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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Spieler

Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Spieler

Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hermann Röhl
EV: Insel-Verlag, Leipzig, 1919
2. Auflage, ISBN 978-3-954183-35-7

www.null-papier.de/derspieler

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Au­tor und Werk

Die wich­tigs­ten han­deln­den Per­so­nen

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

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Das Buch

»Der Spie­ler« ist ein Ro­man von Fjo­dr Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski.

Er­zählt wird die ko­mi­sche, ge­le­gent­lich ins Gro­tes­ke ab­rut­schen­de Ge­schich­te ei­ner Grup­pe von Men­schen, in der je­der für sich kurz vor dem fi­nan­zi­el­len Ruin steht. Im er­fun­de­nen Ku­r­ort Rou­let­ten­burg lau­ert man auf den Tod der rei­chen Erb­tan­te und die da­mit ein­tre­ten­de, er­ret­ten­de Erb­schaft. Doch statt der Nach­richt über ihr er­war­te­tes Ab­le­ben er­scheint die Tan­te selbst, die sich bes­ter Ge­sund­heit er­freut und zum Schre­cken al­ler das Rou­let­te­spiel für sich ent­deckt.

»Der Spie­ler« wird 1866 bald nach »Schuld und Süh­ne« ver­öf­fent­licht. Do­sto­jew­ski hat­te Spiel­schul­den, und sein Ver­le­ger Stel­low­ski for­der­te eine schnellst­mög­li­che Fer­tig­stel­lung. Der Ro­man trägt au­to­bio­gra­fi­sche Züge, so ist in Rou­let­ten­burg un­schwer Wies­ba­den zu er­ken­nen, wo Do­sto­jew­ski erst­ma­lig mit Rou­let­te in Berüh­rung kam. Prä­zi­se Kennt­nis­se rund um das Glück­spie­ler-Mi­lieu kenn­zeich­nen die­se Ge­schich­te, die der Au­tor in Re­kord­zeit sei­ner Ste­no­ty­pis­tin und spä­te­ren Ehe­frau Anna dik­tier­te.

»Der Spie­ler« ist die Vor­la­ge für Ser­gei Pro­kof­jews gleich­na­mi­ge Oper von 1917 so­wie für meh­re­re Ver­fil­mun­gen.

Autor und Werk

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski (geb. 11. No­vem­ber 1821 in Mos­kau; gest. 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg) gilt als ei­ner der be­deu­tends­ten rus­si­schen Schrift­stel­ler.

Fjo­dor Do­sto­jew­ski war das zwei­te Kind von Michail An­dre­je­witsch Do­sto­jew­ski und Ma­ria Fjo­do­row­na Netscha­je­wa. Er hat­te zwei Brü­der und drei Schwes­tern. Die Fa­mi­lie ent­stamm­te ver­arm­tem Adel; der Va­ter war Arzt. Nach dem Tod sei­ner Mut­ter, 1837, ließ sich Do­sto­jew­ski mit sei­nem Bru­der Michail in St. Pe­ters­burg nie­der, wo er von 1838 bis 1843 Bau­in­ge­nieur­we­sen stu­dier­te. 1839 soll sein Va­ter auf dem hei­mi­schen Land­gut durch Leib­ei­ge­ne er­mor­det wor­den sein.

Do­sto­jew­ski war zwei­mal ver­hei­ra­tet. Sei­ne ers­te Ehe mit der Wit­we Ma­ria Dmi­tri­jew­na Isa­je­wa en­de­te 1864 nach sie­ben Jah­ren mit dem Tod Ma­ri­as und war kin­der­los. Sei­ne zwei­te Frau war Anna Gri­gor­jew­na Snit­ki­na. Aus der am 15. Fe­bru­ar 1867 ge­schlos­se­nen Ehe, die bis zu Do­sto­jew­skis Tod an­dau­er­te, gin­gen vier Kin­der her­vor, von de­nen je­doch nur zwei das Er­wach­se­nen­al­ter er­reich­ten.

Do­sto­jew­ski be­gann 1844 mit den Ar­bei­ten zu sei­nem 1846 ver­öf­fent­lich­ten Erst­lings­werk »Arme Leu­te«. Mit des­sen Er­schei­nen wur­de er schlag­ar­tig be­rühmt; die zeit­ge­nös­si­sche Kri­tik fei­er­te ihn als Ge­nie. 1847 trat er dem re­vo­lu­tio­nären Zir­kel bei. 1949 de­nun­zier­te man ihn, und er wur­de zum Tode ver­ur­teilt. Ei­gent­lich hät­te er am 22. De­zem­ber 3. Ja­nu­ar 1850 durch ein Er­schie­ßungs­kom­man­do hin­ge­rich­tet wer­den sol­len. Erst auf dem Richt­platz be­gna­dig­te Zar Ni­ko­laus I. ihn zu vier Jah­ren Ver­ban­nung und Zwangs­ar­beit in Si­bi­ri­en, mit an­schlie­ßen­der Mi­li­tär­dienst­pflicht. In der Haft in Omsk wur­de bei Do­sto­jew­ski zum ers­ten Mal Epi­lep­sie dia­gno­s­ti­ziert.

1854 trat er sei­ne Mi­li­tär­pflicht im Rah­men sei­ner Ver­ban­nung in Se­mei (Se­mi­pa­la­tinsk) an; 1856 wur­de er zum Of­fi­zier be­för­dert. Nach sei­ner Hei­rat 1857 und schwe­ren epi­lep­ti­schen An­fäl­len be­an­trag­te er sei­ne Ent­las­sung aus der Ar­mee, die je­doch erst 1859 be­wil­ligt wur­de, so­dass Do­sto­jew­ski nach St. Pe­ters­burg zu­rück­keh­ren konn­te.

1859, noch zur Zeit sei­ner si­bi­ri­schen Ver­ban­nung, ent­stand sein Ro­man »On­kel­chens Traum«, un­mit­tel­bar vor den »Auf­zeich­nun­gen aus ei­nem To­ten­haus« (1860).

Ge­mein­sam mit sei­nem Bru­der grün­de­te er die Zeit­schrift »Zeit« (Wremja), in der im dar­auf fol­gen­den Jahr sein Ro­man »Er­nied­rig­te und Be­lei­dig­te« er­schi­en.

Be­reits 1863 je­doch fiel die Zeit­schrift der Zen­sur zum Op­fer und wur­de ver­bo­ten. In der 1860er Jah­ren reist Do­sto­jew­ski mehr­mals durch Eu­ro­pa.

1863 spiel­te er zum ers­ten Mal Rou­let­te. 1864 star­ben in kur­z­er Fol­ge Do­sto­jew­skis ers­te Frau, sein Bru­der und sein Freund Apol­lon Gri­gor­jew; die Nach­fol­ge­zeit­schrift der »Zeit«, die »Epo­che«, muss­te er aus Geld­man­gel ein­stel­len.

1865 ver­spiel­te er beim Rou­let­te in der Spiel­bank in Wies­ba­den sei­ne Rei­se­kas­se. Im Mit­tel­punkt sei­nes 1866 er­schie­ne­nen Ro­mans »Der Spie­ler« steht ein Rou­let­te­spie­ler. Im sel­ben Jahr er­schi­en der ers­te der großen Ro­ma­ne, durch die Do­sto­jew­skis Werk Teil der Welt­li­te­ra­tur wur­de: »Schuld und Süh­ne« (oder auch in der Neu­über­set­zung: »Ver­bre­chen und Stra­fe«).

Kurz nach sei­ner zwei­ten Ehe­schlie­ßung, 1867, nach dem Zu­sam­men­bruch der mit sei­nem Bru­der ge­grün­de­ten zwei­ten Zeit­schrift ins Aus­land, um sich dem Zu­griff sei­ner Gläu­bi­ger zu ent­zie­hen. Er wohn­te län­ge­re Zeit in Dres­den.

