folgten in der Nachkriegszeit dem Pfad ihrer Furcht. Es war die Angst, dass irgendetwas offenbar werden könnte, das ihrem Image und ihrer Karriere schaden könnte. Dadurch haben sie aber ihren Kindern am meisten geschadet. Der Psychologe Tilmann Moser spricht von einer „Scheinheilung“ dieser Generation, die dazu geführt habe, dass den Nachgeborenen „ganze Container voller Probleme“ aufgeladen wurden.5
Ähnlich lief es nach dem Zusammenbruch der DDR ab. Außer dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der sich in einigen Gesprächen mit mir bewusst auch nach der Wende als überzeugter Kommunist zu erkennen gab, bin ich praktisch niemandem begegnet, der sich als ehemaliger Funktionär bekannt hatte. Immer waren es die Nachbarn oder die Leute im Wohnblock gegenüber gewesen. Tiefergehende, selbstkritische Aufarbeitungsbereitschaft fehlte auch nach der Wende. So, wie es nach dem Ende des 2. Weltkriegs plötzlich nirgendwo mehr Nazis gab, verschwanden nach dem Zusammenbruch der DDR auch alle Kommunisten.
Der zweite Teil dieses Buchs hält die verstörende Beobachtung fest, dass Verschwiegenes in späteren Generationen wiederkehrt, sowohl innerhalb von Familien als auch der gesamten Gesellschaft. Sogar in der scheinbar harmlosen Arbeitswelt lässt sich so etwas wie eine Arier-Ideologie feststellen. Können etwa auch die von der RAF ausgeführten Mordtaten und das eiserne Schweigen der beteiligten Täter als Nachwirkung des Dritten Reiches gedeutet werden? Was kann uns davor bewahren, dass sich Unaufgearbeitetes über Generationen weitervererbt? Eine Lösungsmöglichkeit zeigt uns die Geschichte Südafrikas.
In Südafrika konnte mit Hilfe eines strukturierten Versöhnungsprozesses, auf den in diesem Buch näher eingegangen wird, ein mörderisches System überwunden werden. Allen Erwartungen zum Trotz wurde eine Annäherung von verfeindeten Gesellschaftsschichten eingeleitet, die trotz Rückfällen als Erfolg zu bewerten ist. Unüberwindbare Barrieren zwischen Opfern und Tätern wurden durch Offenheit, Reue und Vergebung – einer neuartigen und nichtjuristischen Versöhnungspraxis – abgebaut.
Versöhnung als Gegenmittel wider das Vergessen und Verschweigen?
Was wäre in Deutschland nach 1945 oder nach 1989 anders gelaufen, wenn wir über ein Versöhnungsmodell verfügt hätten, wie es in Südafrika angewandt wurde? Welche Chancen haben wir persönlich, gesellschaftlich und politisch noch nicht genutzt?
Sind tiefgreifende Versöhnung und Vergebung möglich? Sind sie überhaupt gewollt? Diesen Fragen möchte ich im dritten Teil dieses Buches nachgehen und dabei konkrete Vorschläge machen, wie mit der generationenübergreifenden Schuld – nicht zu verwechseln mit den Vergehen von Einzelpersonen – umgegangen werden kann. Diese Schuld muss nicht nur juristisch und historisch, sondern auch individuell-psychisch oder im persönlichen Dialog aufgearbeitet werden.
Ich bin der Überzeugung, dass das symptomatische Phänomen des Schweigens ganzer Generationen letztlich einen stummen Schrei nach Versöhnung darstellt. Deswegen sollten wir keine Mühe scheuen, alles zu unternehmen, dass in dieser komplex und undurchschaubar gewordenen Welt voller Hass funktionierende Versöhnungspraktiken gefunden und angewandt werden können. Es liegt auf der Hand, dass der Weg der Versöhnung nicht leichtfertig beschritten werden kann. Gerade zu Beginn dieses Prozesses werden der Schmerz der Opfer und die Schuld der Täter wieder neu spürbar und präsent.
Ich halte mit diesem Buch Ausschau nach einer Kultur, die mehr erreichen will als die Verurteilung der Täter, um nur auf diesem Weg bestenfalls eine kleine Genugtuung der Opfer zu erreichen. Ich suche nach einer Kultur, die Lebensqualität und Versöhnung im Auge hat, die bereit ist, dem Verzeihen eine Chance zu geben, und das alles nicht nur im privaten Bereich, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene.
