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SYLVIA DAY

GELIEBTER

FREMDER

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Die Originalausgabe
THE STRANGER I MARRIED erschien

bei Kensington Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2013

Copyright © 2007 by Sylvia Day

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock/© Tatiana Belova

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-11883-9
V002

www.heyne.de

Dieses Buch widme ich in großer Dankbarkeit der göttlichen Verlegerin Kate Duffy. Es gibt viele Gründe, warum ich sie für fabelhaft halte – bedeutsame wie den, dass sie die Erste war, die meine Bücher verlegen wollte, und unwesentlichere (aber nicht weniger wichtige) wie den, dass sie nie mit ihrem Lob geizt.

Kate,

ich kann mich so glücklich schätzen, für dich zu schreiben.

Deine Begeisterung für unsere gemeinsame Arbeit ist ein Geschenk. Ich bin jeden Tag dankbar, weil ich dich direkt am Anfang meiner Karriere gefunden habe. Du hast mir so viel beigebracht und mir so viele Möglichkeiten gegeben, mich weiterzuentwickeln. Du ermöglichst mir, die Geschichten in meinem Herzen zu schreiben, und du hast mir gezeigt, wie wunderbar die Beziehung zwischen Verleger und Autor sein kann.

Tausend Dank dafür.

Sylvia

Prolog

London, 1815

»Willst du wirklich deinem besten Freund die Geliebte ausspannen?«

Gerard Faulkner, der sechste Marquess of Grayson, ließ die Betreffende nicht aus den Augen und lächelte. Wer ihn kannte, wusste, dass dieser Blick nichts Gutes verhieß. »Aber gewiss doch.«

»Ganz schön hinterhältig«, murmelte Bartley. »Das ist sogar unter deinem Niveau, Gray. Reicht es nicht, dass du Sinclair die Hörner aufgesetzt hast? Du weißt doch, wie viel sie Markham bedeutet. Er hat ihretwegen völlig den Kopf verloren.«

Gray betrachtete Lady Pelham mit Kennerblick. Es bestand keinerlei Zweifel daran, dass sie seinen Ansprüchen gerecht werden würde. Sie war so schön wie skandalumwittert, und selbst wenn er es versucht hätte, hätte er nicht mal eine passendere Frau erfinden können, um seine Mutter zu verärgern. Pel, wie sie liebevoll genannt wurde, war mittelgroß, aber betörend kurvenreich und wie dafür gemacht, einem Mann Vergnügen zu bereiten. Die rothaarige Witwe des Earls of Pelham war berauschend sinnlich und schamlos, zumindest munkelte man das. Mit ihrem früheren Geliebten Lord Pearson war es steil bergab gegangen, nachdem sie die Affäre beendet hatte.

Gerard konnte sich gut vorstellen, wie schwer einen Mann der Entzug ihrer Gunst treffen konnte. Im strahlenden Licht der riesigen Kerzenleuchter funkelte Isabel Pelham wie ein kostbares, teures Juwel, das jeden Shilling wert war.

Er sah, wie sie Markham anblickte und ihre Lippen zu einem breiten Lächeln verzog; Lippen, die nach den üblichen ästhetischen Maßstäben zu voll waren, doch gerade recht dazu, das Glied eines Mannes zu umschließen. Im ganzen Saal folgten ihr die begehrlichen Blicke der Männer, die auf den Tag hofften, da sie ihre bernsteinfarbenen Augen auf einen von ihnen richten und ihn zu ihrem nächsten Geliebten auserwählen würde. Gerard fand ihre Schmachterei erbärmlich. Die Frau war höchst wählerisch und behielt ihre Liebhaber für längere Zeit. Markham hatte sie mittlerweile fast zwei Jahre an der Angel und zeigte keinerlei Anzeichen nachlassenden Interesses.

Aber das reichte nicht, um ihn zu heiraten.

Bei den wenigen Gelegenheiten, da der Viscount um ihre Hand angehalten hatte, war ihm erklärt worden, sie beabsichtige nicht, ein zweites Mal den Bund der Ehe einzugehen. Andererseits hegte Gray keinerlei Zweifel daran, sie diesbezüglich umstimmen zu können.

»Beruhige dich, Bartley«, murmelte er. »Das wird schon alles gut gehen. Vertrau mir.«

»Niemand kann dir vertrauen.«

»Du kannst mir zumindest insofern trauen, als ich dir fünfhundert Pfund gebe, wenn du Markham von Pel loseist und mit ins Spielzimmer nimmst.«

»Tja dann.« Bartley straffte die Schultern und zupfte an seiner Weste, doch verbarg weder das eine noch das andere seinen stattlichen Bauch. »Dann stehe ich zu Diensten.«

Grinsend deutete Gerard eine Verneigung gegenüber seinem gierigen Begleiter an, der sich schnurstracks nach rechts wandte, während er selbst nach links strebte. Gemächlich schlenderte er am Rand des Ballsaals umher und bahnte sich langsam einen Weg zum Objekt seiner Begierde. Er kam dabei nur langsam voran, denn immer wieder traten ihm Matronen mit ihren Debütantinnen in den Weg. Andere derart heimgesuchte Junggesellen wären wohl schnell verärgert gewesen, nicht so hingegen Gerard, der als überaus charmant, aber gleichzeitig als gefährlich galt. So schäkerte er gewagt mit den Damen, verteilte freigebig Handküsse und ließ jedes weibliche Wesen mit der Gewissheit zurück, dass er bald offiziell wegen eines Heiratsantrags vorsprechen würde.