Erst 1871 kehr­te er wie­der nach Russ­land zu­rück. Ent­ge­gen der weit­ver­brei­te­ten An­nah­me, Do­sto­jew­ski habe große Be­trä­ge am Rou­let­te­tisch ver­lo­ren, war er ein Spie­ler mit ge­rin­gen Ein­set­zen, der oft ta­ge­lang mit dem Geld ei­nes ge­ra­de ver­pfän­de­ten Klei­des sei­ner Frau spiel­te.

1868 er­schi­en sein zwei­tes Groß­werk, »Der Idi­ot«, die Ge­schich­te des Fürs­ten Mysch­kin, der (wie Do­sto­jew­ski selbst) un­ter Epi­lep­sie lei­det und auf­grund sei­ner Güte, Ehr­lich­keit und Tu­gend­haf­tig­keit in der St. Pe­ters­bur­ger Ge­sell­schaft schei­tert.

Zu sei­nem Ende hin ver­lief das Le­ben Do­sto­jew­skis in ru­hi­ge­ren Bah­nen. Er ver­fass­te sei­ne bei­den letz­ten großen Wer­ke, den Ro­man »Der Jüng­ling« – in der Neu­über­set­zung »Ein grü­ner Jun­ge« – und schließ­lich den Ro­man »Die Brü­der Ka­ra­ma­sow«, den er in den 1860er Jah­ren, also in der Zeit der Ent­ste­hung von »Schuld und Süh­ne«, be­gon­nen hat­te und der die Ent­wick­lung der rus­si­schen Ge­sell­schaft bis in die 1880er Jah­re be­han­deln soll­te.

Fjo­dor Michai­lo­wi­tsch Do­sto­jew­ski starb am 9. Fe­bru­ar 1881 in Sankt Pe­ters­burg an ei­nem Lun­gen­em­phy­sem; an sei­nem Be­gräb­nis nah­men 60.000 Men­schen teil. Sein Grab be­fin­det sich auf dem Tich­wi­ner Fried­hof des Alex­an­der-New­ski-Klos­ters.

Die wichtigsten handelnden Personen

Der Ge­ne­ral: Wit­wer

Po­li­na Alexên­drow­na, auch Pras­kó­wja: sei­ne Stief­toch­ter

Alexéj Iwêno­wit­sch: Haus­leh­rer im Hau­se des Ge­ne­rals, Spie­ler und Er­zäh­ler die­ses Ro­mans

Ma­de­moi­sel­le Blan­che de Co­min­ge­s, ali­as Ma­de­moi­sel­le Bar­ber­ini, ali­as Ma­de­moi­sel­le Sel­ma, ali­as Ma­de­moi­sel­le du Pla­cet: Ver­lob­te und spä­te­re Frau des Ge­ne­rals

An­toní­da Wassíl­jew­na Ta­ras­se­wit­sche­wa: Guts­be­sit­ze­rin, Tan­te des Ge­ne­rals

Mar­quis de Grieux: Gläu­bi­ger des Ge­ne­rals

Mis­ter Ast­ley: eng­li­scher Zucker­fa­bri­kant

Wei­te­re Per­so­nen

Mêr­ja Filíp­pow­na: Schwes­ter des Ge­ne­rals

Mí­scha und Nêd­ja: sei­ne Kin­der

Fe­dós­ja: Kin­der­frau im Hau­se des Ge­ne­rals

Ma­da­me veu­ve de Co­min­ge­s: Mut­ter von Ma­de­moi­sel­le Blan­che

Potê­pytsch: Haus­hof­meis­ter von An­toní­da Wassíl­jew­na Ta­rasséwit­sche­wa

Mêr­fa: ihre Zofe

Erstes Kapitel

End­lich bin ich nach vier­zehn­tä­gi­ger Ab­we­sen­heit zu­rück­ge­kehrt. Die Uns­ri­gen be­fin­den sich schon seit drei Ta­gen in Rou­let­ten­burg. Ich hat­te ge­glaubt, sie war­te­ten be­reits auf mich mit der größ­ten Un­ge­duld; in­des ist dies mei­ner­seits ein Irr­tum ge­we­sen. Der Ge­ne­ral zeig­te eine sehr stol­ze, selbst­be­wuss­te Mie­ne, sprach mit mir ein paar Wor­te sehr von oben her­ab und schick­te mich dann zu sei­ner Schwes­ter. Of­fen­bar wa­ren sie auf ir­gend­wel­che Wei­se zu Geld ge­kom­men. Es kam mir so­gar so vor, als sei es dem Ge­ne­ral ei­ni­ger­ma­ßen pein­lich, mich an­zu­se­hen. Mar­ja Fil­ip­pow­na hat­te au­ßer­or­dent­lich viel zu tun und re­de­te nur flüch­tig mit mir; das Geld nahm sie aber in Empfang, rech­ne­te es nach und hör­te mei­nen gan­zen Be­richt an. Zum Mit­ta­ges­sen er­war­te­ten sie Herrn Me­sen­zow, au­ßer­dem noch einen klei­nen Fran­zo­sen und einen Eng­län­der. Das ist bei ih­nen ein­mal so Brauch: so­bald Geld da ist, wer­den auch gleich Gäs­te zum Di­ner ein­ge­la­den, ganz nach Mos­kau­er Art. Als Po­li­na Alex­an­drow­na mich er­blick­te, frag­te sie mich, was ich denn so­lan­ge ge­macht hät­te; aber sie ent­fern­te sich dann, ohne mei­ne Ant­wort ab­zu­war­ten. Selbst­ver­ständ­lich tat sie das mit Ab­sicht. In­des­sen müs­sen wir uns not­wen­di­ger­wei­se mit­ein­an­der aus­spre­chen. Es hat sich viel Stoff an­ge­sam­melt.

Es wur­de mir ein klei­nes Zim­mer im vier­ten Stock des Ho­tels an­ge­wie­sen. Hier ist be­kannt, dass ich »zur Beglei­tung des Ge­ne­rals« ge­hö­re. Aus al­lem war zu ent­neh­men, dass sie es be­reits ver­stan­den hat­ten, sich ein An­se­hen zu ge­ben. Den Ge­ne­ral hält hier je­der­mann für einen stein­rei­chen rus­si­schen Gro­ßen. Noch vor dem Di­ner gab er mir, au­ßer an­de­ren Kom­mis­sio­nen, auch den Auf­trag, zwei Tau­send­fran­c­schei­ne, die er mir ein­hän­dig­te, zu wech­seln. Ich be­werk­stel­lig­te das im Büro des Ho­tels. Nun wer­den wir, we­nigs­tens eine gan­ze Wo­che lang, für Mil­lio­näre ge­hal­ten wer­den. Ich woll­te mit Mi­scha und Na­d­ja spa­zie­ren­ge­hen, wur­de aber, als ich schon auf der Trep­pe war, zum Ge­ne­ral zu­rück­ge­ru­fen; er hielt es für nö­tig, mich zu fra­gen, wo­hin ich mit den Kin­dern ge­hen wol­le. Die­ser Mann ist schlech­ter­dings nicht im­stan­de, mir ge­ra­de in die Au­gen zu se­hen; in dem Wunsch, es doch fer­tig­zu­brin­gen, ver­sucht er es öf­ters; aber ich ant­wor­te ihm je­des Mal mit ei­nem so un­ver­wand­ten, re­spekt­lo­sen Blick, dass er or­dent­lich ver­le­gen wird. In sehr schwüls­ti­ger Re­de­wei­se, wo­bei er eine hoh­le Phra­se an die an­de­re reih­te und schließ­lich völ­lig in Ver­wir­rung ge­riet, gab er mir zu ver­ste­hen, ich möch­te mit den Kin­dern ir­gend­wo im Park spa­zie­ren­ge­hen, in mög­lichst wei­ter Ent­fer­nung vom Kur­haus. Zum Schluss wur­de er ganz är­ger­lich und füg­te in schar­fem Ton hin­zu: »Also bit­te, füh­ren Sie sie nicht ins Kur­haus zum Rou­lett. Neh­men Sie es mir nicht übel; aber ich weiß, Sie sind noch ziem­lich leicht­sin­nig und wä­ren viel­leicht im­stan­de, sich am Spiel zu be­tei­li­gen. Ich bin zwar nicht Ihr Men­tor und hege auch gar nicht den Wunsch, eine sol­che Rol­le zu über­neh­men; aber je­den­falls habe ich we­nigs­tens ein Recht dar­auf, mich von Ih­nen nicht kom­pro­mit­tiert zu se­hen, um mich so aus­zu­drücken.«