Wie können wir Worte sagen, die das Undenkbare fassen könnten?6
Prof. Dr. Albert H. Friedländer
Den Biographien derer, die diesen Krieg weder anzettelten noch führten, ihn aber mit ihrer Gesundheit und dem Leben bezahlen mussten, widmet man sich in letzter Zeit häufiger. Im Osten durften die Schicksale dieser Menschen gar nicht erst erwähnt werden. Und auch im Westen wollte man die düsteren Erzählungen darüber, wer gerade noch davongekommen war, nicht hören: Man war im Schlussstrich- und Aufbaufieber. Für die Nicht-Davongekommenen aber gab es keinen Schlussstrich; durch Albträume und körperliche Schäden wurde aus ihrer Vergangenheit tägliche Gegenwart.7 Was machten sie mit diesem Dilemma? Die meisten wählten aus Selbstschutz eine Lebensform des Schweigens über das, was in Wahrheit ihre wichtigste Angelegenheit war.
Am besten konnten viele überleben, indem sie ihren Schmerz einschlossen und über die Wunden, die sie täglich spürten, mit möglichst niemandem sprachen. Der Überlebende Elie Wiesel begründet diese Haltung so: „Jene, die es nicht erlebt haben, werden sowieso nie wissen, wie es war; jene, die es wissen, werden es nie sagen; nicht wirklich, nicht alles.“8
Wenn wir nun unseren Blick genauer auf das Schweigen der Opfer und anschließend der Täter werfen, ist ein differenziertes Vorgehen geboten. Schweigen und Schweigen sind nicht dasselbe. Der Psychologe Jürgen Müller-Hohagen sagt: „Es gibt nicht das eine Schweigen, die eine Schuld, die eine Angst, die eine Traumatisierung, die eine Gewalt, sondern jeweils sehr verschiedene, unter Umständen sogar gegensätzliche Formen davon, je nach Kontext, der im Hintergrund steht. Klar ist: Das Schweigen der Verfolgten ist ein anders Schweigen als das Schweigen der NS-Tatbeteiligten.“9
Dabei ist aber die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern nicht immer ganz präzise.
Die Einteilung z. B.: SS-Männer waren brutal und verbrecherisch; KZ-Häftlinge waren edle Menschen; Mitläufer waren harmlos; Wehrwirtschaftsführer waren Komplizen des Terrorsystems; Angehörige der besiegten Völker beteiligten sich an Verbrechen nur unter Druck, mag in vielen Fällen zutreffen, in anderen jedoch auch nicht. Der Alltag bestand oft aus Mischformen, und so dürfen wir ein Grobraster nur als Orientierungshilfe im Dschungel auf der Suche nach Durchblick ansehen.
Auch bei den Opfern waren solche, die Schuld auf sich geladen und anderen Schlimmes angetan haben. Es gehörte ja zur perfiden Strategie der Nazis, die Verfolgten in den Konzentrationslagern und Ghettos dazu zu missbrauchen, an der eigenen Verfolgung bis hin zur Vernichtung mitzuwirken. Es war eine Welt, in der man das eigene Überleben eine Zeitlang sichern konnte, andere Häftlinge zu denunzieren, zu bestehlen, zu verraten und dem Tod auszuliefern.10
Im August 2012 berichtet der Holocaustüberlebende Shlomo Graber hierzu in einem Interview:
Jedes KZ hatte jüdische Stubenälteste (Kapos). Sie waren bereit, den Nazis zu dienen, um selbst eine bessere Position im KZ zu haben. Das haben sie oft auf sadistische Weise erreicht. Jankel Tannenbaum war so einer. Die israelischen Medien hatten viel über diesen Fall berichtet. In den sechziger Jahren bekam ich in Tel Aviv einen Anruf von der Polizei. Eine Spezialeinheit, die Kollaborateure aufspürte, hatte ihn aufgegriffen. Die Polizei zeigte mir ein Album mit vielen Gesichtern, und plötzlich schrie ich auf, da ich Jankel Tannenbaum erkannte. Der Hass vieler Menschen auf ihn, auch meiner, war unermesslich. Auch einige Juden haben ganz schlimme Sachen gemacht, indem sie den Holocaust für ihre Zwecke missbrauchten.11
Es gab aber auch Unteroffiziere und Offiziere der Waffen-SS, welche Medikamente aus der eigenen Tasche bezahlten und den Häftlingen gaben und dabei ihr Leben riskierten. So berichtete es Viktor Frankl, der Begründer der sinnzentrierten Psychologie, der Logotherapie und Existenzanalyse, welcher vier Konzentrationslager überlebte. Seine eindrücklichen Erfahrungen beschrieb er in seinem Buch: „Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.”12
Dennoch, ob es sich um unterlassene Hilfeleistung handelt oder um Denunziation eines Häftlings aus Todesangst, so ist ein solcher Tatbestand grundsätzlich anders zu betrachten als die Täterschaft der Verfolger, die in ihrer Dimension wiederum mit der Kollaboration eines Opfers kaum vergleichbar ist.
