Die innere Freiheit des Alterns
Patmos Verlag
Vorwort
Altern: Leben ausschöpfen – und loslassen
Wenn Verluste sich mehren
Der Raum der Erinnerung
Prägende Zeitgeschichte
Es ist immer Jetzt – Vom Sinn des Reisens im Alter
In Beziehung treten und alleinstehen im Alter
Schöpferisch bleiben
Im Schatzhaus der Menschheit einkehren
Die Gelassenheit des Alters
Von der Weisheit und Narrheit des Alters
Von den Bächen, die talwärts fließen – C. G. Jungs Gedanken über das Alter
»Leben ohne Warum« – Alt werden mit einem Gedanken von Meister Eckhart
Nachwort: Sich aussamen
Anmerkungen
Literatur
Zitatnachweis
Innere Freiheit gewinnen – sollte dieser Gedanke ein Leitspruch für das Alter werden können? Dabei mutet uns das Altern doch vor allem Einschränkungen zu.
Wie ließe sich das überhaupt vorstellen: zu leben in innerer Freiheit, zu leben »ohne Warum« wie Meister Eckhart es vorschlägt?
Ehe ich Meister Eckhart hier hinterfrage, bin ich schon berührt von seiner kühnen Vorstellung, bin wie angeatmet von einer Brise innerer Freiheit und muss dieses Wort »ohne Warum« weiterbedenken, wie ich es im abschließenden Kapitel dieses Buches tue – trotz aller Erfahrung von Einengung und Unfreiheit, die das Alter, wie ich es selbst erlebe, unzweifelhaft auch mit sich bringt. Doch kann ich selber dem Anhauch der Freiheit nicht widerstehen, der bereits in der Vorstellung liegt, dass es ein »Leben ohne Warum« geben könne. Dem möchte ich in diesem Buch nachspüren.
Worum es hier nicht gehen soll: um eine weitere »Altersstudie«, entlang der bemerkenswerten wissenschaftlichen Literatur über das Alter,1 die heute vorliegt und auf deren wichtigsten Thesen ich mich stütze. Es geht mir vielmehr vor allem um einen existentiellen Zugang zum Altern.
So werde ich auch nicht alle uns bekannten Altersstadien bedenken. Vielmehr soll es, nachdem ich das sogenannte »Junge Alter«, das ungefähr bis Anfang siebzig reicht, in meinem Buch Die gewandelte Frau. Vom Geheimnis der zweiten Lebenshälfte2 schon näher beschrieben habe, jetzt vor allem um die Altersphase gehen, in der ich zurzeit selbst stehe und die, je nach persönlicher Konstitution, von Mitte siebzig bis in die Achtzigerjahre hineinreichen kann.
Das hohe Alter wiederum, das in den Neunzigern beginnt, folgt eigenen Gesetzen und Gegebenheiten, die eine eigene Betrachtung erforderten.
Mit diesem Buch möchte ich einen persönlichen Gesprächsbeitrag liefern, der vor allem für diejenigen gedacht ist, die mit mir in dieser Lebensphase unterwegs sind. Ich denke, die hier geschilderten Erfahrungen und Einsichten reichen sicher ein Stück weit über meine persönlichen hinaus und können von manchen Menschen meines Alters geteilt werden. Auch sind sie in Übereinstimmung mit den heute relevanten Altersstudien, die vor allem die neu erforschte Plastizität unseres Gehirns, die uns bis ins höhere Alter hinein entwicklungsfähig hält, einbeziehen.3 Ich erhoffe sie mir als einen Beitrag zum Austausch über unsere Erfahrungen mit dem Alter, zu denen auch die Erfahrung einer wachsenden inneren Freiheit gehören kann, eine neue Auffassung von einem Leben als einem Leben, das seinen Sinn in sich selber trägt, als einem »Leben ohne Warum«.
Konstanz, im Januar 2009
Ingrid Riedel
Altern bedeutet zweierlei: Leben ausschöpfen und Leben loslassen. Dieses Zweierlei kann eine große Spannung mit sich bringen, kann furchtbar – aber auch fruchtbar sein.
Altern heißt, sich darüber klar zu werden, dass die eigene Lebenszeit begrenzt, dass sie zum größeren Teil schon durchlebt ist, dass nur ein kleinerer Teil noch zur Verfügung steht. Wie bei jedem guten Spiel ist auch hier die zweite Spielhälfte, ja, sind vielleicht die letzten fünfzehn Minuten entscheidend dafür, ob ich das Spiel – hier das Spiel meines Lebens – als verloren oder gewonnen erlebe. Dieses Gefühl, dass es um die entscheidenden Jahre, auch um die entscheidenden Inhalte meines Lebens geht, macht die späteren Jahre kostbar, so kostbar, dass manche Menschen eine lebenslange Tendenz zur Depression in diesen Jahren sogar verlieren, weil sie es sich nicht mehr leisten können und wollen, die letzten Jahre damit zu belasten. Andere verfallen aber wegen der sich verknappenden Zeit überhaupt erst in depressive Anwandlungen.