»Ich habe ja gar kein Geld«, ant­wor­te­te ich ru­hig. »Um Geld ver­spie­len zu kön­nen, muss man doch wel­ches be­sit­zen.«

»Geld sol­len Sie so­fort er­hal­ten«, er­wi­der­te der Ge­ne­ral, wühl­te in sei­nem Schreib­tisch um­her, nahm ein klei­nes Buch her­aus und sah dar­in nach; es er­gab sich, dass er mir un­ge­fähr hun­dertzwan­zig Ru­bel schul­dig war.

»Wie wol­len wir also un­se­re Rech­nung er­le­di­gen?« sag­te er; »wir müs­sen es in Ta­ler um­rech­nen. Neh­men Sie da zu­nächst hun­dert Ta­ler; das ist eine run­de Sum­me; das üb­ri­ge bleibt Ih­nen na­tür­lich si­cher.«

Ich nahm das Geld schwei­gend hin.

»Sie müs­sen sich durch mei­ne Wor­te nicht ge­kränkt füh­len; Sie sind so emp­find­lich … Ich woll­te Sie durch mei­ne Be­mer­kung nur so­zu­sa­gen war­nen, und das zu tun habe ich doch na­tür­lich ein ge­wis­ses Recht …«

Als ich vor dem Mit­ta­ges­sen mit den Kin­dern nach Hau­se zu­rück­kehr­te, fand ich eine gan­ze Ka­val­ka­de vor. Die Uns­ri­gen mach­ten einen Aus­flug, um eine Rui­ne zu be­su­chen. Eine schö­ne Equi­pa­ge, mit präch­ti­gen Pfer­den be­spannt, hielt vor dem Ho­tel; dar­in sa­ßen Ma­de­moi­sel­le Blan­che, Mar­ja Fil­ip­pow­na und Po­li­na; der klei­ne Fran­zo­se, der Eng­län­der und un­ser Ge­ne­ral wa­ren zu Pfer­de. Die Passan­ten blie­ben ste­hen und schau­ten; der Ef­fekt war groß­ar­tig, kam aber dem Ge­ne­ral ver­hält­nis­mä­ßig teu­er zu ste­hen. Ich rech­ne­te mir aus: wenn man die vier­tau­send Franc, die ich mit­ge­bracht hat­te, und das Geld, das sie in­zwi­schen au­gen­schein­lich er­langt hat­ten, zu­sam­men­nahm, so moch­ten sie jetzt sie­ben- oder acht­tau­send Franc ha­ben. Das war für Ma­de­moi­sel­le Blan­che eine gar zu ge­rin­ge Sum­me.

Ma­de­moi­sel­le Blan­che wohnt gleich­falls in un­se­rem Ho­tel, und zwar mit ih­rer Mut­ter; des­glei­chen auch un­ser klei­ner Fran­zo­se. Die Ho­tel­die­ner­schaft nennt ihn »Mon­sieur le com­te«, und Ma­de­moi­sel­le Blan­ches Mut­ter wird »Ma­da­me la com­tes­se« be­ti­telt; nun, viel­leicht sind sie auch wirk­lich ein Graf und eine Grä­fin.

Ich wuss­te vor­her, dass Mon­sieur le com­te mich nicht er­ken­nen wer­de, als wir uns nach dem Mit­ta­ges­sen zu­sam­men­fan­den. Dem Ge­ne­ral kam es na­tür­lich nicht in den Sinn, uns mit­ein­an­der be­kannt zu ma­chen oder auch nur mich ihm vor­zu­stel­len; Mon­sieur le com­te aber hat sich selbst in Russ­land auf­ge­hal­ten und weiß, was für eine un­be­deu­ten­de Per­son ein Haus­leh­rer in Russ­land ist. Er kennt mich üb­ri­gens recht gut. Aber, die Wahr­heit zu ge­ste­hen, ich er­schi­en beim Mit­ta­ges­sen, ohne über­haupt dazu auf­ge­for­dert zu sein; der Ge­ne­ral hat­te wohl ver­ges­sen, eine An­ord­nung dar­über zu tref­fen; sonst hät­te er mich wahr­schein­lich ge­hei­ßen, an der Ta­ble d’hôte1 zu es­sen. Ich stell­te mich von selbst ein, so­dass der Ge­ne­ral mir einen un­zu­frie­de­nen Blick zu­warf. Die gute Mar­ja Fil­ip­pow­na wies mir so­gleich einen Platz an; aber mein frü­he­res Zu­sam­men­tref­fen mit Mis­ter Ast­ley half mir aus der Ver­le­gen­heit, und so wur­de ich, wie wenn das selbst­ver­ständ­lich wäre, als be­rech­tig­tes Mit­glied die­ser Ge­sell­schaft an­ge­se­hen.

Mit die­sem son­der­ba­ren Eng­län­der war ich zum ers­ten Mal in Preu­ßen zu­sam­men­ge­trof­fen, im Ei­sen­bahn­wa­gen, wo wir uns ge­gen­über­sa­ßen, als ich in Eile den Uns­ri­gen nach­reis­te. Dann war ich jetzt auf ihn ge­sto­ßen, als ich nach Frank­reich hin­ein­fuhr, und end­lich in der Schweiz, also wäh­rend die­ser zwei Wo­chen zwei­mal. Und nun kam ich mit ihm plötz­lich hier in Rou­let­ten­burg zu­sam­men. Nie in mei­nem Le­ben habe ich einen Men­schen ge­fun­den, der schüch­ter­ner ge­we­sen wäre; sei­ne Schüch­tern­heit streift schon an Dumm­heit, und er selbst weiß das na­tür­lich, da er ganz und gar nicht dumm ist. Im üb­ri­gen ist er ein sehr lie­ber, stil­ler Mensch. Gleich bei der ers­ten Be­geg­nung in Preu­ßen fass­te er ein sol­ches Zu­trau­en zu mir, dass er ganz ge­sprä­chig wur­de. Er teil­te mir mit, er sei in die­sem Som­mer am Nord­kap ge­we­sen und habe große Lust, sich die Mes­se in Nisch­ni-Now­go­rod an­zu­se­hen. Ich weiß nicht, wie er mit dem Ge­ne­ral be­kannt wur­de; mir scheint, dass er bis über die Ohren in Po­li­na ver­liebt ist. Als sie ein­trat, wur­de sein Ge­sicht rot wie der Him­mel beim Auf­gang der Son­ne. Er freu­te sich sehr dar­über, dass ich bei Tisch ne­ben ihm saß, und scheint mich schon als sei­nen Bu­sen­freund zu be­trach­ten.