Warum schweigen die Opfer über das, was sie im Krieg erlebt haben? Weil es für das, was sie erlebt haben, keine Worte gibt. Über das Unsagbare kann nicht gesprochen werden. Den Raum des Unsagbaren hat Hans Keilson einmal mit den Worten „wohin die Sprache nicht reicht“ beschrieben.13 Erzählen, was man erlebt hat, gehört zu den normalen Regungen der Persönlichkeit und ist notwendig für unsere Gesundheit. Das Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ sagt etwas davon. Seinen Schmerz mit keinem teilen zu können bedeutet nicht nur, dass der Schmerz nicht geteilt wird. Es führt auch dazu, dass der Schmerz Fehlentwicklungen und Krankheiten zur Folge hat.
Der Überlebende hat die Fähigkeit verloren, sich mit der Welt zu verständigen. Er ist in eine Lage zurückversetzt worden, in der es keine Realität gibt, die er beeinflussen kann, um wieder normale Verhältnisse aufzubauen. Aus vielen Gesprächen mit Überlebenden wissen wir, dass sie es nicht fertigbrachten, von den Erniedrigungen zu erzählen, die sie erlebt hatten. Die Scham verschloss ihnen den Mund. Im November 2011 luden wir Wassili Michailowski als Zeitzeugen der Judenverfolgung in der Ukraine zu einem Vortrag in unserer Gedenkstätte für jüdische Flüchtlinge in Riehen (Schweiz) ein. Er zählt zu den wenigen Überlebenden des Massakers von Babij Jar, einer der größten Einzelmordaktionen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs: Am 29. und 30. September 1941 wurden in der Schlucht Babij Jar bei Kiew 33 771 Menschen ermordet. Michailowski überlebte dank des Mutes einer Ärztin. Noch 60 Jahre später stand der 90-Jährige als ergrauter Mann vor seinem Schweizer Publikum und konnte nicht sprechen. Er brachte kein Wort heraus. Vor den betroffenen Besuchern bestand seine Botschaft einzig und allein aus seinem Schweigen.
Menschen, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben, sagen immer wieder, wie unsagbar schwer es ihnen fällt, über das Erlebte zu sprechen.
Für die Opfer selbst ist das Erzählen eine große seelische Belastung. Wenn sie erzählen, schildern sie nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie wähnen sich wieder im Lager, und alles wird Gegenwart.
Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel antwortet auf die Frage, warum ihm das Sprechen so schwerfällt, so:
Ich fühle mich ganz und gar nicht wohl, darüber zu sprechen. Ich muss dann etwas sagen, aber habe immer Lust, etwas anderes zu sagen. Und es ist mir auch schon passiert, dass ich mittendrin aufhören musste, weil ich spürte, dass ich weinen würde. Ich weine nicht gern in der Öffentlichkeit, sogar wenn ich alleine bin, weine ich nicht gerne. Das ist ein Gefühl, dem man nicht entkommen kann.14
Im Jahr 2011 war der Zeitzeuge Michał Ziółkowski in meinem Haus zu Gast. Nur unter Tränen konnte er an diesem Abend sagen:
Als ich am 20. Juli 1940 ins Konzentrationslager Auschwitz kam, wurden wir in eine Liste eingetragen, und jeder bekam seine Nummer. In diesem Moment verabschiedeten wir uns von unserem Namen. Ich bekam die Nummer 1055. … Als alles überstanden war, habe ich am Anfang kaum etwas erzählt. Ich kann mich nur erinnern, als ich meine Frau geheiratet habe, haben wir 1950 eine Rundreise durch Polen gemacht und auch Auschwitz besucht, da habe ich am Tor angefangen zu erzählen, wie ich hierherkam und was ich hier erlebt habe. Aber auf Block 11, als wir zu den Stehzellen kamen – ich hatte unter anderem erzählt, dass ich hier in dieser Stehzelle war –, da brach ich zusammen, und mein Reden verstummte. Seit dieser Zeit sagt meine Frau, sie kommt nie mehr hierher. In der Familie, als die Kinder klein waren, hatte es keinen Sinn, von diesen schrecklichen Ereignissen zu erzählen. Später haben sie das Haus verlassen. (…) Jetzt in meinem hohen Alter, ich bin 83, beschäftige ich mich mehr als früher mit der Vergangenheit. Früher musste ich arbeiten, für meine Familie sorgen, da hatte ich keine Zeit, über dieses Thema nachzudenken, und deswegen sprach ich nicht darüber.