Da er hier und da einen Blick zu Markham warf, bekam er genau mit, als Bartley ihn fortlockte, worauf er zielstrebig und mit großen Schritten den Saal durchquerte und Pels behandschuhte Hand an seine Lippen führte, bevor sie vom üblichen Schwarm ihrer Bewunderer eingekreist werden konnte.

Als er den Kopf hob, bemerkte er ihren belustigten Blick. »Ach, Lord Grayson. Von einem derart direkten Angriff kann eine Frau sich nur geschmeichelt fühlen.«

»Liebste Isabel, von Ihrer Schönheit bin ich angezogen wie die Motten vom Licht.« Er bot ihr seinen Arm und lotste sie fort zu einem Spaziergang um die Tanzfläche.

»Sie wollten wohl vor den ehrgeizigen Müttern flüchten?«, fragte sie mit ihrer rauchigen Stimme. »Ich fürchte jedoch, in meiner Begleitung werden Sie nicht weniger interessant erscheinen. Sie sind einfach unaussprechlich verlockend und wären schlicht tödlich für eines dieser armen Mädchen.«

Gerard atmete zutiefst zufrieden ein und nahm äußerst bewusst ihren Duft wahr, der an üppige exotische Blumen erinnerte. Er wusste, sie würden tadellos zusammenpassen. In den Jahren ihrer Beziehung mit Markham hatte er sie gut kennengelernt und immer sehr gemocht. »Dem stimme ich zu. Keine von diesen Frauen kann mir genügen.«

Pel zuckte leicht mit ihren nackten Schultern. Ihre blasse Haut bildete einen wunderschönen Kontrast zu dem dunkelblauen Kleid und der Halskette aus Saphiren. »Sie sind noch jung, Grayson. Wenn Sie erst mal in mein Alter kommen, haben Sie sich vielleicht genügend die Hörner abgestoßen, um Ihrer Braut nicht mit Ihrem Appetit zuzusetzen.«

»Oder ich heirate eine reife Frau und muss meine Gewohnheiten nicht ändern.«

Pel hob ihre perfekt geformten Augenbrauen und sagte: »Sie verfolgen doch eine Absicht, oder nicht, Mylord?«

»Ich begehre Sie, Pel«, sagte er leise. »Rasend. Und eine Affäre wird mir nicht reichen. Eine Ehe hingegen schon.«

Sie stieß ein leises kehliges Lachen aus. »Oh, Gray. Ihr Humor hat es mir angetan, wissen Sie das? Man findet nur selten Männer, die ihre Unmoral so köstlich ungeniert zeigen.«

»Und beklagenswerterweise findet man nur selten ein so schockierend aufregendes Wesen wie Sie, meine liebe Isabel. Ich fürchte, Sie sind einzigartig und daher für meine Bedürfnisse unersetzbar.«

Sie warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Ich dachte, Sie hielten sich diese hübsche Schauspielerin, die ständig ihren Text vergisst.«

Gerard lächelte. »Das ist wohl beides wahr.« Zum Schauspielern hatte Anne nicht das geringste Talent, wohl aber zu anderen, greifbareren Tätigkeiten.

»Und ehrlich gesagt sind Sie zu jung für mich, Gray. Sie wissen doch, ich bin sechsundzwanzig. Während Sie …« Sie studierte ihn mit zu Schlitzen verengten Augen. » … Sie wirklich sehr verlockend sind, aber doch höchstens –«

»Ich bin zweiundzwanzig und könnte es durchaus mit Ihnen aufnehmen, Pel, täuschen Sie sich da nicht. Doch Sie haben mich missverstanden. Eine Geliebte habe ich schon. Zwei, um genau zu sein, und Sie haben Markham –«

»Ja, und ich bin noch nicht mit ihm fertig.«

»Dagegen habe ich auch nichts.«

»Danke für Ihre Billigung«, bemerkte sie trocken, und dann stieß sie wieder ein Lachen aus, einen Laut, den Gray immer genossen hatte. »Sie sind doch verrückt.«

»Nach Ihnen, Pel, in der Tat. Und zwar von Anfang an.«

»Aber Sie wollen nicht mit mir ins Bett.«

Er sah sie mit höchster männlicher Wertschätzung an und betrachtete ihren üppigen Busen über ihrer tief ausgeschnittenen Korsage. »Das habe ich nicht gesagt. Sie sind eine schöne Frau, und ich bin ein der Liebe zugewandter Mann. Da wir füreinander bestimmt sind, ist nur noch fraglich, wann wir miteinander ins Bett gehen, oder? Wir haben ein ganzes Leben lang Zeit, um diesen Sprung zu wagen, aber wenn wir uns dazu entscheiden, wird es zu unserem beiderseitigen Vergnügen sein.«

»Haben Sie getrunken?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.