Bei Tisch spiel­te sich der klei­ne Fran­zo­se stark auf und be­nahm sich ge­gen alle ge­ring­schät­zig und hoch­mü­tig. Und da­bei weiß ich noch recht gut, wie kna­ben­haft er in Mos­kau zu re­den pfleg­te. Er sprach jetzt furcht­bar viel über Finanz­we­sen und über die rus­si­sche Po­li­tik. Der Ge­ne­ral raff­te sich mit­un­ter dazu auf, ihm zu wi­der­spre­chen, aber nur in be­schei­de­ner Wei­se und le­dig­lich in der Ab­sicht, auf sei­ne Wür­de nicht völ­lig Ver­zicht zu leis­ten.

Ich be­fand mich in ei­ner ei­gen­tüm­li­chen Stim­mung. Selbst­ver­ständ­lich leg­te ich mir, schon ehe noch die Mahl­zeit halb zu Ende war, mei­ne ge­wöhn­li­che, ste­te Fra­ge vor: »Wa­rum gebe ich mich mit die­sem Ge­ne­ral ab und bin nicht schon längst von all die­sen Men­schen weg­ge­gan­gen?« Mit­un­ter blick­te ich zu Po­li­na Alex­an­drow­na hin; sie schenk­te mir gar kei­ne Be­ach­tung. Schließ­lich wur­de ich är­ger­lich und be­kam Lust, grob zu wer­den.

Ich mach­te den An­fang da­mit, dass ich mich auf ein­mal ohne jede Ver­an­las­sung laut und un­ge­fragt in ein frem­des Ge­spräch ein­misch­te. Na­ment­lich hat­te ich den Wunsch, mich mit dem klei­nen Fran­zo­sen zu zan­ken. Ich wand­te mich an den Ge­ne­ral und be­merk­te, in­dem ich ihn un­ter­brach, auf ein­mal sehr laut und in sehr be­stimm­tem Ton, es sei in die­sem Som­mer für Rus­sen so gut wie un­mög­lich, in den Ho­tels an der Ta­ble d’hôte zu spei­sen. Der Ge­ne­ral warf mir einen ver­wun­der­ten Blick zu.

»Wenn man ei­ni­ge Selb­st­ach­tung be­sitzt«, fuhr ich fort, »so ge­rät man un­fehl­bar in Streit und setzt sich ar­gen Be­lei­di­gun­gen aus. In Pa­ris und am Rhein, so­gar in der Schweiz sit­zen an der Ta­ble d’hôte so viel Po­len und so viel Fran­zo­sen, die mit ih­nen sym­pa­thi­sie­ren, dass es un­mög­lich ist, ein Wort zu re­den, wenn man bloß Rus­se ist.«

Ich hat­te das auf fran­zö­sisch ge­sagt. Der Ge­ne­ral sah mich ganz ver­blüfft an und wuss­te nicht, soll­te er sich dar­über är­gern oder sich nur dar­über wun­dern, dass ich mich so ver­ges­sen hat­te.

»Es hat Ih­nen ge­wiss ir­gend­wo je­mand eine Lek­ti­on er­teilt«, sag­te der klei­ne Fran­zo­se in nach­läs­si­gem, ge­ring­schät­zi­gem Ton.

»In Pa­ris stritt ich mich ein­mal zu­erst mit ei­nem Po­len her­um«, ant­wor­te­te ich, »und dann mit ei­nem fran­zö­si­schen Of­fi­zier, der die Par­tei des Po­len nahm. Da­rauf aber ging ein Teil der Fran­zo­sen auf mei­ne Sei­te über, als ich ih­nen er­zähl­te, dass ich ein­mal ei­nem Mon­si­gno­re hät­te in den Kaf­fee spu­cken wol­len.«

»Spu­cken?« frag­te der Ge­ne­ral mit wür­de­vol­lem Er­stau­nen und blick­te rings um sich. Der klei­ne Fran­zo­se sah mich un­gläu­big an.

»Al­ler­dings«, er­wi­der­te ich. »Da ich gan­ze zwei Tage lang glaub­te, dass ich in un­se­rer ge­schäft­li­chen An­ge­le­gen­heit mög­li­cher­wei­se wür­de für ein Weil­chen nach Rom rei­sen müs­sen, so ging ich in die Kanz­lei der Ge­sandt­schaft des Hei­li­gen Va­ters in Pa­ris, um mei­nen Pass vi­sie­ren zu las­sen. Dort fand ich so einen klei­nen Abbé, etwa fünf­zig Jah­re alt, ein dür­res Männ­chen mit kal­ter Mie­ne; der hör­te mich zwar höf­lich, aber sehr gleich­gül­tig an und er­such­te mich zu war­ten. Ob­wohl ich es ei­lig hat­te, setz­te ich mich na­tür­lich doch hin, um zu war­ten, zog die Opi­ni­on na­tio­na­le aus der Ta­sche und be­gann eine furcht­ba­re Schimp­fe­rei auf Russ­land zu le­sen. Wäh­rend­des­sen hör­te ich, wie je­mand durch das an­sto­ßen­de Zim­mer zu dem Mon­si­gno­re ging, und sah, wie mein Abbé ihn durch eine Ver­beu­gung grüß­te. Ich wand­te mich noch ein­mal an ihn mit mei­ner frü­he­ren Bit­te; aber in noch trock­ne­rem Ton er­such­te er mich wie­der zu war­ten. Bald dar­auf trat noch je­mand ein, kein Be­kann­ter, son­dern ei­ner, der ein ge­schäft­li­ches An­lie­gen hat­te, ein Ös­ter­rei­cher; er wur­de an­ge­hört und so­gleich nach oben ge­lei­tet. Da wur­de ich nun aber sehr är­ger­lich; ich stand auf, trat an den Abbé her­an und sag­te zu ihm in ent­schie­de­nem Ton, da der Mon­si­gno­re emp­fan­ge, so kön­ne er auch mich ab­fer­ti­gen. Mit ei­ner Mie­ne des äu­ßers­ten Er­stau­nens wank­te der Abbé vor mir zu­rück. Es war ihm ge­ra­de­zu un­fass­bar, wie so ein wert­lo­ser Rus­se es wa­gen kön­ne, sich mit den an­de­ren Be­su­chern des Mon­si­gno­re auf eine Stu­fe zu stel­len. Im un­ver­schäm­tes­ten Ton, wie wenn er sich dar­über freu­te, mich be­lei­di­gen zu kön­nen, rief er, in­dem er mich vom Kopf bis zu den Fü­ßen mit sei­nen Bli­cken maß: ›Mei­nen Sie wirk­lich, dass Mon­si­gno­re um Ihret­wil­len sei­nen Kaf­fee ste­hen­las­sen wird?‹ Nun fing ich gleich­falls an zu schrei­en, aber noch stär­ker als er: ›Spu­cken wer­de ich Ihrem Mon­si­gno­re in sei­nen Kaf­fee; das mö­gen Sie nur wis­sen! Wenn Sie mei­nen Pass nicht au­gen­blick­lich fer­tig­ma­chen, so gehe ich zu ihm selbst hin.‹

›Wie? Wäh­rend der Kar­di­nal bei ihm ist?‹ rief der klei­ne Abbé, in­dem er er­schro­cken von mir weg­trat, zur Tür eil­te, die Arme kreuzweis über­ein­an­der­leg­te und da­durch zu ver­ste­hen gab, dass er eher ster­ben als mich durch­las­sen wol­le. Da ant­wor­te­te ich ihm, ich sei ein Ket­zer und ein Bar­bar, que je suis héréti­que et bar­ba­re,2 und all die­se Erz­bi­schö­fe, Kar­dinäle, Mon­si­gno­ri usw. sei­en mir ab­so­lut gleich­gül­tig. Kurz, ich mach­te Mie­ne, mei­nen Wil­len durch­zu­set­zen. Der Abbé blick­te mich mit gren­zen­lo­sem In­grimm an; dann riss er mir mei­nen Pass aus der Hand und ging mit ihm nach oben. Eine Mi­nu­te dar­auf war er schon vi­siert. ›Da ist er; wol­len Sie ihn sich an­se­hen?‹ Ich zog den Pass her­aus und zeig­te das rö­mi­sche Vi­sum.«

»Aber da ha­ben Sie denn doch …«, be­gann der Ge­ne­ral.