Ein oft genannter Grund für das Schweigen ist der, dass es einfach kein Interesse daran gegeben haben soll, diese schrecklichen Geschichten zu hören, sei es in der Familie oder im Bekanntenkreis. Fast jede Familie hatte Schreckliches erlebt und war nicht an den Erzählungen anderer interessiert.
Nicht wenige formulierten den Grund ihres Schweigens etwa so: „Diejenigen, die es erlebt haben, wissen es schon. Die anderen wollen es nicht wissen.“ Den Betroffenen hätten viele nicht zuhören wollen. In der alten Umgebung sei man oft nicht willkommen gewesen. Überall hätte man sich mehr auf den Wiederaufbau konzentriert. Wenn Opfer ihre Geschichte erzählen, werden sie häufig von jenen, denen sie sich anvertrauen, ein weiteres Mal verletzt. Auch deshalb schweigen sie. Menschen identifizieren sich nicht gerne mit Opfern, sondern lieber mit Siegern. Darum werden Opfer – ob bewusst oder unbewusst – häufig mit Verachtung gestraft.
„Man wollte uns einfach nicht zuhören. Weil wir eine Schande für die Menschheit waren. Man hatte Mitleid mit uns. Ich selber habe zehn Jahre gebraucht, bis ich darüber sprechen konnte, und ich sage im Grunde ja nur wenig darüber, und ich sage es nicht sehr gut. Man wollte uns jedenfalls nicht zuhören“, konstatierte Wiesel.15
Am 13. Juli 2011 führte ich ein Gespräch mit Professor Ivan Lefkovitz. Als fünfjähriges Kind erlebte er mit Mutter und Bruder das ganze Ausmaß der Verfolgung: Kellerversteck, Gefangennahme, Gestapo-Gefängnis, Deportation, Trennung der Familienmitglieder, KZ Ravensbrück, Vergasung seines Bruders, Todesmarsch, anschließend KZ Bergen-Belsen, Typhus, Befreiung am 15. April 1945 durch die Engländer. Am Schluss eines langen Gespräches stellte ich ihm die Frage: „Wie kommt es, dass Holocaustüberlebende es oft so schwer haben, über ihre Erlebnisse zu sprechen, und auch den eigenen Verwandten gegenüber, oft ein Leben lang schweigen? Ihnen wurde Böses getan. Sie hätten doch die Möglichkeit, darüber zu sprechen?“ Darauf antwortete mir Lefkovitz: „Es ist schwierig für mich, dies im Allgemeinen zu beantworten. Ich kann es aus der Sicht unserer Familie erzählen, das heißt, meiner Mutter und mir. Wir kehrten aus Bergen-Belsen zurück und stellten fest: Erstens haben nur wir zwei überlebt. Zweitens war es schwierig, den Leuten zu erklären, um was es eigentlich ging. Wir wurden oft mit der Bemerkung unterbrochen, dass es bei anderen genauso schlimm gewesen wäre. Wir stellten fest, dass Dinge, die nicht vergleichbar sind, durchaus von anderen verglichen wurden. Deshalb zogen wir das Schweigen vor. Aber es waren auch ganz triviale Gründe: Wir kamen zurück und hatten nichts, nicht einmal einen Koffer mit unseren Sachen. Leute sprachen uns auf der Straße an und sagten, dass von den Dingen, die wir bei ihnen deponiert hätten, nichts übrig geblieben sei. Unser Hab und Gut wurde entweder von den Deutschen oder den Russen weggenommen. Wir sahen so viel Unverständnis, dass es am besten war zu sagen: ‚Schwamm drüber.‘ Wir reden nur darüber, was jetzt ist, und nicht von dem Vergangenen.“
Aber es gab auch andere Gründe. Ich habe festgestellt, dass meiner Mutter die Fragen, die ich ihr eventuell stellen würde, wehtun würden, und das wollte ich nicht. Ich verdeutliche es an einem Beispiel: Da gab es eine Frau, sie war Apothekerin, genau wie meine Mutter. Sie kehrte aus Auschwitz zurück, wo ihr Mann und ihre zwei Söhne ermordet worden waren. Sie blieb alleine zurück. Wenn sie zu uns zu Besuch kam, umarmte sie mich und sagte, dass es schön gewesen wäre, wenn ihr Sohn noch leben würde. Dann sagte sie zu meiner Mutter: ‚Du bist doch so glücklich, dass du deinen Sohn noch hast, ich habe niemanden.‘ Ich hörte das alles, und die Reaktion des Elf- oder Zwölfjährigen, der ich damals war, war es, diese Frau zu meiden. Ich wusste, dass ich ihr durch meine Präsenz wehtue, weil sie durch mich an ihr tiefes Unglück erinnert wird.“16 Sogar unter Leidensgenossen war es also sehr schwer, das jeweils Erlebte zu teilen.