Es geht darum, was wir in diesen Jahren zu unserem Lebensinhalt machen, was wir doch unbedingt noch erlebt, noch gelebt haben wollen, wenn unser Leben einmal zu Ende ist. Deshalb: Es kommt darauf an, von jetzt an mein besonderes Leben auszuschöpfen, nicht irgendein Leben, sondern mein ureigenes, das in mir angelegt ist. In einer chassidischen Legende, die Martin Buber überliefert, wird ein gewisser Sussja am Ende seines Lebens nicht etwa gefragt, warum er nicht Mose, sondern warum er nicht Sussja gewesen sei. Vielleicht gibt es Seiten in mir, die ich aus Anpassung an meine Lebenssituation, an den jeweiligen Partner, die Partnerin oder auch Chef, vielleicht sogar an meine Kinder, wenn ich sie denn habe, nicht so ausleben konnte, wie ich sie womöglich als Kind und Jugendliche noch gut an mir gekannt hatte. So entdeckt vielleicht manche Frau im Alter ihre Fähigkeit wieder, einen heiligen Zorn zu entwickeln, gerade wenn es um Dinge geht, die ihr lebenswichtig sind, sei es ihr Garten, sei es die Umwelt überhaupt, deren Bedrohung in letzter Zeit unübersehbar geworden ist. Eine meiner Freundinnen, jetzt über siebzig, findet zu ihrem alten unerschrockenen Kampfgeist zurück, wenn es um Mitwelt- und Umweltfragen geht, fallen dabei doch zugleich Entscheidungen über die künftige Lebenswelt ihrer geliebten Enkelkinder.
Als Alte können wir wieder lernen, uns so wunderbar unangepasst zu verhalten, wie es die »unwürdige Greisin« bei Brecht in der gleichnamigen Erzählung tut, auf die ich noch zurückkommen werde, weil wir uns dem Zwang zur Anpassung, wer immer ihn vertritt, immer weniger unterwerfen, sondern – vielleicht endlich – unser Eigenes, unseren eigenen Stil leben wollen.
Kürzlich traf ich einen Mann in den späten Sechzigern, der eben von einer Demonstration gegen die Chemiefirma zurückkam, in der er jahrzehntelang angestellt gewesen war. Deren lungenschädigenden Ausstoß, um den er all die Zeit gewusst hatte, konnte er nicht mehr ertragen.
Männer allerdings können im Alter auch weniger aggressiv und gütiger werden als zuvor, weil sie eine angepasste Männlichkeitsfassade nicht mehr aufrechterhalten müssen.
Was immer wir getan haben in unserem Leben – beruflich, ehrenamtlich, familiär oder auch privat –, nun kommt es darauf an, die Ernte einzufahren. Dies gilt vor allem für die sogenannten »Jungen Alten«, wie wir heute die Sechzig- bis Mitte Siebzigjährigen nennen, diejenigen auch, die bis Ende sechzig hinein noch im Beruf sind, wie die Selbstständigen oder die Freiberufler, die, bei entsprechender Kondition, noch bis in die Siebziger hinein tätig sein können.
Was heißt aber für die Einzelnen, die Ernte einzufahren? So will eine 66-jährige Sonderschullehrerin mit eben diesem, einem besonders schwierigen Kind, noch »auf einen grünen Zweig kommen« – um dieses Kindes, aber auch um ihrer selbst willen. Da sie eine Zusatzausbildung in Kinderpsychotherapie hat, ist sie bereit, das Kind auch über die Schulzeit hinaus noch zu begleiten und zu behandeln. Ein 72-jähriger Zahnarzt will einmal noch im Leben ein neu entwickeltes Implantat einsetzen, auf dessen Entstehung und Freigabe er jahrzehntelang gewartet hat. Eine 75-jährige Psychotherapeutin freut sich so sehr darüber, dass ihre selbst entwickelte Methode endlich ankommt, endlich gefragt ist, dass sie einfach alle Einladungen zu Vorträgen und Workshops, die noch auf sie zukommen, annehmen will. Dorothee Sölle wollte nicht aufhören, »Gott zu verteilen«, wie sie ihre theologische Vortragstätigkeit nannte, auch als sie gesundheitlich schon stark beeinträchtigt war, so wie damals, als ich sie das letzte Mal antraf, wenige Wochen vor ihrem Tod, der sie dann in Bad Boll, während einer Tagung, einholte. Es war, nach menschlichem Ermessen, ein ihr gemäßer Tod, um den sie vielleicht sogar manche beneiden werden.
Dieses Ernteeinfahren, und sei es für die Sache Gottes, wie wir meinen, kann allerdings in diesen Jahren auch auf Kosten unserer Kräfte gehen. So kann es passieren, dass wir uns unter dem Eindruck der knapper werdenden Zeit zu viel vornehmen. Auch Menschen, die nicht auf anspruchsvollen Feldern geistig tätig sind, werden im Alter auf ihre Art schöpferisch, fahren die Ernte ein, indem sie zum Beispiel noch eine Fremdsprache lernen, um ihr Gedächtnis, ihre Lernfähigkeit auszuschöpfen und um ihrer Liebe zu der Kultur eines bestimmten Landes Ausdruck zu verleihen. Vor allem aber beginnen viele zu reisen, um noch das von der Welt zu sehen, was sie unbedingt gesehen haben wollen, ehe sie sterben. Unter unseren Jahrgängen sind ja so manche, die durch die Lebensumstände und wirtschaftlichen Verhältnisse in bestimmten Phasen ihres Lebens gar nicht reisen konnten. Dies gilt gerade auch für die Bürger der damaligen DDR.