»Nein, Isabel.«

Pel blieb stehen und zwang ihn, ebenfalls innezuhalten. Sie starrte ihn an und schüttelte einen Moment später den Kopf. »Wenn das Ihr Ernst ist –«

»Da bist du ja!«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Beim Klang von Markhams Stimme unterdrückte Gerard einen Fluch, doch dann lächelte er seinen Freund unschuldig an. Auch Isabel bewahrte Haltung. Sie war eben wahrhaft vollkommen.

»Ich schulde dir meinen Dank, dass du dich um meine Liebste gekümmert hast«, sagte Markham gutmütig und strahlte beim Anblick seiner Mätresse. »Ich war kurzfristig von etwas abgelenkt, das die Mühe nicht wert war.«

Gerard ließ Pels Hand mit einer eleganten Geste los und sagte: »Wozu sind Freunde denn da?«

»Wo warst du?«, knurrte Gerard ein paar Stunden später, als eine Gestalt mit Kapuzenumhang in sein Schlafzimmer trat. Er blieb so abrupt stehen, dass sein Morgenmantel aus schwarzer Seide um seine nackten Beine schwang.

»Du weißt, dass ich komme, wann immer ich kann, Gray.«

Die Kapuze wurde zurückgeworfen und das geliebte Gesicht, umrahmt von goldblondem Haar, enthüllt. Mit zwei Schritten durchquerte er das Zimmer und küsste sie auf den Mund. »Aber das ist nicht oft genug, Em«, hauchte er. »Nicht mal annähernd.«

»Ich kann dir zuliebe nicht alles stehen und liegen lassen. Schließlich bin ich eine verheiratete Frau.«

»Das musst du mir nicht sagen«, grollte er. »Wie könnte ich das vergessen?«

Er barg sein Gesicht in ihrer Schulterbeuge und atmete ihren Duft ein. Sie war so weich und unschuldig, so süß. »Du hast mir gefehlt.«

Emily, mittlerweile Lady Sinclair, lachte atemlos auf. »Lügner«, sagte sie und verzog verdrießlich ihre von seinen Küssen geschwollenen Lippen. »Seit unserer letzten Begegnung vor zwei Wochen bist du ziemlich häufig mit dieser Schauspielerin gesehen worden.«

»Aber du weißt doch, dass sie mir nichts bedeutet. Ich liebe nur dich.«

Sie hätte es nicht verstanden, wenn er ihr sein Bedürfnis nach wilden, zügellosen Liebesspielen erklärt hätte, genauso wenig wie sie Sinclairs Bedürfnisse nachvollziehen konnte. Sie war zu zart gebaut und zu empfindsam, um so etwas zu genießen. Aus reinem Respekt ihr gegenüber hatte er dieses Vergnügen woanders gesucht.

»Ach, Gray.« Seufzend fuhr sie ihm durch die Haare an seinem Nacken. »Manchmal denke ich, du glaubtest das wirklich. Doch vielleicht liebst du mich ja einfach so sehr, wie ein Mann wie du dazu in der Lage ist.«

»Zweifle niemals daran«, sagte er voller Inbrunst. »Ich liebe dich über alles, Em. Und das war schon immer so.« Er streifte ihr die Kapuze ab, warf diese beiseite und trug sie zum Bett.

Zwar entkleidete er sie geschickt und wortlos, aber innerlich schäumte er. Emily hätte seine Braut sein sollen, als er von seiner Italienreise zurückkehrte, fand er seine Jugendliebe allerdings verheiratet vor. Sie behauptete, es habe ihr das Herz zerbrochen, als er abreiste, und zudem seien ihr Gerüchte über seine Liebschaften zu Ohren gekommen. Sie erinnerte ihn daran, dass er ihr nie geschrieben hatte; daher habe sie geglaubt, er habe sie vergessen.

Gerard wusste, dass seine Mutter Zweifel bei ihr gesät und dann täglich genährt hatte. In den Augen der Marchioness war Emily unter ihrem Stand. Sie wollte, dass er standesgemäß heiratete, doch diese Pläne würde er durchkreuzen und es ihr damit heimzahlen.

Wenn Em nur ein bisschen länger an ihn geglaubt hätte, wären sie jetzt verheiratet. Dies hätte ihr Ehebett sein können, das sie nicht vor dem Morgengrauen wieder verlassen musste.

Wie immer stockte ihm der Atem, als er sie nackt vor sich sah. Ihre Haut schimmerte elfenbeinfarben im Kerzenlicht. Er liebte sie schon, seit er denken konnte. Sie war so wunderschön. Allerdings ganz anders als Pel. Pel war auf eine körperliche Art sinnlich. Ems Schönheit war anders, zarter und zerbrechlicher. Die eine war eine Rose, die andere ein Gänseblümchen.

Gerard mochte Gänseblümchen sehr.