Die anhaltende Traumatisierung durch die Bedrohung, die Flucht, die Ermordung der Angehörigen, durch den Verlust der Heimat und schließlich das erwähnte Desinteresse derer, die den Berichten misstrauten bzw. diese nicht hören wollten, haben so schwer gewogen, dass viele Opfer das Schweigen als Lebensweise angenommen haben. Unzählige, die überlebt haben und über ihre Erfahrungen nicht zu sprechen vermögen, tragen ein Leben lang die Folgen ihres Schweigens, was nicht ohne Wirkung auf Kinder und Kindeskinder bleibt.
Es wäre zu einfach, bei diesen jahre- und jahrzehntelang andauernden Verhaltensweisen von „Traumata“ zu sprechen. In der gängigen medizinischen Betrachtung ist ein Trauma die psychische Reaktion eines Einzelnen auf ein akutes, überwältigendes und mit Lebensgefahr verbundenes Geschehen. Bei betroffenen Menschen folgt vielfach nach relativ kurzer Zeit eine deutliche Erholung. Bei Kriegsopfern und speziell bei den Opfern des Holocausts aber verhält es sich oft anders: Ihre Erkrankung erstreckt sich über Jahrzehnte oder über das ganze Leben. Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ ist hier durchaus eine adäquate Bezeichnung. Eine posttraumatische Belastungsstörung beginnt in der Regel dort, wo das Trauma aufhört.17
Die in diesem Sinn traumatisierten Menschen leben sozusagen seelisch zerstört in dem „Gefängnis“ ihrer Trauer und ihres Schmerzes. Als Folge der traumatischen Beeinträchtigung ist es für die Betroffenen unmöglich, auf das zeitgeschichtliche Geschehen flexibel zu reagieren und sich im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.18
Der Psychologe G. William Niederland hat den Begriff „Überlebenden-Syndrom“ geprägt:
[B]ei aller Unterschiedlichkeit der Begrifflichkeiten handelt es sich im Wesentlichen um Schmerz, Pein und große innere Drangsal […] die frühere Lebenslinie wurde durch Verfolgung abgeschnitten – vollständig und oft in grausamster Weise. So entstand ein zumeist unheilbarer Knick in der Lebenslinie […] nach der Rettung kam es zu Depressionen und Angst. Die Angst mündete bei vielen in quälende Empfindungen des ständigen Sich-fürchten-Müssens mit begleitenden körperlichen Zustandsänderungen (Herzklopfen, Atemnot, Händezittern, Schwäche) ein. Die seelischen Störungsbilder zeigten sich in der Form von ängstlichem Erregtsein, innerer Spannung und nervöser Unruhe, Angst- und Albträumen, unausgesprochenen phobischen Erscheinungen wie plötzlichem Zusammenschrecken beim Hören der Türklingel oder beim Anblick von uniformierten Menschen auf der Straße. Misstrauen, Furcht und Argwohn beherrschten die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt der so Geschädigten. Das Verbrechen am Seelenleben dieser Menschen hält an.19
Der Psychologe Weitzel-Polzer ergänzt die Liste durch folgende weitere Beobachtungen:
Hinzu kommen noch in bestimmten Situationen Angst auslösende Assoziationen, die Erinnerungen wachrufen wie Hundegebell, dichtgedrängte Menschenmassen, Feuerwerkskörper, Kindergeschrei oder Sirenen. Opfer des Holocausts haben oft das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Verlassenseins und des Nichtgewolltseins.20
Bei einer so umfangreichen Liste von Symptomen ist es sehr verständlich, dass manche Opfer das Erlebte nicht nur verdrängen, sondern sogar versuchen, es von ihrer eigenen Person abzuspalten, so als wäre das Verbrechen nicht an ihnen, sondern an jemand anderem begangen worden.