Ich selbst habe vor kurzem auch einmal die wilden Tiere Afrikas erleben wollen, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte, und bin anlässlich eines Kongresses nach Kapstadt geflogen, um von da aus an einer Safari teilzunehmen.
Manche alternde Menschen kommen allerdings aus dem Reisen gar nicht mehr heraus und können, wie sie zugeben, die zahllosen Eindrücke gar nicht mehr richtig verarbeiten. Andere wieder beschäftigen sich so eingehend – informativ und imaginativ – mit der Kultur und Natur eines Landes, das sie noch gerne erleben möchten, dass sie die Reise dorthin gar nicht mehr machen müssen. Wer hat wohl mehr von seiner Art des Reisens? Einige wenige wissen genau, was sie tun, wenn sie noch einmal im Leben den Boden von Nepal oder Tibet betreten und damit das Land ihrer spirituellen Sehnsucht kennenlernen wollen. Wir sollten allerdings im Alter nur noch in die Länder reisen, die für uns »eine Seele« haben, das heißt, mit denen wir in innere Resonanz treten können. Davon jedenfalls würden wir am nachhaltigsten beeindruckt. Viele Deutsche fahren im Alter noch einmal dorthin zurück, wo sie aufgewachsen sind, vor allem dann, wenn sie von dort durch die Folgen des Krieges vertrieben wurden: ins ehemalige Schlesien, ins ehemalige Ostpreußen, nach Pommern. Hier geschieht das Eintauchen in die Erinnerung, oft zusammen mit den erwachsenen Kindern der nachkommenden Generation, die nie dort gewesen sind und sich doch durch die Erzählungen der Eltern ein inneres Bild aufgebaut haben – und mit dem Einholen der Lebensgeschichte gewinnen wir oft auch die Fähigkeit des Loslassens.
Noch einmal dort gewesen zu sein, um loslassen zu können, weil man erkennt, dass man es nun äußerlich nicht mehr braucht, weil man es innerlich mitnehmen kann, für immer, als »eine Heimat zum Mitnehmen« gleichsam – das kennzeichnet viele Lebensvollzüge im Alter. An manchen Orten, die man aus solcher Erinnerung heraus aufsucht, spürt man gleich, dass die Zeit nun auch reif ist, diesen Ort loszulassen.
So erging es mir mit meiner allerersten Wirkungsstätte nach dem abgeschlossenen Studium, als ich sie kürzlich noch einmal aufsuchte. Die Menschen, mit denen ich damals besonders verbunden gewesen war, sind gar nicht mehr alle am Leben. Bestimmte Bäume, einige Rotbuchen vor allem, die mir damals lieb gewesen waren, sind längst gefällt – oder aber schier in den Himmel gewachsen und gar nicht mehr wiederzuerkennen. An diesem Ort meiner jungen Jahre, an dem ich intensive berufliche und menschliche Erfahrungen gemacht habe, fühlte ich mich plötzlich sehr alt, fast älter als ich bin. Die seit jener Zeit verstrichenen Jahre und Jahrzehnte erschienen mir sehr lang, und all die abgelebte Vergangenheit begann mich auf einmal auch zu bedrücken, erwies sich als mächtiger als das Neue, das ich an einem Wochenende, dort herzlich zur Mitarbeit eingeladen, aufnehmen konnte.
Die Ernte einzufahren also ist das eine, wozu auch die Erinnerung an reich gelebtes Leben gehört, an Begegnungen, an erfüllte Beziehungen. Leben loszulassen ist das andere, das dem Alter, dem Alternden aufgegeben ist. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist dabei, dass ich dort am besten loslassen kann, wo ich am erfülltesten gelebt habe.
Manchmal ist es mir, als täte sich hierbei eine Schere auf: zwischen den einen, die noch festhalten müssen, die sich an ihrem Stück Leben festklammern, weil es ihnen noch immer unerfüllt scheint und sich zu entziehen droht, ehe es sich erfüllen kann – ein verzweifeltes Unternehmen ist dies, wie wenn sich einer beim Schwimmen in einem starken Strom entgegen der Strömung an einem Ästchen festklammern wollte –, und den anderen, die loslassen und sich von der übermächtigen Strömung tragen und forttragen lassen, letztlich dem Meer entgegen. Es sind zwei konträre Möglichkeiten, sich dem unentrinnbaren Altern gegenüber zu verhalten.
Und es ist auffällig: Wenn ich einen der Menschen besuche, die loslassen können, spüre ich etwas Angenehmes, etwas Befreites – Gelassenheit, ja, manchmal Gelöstheit. Gelassenheit übrigens ist ein Wort, das durch Meister Eckhart in unsere Sprache Eingang fand, im Grunde ein mystischer Terminus, dem letztlich auch ein mystisches Verhalten entspricht: sich lassen zu können.
Zu den alten Menschen, die etwas von einer solchen inneren Freiheit haben, gehe ich gern, besuche sie mit Sympathie und nehme immer etwas Bereicherndes von diesen Besuchen mit, zumal ich mich im Umgang mit dem eigenen Alter nach guten Erfahrungen umschaue, die andere mit dem Älterwerden machen.