Er umfasste mit seiner großen Hand ihre nackte Brust. »Du wirst reifer, Em«, sagte er, als er bemerkte, dass sie voller geworden war.

Sie legte ihre Hand auf seine. »Gerard«, sagte sie mit ihrer hellen Stimme.

Er sah sie an, und als er die Liebe in ihrem Blick bemerkte, ging ihm das Herz auf. »Ja, meine Einzige?«

»Ich bin schwanger.«

Gerard holte keuchend Luft. Er war vorsichtig gewesen und hatte Pariser benutzt. »Lieber Gott, Em!«

Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Sag mir, dass du glücklich bist. Bitte.«

»Ich …« Er schluckte hart. »Natürlich, Liebes.« Aber er musste die naheliegende Frage stellen. »Was ist mit Sinclair?«

Emily lächelte traurig. »Ich glaube, niemand wird daran zweifeln, dass das Kind von dir ist, doch er wird die Vaterschaft anerkennen. Darauf hat er mir sein Wort gegeben. Ironie des Schicksals: Seine letzte Mätresse hat er entlassen, weil sie schwanger war.«

Vor lauter Schock zog sich ihm der Magen zusammen. Er legte sie aufs Bett. Sie wirkte engelhaft zart vor dem blutroten Samt seiner Tagesdecke. Gerard zog seinen Morgenmantel aus und legte sich auf sie. »Lauf mit mir weg.«

Er senkte den Kopf, drückte seinen Mund auf ihren und stöhnte auf, als er ihre süßen Lippen schmeckte. Wenn die Dinge nur anders lägen! Wenn sie nur gewartet hätte!

»Lauf mit mir weg, Emily«, bettelte er noch einmal. »Wir könnten glücklich zusammen sein.«

Tränen rannen ihr über die Schläfen. »Gray, mein Geliebter.« Sie nahm sein Gesicht in ihre winzigen Hände. »Du bist so ein leidenschaftlicher Träumer.«

Er schmiegte sich eng an ihre betörend riechenden Brüste und drängte seine Hüften gegen die Matratze, um seine Erektion zu dämpfen. Mit eisernem Willen beherrschte er seine niedrigeren Instinkte. »Du kannst nicht leugnen, dass du mich willst.«

»Das ist nur zu wahr«, keuchte sie und strich ihm über den Rücken. »Wenn ich nur stärker gewesen wäre, hätte unser Leben ganz anders ausgesehen. Aber Sinclair … der Gute. Ich hab ihm schon Schande genug gemacht.«

Gerard drückte seine Lippen fest auf ihren straffen Bauch und dachte an sein Kind, das sich dort eingenistet hatte. Vor Panik fing sein Herz an zu rasen. »Wenn du mich nicht willst, was wirst du dann tun?«

»Ich reise morgen nach Northumberland.«

»Nach Northumberland?« Verblüfft hob er den Kopf. »Verdammt, warum denn so weit weg?«

»Weil Sinclair es so will.« Sie schob ihre Hände unter seine Arme, zog ihn über sich und empfing ihn mit weit gespreizten Beinen. »Wie könnte ich ihm das jetzt verweigern?«

Mit dem Gefühl, sie entschwinde bereits, erhob Gerard sich über sie, ließ seinen Schwanz langsam in sie gleiten und stöhnte lustvoll auf, als sie ihn heiß und fest umschloss. »Aber du kommst doch zurück«, sagte er heiser.

Emily kniff die Augen zusammen und warf vor Lust ihren goldblonden Schopf hin und her. »Gott, ja, ich komme zurück.« Ihr Inneres erzitterte an seinem Schaft. »Ohne dich kann ich nicht leben. Ohne dies.«

Gerard drückte sie an sich und begann, sanft in sie hineinzustoßen. Dabei bewegte er sich genau so, wie es ihr am meisten gefiel, und hielt seine eigenen Bedürfnisse zurück. »Ich liebe dich, Em.«

»Mein Geliebter«, keuchte sie. Und dann kam sie in seinen Armen.

Plink.

Plink.

Stöhnend wachte Isabel auf und erkannte am sanften Rosaton des Himmels und ihrer tiefen Müdigkeit, dass es erst früher Morgen war. Einen Augenblick lag sie benommen da und versuchte zu ergründen, was sie geweckt hatte.

Plink.

Sie fuhr sich mit den Händen über die Augen, setzte sich auf und griff nach dem Negligé, um ihre Blöße zu bedecken. Ein Blick auf die große Uhr auf dem Kaminsims zeigte ihr, dass Markham erst zwei Stunden zuvor gegangen war. Eigentlich hatte sie bis zum späten Nachmittag schlafen wollen. Das beabsichtigte sie auch zu tun, wenn sie erst mal den Störenfried losgeworden war. Wer auch immer das sein mochte.