Gerade wegen dieses verdrängenden Schweigens waren viele paradoxerweise zu einem vollen, nützlichen und produktiven Leben imstande, immer danach strebend, ihre unaussprechlichen Verluste wiedergutzumachen.
Das unbewusste Schweigen diente dazu, den Überlebenden in ihrem Daseinskampf zu helfen. Die Welt nach 1945 forderte von den Zurückgekommenen Verleugnungen zugunsten der Wiederanpassung: „Und tatsächlich haben sie sich angepasst, haben Familien gegründet, haben Karriere gemacht. Und es fehlte ihnen die Zeit zum Sprechen.“21
Forschungsergebnisse der israelischen Sozialmedizin weisen darauf hin, dass man den überlebenden Opfern im Alltag ihre verborgene verschwiegene Last oft nicht ansah.22
Im Gegenteil: Sie wirkten oberflächlich betrachtet oft zäher und abgehärteter als nicht betroffene Zeitgenossen.
Vierzig Jahre nach der Schoah, nach einem abgehärteten Leben, brechen auffallend viele psychisch zusammen und suchen erst am Ende ihres Lebens – wesentlich öfter als andere Gleichaltrige – psychologische Beratung. Sie wollen sich jetzt aussprechen, meiden aber für ihr Anliegen Kliniken und Psychiater.
Der Holocaustüberlebende und Kinderpsychiater David de Levita (geb. 1926) begründet dieses Phänomen so: „Im Laufe der Jahre, nachdem man überlebt hat, halten sich zwei Komponenten die Waage: die Schuld, dass man überlebt hat, und der Triumph, dass man überlebt hat. Im vorgerückten Alter jedoch ist der Triumph dahin. Man steht der unausweichlichen Tatsache des eigenen Todes (ein zweites Mal) gegenüber. Diese Verschiebung ist der zentrale Konflikt des Überlebenden. Man hat in seiner Psyche verinnerlicht, dass man für immer dem Reigen des Todes entsprungen sei. Und jetzt zeigt sich, dass schließlich niemand dem Tod entkommt. So gibt es zwei Sorten von Überlebenden: Den einen geht es im Laufe ihres Lebens besser, weil sich ihr Schuldgefühl verringert. Die anderen brechen nach einer Periode der Latenz zusammen, weil das Gefühl des Triumphierens über den Tod, das sie in Gang hielt, im Angesicht des Todes zusammenschrumpft. Albträume, Angst- und Panikanfälle plagen plötzlich die älteren Leute der ersten Generation, die körperlich kerngesund sind und ein erfolgreiches Leben hinter sich haben. Die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes ist hier am stärksten, stärker als bei der relativ hohen Zahl der Überlebenden, die von körperlichen Erkrankungen geplagt werden. In ihrem Körper ist der Tod gleichsam bereits tätig und die Konfrontation somit weniger plötzlich.“23
Das Vorhandensein von Schuldgefühlen sagt noch nichts über objektive Schuld aus. So haben viele, die in der NS-Zeit nichts Böses getan haben, besonders die Nachkommen von Opfern, Schuldgefühle, etwa in der Art, dass sie sich beschuldigen, nichts oder nicht genügend Gutes bewirkt zu haben, oder dass sie sich selbst Vorwürfe machen, unverdient überlebt zu haben, während ihre engsten Angehörigen ermordet wurden.
Die eigentlich Schuldigen empfinden seltsamerweise häufig keine Schuldgefühle, während sich Menschen, die eigentlich schuldlos sind, mit Schuldgefühlen quälen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Schuldgefühlen ist somit auch keine Messlatte für das Ermitteln tatsächlicher, objektiver Schuld.