Weniger gern gehe ich andererseits zu solchen alten Menschen, die sich nur noch als Verlierer des Lebens, als Opfer der Umstände fühlen, die sich festklammern am unentrinnbar sich entziehenden Leben – und die sich auch an denen festklammern, die ihnen einen Besuch machen, wie ich in dem Fall, nicht ohne dass von ihrer Seite her sofort die Klage laut würde, wie selten man sie doch besuche.
Ich denke allerdings auch, dass man die Alten und auch sich selbst im Alter nicht eindeutig der einen oder der anderen Gruppe zuordnen kann. Leider werde wohl auch ich nicht nur zu den Loslassenden, sondern immer wieder auch zu den Festhaltenden gehören. Ich kann nur erhoffen und das Meine dazutun, dass das Lassenkönnen, die Gelassenheit letztlich in mir gewinnen.
Die Vorstellung, in einem solchen Strom der Strömung zu folgen – wie zum Beispiel im Oberlauf des Rheins, in dem ich vor einiger Zeit wirklich einmal geschwommen bin, in der großen Biegung bei Beuggen – und sich ihr hier hinzugeben, hat auch etwas Lustvolles. Natürlich muss man als Mensch, der noch leben will, zuvor erkunden, wo man jeweils wieder ans Ufer kommt, es geht ja nicht darum, vom Oberrhein aus direkt ins Meer durchzustarten. Aber diese Fähigkeit loszulassen, sich von einer größeren Strömung tragen zu lassen, ist – im symbolischen Sinn verstanden – eben das, was wir wohl im Alter lernen müssen, wenn das letzte Viertel oder Achtel unseres Lebensspiels und damit das Ganze gelingen soll.
Es scheint mir dabei aber auch darum zu gehen, nicht vorschnell loszulassen, nicht das aus der Hand fallen zu lassen, was sich mir vielleicht eben jetzt noch geben und entfalten möchte. Es gilt vielmehr, intensiv zu leben bis zuletzt – wie es mir unvergesslich ein an Krebs erkrankter Patient vorlebte, der in der letzten Phase zu malen begann und sich, nach einem in mancher Hinsicht auch lange gehemmten Leben, hindurch malte zu seiner eigentlichen Expressivität und seinem eigentlichen Selbst-Sein, zu den tiefen Sinnbildern seines Lebens, in denen er sich wiederfand, geborgen in einem größeren Zusammenhang. Er starb befriedet, versöhnt.
Es gilt aber in alledem auch, die Zeichen zu erkennen, die uns, gemessen an unserem bisherigen Lebensrhythmus, zum Loslassen und Losgeben einladen – oder schon auffordern. Eines dieser Zeichen scheint mir eine raschere und tiefere Ermüdbarkeit zu sein, die sich einstellt, wenn allzu viel in allzu kurzer Zeit vorgesehen ist und bewältigt werden soll.
Vieles davon lässt sich gewiss auch jetzt noch – ich spreche von der Mitte der Siebzigerjahre – gut bewältigen, gut gestalten, aber eben nicht zu vieles auf einmal. Um qualitativ sein eigenes Niveau halten zu können, käme es vielleicht darauf an, das Quantitative der Anforderungen zu reduzieren. Auch sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, das Qualitative, dasjenige, was wir inhaltlich und methodisch gut beherrschen, zu optimieren, anstatt allzu viele neue Aufgaben und Inhalte anzusteuern. Falls es uns nicht mehr so leichtfallen sollte wie bisher, uns zu konzentrieren und die Dinge auf den Punkt zu bringen, müssten wir ausdrücklich darauf achten, dies zu tun, zum Beispiel auch dadurch, dass wir einige gute Freunde dazu ermutigen, uns auf gelegentliche Weitschweifigkeiten oder auch Unklarheiten im Ausdruck hinzuweisen.
Deutlichere Dünnhäutigkeiten als bisher, Empfindlichkeiten und länger als sonst anhaltender Ärger über Enttäuschungen sollten wir als Anzeichen dafür nehmen, dass wir so manchen Anforderungen unter Menschen, vor allem auch in Teams und Institutionen und den dort üblichen Spannungen, nicht mehr so viel entgegenzusetzen haben wie früher. Wäre nicht ernstlich zu überlegen, ob wir nun bestimmte Aufgaben und Funktionen nicht Jüngeren überlassen und alles Entbehrliche delegieren sollten? Es ist an der Zeit, den Nachwachsenden etwas zuzutrauen, ihre Begabungen zu entdecken, zu fördern und sich daran zu freuen.
Es gilt, die Horizonterweiterung zuzulassen, die man in der Psychologie der Lebensphasen »Generativität« nennt, also die Mitverantwortung für die kommenden Generationen. Großzügige Generativität zuzulassen, auszuüben, sich darin zu erleben, ist eine der großen Chancen, ist ein Vorrecht des Alters.