Erschauernd ging sie zum Fenster, wo winzige Kieselsteine entnervend laut gegen das Glas schlugen. Isabel schob das Fenster hoch und blickte in den rückwärtigen Garten. Sie seufzte. »Wenn ich schon gestört werden muss«, rief sie, »dann wohl am besten durch einen so erfreulichen Anblick.«

Der Marquess of Grayson sah grinsend zu ihr hoch. Sein schimmerndes braunes Haar war zerzaust und seine blauen Augen rot gerändert. Sein weit offen stehendes Hemd enthüllte bronzefarbene Haut und ein paar dunkle Brusthaare. Offenbar trug er nicht mal eine Weste. Unwillkürlich lächelte sie zurück. Gray erinnerte sie so sehr an Pelham bei ihrer ersten Begegnung vor neun Jahren. Das waren glückliche Zeiten gewesen, so kurz sie auch währten.

»Oh Romeo, Romeo«, deklamierte sie und setzte sich auf die Fensterbank. »Weswegen habt Ihr –«

»Ach, bitte, Pel«, stöhnte er und unterbrach sie mit seinem dunklen Lachen. »Lassen Sie mich herein. Es ist kalt hier draußen.«

»Gray.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihnen die Tür öffne, dann ist es bis zum Abendessen in ganz London bekannt. Verschwinden Sie, bevor man Sie noch sieht.«

Stur verschränkte er die Arme, sodass seine schwarze Jacke sich über seinen muskulösen Armen und den breiten Schultern spannte. Grayson war so jung, dass er nicht eine einzige Falte hatte. In vielerlei Hinsicht war er noch ein Junge. Als sie mit siebzehn ihr Herz an Pelham verlor, war er im selben Alter wie Gray gewesen.

»Ich werde nicht verschwinden, Isabel. Also können Sie mich auch hereinbitten, ehe ich mich zum Narren mache.«

Sie sah am sturen Zug um seinen Kiefer, dass er es ernst meinte. Zumindest so ernst, wie es einem Mann wie ihm möglich war.

»Dann kommen Sie zur Vordertür«, gab sie nach. »Dort wird man Sie einlassen.«

Sie erhob sich von der Fensterbank und nahm ihren Morgenmantel aus weißem Satin. Danach ging sie in ihr Boudoir und öffnete dort die Vorhänge, um das fahle Licht der Morgenröte einzulassen. Dies war ihr Lieblingszimmer: ganz in Elfenbein und Gold gehalten, mit goldverzierten Sesseln, einer Chaiselongue und Vorhängen mit Quasten. Doch nicht die sanften Farben gefielen ihr am meisten, sondern der einzige leuchtende Farbfleck im ganzen Raum: das riesige Porträt von Pelham an der hinteren Wand.

Jeden Tag blickte sie zu ihm hinauf und ließ es zu, dass Schmerz und Abscheu wieder in ihr hochkamen. Natürlich konnte der Earl es nicht spüren, sein verführerischer Mund verzog sich zu dem Lächeln, mit dem er ihr Herz gewonnen hatte. Sie hatte ihn so geliebt und angebetet, wie es nur einem ganz jungen Mädchen möglich ist. Pelham hatte ihr alles bedeutet – bis zu dem Abend, als sie bei Lady Warrens Musiksoirée gesessen und hinter ihr zwei Frauen über die Virilität ihres Mannes hatte sprechen hören.

Bei der Erinnerung biss sie die Zähne zusammen und spürte wieder all ihren Groll in sich hochkochen. Fast fünf Jahre waren vergangen, seit Pelham bei einem Duell wegen einer Mätresse seine gerechte Strafe bekommen hatte, doch immer noch empfand sie den brennenden Schmerz seines Verrats und ihrer Demütigung.

Es kratzte leise an der Tür. Als Isabel sich meldete, öffnete sie sich und zeigte ihren Butler, der sich hastig angezogen hatte und stirnrunzelnd Contenance zu wahren versuchte.

»Mylady, der Marquess of Grayson bittet darum, Sie kurz sprechen zu dürfen.« Er räusperte sich. »Er wartet am Lieferanteneingang.«

Isabel unterdrückte ein Lächeln, und ihre düstere Stimmung schwand bei der Vorstellung, wie Grayson mit seiner üblichen Arroganz halb angekleidet am Hintereingang herumlungerte. »Einen Moment habe ich Zeit.«

Nur ein leises Zucken einer ergrauten Augenbraue deutete auf so etwas wie Überraschung hin.

Als der Butler Gray holen ging, zündete sie die Kerzen im Raum an. Gott, war sie müde! In Erinnerung an ihr seltsames Gespräch am Abend fragte sie sich, ob er vielleicht Hilfe brauchte. Möglicherweise war er etwas verstört.

Zwar war ihr Umgang stets freundschaftlich gewesen, doch mehr auch nicht. Isabel war schon immer gut mit Männern ausgekommen. Schließlich mochte sie Männer auch sehr. Aber zwischen Lord Grayson und ihr war wegen ihrer Affäre mit seinem besten Freund Markham immer eine gewisse respektvolle Distanz gewahrt worden. Allerdings hatte sie, als der gut aussehende Viscount vor wenigen Stunden ein drittes Mal um ihre Hand angehalten hatte, das Techtelmechtel beendet.