Im Jahr 2001 fragte ich Ursula Meißner, die als 20-jährige Schauspielerin unter Gustaf Gründgens in Berlin die jüdische Familie des Konrad Latte über längere Zeit in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, nach ihren Beweggründen. Sie antwortete: „Ich habe nur meine Pflicht getan mit meiner bescheidenen Hilfe, aber was mir im Rückblick viel Schmerz und Schuldgefühle bereitet: Warum habe ich nicht viel mehr getan und die mahnende Stimme meines Gewissens nicht viel häufiger und mehr beachtet?“
Die Reaktion auf eine Traumatisierung besteht also in oft unbewussten Scham- und Schuldgefühlen. Den direkt Betroffenen fällt es auch deshalb besonders schwer, sich zu öffnen. Sie ertragen das Leben am besten, wenn sie über das Erlebte schweigen. Dennoch besteht bei ihnen das unausgesprochene Bedürfnis, dass die Traumatisierung von ihrer Umgebung gesehen und anerkannt wird. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Menschen treffen, die das Dilemma behutsam aufspüren.
Nicht wenige waren von Überlebensschuldgefühlen geplagt, im Sinne von: „Alle anderen mussten sterben, ich habe es doch nicht verdient zu überleben.“
So empfand auch Erika Landau:
In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht. Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche im Lager zu gehen, nachdem ich den ganzen Tag zugesehen hatte, wie man Leute ins selbstgeschaufelte Grab hineinschoss, das ist kein Gefühl der Freude, überlebt zu haben. Das war ein Gefühl der Trauer und der Scham und des Schuldgefühls, dass ich zurück ins Lager gehen konnte und die anderen nicht.24
„Die Schuld des Überlebenden“, so stellte Robert Jay Lifton fest, „kennen alle, die Krieg, Naturkatastrophen etc. überlebt haben. … Das Opfer, nicht der Täter, fühlt sich schuldig.“25 Viele Überlebende des Holocausts empfinden nicht selten Schuldgefühle, weil sie sich selbst vor die Wahl gestellt sahen, entweder ihr Leben hinzugeben oder am Leben zu bleiben. Wie mutig und einfallsreich das Opfer auch immer war, es konnte damit die Katastrophe nicht abwenden. Wenn Opfer nach traumatischen Ereignissen ihr eigenes Versagen reflektieren und beurteilen, entstehen praktisch immer Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Karl Jaspers nennt dieses Phänomen „metaphysische Schuld“.26 Er beschreibt mit diesem Begriff ein Gefühl der Mitverantwortung für alle Ungerechtigkeit in der Welt nach der Logik: Ich bin mitschuldig, weil ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können, um das Unrecht zu verhindern. Können solche Schuldgefühle überhaupt angegangen und überwunden werden?
Wer aber kann den Opfern in ihrem tiefen Empfinden von Schuld eine Entlastung zusprechen? Jaspers nennt Gott als Instanz. Viele der Opfer haben aber Schwierigkeiten, sich an Gott zu wenden, weil sich damit unmittelbar die Bitterkeit darüber, dass Gott nicht eingegriffen hat, einstellt. Und sie stellen sich bisweilen die Frage: War in diesem Fall nicht Gott auch mitschuldig? Sie haben Zweifel an der Existenz Gottes, sie haben ihren Glauben an ihn verloren. Sie fragen sich, ob Gott nicht nur in Wahrheit ein bloßes Deckwort für „Niemand“ darstellt. Sie fragen sich, ob etwa die Aussage „Gott richtet“ nicht in Wahrheit dieselbe ist wie „Niemand richtet“.
Kein Gott? Kein Gericht? Keine Schuld? Wenn dem so wäre, dann handelte es sich bei ihren „Schuldgefühlen“ im Grunde nur um pathologische Symptome, die die „Normalen“ nicht ernst zu nehmen bräuchten. Das Verdrängen Gottes wäre dann nur ein möglicher Hinweis darauf, dass derart viele Opfer mit Schuldgefühlen es so schwer haben, über das Erlebte zu sprechen und sich anderen zu öffnen.
Überlebensschuld ist einer der fundamentalen Konflikte, die den Überlebenden bedrohen. Ein Gesicht der Schuld ist die Scham, die Neigung des Menschen, sich für das, was ihm widerfahren ist, zu schämen, auch wenn er gar keine Schuld daran hatte. Nirgendwo ist dieses Gefühl der Scham stärker als bei den Juden, dem Volk, das von seinen Feinden dazu ausgewählt wurde, ausgerottet zu werden. Es ist eine Scham, die über Jahrhunderte Juden zum Schweigen gebracht hat.