»Das hat Sie ge­ret­tet, dass Sie sich als einen Bar­ba­ren und Ket­zer be­zeich­ne­ten«, be­merk­te der klei­ne Fran­zo­se la­chend. »Cela n’était pas si bête.«3

»Sol­len wir Rus­sen uns so be­han­deln las­sen? Aber un­se­re Lands­leu­te sit­zen hier, wa­gen nicht, sich zu mu­cken, und ver­leug­nen wohl gar ihre rus­si­sche Na­tio­na­li­tät. Aber we­nigs­tens in Pa­ris, in mei­nem Ho­tel, gin­gen die Leu­te mit mir weit re­spekt­vol­ler um, nach­dem ich al­len mein Ren­kon­tre mit dem Abbé er­zählt hat­te. Ein di­cker pol­ni­scher Pan, der an der Ta­ble d’hôte am feind­se­ligs­ten ge­gen mich auf­ge­tre­ten war, sah sich völ­lig in den Hin­ter­grund ge­drängt. Die Fran­zo­sen nah­men es so­gar ge­dul­dig hin, als ich er­zähl­te, dass ich vor zwei Jah­ren einen Men­schen ge­se­hen hät­te, auf den im Jah­re 1812 ein fran­zö­si­scher Chas­seur ge­schos­sen habe, ein­zig und al­lein, um sein Ge­wehr zu ent­la­den. Die­ser Mensch war da­mals noch ein zehn­jäh­ri­ger Kna­be ge­we­sen, und sei­ne Fa­mi­lie hat­te nicht Zeit ge­fun­den, aus Mos­kau zu flüch­ten.«

»Das ist un­mög­lich!« fuhr der klei­ne Fran­zo­se auf. »Ein fran­zö­si­scher Sol­dat wird nie auf ein Kind schie­ßen!«

»Und es ist trotz­dem wahr«, er­wi­der­te ich. »Der Be­tref­fen­de, nun ein ach­tungs­wer­ter Haupt­mann a. D., hat es mir selbst er­zählt, und ich habe auf sei­ner Ba­cke die Schram­me von der Ku­gel selbst ge­se­hen.«

Der Fran­zo­se op­po­nier­te mit großem Wort­schwall und in schnel­lem Tem­po. Der Ge­ne­ral woll­te ihm da­bei be­hilf­lich sein; aber ich emp­fahl ihm, bei­spiels­wei­se ein­zel­ne Ab­schnit­te aus den Me­moi­ren des Ge­ne­rals Perow­ski zu le­sen, der sich im Jah­re 1812 in fran­zö­si­scher Ge­fan­gen­schaft be­fun­den hat­te. End­lich be­gann Mar­ja Fil­ip­pow­na, um die­ses Ge­spräch ab­zu­bre­chen, von et­was an­de­rem zu re­den. Der Ge­ne­ral war sehr un­zu­frie­den mit mir, weil ich und der Fran­zo­se schon bei­na­he ins Schrei­en hin­ein­ge­ra­ten wa­ren. Aber Mis­ter Ast­ley hat­te, wie es schi­en, an mei­nem Streit mit dem Fran­zo­sen großes Ge­fal­len ge­fun­den; als wir vom Tisch auf­stan­den, lud er mich ein, mit ihm ein Glas Wein zu trin­ken.

Am Abend ge­lang es mir, wie das ja auch drin­gend er­for­der­lich war, eine Vier­tel­stun­de lang mit Po­li­na Alex­an­drow­na zu spre­chen. Un­ser Ge­spräch kam auf dem Spa­zier­gang zu­stan­de. Alle wa­ren in den Park zum Kur­haus ge­gan­gen. Po­li­na setz­te sich auf eine Bank, der Fon­tä­ne ge­gen­über, und ge­stat­te­te der klei­nen Na­d­ja in ih­rer Nähe mit an­de­ren Kin­dern zu spie­len. Ich ließ Mi­scha gleich­falls zur Fon­tä­ne ge­hen, und so blie­ben wir bei­de end­lich al­lein.

Zu­erst be­gan­nen wir na­tür­lich von den ge­schäft­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten zu re­den. Po­li­na wur­de ge­ra­de­zu böse, als ich ihr ins­ge­samt nur sie­ben­hun­dert Gul­den ein­hän­dig­te. Sie hat­te mit Be­stimmt­heit ge­glaubt, ich wür­de ihr aus Pa­ris als Er­lös von der Ver­pfän­dung ih­rer Bril­lan­ten min­des­tens zwei­tau­send Gul­den oder so­gar noch mehr mit­brin­gen.

»Ich brau­che un­ter al­len Um­stän­den Geld«, sag­te sie. »Be­schafft muss es wer­den; sonst bin ich ein­fach ver­lo­ren.«

Ich frag­te, was sich an Er­eig­nis­sen wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit zu­ge­tra­gen habe.

»Wei­ter nichts, als dass wir aus Pe­ters­burg zwei Nach­rich­ten er­hiel­ten: zu­erst die, dass es der al­ten Tan­te sehr schlecht gehe, und zwei Tage dar­auf eine an­de­re, dass sie, wie es ver­lau­te, schon ge­stor­ben sei. Die­se letz­te­re Nach­richt stammt von Timo­fej Pe­tro­witsch«, füg­te Po­li­na hin­zu, »und das ist ein ver­läss­li­cher Mensch. Wir war­ten nun auf die letz­te, endg ül­ti­ge Nach­richt.«

»Also be­fin­den sich hier alle in ge­spann­ter Er­war­tung?« frag­te ich.

»Ge­wiss, al­le­samt; seit ei­nem hal­b­en Jahr le­ben sie nur von die­ser Hoff­nung.«

»Und auch Sie hof­fen dar­auf?«

»Ver­wandt bin ich ja mit ihr ei­gent­lich über­haupt nicht; ich bin nur eine Stief­toch­ter des Ge­ne­rals. Aber ich glau­be be­stimmt, dass sie in ih­rem Te­sta­ment mei­ner ge­dacht ha­ben wird.«

»Ich mei­ne, es wird Ih­nen eine be­deu­ten­de Sum­me zu­fal­len«, er­wi­der­te ich zu­stim­mend.

»Ja, sie hat­te mich gern; aber wie kom­men ge­ra­de Sie zu die­ser Mei­nung?«

»Sa­gen Sie«, ant­wor­te­te ich mit ei­ner Fra­ge, »un­ser Mar­quis ist wohl gleich­falls in alle Fa­mi­li­en­ge­heim­nis­se ein­ge­weiht?«

»Wa­rum in­ter­es­siert Sie denn das?« frag­te Po­li­na, in­dem sie mich kühl und un­freund­lich an­blick­te.