Jedenfalls hatte sie trotz Grays Fähigkeit, mit seiner ungewöhnlichen Anziehungskraft vorübergehend ihren Verstand außer Kraft zu setzen, keinerlei weiter reichendes Interesse an ihm. Er war Pelham zu ähnlich: zu egozentrisch und selbstsüchtig, um seine eigenen Bedürfnisse zugunsten eines anderen zurückzustellen.

Sie erschrak, als die Tür hinter ihr aufflog, wirbelte herum und sah sich direkt gegenüber seiner kräftigen, über einen Meter achtzig großen Gestalt. Er packte sie an der Taille, schwenkte sie herum und lachte laut. Sein Lachen klang, als wären ihm Sorgen vollkommen fremd.

»Gray«, protestierte sie und schob ihn an den Schultern zurück, »setzen Sie mich ab!«

»Liebe Pel«, rief er mit leuchtenden Augen, »ich habe heute Morgen die wundersamsten Neuigkeiten erfahren. Ich werde Vater!«

Isabel blinzelte. Vom Schlafmangel und Herumwirbeln wurde ihr langsam schwindelig.

»Außer Ihnen ist mir kein Mensch eingefallen, der sich mit mir freuen könnte. Alle anderen werden nur entsetzt sein. Bitte lächeln Sie, Pel. Gratulieren Sie mir!«

»Das werde ich, wenn Sie mich absetzen.«

Der Marquess setzte sie ab, trat einen Schritt zurück und schaute sie erwartungsvoll an.

Sie lachte, als sie seine ungeduldige Miene sah. »Herzlichen Glückwunsch, Mylord. Dürfte ich den Namen der Glücklichen erfahren, die Ihre Frau werden wird?«

Die Freude in seinen blauen Augen schwand, doch sein charmantes Lächeln blieb. »Nun, das sind immer noch Sie, Isabel.«

Sie starrte zu ihm hoch, um zu ergründen, was er meinte, aber vergeblich. Also wies sie zu einem nahe stehenden Sessel und nahm selbst Platz.

»Sie sehen entzückend aus mit diesem zerzausten Haar«, bemerkte Gray versonnen. »Ich verstehe, warum Ihre Liebhaber den Verlust dieses Anblicks so stark betrauern.«

»Lord Grayson!« Isabel fuhr mit der Hand über ihre langen Haare. Die gegenwärtige Mode sah kurze Locken vor, aber ihr waren lange Haare lieber, genau wie ihren Liebhabern. »Bitte, ich muss Sie bitten, mir endlich den Grund Ihres Besuchs zu nennen. Es war eine lange Nacht, und ich bin müde.«

»Für mich war es auch eine lange Nacht, und ich muss noch schlafen. Aber –«

»Dürfte ich dann vorschlagen, Sie schlafen noch einmal über Ihre verrückte Idee? Ich denke, dann werden Sie anders darüber denken.«

»Nein, das werde ich nicht«, beharrte er und legte einen Arm über die Rückenlehne des Sessels. So schlicht diese Geste auch war, so sinnlich wirkte sie doch. »Ich habe alles gründlich durchdacht. Wir sind aus vielerlei Gründen wie füreinander geschaffen.«

Sie schnaubte. »Gray, Sie haben ja keine Ahnung, wie falsch Sie liegen.«

»Lassen Sie mich ausreden, Pel. Ich brauche eine Ehefrau.«

»Aber ich brauche keinen Ehemann.«

»Sind Sie sich da sicher?«, fragt er und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das glaube ich aber doch.«

Isabel verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Er mochte verrückt sein, war aber definitiv auch interessant. »Ach ja?«

»Denken Sie doch mal nach. Ich weiß, Sie mögen Ihre Liebhaber wirklich gern, aber irgendwann müssen Sie sie wegschicken, und zwar nicht aus Langeweile. Daran liegt es nicht. Nein, Sie müssen sie freigeben, weil sie sich alle in Sie verlieben und dann mehr wollen. Da Sie sich weigern, mit verheirateten Männern ins Bett zu gehen, sind Ihre Liebhaber alle frei und wollen Sie heiraten.« Er verstummte kurz. »Aber wenn Sie bereits verheiratet wären …« Gray ließ den Satz unbeendet.

Sie starrte ihn an. Dann blinzelte sie. »Was zum Teufel haben Sie bei einer solchen Ehe zu gewinnen?«

»Viel, Pel. Sehr viel. Ich wäre von diesen Debütantinnen erlöst, die nur an Heirat denken, meine Mätressen würden verstehen, dass ich Ihnen nicht mehr geben kann, meine Mutter –« Er erschauerte. »Meine Mutter würde mir nicht mehr geeignete Partien vorschlagen, und ich hätte eine Frau, die nicht nur angenehm und charmant ist, sondern auch keine dummen Ideen über Liebe, Treue und Verpflichtungen im Kopf hat.«

Aus einem seltsamen und unerklärlichen Grund verspürte Isabel plötzlich Zuneigung zu Gray. Im Gegensatz zu Pelham setzte er einem armen Kind keine Flausen über unsterbliche Liebe und Hingabe in den Kopf. Er schloss keinen Ehehandel mit einem Mädchen, das ihn vielleicht lieben lernte und dann wegen seiner Untreue verletzt wurde. Und er freute sich, einen Bastard zu haben, was darauf schließen ließ, dass er beabsichtigte, für ihn zu sorgen.