Es gilt jetzt überhaupt – und eine aufkommende Sehnsucht danach mag es verstärken –, sich von einer Einstellung, die sich von der eigenen Leistungsfähigkeit und erbrachten Leistung herleitet, allmählich abzulösen, zugunsten einer Einstellung, die das einfache Sein, das Dasein und damit auch die persönlichen Beziehungen, die unser Leben bis hierher getragen haben, ins Zentrum unseres Selbstverständnisses rückt. Wie kostbar sind uns doch wieder aufs Neue die Menschen, die uns schon lange begleiten, Geschwister vielleicht, vor allem aber die Freundinnen und Freunde, die womöglich sogar unsere Ursprungsfamilie noch gekannt, die unsere Schul- und Studienzeit und vielleicht andere wichtige Lebensabschnitte begleitet haben. Wenn wir uns an unsere Wurzeln und unsere frühen und späteren Aufbrüche gemeinsam erinnern können, bedeutet das jetzt viel. Es gilt ja, unser Leben »einzuholen«, mit allem, was dazugehört, und das ist vor allem die Erinnerung.
Es kommt darauf an, uns selbst jetzt annehmen zu können, in dem, was wir mitgebracht haben, aber auch in dem, was wir geworden sind; in dem, was wir verwirklichen, aber auch in dem, was wir nicht verwirklichen konnten – von alledem, was in uns angelegt ist und von dem auch die frühen Freunde etwas wissen, mit denen wir es teilen können.
Einem Mann, Ende sechzig, der ein beratendes Gespräch über Berufsplanung mit mir führen wollte, kamen fast die Tränen, als ich ihm nahezubringen suchte, es käme jetzt doch vor allem darauf an, sich selbst und sein Leben akzeptieren zu lernen, wie es denn geworden war, auch ohne dauerhafte Berufsausübung, sich damit aussöhnen zu lernen. Er war aber eigentlich deshalb gekommen, weil er meinte, durch eine Therapie sein Leben, in dem er aus bestimmten Gründen nie zu einer befriedigenden Berufsausübung gekommen war, noch einmal von vorne beginnen zu können. Er haderte heftig mit dem, was ihm nicht gelungen war. Dabei würde es für ihn ja auch eine denkbar große Veränderung bedeuten, eine Umkehrung seiner ganzen bisherigen Lebenseinstellung, wenn er damit begönne, sein gelebtes Leben in allen Verlusten und Gewinnen anzunehmen. Nur dann könnte er die Hände freibekommen für das, was sich eben jetzt noch entwickeln wollte, zum Beispiel eine wissenschaftliche Studie, die er schon lange geplant und für die er viel relevantes Material gesammelt hatte.
Wer sein Leben ausgesöhnt beschließt, auch mit dem Fragment, das es in manchem geblieben ist, hat das Lebensspiel letztlich gewonnen. Archäologen und Kunsthistoriker wissen den Wert eines Fragments zu schätzen – und so könnten auch wir darin den guten Entwurf schätzen lernen, der unserem Leben abzuspüren ist, wenn wir es mit Liebe und Sachverstand betrachten, auch wo es unvollendet ist.
Dies zu verstehen, annehmbar zu machen, ist das Ziel aller Selbstreflexion im Alter, auch der Therapien mit alten Menschen, die man heute nicht mehr überflüssig findet, seit man weiß, dass sich der Mensch – und damit sein Gehirn – ein ganzes Leben lang entwickelt und lernfähig bleibt und dass sein Erinnerungsvermögen und sein in dieser Hinsicht schöpferisches Gedächtnis ihm hilft – zum Beispiel in einer »Lebensrückblick-Therapie«, wie Verena Kast5 sie ausgearbeitet hat –, aus den erinnerten Bruchstücken seines Lebens ein sinnvolles und befriedetes Ganzes zu machen.
Was sich nun entwickeln will, ist ein Leben im Jetzt von ganz neuer Qualität, das man nach einem Wort Meister Eckharts als ein »Leben ohne Warum« verstehen könnte – ein Leben, das vom Sein getragen ist, nicht länger vom »Haben« (Erich Fromm) und vor allem nicht länger von primär der Leistung, die man noch erbringen oder auch nicht mehr erbringen kann –, denn alles Haben und Habenwollen, alles Leisten und Leistenwollen ist von nun an der Vergänglichkeit preisgegeben. Zu leben um des Lebens willen, aus keinem anderen Grund, dies gilt es jetzt zu wagen, zu erlernen. Die kostbare Zeit ist kurz und ist es wert, dass man sie mit dem wirklich Lebens- und Erlebenswerten erfüllt.
Es ist Zeit für die Frage: Wer bin ich eigentlich dann, wenn ich »nichts« bin? Nichts mehr im Blick auf Leistung, Rolle und Geltung – sondern einfach ein Mensch, der lebt, der gelebt hat und der leben darf.
Aus dieser Perspektive, die für unser Menschenbild überhaupt, nicht nur im Alter, entscheidend ist, kann ich mein Leben sogar noch nach einer neuen Seite hin, die bei manchen im Getriebe der täglichen Arbeit zu kurz gekommen ist, intensivieren: nach innen hin, im Blick auf meine Individuation, im Blick darauf, ob ich »auf Unendliches bezogen«6 bin oder nicht – nach Jung die einzig wichtige Frage im Leben, der ich mich auch in der späten Phase noch einmal neu stellen kann.