»Nun, das ist doch sehr na­tür­lich. Wenn ich nicht irre, hat der Ge­ne­ral schon Geld von ihm ge­borgt.«

»Ihre Ver­mu­tung trifft durch­aus zu.«

»Nun also; hät­te der denn etwa das Geld her­ge­ge­ben, wenn er nicht über die alte Tan­te ori­en­tiert wäre? Ha­ben Sie nicht bei Tisch be­merkt: als er ir­gend et­was von ihr sag­te, nann­te er sie etwa drei­mal ›Groß­ma­ma­chen‹. Was für ein ver­trau­li­ches, freund­schaft­li­ches Ver­hält­nis!«

»Ja, Sie ha­ben recht. Und so­bald er er­fah­ren wird, dass auch mir et­was durch das Te­sta­ment zu­fällt, wird er so­fort zu mir kom­men und um mich wer­ben. Das woll­ten Sie doch wohl gern wis­sen.«

»Er wird erst noch wer­ben? Ich dach­te, er täte das schon längst.«

»Sie wis­sen recht gut, dass das nicht der Fall ist«, sag­te Po­li­na är­ger­lich. »Wo sind Sie denn mit die­sem Eng­län­der frü­her schon zu­sam­men­ge­trof­fen?« füg­te sie nach kur­z­em Still­schwei­gen hin­zu.

»Das habe ich doch ge­wusst, dass Sie nach dem so­fort fra­gen wür­den.« Ich er­zähl­te ihr von mei­nen frü­he­ren Be­geg­nun­gen mit Mis­ter Ast­ley auf Rei­sen.

»Er ist schüch­tern und lie­be­be­dürf­tig, und na­tür­lich ist er schon in Sie ver­liebt?«

»Ja, er ist in mich ver­liebt«, ant­wor­te­te Po­li­na.

»Und er ist selbst­ver­ständ­lich zehn­mal so reich wie der Fran­zo­se. Be­sitzt denn der Fran­zo­se wirk­lich et­was? Ist das nicht sehr zwei­fel­haft?«

»Nein, zwei­fel­haft ist das nicht. Er be­sitzt ein Château. Noch ges­tern hat der Ge­ne­ral zu mir mit al­ler Be­stimmt­heit da­von ge­spro­chen. Ge­nügt Ih­nen das?«

»Ich wür­de an Ih­rer Stel­le un­be­dingt den Eng­län­der hei­ra­ten.«

»Wa­rum?« frag­te Po­li­na.

»Der Fran­zo­se ist schö­ner, aber er hat einen schlech­ten Cha­rak­ter; der Eng­län­der da­ge­gen ist nicht nur ein eh­ren­haf­ter Mann, son­dern auch zehn­mal so reich wie der an­de­re«, er­klär­te ich in ent­schie­de­nem Ton.

»Ja, aber da­für ist der Fran­zo­se ein Mar­quis und klü­ger«, ent­geg­ne­te sie mit größ­ter See­len­ru­he.

»Aber ist das auch si­cher?« frag­te ich wie vor­her.

»Voll­stän­dig si­cher.«

Po­li­na war über mei­ne Fra­gen sehr un­ge­hal­ten, und ich sah, dass sie mich durch den schar­fen Ton ih­rer Ant­wort är­gern woll­te. Das hielt ich ihr denn auch so­fort vor.

»Nun ja, es amü­siert mich wirk­lich, wie grim­mig Sie wer­den«, ent­geg­ne­te sie dar­auf. »Schon al­lein da­für, dass ich Ih­nen er­lau­be, sol­che Fra­gen zu stel­len und sol­che Mut­ma­ßun­gen zu äu­ßern, müs­sen Sie einen Preis be­zah­len.«

»Ich hal­te mich in der Tat für be­rech­tigt, Ih­nen sol­che Fra­gen zu stel­len«, ant­wor­te­te ich ganz ru­hig, »na­ment­lich des­we­gen, weil ich be­reit bin, da­für je­den Preis zu zah­len, den Sie ver­lan­gen, und mein Le­ben jetzt für nichts ach­te.«

Po­li­na lach­te.

»Sie ha­ben das letz­te­mal auf dem Schlan­gen­berg zu mir ge­sagt, Sie sei­en be­reit, sich auf das ers­te Wort von mir kopf- über hin­ab­zu­stür­zen, und es geht dort, glau­be ich, tau­send Fuß tief hin­un­ter. Ich wer­de spä­ter ein­mal die­ses Wort aus­spre­chen, le­dig­lich um zu se­hen, wie Sie Ih­rer Ver­pflich­tung nach­kom­men, und sei­en Sie über­zeugt, dass ich nicht aus der Rol­le fal­len wer­de. Sie sind mir ver­hasst, be­son­ders weil ich Ih­nen so­viel er­laubt habe, und in noch hö­he­rem Gra­de des­halb, weil ich Sie so nö­tig habe. Aber so­lan­ge Sie mir nö­tig sind, darf ich Sie nicht zu Scha­den kom­men las­sen.«

Sie stand auf. Sie hat­te in ge­reiz­tem Ton ge­spro­chen. In der letz­ten Zeit schloss sie je­des Ge­spräch, das sie mit mir führ­te, mit In­grimm, Ge­reizt­heit und ernst­li­chem Zorn.

»Ge­stat­ten Sie mir die Fra­ge: was für eine Per­son ist ei­gent­lich die­se Ma­de­moi­sel­le Blan­che?« frag­te ich. Ich woll­te sie nicht fort­las­sen, ohne ei­ni­ge Aus­kunft von ihr er­hal­ten zu ha­ben.

»Was für eine Per­son Ma­de­moi­sel­le Blan­che ist, das wis­sen Sie selbst. Neu­es hat sich seit Ih­rer Abrei­se wei­ter nicht be­ge­ben. Ma­de­moi­sel­le Blan­che wird wahr­schein­lich Frau Ge­ne­ra­lin wer­den, selbst­ver­ständ­lich nur, wenn sich das Gerücht von dem Tod der Tan­te be­stä­tigt; denn Ma­de­moi­sel­le Blan­che und ihre Mut­ter und ihr ent­fern­ter Vet­ter, der Mar­quis, wis­sen alle sehr ge­nau, dass wir rui­niert sind.«

»Ist denn der Ge­ne­ral ernst­lich in sie ver­liebt?«

»Das geht uns jetzt nichts an. Hö­ren Sie ein­mal zu, was ich sa­gen will, und mer­ken Sie es sich ge­nau: neh­men Sie die­se sie­ben­hun­dert Gul­den und spie­len Sie da­mit! Ge­win­nen Sie mir da­mit am Rou­lett, so­viel Sie nur kön­nen: ich brau­che jetzt um je­den Preis Geld!«