»Was ist mit Kindern, Gray? Ich bin nicht mehr jung, und Sie brauchen doch einen Erben.«

Da zeigte er sein berühmtes Herzensbrecherlächeln. »Keine Sorge, Isabel. Ich habe zwei jüngere Brüder, Michael und Spencer, von denen der eine bereits verheiratet ist. Da sie Kinder haben werden, können wir diese Aufgabe vernachlässigen.«

Isabel stieß ein halb ersticktes Lachen aus. Allein dass sie darüber nachdachte … war lächerlich!

Doch sie hatte Markham weggeschickt, so sehr sie es auch bedauerte. Er war verrückt nach ihr, der Narr, und sie hatte ihn selbstsüchtig fast zwei Jahre lang an sie gebunden. Es war Zeit für ihn, eine Frau zu finden, die seiner würdig war. Eine, die ihn so liebte, wie sie es nicht konnte. Ihre Fähigkeit, dieses komplizierte Gefühl zu empfinden, war eines Morgens mit Pelham auf einem Feld gestorben.

Isabel blickte wieder zum Porträt des Earls und bedauerte zutiefst, Markham Schmerz zugefügt zu haben. Er war ein guter Mann, ein zärtlicher Liebhaber und ein großartiger Freund. Außerdem war er der dritte Mensch, dem sie durch ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe und sexueller Erfüllung das Herz gebrochen hatte.

Sie dachte oft an Lord Pearson und seine Verzweiflung, nachdem sie ihn fortgeschickt hatte. Sie war es leid, die Gefühle anderer zu verletzen, und warf es sich auch oft vor, wusste aber, dass sie so weitermachen würde. Das Bedürfnis des Menschen nach Nähe forderte sein Recht.

Es stimmte, was Gray sagte. Als verheiratete Frau konnte sie vielleicht eine echte körperliche Freundschaft mit einem Mann genießen, ohne ihm falsche Hoffnungen zu machen. Und sie würde sich gewiss niemals Sorgen machen müssen, dass Gray sich in sie verliebte. Zwar schützte er unsterbliche Liebe zu einer Unbekannten vor, hatte aber ständig nebenbei Affären. Wie Pelham war er unfähig, jemanden tief und beständig zu lieben.

Doch konnte sie noch untreu sein, nachdem sie selbst erfahren hatte, wie viel Schmerz es verursachen konnte?

Der Marquess neigte sich vor und nahm ihre Hände. »Sagen Sie Ja, Pel.« Er sah sie mit seinen strahlend blauen Augen flehentlich an, und sie wusste, dass ihre Affären ihm gleichgültig sein würden. Schließlich würde er zu sehr mit seinen eigenen beschäftigt sein. Es war ein Handel, den er ihr vorschlug, mehr nicht.

Vielleicht war sie zu erschöpft, um richtig nachzudenken, aber schon zwei Stunden später fand sich Isabel in Graysons Reisekutsche auf dem Weg nach Schottland wieder.

Sechs Monate später …

»Isabel, hättest du einen Augenblick Zeit für mich?«

Gerard sah zum leeren Türrahmen, bis die kurvenreiche Gestalt seiner Frau, die gerade vorbeigegangen war, wieder darin auftauchte.

»Ja, Gray?« Isabel betrat mit fragenden Augen sein Arbeitszimmer.

»Hast du Freitagabend Zeit?«

Sie bedachte ihn mit einem gespielt strafenden Blick. »Du weißt, dass ich dir immer zur Verfügung stehe.«

»Danke, Rotfuchs.« Er lehnte sich lächelnd auf seinem Stuhl zurück. »Du bist zu gut zu mir.«

Isabel ging zum Sofa und nahm Platz. »Wo werden wir erwartet?«

»Bei den Middletons zum Dinner. Ich war eigentlich bereit, dort mit Lord Rupert zu sprechen, aber heute informierte mich Bentley, dass die Grimshaws ebenfalls eingeladen sind.«

»Oh.« Isabel zog die Nase kraus. »Wie hinterhältig, deine Inamorata und ihren Mann einzuladen, wenn du ebenfalls Gast bist.«

»So ist es«, bestätigte Gerard, stand auf, umrundete seinen Schreibtisch und setzte sich neben sie.