C. G. Jung hat einen schönen Vergleich gebracht, wohl wissend, dass er hinkt – aber nicht mehr, als alle Vergleiche hinken, so meint er –, nämlich, dass die sinkende Sonne zwar an abstrahlender Hitze verliere, dafür aber umso intensiver von innen her zu leuchten beginne.7
Unausweichlich geht es beim Altern um einen allmählichen Rückzug von der Wirksamkeit im Außen. Dazu gehört vor allem der anfangs oft schmerzliche Rückzug aus dem Berufsleben, das doch den Tag strukturierte, das Selbstwirksamkeit und soziale Anerkennung ermöglichte. Dieser Rückzug kann jedoch aufgewogen werden durch einen bewussteren Einzug ins Innen, einer Ausleuchtung und – Deo concedente – einer Erleuchtung des inneren Menschen.
Als ich eben an einem Feld vorbeifuhr, frisch gemäht, goldgelb leuchtend in der Nachmittagssonne, da fragte ich eine Freundin, die neben mir im Auto saß: »Überkommt dich auch immer solche Wehmut, wenn du die abgeernteten Felder siehst?« Sie nickte. Auch ich kenne dieses Abschiedsgefühl schon lange, schon immer kam mir der Zeitpunkt der Sommersonnenwende verfrüht vor, und doch ist es mir, als vertiefe es sich jetzt, mit den späteren Jahren. Es vertieft und intensiviert sich, ist es doch wie ein Gleichnis für das Lebensgefühl am Übergang in die Siebzigerjahre; voll Tiefe und Intensität. Denn die Lebenszeit wird kürzer.
Es war van Gogh, der wie kein Zweiter die Farben des reifen Getreides zu malen verstand, voll glühender Expression, gepackt von dem Wissen um seine zu Ende gehende Lebensspanne. Seine letzten Bilder sind Erntebilder, wogendes Korn, darin der Schnitter, leidenschaftlich die Sichel schwingend, fast überfordert vom Reichtum dessen, was einzubringen ist, sein letztes Werk. Selbst noch die Korngarben scheinen zu tanzen.
Bei jedem Abschied vertieft sich das Gefühl dafür, was mir der andere Mensch doch bedeutet hat. Beziehungen, die jahrzehntelang ruhig verlaufen sind, manchmal gar nicht so stark aktualisiert, die zu den Jugendfreunden oder auch zu weit entfernt wohnenden und lebenden Geschwistern, sie flammen auf einmal auf, geben ihre tiefen Gefühlspotentiale frei – vor allem dann, wenn auf einmal Gefahr droht, eine schwere Krankheit, Krebs, ein Schlaganfall, und damit die reale Angst, diese lange gekannten und wirklich vertrauten Menschen zu verlieren. Eine wahre Herzensangst kann aufbrechen und damit die tiefe, vielleicht lebenslange Verbundenheit neu erfahrbar werden, die sich anfühlt, als wären diese vertrauten Menschen ein Stück von mir selber. Sie sind es auch, sind sie doch ein Teil meiner Lebensgeschichte und damit meiner auch an ihnen erwachsenen Identität.
Wie lief während der vielen Stunden der Bahnfahrt nach Leipzig zu meinem todkranken Bruder das ganze Leben mit ihm noch einmal ab, vor allem unsere gemeinsame Kindheit, die Kriegsjahre in einer von Luftangriffen bedrohten Stadt, wo wir im »verdunkelten« Zimmer mit Autos und Tieren spielten, die phosphoreszierende »Leuchtabzeichen« trugen – wie die Fußgänger auch, in der aus Luftschutzgründen abgedunkelten Stadt, in der es zu der Zeit keine Straßenbeleuchtung mehr gab. Die Innigkeit unserer Kindersprache, die wir beide verstanden – sein Pferd hieß »Gummi-Richard«, das meine »Silberhorn« –, unsere Rivalitäten und unsere gemeinsam gelungenen Streiche gegenüber den »Großen«, dies alles stieg aus der Vergessenheit auf, als wäre es Gegenwart. Dazu sein blonder Lockenschopf, seine lichthellen Augen, seine Stimme. Ich sehe uns vor mir, als wir, einander an den Händen haltend, damit wir uns nicht verlören, durch unsere brennende Heimatstadt liefen – ich neun, er sieben –, während neben uns ganze Hausfassaden niederstürzten … Mit der Erinnerung an den Bruder stieg auch die ganze damalige Zeitgeschichte wieder auf, mit der für mich, wie für viele meiner Generation, traumatische Ereignisse verbunden waren, wie zum Beispiel »Ausbombung«, also die Zerstörung unseres Elternhauses, oder die Evakuierung ins Kinderheim …
Der Bruder als Zeuge auch meiner Lebensgeschichte ist unersetzbar. Wie lebendig stiegen alle diese Erfahrungen während jener Zugfahrt zu ihm, in einem Leipziger Krankenhaus, wieder in mir auf – wie in uns allen in ungeahnter Lebendigkeit die ganze Geschichte mit den Menschen, die uns verloren zu gehen drohen, wieder aufsteigt. Dieser aufsteigende Erinnerungsstrom zeigt uns zugleich die drohende Gefahr an, diesen Menschen zu verlieren, zeigt uns seinen Wert für uns an, wie die mit ihm verbundenen Gefühle. Der aufschießende Erinnerungsfluss hat auch den Sinn, diesen Menschen, den wir zu verlieren drohen, innerlich unverlierbar für uns zu machen.