Hier­auf rief sie die klei­ne Na­d­ja her­an und ging nach dem Kur­haus, wo sie sich an die gan­ze Ge­sell­schaft der Uns­ri­gen an­schloss. Ich mei­ner­seits schlug, nach­denk­lich und ver­wun­dert, den erst­bes­ten Steig nach links ein. Von ih­rem Auf­trag, zum Rou­lett zu ge­hen, fühl­te ich mich wie vor den Kopf ge­schla­gen. Es ging mir selt­sam: ich hat­te doch so vie­les, wor­über ich hät­te nach­den­ken kön­nen und sol­len; aber den­noch ver­tief­te ich mich voll­stän­dig in eine kri­ti­sche Prü­fung mei­ner Emp­fin­dun­gen ge­gen­über Po­li­na. Wahr­lich, wäh­rend mei­ner vier­zehn­tä­gi­gen Ab­we­sen­heit war mir leich­ter ums Herz ge­we­sen als jetzt am Tag mei­ner Rück­kehr, ob­gleich ich auf der Rei­se mich wie ein Un­sin­ni­ger nach ihr ge­sehnt hat­te, wie ein Ver­rück­ter um­her­ge­rannt war und so­gar im Schlaf sie alle Au­gen­bli­cke vor mir ge­se­hen hat­te. Als ich ein­mal im Wag­gon ein­ge­schla­fen war (es war in der Schweiz), fing ich laut mit Po­li­na zu spre­chen an, zur großen Er­hei­te­rung al­ler Mit­rei­sen­den. Und jetzt leg­te ich mir noch ein­mal die Fra­ge vor: »Lie­be ich sie?« Und auch dies­mal wie­der ver­stand ich nicht auf die­se Fra­ge zu ant­wor­ten, das heißt, rich­ti­ger ge­sagt, ich ant­wor­te­te mir zum hun­derts­ten Male wie­der, dass ich von Hass ge­gen sie er­füllt sei. Ja, ich hass­te sie. Es gab Au­gen­bli­cke (na­ment­lich je­des Mal am Schluss un­se­rer Ge­sprä­che), wo ich mein hal­b­es Le­ben da­für ge­ge­ben hät­te, sie zu er­wür­gen. Ich schwö­re es: wenn ich ihr hät­te ein spit­zes Mes­ser lang­sam in die Brust boh­ren kön­nen, so hät­te ich, wie ich glau­be, nach die­sem Mes­ser mit Won­ne ge­grif­fen. Und trotz­dem schwö­re ich bei al­lem, was hei­lig ist: hät­te sie auf dem Schlan­gen­berg, auf je­nem Aus­sichts­punkt, wirk­lich zu mir ge­sagt: »Stür­zen Sie sich hin­ab!«, so wür­de ich mich so­gleich hin­ab­ge­stürzt ha­ben, und so­gar mit Won­ne; das weiß ich si­cher. Aber nun muss­te, so oder so, die Ent­schei­dung kom­men. Po­li­na hat für all dies ein über­aus fei­nes Ver­ständ­nis, und der Ge­dan­ke, dass ich mit voll­kom­me­ner Klar­heit und Rich­tig­keit ihre gan­ze Un­er­reich­bar­keit für mich, die gan­ze Un­mög­lich­keit der Er­fül­lung mei­ner Träu­me­rei­en ein­se­he, die­ser Ge­dan­ke ge­währt ihr (da­von bin ich über­zeugt) einen au­ßer­or­dent­li­chen Ge­nuss; könn­te sie, eine so vor­sich­ti­ge, klu­ge Per­son, denn sonst mit mir in so fa­mi­li­ärer, of­fen­her­zi­ger Art ver­keh­ren? Mir scheint, als habe sie von mir bis jetzt eine ähn­li­che An­schau­ung ge­habt wie jene Kai­se­rin des Al­ter­tums von ih­rem Skla­ven, in des­sen Ge­gen­wart sie sich ent­klei­de­te, weil sie ihn nicht für einen Men­schen hielt. Ja, sie hat mich vie­le, vie­le Male nicht als einen Men­schen an­ge­se­hen.

Aber nun hat­te sie mir einen Auf­trag er­teilt: am Rou­lett zu ge­win­nen, zu ge­win­nen um je­den Preis. Ich hat­te kei­ne Zeit, dar­über nach­zu­den­ken, zu wel­chem Zweck und wie schnell die­ser Geld­ge­winn nö­tig sei, und was für neue Plä­ne in die­sem fort­wäh­rend spe­ku­lie­ren­den Kopf ent­stan­den sein moch­ten. Au­ßer­dem hat­te sich in die­sen vier­zehn Ta­gen of­fen­bar eine Un­men­ge neu­er Er­eig­nis­se zu­ge­tra­gen, von de­nen ich noch kei­ne Ah­nung hat­te. All dies muss­te ich ent­rät­seln, in all dies kla­ren Ein­blick ge­win­nen, und zwar so schnell wie mög­lich. Aber vor­läu­fig, im Au­gen­blick hat­te ich dazu kei­ne Zeit: ich muss­te zum Rou­lett.


  1. Wört­lich: »Die Ta­fel des Haus­herrn« – Mit­tags­me­nü bzw. Ta­ge­s­kar­te  <<<

  2. dass ich ket­ze­risch und bar­ba­risch bin.  <<<

  3. Es war nicht so al­bern.  <<<

Zweites Kapitel

Ich muss ge­ste­hen: die­ser Auf­trag war mir nicht an­ge­nehm. Ich hat­te mir zwar vor­ge­nom­men ge­habt, mich gleich­falls am Spiel zu be­tei­li­gen, da­bei aber in kei­ner Wei­se an­ge­nom­men, dass ich da­mit an­fan­gen wür­de, es für an­de­re zu tun. Das stieß mir ge­wis­ser­ma­ßen mei­ne Plä­ne über den Hau­fen, und so be­trat ich denn die Spiel­sä­le in ei­ner recht ver­drieß­li­chen Stim­mung. Unaus­steh­lich ist mir die La­kai­en­haf­tig­keit in den Feuil­le­tons der Zei­tun­gen der gan­zen Welt und na­ment­lich un­se­rer rus­si­schen Zei­tun­gen, wo fast in je­dem Früh­jahr un­se­re Feuil­le­to­nis­ten von zwei Din­gen er­zäh­len: ers­tens von der pracht­vol­len, lu­xu­ri­ösen Ein­rich­tung der Spiel­sä­le in den Rou­lett­städ­ten am Rhein, und zwei­tens von den Hau­fen Gol­des, die an­geb­lich auf den Ti­schen lie­gen. Be­zahlt wer­den ja die Schrift­stel­ler da­für nicht; sie er­zäh­len das aus ei­ge­nem An­trieb, aus un­ei­gen­nüt­zi­ger Dienst­fer­tig­keit. Von Pracht ist in die­sen dürf­ti­gen Sä­len nicht die Rede, und Gold be­kommt man über­haupt kaum zu se­hen, ge­schwei­ge denn, dass es in Hau­fen auf den Ti­schen läge. Al­ler­dings, manch­mal er­scheint im Lau­fe der Sai­son plötz­lich ir­gend­ei­ne wun­der­li­che Per­sön­lich­keit, ein Eng­län­der oder ein Asi­at oder wie in die­sem Som­mer ein Tür­ke, und ver­liert oder ge­winnt auf ein­mal eine sehr große Sum­me; aber alle üb­ri­gen spie­len um ein paar lum­pi­ge Gul­den, und im großen und gan­zen liegt auf den Ti­schen im­mer nur sehr we­nig Geld.

Als ich in den Spiel­saal trat (es war das ers­te­mal in mei­nem Le­ben), konn­te ich mich eine Zeit lang nicht dazu ent­schlie­ßen mit­zu­spie­len. Ich fühl­te mich durch das dich­te Ge­drän­ge ab­ge­sto­ßen. Aber auch wenn ich al­lein da­ge­we­sen wäre, auch dann wäre ich wohl am liebs­ten bald wie­der weg­ge­gan­gen und hät­te nicht an­ge­fan­gen zu spie­len. Ich be­ken­ne: das Herz klopf­te mir stark, und ich war nicht kalt­blü­tig; ich glaub­te zu­ver­läs­sig und sag­te mir das schon lan­ge mit al­ler Be­stimmt­heit, dass es mir nicht be­schie­den sein wer­de, aus Rou­let­ten­burg so ohne wei­te­res wie­der fort­zu­kom­men, dass sich da mit Si­cher­heit et­was zu­tra­gen wer­de, was für mein Le­bens­schick­sal von tief­ge­hen­der, ent­schei­den­der Be­deu­tung sei. Das sei ein Ding der Not­wen­dig­keit und wer­de so ge­sche­hen.

Mag es auch lä­cher­lich sein, dass ich vom Rou­lett so­viel für mich er­war­te, für noch lä­cher­li­cher hal­te ich die land­läu­fi­ge, be­lieb­te Mei­nung, dass es tö­richt und sinn­los sei, vom Spiel über­haupt et­was zu er­war­ten. Und warum soll denn das Spiel schlech­ter sein als ir­gend­ein an­de­res Mit­tel des Gel­d­er­werbs, zum Bei­spiel schlech­ter als der Han­del? Das ist ja rich­tig, dass von hun­dert nur ei­ner ge­winnt. Aber was geht mich das an?