»Dieses Lächeln auf deinem Gesicht ist dermaßen unanständig, Gray, dass du es wirklich für dich behalten solltest.«

»Ich kann’s nicht unterdrücken.« Er legte ihr den Arm um die Schultern, zog sie an sich und roch ihren gleichzeitig vertrauten und erregenden Duft nach exotischen Blumen. »Ich bin der glücklichste Mann auf Erden und klug genug, das auch zu wissen. Weißt du, wie viele Männer wünschten, eine Frau wie dich zu haben?«

Sie lachte. »Du bist und bleibst herrlich offen und schamlos.«

»Und dir gefällt es. Unsere Ehe hat dir ein gewisses Ansehen verschafft.«

»Du meinst einen gewissen Ruf«, entgegnete sie trocken. »Die ältere Frau, die sich nach der Ausdauer eines jüngeren Mannes verzehrt.«

»Nach mir verzehrt.« Er spielte mit einer losen Strähne ihres feuerroten Haars. »Die Vorstellung gefällt mir.«

Als es leise klopfte, blickten beide über die Rückenlehne des Sofas zu dem Lakai, der an der Tür wartete.

»Ja?«, fragte Gerard, leicht verärgert, bei einem der seltenen stillen Augenblicke mit seiner Frau gestört worden zu sein.

Sie war so oft mit Teegesellschaften und anderem typisch weiblichem Zeitvertreib beschäftigt, dass er nur selten die Gelegenheit hatte, ihre amüsante Gesellschaft zu genießen. Zugegeben, Pel war berüchtigt, aber auch ungeheuer charmant und die Marchioness of Grayson. Mochten die Leute auch Spekulationen über sie anstellen, doch würden sie ihr niemals die Tür weisen.

»Ein Brief per Kurier, Mylord.«

Gerard streckte ungeduldig die Hand aus. Kaum sah er die vertraute Schrift auf dem Brief, verzog er das Gesicht.

»Himmel, welch eine Grimasse«, bemerkte Isabel. »Da lasse ich dich lieber allein.«

»Nein.« Er verstärkte seinen Griff um ihre Schulter. »Er ist von meiner Mutter, und wenn ich ihn gelesen habe, kann mich niemand so gut aus meinem Stimmungstief holen wie du.«

»Wie du willst. Dann bleibe ich bei dir. Ich habe noch ein paar Stunden Zeit.«

Bei dem Gedanken, noch Stunden mit ihr zu haben, lächelte Gerard und öffnete den Brief.

»Sollen wir Schach spielen?«, fragte sie mit spitzbübischer Miene.

Er erschauerte übertrieben heftig. »Du weißt genau, wie sehr ich dieses Spiel hasse. Denk dir etwas anderes aus, bei dem ich nicht sofort einschlafen muss.«

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf den Brief und überflog ihn. Doch als er zu einem Absatz kam, der augenscheinlich als Nachtrag gedacht war, in Wahrheit aber – das wusste er genau – der entscheidende Schlag war, las er langsamer, und seine Hände fingen an zu zittern. Seine Mutter schrieb ihm nur, um ihn zu verletzen, und sie war immer noch zornig, dass er die berühmt-berüchtigte Lady Pelham geheiratet hatte.

bedauerlicherweise überlebte das Kind die Geburt nicht. Ich hörte, es sei ein Junge gewesen, kräftig und wohlgeformt mit einem braunen Haarschopf – so ganz anders als seine blonden Eltern. Der Arzt meinte, Lady Sinclair sei zu zart gebaut und das Baby zu groß gewesen. Sie verblutete innerhalb weniger Stunden. Ein grauenvoller Anblick, wurde mir berichtet …

Gerard stockte der Atem; ihm wurde schwindlig. Die in Schönschrift festgehaltenen Gräuel verschwammen vor seinen Augen, bis er nicht mehr weiterlesen konnte.

Emily.

In seiner Brust brannte es, und er schrak auf, als Isabel ihm fest auf den Rücken schlug.

»Atmen, verdammt noch mal!«, befahl sie in herrischem Ton, in den sich Sorge mischte. »Was zum Teufel steht da? Gib mir den Brief!«

Er ließ die Hand sinken, und die Blätter flatterten auf den Aubusson-Teppich.

Er hätte bei Em sein sollen. Als Sinclair seine Briefe ungeöffnet zurückschickte, hätte er mehr tun sollen, als nur Grüße durch Freunde übermitteln zu lassen. Er hatte sie schon sein ganzes Leben gekannt. Sie war die Erste, die er geküsst, die Erste, der er Blumen geschenkt, über die er Gedichte geschrieben hatte. Er konnte sich an keinen Moment seines Lebens erinnern, da nicht im Hintergrund immer ein Engel mit goldblonden Haaren auf ihn gewartet hatte.

Und jetzt war sie fort, für immer, getötet durch seine Selbstsucht und Wollust. Seine süße, geliebte Emily, die so viel Besseres verdiente, als er ihr gegeben hatte.

Er hörte ein leises Summen in seinen Ohren und dachte, es sei Isabel, die eine seiner Hände fest mit ihren umschloss. Er wandte sich zu ihr, schmiegte seine Wange an ihre Brust und weinte. Er weinte, bis ihr Mieder tränennass war und ihre Hände, die ihm besorgt über den Rücken strichen, zitterten. Er weinte, bis ihm keine Tränen mehr blieben, und die ganze Zeit hasste er sich.

Sie gingen nicht zu den Middletons. Noch am gleichen Abend packte Gerard seine Koffer und brach nach Norden auf.

Und er kam nicht zurück.