Hier erschließt sich bereits der innerseelische Raum, in den dieser Mensch einkehren kann und wird, auch wenn er uns in der Außenwelt genommen würde. Diesen innerseelischen Raum in uns zu erschließen, in den die Sterbenden und die Toten heimkehren werden, in dem sie nie mehr verloren gehen können, ist außerordentlich wichtig für uns alle in der Altersphase, in der sich solche Verluste mehren, in der uns unersetzliche Menschen einer nach dem anderen genommen werden, die Menschen, die unser Leben bis hierher geteilt haben und somit Teil unserer Identität geworden sind. Der innerseelische Raum, in den sie alle gehören, ist auch der Raum unserer Identität, die unverletzt bleiben kann und soll, auch wenn sich schwere Verluste an nahen Verwandten und Beziehungspartnern und -partnerinnen ereignen und mehren.
Eine Vorstellung hat sich mir selbst immer wieder als hilfreich erwiesen: dass zum Beispiel der Junge, der dieser Bruder damals während der Kriegszeit gewesen war, der Fünf- bis Siebenjährige, doch schon lange nicht mehr da war, sondern zuletzt in einer Gestalt als fast siebzigjähriger alter Mann existierte – und dass dennoch dieser Junge immer in meinem inneren Seelenraum lebt und bleibt, mit seinem Spielzeug-Lastwagen, den er jedes Mal mit unnachahmlichem Aufheulen losfahren ließ, ehe er mit meinem Pferd ein Gespräch in richtiger Menschensprache begann. So lernen wir schon während unseres ganzen Lebens die jeweilige Lebensgestalt eines lieben Menschen loszulassen, um uns auf eine neue einzustellen, während die bisherige innerlich aufgehoben wird, im Seelenraum, der unsere ganze Lebens- und Beziehungsgeschichte birgt.
Ein Traum, der sich auf meinen jüngsten Bruder bezog, der mir als der Bub, dem ich schon eine kleine Mutter sein konnte, sehr nahe gewesen war, zeigt diese Verwandlung an: »Ich suche den kleinen Jungen, meinen Bruder, verzweifelt im Umfeld unseres Fluss-Schwimmbades, wo er untergegangen, ertrunken zu sein scheint. Ich suche ihn unter den Bohlen und schwimmenden Kanistern, kann ihn jedoch nicht mehr finden und gebe schließlich mit großem Kummer auf. Da sehe ich ihn auf einmal am Ufer, in einem Café sitzen, erwachsen, in eine Lederjacke gekleidet, und im Gespräch mit einer jungen Frau, die offenbar sehr attraktiv auf ihn wirkt.«
Der Junge also, der mir zärtlich verbunden war, ist »ertrunken«, im Fluss der Zeit, im »Lebensfluss«, so sagt der Traum; doch lebt er als erwachsener Mann, der jetzt in die Beziehung zu einer Frau eintritt.
So wie sich die Gestalten der Geschwister, der Freunde und der Freundinnen, der Beziehungspartner und -partnerinnen im Laufe des Lebens verwandeln, was sich oft anfühlt, als seien sie gestorben, so wird es auch am Ende ihres Lebens sein, wo sie für immer in unseren inneren Seelenraum einkehren, wo sie sich übrigens auch noch weiter verwandeln können. Das sehen wir, wenn wir, oft viele Jahre nach ihrem Tod, von ihnen träumen und an den Träumen erkennen, dass sie seither oft noch zu einer neuen Entwicklung und einer neuen Reife gelangt sind.
Den Umgang auch mit den real sich wandelnden Gestalten der Freundinnen oder der Partner im Laufe eines Lebens kann man in diesem Sinne wie eine Vorübung dazu verstehen, sich schließlich auf ihre endgültige Verwandlung am Ende des Lebens einzustellen.
In unserem inneren Seelenraum kann es auch letztlich zu einer Integration ihrer verschiedenen Gestalten kommen, die wir im Laufe unseres Lebens kennengelernt haben, wobei dann das Ganze auch hier mehr sein wird als die Summe seiner Teile. Wir ahnen dann auf einmal die ganze Gestalt eines Menschen, seine Ganzheit, das, was von »Gott« oder vom »Leben selbst« mit ihm gemeint sein mochte.
Worauf ich hinaus will, ist die Frage, wie wir mit den immer häufigeren Abschieden und Verlusten im Lauf der späteren Jahre umgehen, wie wir sie überhaupt ertragen sollen. Meine vorläufige Antwort ist: Es gilt, den inneren Seelenraum zu erschließen, in den sie alle aufgenommen werden können, die lebenden Angehörigen und Freunde – wie auch die Verstorbenen. In diesem Seelenraum leben sie alle, zusammen mit ihrer und unserer ganzen Lebensgeschichte, zu der auch schwere Erfahrungen wie Krieg und Flucht gehören können. Auf ihrem Zusammenkommen und Zusammengehören in uns beruht unter anderem unsere Identität, die sich auch an der Begegnung mit ihnen entwickelt hat.