Je­den­falls be­schloss ich, zu­nächst nur zu­zu­se­hen und an die­sem Abend nichts Ernst­li­ches zu un­ter­neh­men. Wenn an die­sem Abend über­haupt et­was ge­sch­ah, so soll­te es nur zu- fäl­lig und ne­ben­bei ge­sche­hen; das war mei­ne Ab­sicht. Über­dies muss­te ich doch auch das Spiel selbst erst ler­nen; denn trotz tau­send Be­schrei­bun­gen des Rou­letts, die ich stets mit großer Gier ge­le­sen hat­te, ver­stand ich, ehe ich nicht sei­ne Ein­rich­tung selbst ge­se­hen hat­te, schlech­ter­dings nichts da­von.

Von vorn­her­ein er­schi­en mir al­les über­aus schmut­zig, ich mei­ne im über­tra­ge­nen Sin­ne gars­tig und schmut­zig. Ich rede nicht von je­nen gie­ri­gen, un­ru­hi­gen Ge­sich­tern, die zu Dut­zen­den, ja zu Hun­der­ten die Spiel­ti­sche um­ge­ben. Ich sehe ab­so­lut nichts Schmut­zi­ges in dem Wunsch, mög­lichst schnell und mög­lichst viel Geld zu ge­win­nen; als sehr dumm ist mir im­mer der Ge­dan­ke ei­nes be­hä­bi­gen, wohl­si­tu­ier­ten Moral­phi­lo­so­phen er­schie­nen, der auf je­man­des Ent­schul­di­gung: »Es wird ja nur nied­rig ge­spielt«, ant­wor­te­te: »Umso schlim­mer, da dann der Ei­gen­nutz klein­lich ist.« Als ob klein­li­cher Ei­gen­nutz und groß­ar­ti­ger Ei­gen­nutz nicht auf das­sel­be hin­aus­kämen! Das sind nur re­la­ti­ve Be­grif­fe. Was für Roth­schild eine Klei­nig­keit ist, das ist für mich eine große Sum­me; aber was Ge­winn und Pro­fit an­langt, so geht das Stre­ben der Men­schen nicht etwa nur beim Rou­lett, son­dern auf al­len Ge­bie­ten nur dar­auf, ein­an­der et­was weg­zu­neh­men oder ab­zu­ge­win­nen. Ob Pro­fit­ma­chen und Ge­win­nen über­haupt et­was Gars­ti­ges ist, das ist eine an­de­re Fra­ge, auf de­ren Beant­wor­tung ich mich jetzt nicht ein­las­se. Da ich selbst im höchs­ten Gra­de von dem Wunsch, zu ge­win­nen, er­füllt war, so hat­te all die­ser Ei­gen­nutz und, wenn man es so an­se­hen will, all die­ser Schmutz des Ei­gen­nut­zes beim Ein­tritt in den Saal für mich so­zu­sa­gen et­was Ver­trau­tes und Ver­wand­tes. Das bes­te ist, wenn ei­ner dem an­de­ren ge­gen­über kei­ne ge­wun­de­nen Re­dens­ar­ten macht, son­dern of­fen und ehr­lich ver­fährt; und nun gar sich selbst zu be­trü­gen, was hat das für einen Zweck? Eine ganz wert­lo­se, un­öko­no­mi­sche Tä­tig­keit!

Be­son­ders häss­lich er­schi­en mir auf den ers­ten Blick bei dem un­fei­nen Teil der Rou­lett­spie­ler die Wich­tig­keit, die sie ih­rer Tä­tig­keit bei­leg­ten, das erns­te, so­gar re­spekt­vol­le We­sen, mit dem sie alle die Ti­sche um­ring­ten. Da­rum wird hier scharf un­ter­schie­den zwi­schen der­je­ni­gen Art zu spie­len, die als »mau­vais gen­re« be­zeich­net wird, und der­je­ni­gen, die ei­nem an­stän­di­gen Men­schen ge­stat­tet ist. Es gibt eben zwei Ar­ten zu spie­len: eine gent­le­man­haf­te und eine ple­be­ji­sche, selbsti­sche, das ist die der un­fei­nen Men­ge, des Pö­bels. Hier wird da­zwi­schen ein stren­ger Un­ter­schied ge­macht; und doch, wie wert­los ist in Wirk­lich­keit die­ser Un­ter­schied! Ein Gent­le­man wird zum Bei­spiel fünf oder zehn Louis­dor, sel­ten mehr, set­zen oder auch, wenn er sehr reich ist, tau­send Franc; aber er darf das le­dig­lich um des Spie­les wil­len tun, nur zum Zeit­ver­treib, ei­gent­lich nur um den Vor­gang des Ge­win­nens oder Ver­lie­rens zu ver­fol­gen; für den Ge­winn selbst darf er durch­aus kein In­ter­es­se zei­gen. Hat er ge­won­nen, so darf er zum Bei­spiel laut la­chen, zu ei­nem der Um­ste­hen­den eine Be­mer­kung ma­chen; er darf so­gar noch ein­mal set­zen und da­bei ver­dop­peln, aber ein­zig und al­lein aus Wiß­be­gier­de, um die Chan­cen zu be­ob­ach­ten und Be­rech­nun­gen an­zu­stel­len, aber nicht in dem ple­be­ji­schen Wunsch zu ge­win­nen. Kurz, all die­se Spiel­ti­sche, Rou­letts und Tren­te-et-qua­ran­te-Spie­le darf er nur als einen Zeit­ver­treib be­trach­ten, der le­dig­lich zu sei­nem Amü­se­ment ein­ge­rich­tet ist. Von der Ge­winn­sucht und den Fall­stri­cken, die die Grund­la­ge und Ein­rich­tung der Spiel­bank bil­den, darf er nicht ein­mal eine Ah­nung ha­ben. Sehr gut wäre es so­gar, wenn es ihm schie­ne, dass auch alle üb­ri­gen Spie­ler, die­ser Pö­bel, der um einen Gul­den bangt und zit­tert, dass auch sie eben­sol­che rei­chen Leu­te und Gent­le­men sei­en wie er selbst und nur zur Zer­streu­ung und zum Zeit­ver­treib spiel­ten. Eine sol­che völ­li­ge Un­kennt­nis der Wirk­lich­keit und harm­lo­se Mei­nung von den Men­schen wäre ge­wiss sehr ari­sto­kra­tisch. Ich sah, dass vie­le Müt­ter ihre un­schul­di­gen, hüb­schen, fünf­zehn- oder sech­zehn­jäh­ri­gen Töch­ter zum Spiel­tisch vor­wärts­scho­ben, ih­nen ei­ni­ge Gold­stücke ga­ben und sie über das Spiel be­lehr­ten. Die jun­gen Da­men ge­wan­nen oder ver­lo­ren, lä­chel­ten aber in je­dem Fal­le und tra­ten sehr zu­frie­den wie­der zu­rück. Un­ser Ge­ne­ral kam in ge­mes­se­nem Schritt und wür­de­vol­ler Hal­tung zum Spiel­tisch; ein Die­ner eil­te her­bei, um ihm einen Stuhl zu rei­chen; aber er be­merk­te den Die­ner gar nicht. Sehr lang­sam zog er sei­ne Bör­se her­aus, sehr lang­sam ent­nahm er ihr drei­hun­dert Franc in Gold, setz­te sie auf Schwarz und ge­wann. Er nahm den Ge­winn nicht, son­dern ließ ihn auf dem Tisch. Wie­der kam Schwarz; auch dies­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­