Die Intensität, die unsere Beziehungen gewinnen, wenn sie bedroht sind, wenn sie dem Abschied nahekommen, kann auch zu einer besonderen Chance werden, nämlich: die jeweilige Beziehung noch einmal ganz aufleben zu lassen, voll zu durchleben, auszukosten in ihrem besonderen Geschmack und ihrem besonderen Klang. So konnte ich ein Ehepaar durch die letzten Monate begleiten, die der an einem schon rezidivierenden Melanom erkrankte Mann noch zu durchleben hatte. Diese Ehe, der drei nun erwachsene Kinder entsprungen waren, eine Ehe, die durch dick und dünn bis zur Silberhochzeit von beiden durchgetragen worden war und die natürlich auch – durch viel Alltagsroutine und die berufliche Belastung beider Partner – Patina angesetzt hatte, vermochte zu ungeahnter Intensität aufzublühen, da die beiden unter dem Druck der Bedrohung ihre Gefühle füreinander neu und frisch entdeckten und sie sich – wie noch nie zuvor in ihrem Leben – auch mitzuteilen und auszutauschen vermochten. Dabei wurden nicht nur die Gefühle der Liebe, der Zärtlichkeit, der Dankbarkeit füreinander lebendig und aussprechbar, sondern es kam zu einem neuen Erleben von Kreativität – der erkrankte Partner zeichnete, malte und gestaltete bewegende Bilder bis zur letzten Woche vor seinem Tod –, kam zum Erleben einer neuen tiefen Emotionalität überhaupt, die das gemeinsame Erfahren von Natur, Kunst und Spiritualität einschloss und einen spontanen Austausch darüber ermöglichte. In der letzten Phase des großen Lebensspiels wurde das Spiel dieser Ehe, das manchmal unter dem Staub des Alltags schon grau geworden und zu ermatten drohte, souverän gewonnen. Die Ehefrau trägt die Erinnerung an ihren Mann und an diese Zeit bis heute als Schatz im Herzen, zusammen mit der bewegenden Bilderserie, die er in der letzten Phase seiner Krankheit gestaltet hatte.
So manche der Frauen, die ich mit begleitete, wuchs in den letzten Lebensmonaten ihres Mannes über sich hinaus, holte ihn nach Hause, nachdem er in der Klinik als »austherapiert« galt, mit Sonden im Magen und Atemgerät, und pflegte ihn an Leib und Seele bis zum letzten Moment. Doch weiß ich Ähnliches auch von Männern, die ihre sterbende Frau niemals im Stich ließen.
Intensivierung der Beziehung also während der letzten Lebensphase, das ist es, was die Beziehung gültig und kostbar macht, auch über den Tod des Partners, der Partnerin hinaus, wenn sie in den Seelenraum des Zurückbleibenden hineingenommen wird. Trauer sieht anders aus, wenn eine Beziehung »erfüllt« war.
Die letzte Lebenszeit ist deshalb aber auch die Zeit für Aufarbeitung und Versöhnung all dessen, was in einem Leben oder einer Beziehungsgeschichte liegen geblieben ist. Weil so manches wieder heraufsteigt aus unserer Lebensgeschichte, kann es wichtig werden, auch da genau hinzusehen, wo vielleicht etwas Unverarbeitetes zurückblieb. Für manche wird es erst jetzt möglich, sich mit den Eltern auf einer letzten Ebene auszusöhnen – ob sie nun noch am Leben sind oder nicht. Mancher sehr alte Vater, der vielleicht früher recht dominant und herrisch sein konnte, wird milder im Alter, manche herbe Mutter wärmer. Wie rührte mich mein Vater, als er nach Mutters Tod auf einmal Blumen vermisste und ins Haus brachte, die er früher doch oft eher als Staubfänger und sperrige Gegenstände in der Wohnung betrachtet hatte. So träumte auch ich nach seinem Tod einmal von ihm, dass er ausriefe: »Und Blumen sind so schön!« Dabei meinte er zugleich die warme Naturverbundenheit und den Schönheitssinn seiner Frau, mit der er sich im Alter auch lange nach ihrem Tod wieder neu verbunden fühlte.
Auch die Lebensgeschichte unserer Eltern erscheint auf einmal in ganz neuem Licht, wenn wir selber in dem Alter sind, in dem sie damals waren, in all seinen Bedingtheiten und den jeweiligen Umständen zeitgeschichtlicher und auch familiengeschichtlicher Art: Wir sehen die Grenzen, Begrenztheiten eines Lebens, eines Charakters, einer persönlichen und beruflichen Entwicklung, einer Beziehungsfähigkeit, bei unseren Eltern wie bei uns selbst.
Im Alter spätestens lernen wir uns selber anzunehmen in unserem So-Sein, So-Gewordensein; jetzt jedenfalls kommt es wirklich darauf an, sich als die zu erkennen und sein zu lassen, die man geworden ist. Es kommt darauf an, sich selbst gut zu sein, auch bei den spezifischen Schwächen, mit denen unsere Lebensgeschichte und unser Charakter uns »gesegnet« haben. Wie sagte es nicht Ingeborg Bachmann so treffend: »Den einen Fehler immer wieder machen, den Fehler, mit dem man ausgezeichnet ist.«
Wichtig bleibt dabei, um die eigenen Schwächen zu wissen, um unsere »Schattenseiten«, und sich auch auf sie ansprechen zu lassen. Mit den unaufhebbaren Schwächen von Menschen zu leben, die sich auch darauf ansprechen lassen, im Wissen, wie stark sie damit belasten können, ist allemal möglich und auch tröstlich.