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Akron Edition GmbH, Ruhberg 20, CH-9000 St. Gallen
Titelbild: Patricia Cooney
Illustrationen: Patricia Cooney
Koordination: Akron
Layout, Satz- und Umschlaggestaltung: Medienagentur Holger Kliemannel
gestaltung@roterdrache.org
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 9783905372410
www.akron.ch
Akron
Das Licht der
Erkenntnis
Inferno III:
Die Höllen der Kontraktion und der Befreiung
Illustrationen von Patricia Cooney
Akron Verlags Edition
Eines frühen Abends klopfte es heftig an die Bibliothekzimmertür, und bleich wie ein von den Toten Auferstandener kam „ich“ in den letzten Strahlen der dämmernden Sonne hereingestürmt. Meine verwirrten Blicke erschienen mir ziemlich hektisch, als ich mich selbst am Schreibpult erblickte, und ich sah auch, wie ich auf mich zurannte und völlig aufgebracht auf mich einzureden begann. Irgendwie ging es um die verschlüsselte Botschaft, aufzuwachen, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, während ich die Szene beobachtete, denn wir schien auch, als wäre ich soeben aus einem verwirrten Traum aufgeschreckt. Doch ich verstand kaum ein Wort – mir war, als wäre zwischen uns eine Wand aus Glas.
Zunächst vernahm ich nur einige Bruchstücke – ich musste genau hinhören, als ich „ihn“ so reden hörte. Er sprach mit leiser, zitternder Stimme, plapperte etwas von alten Geheimnissen in meiner Vergangenheit, die er an meiner Stelle durchlebt hätte, von schrecklichen Wesen in der Nacht meiner Seele, die da noch immer unerlöst in der Tiefe auf Erlösung harrten. Dann schweifte er ab, halluzinierte von abgetrennten Köpfen, offenen Gehirnschächten, von vereisten Seelen in versteinerten Träumen, gläsernen Monolithen, in denen Menschen mit eingefrorenen Schmerzensschreien auf den Lippen in schrecklich verkrümmten Posten gefangen waren, um die der Gehörnte mit seiner Edelschlampe, der Höllenschlange Medusa, tanzten. Schließlich wurde er immer lauter, seine Stimme wurde gellend-schrill – er kreischte von der Schändung des Grabmals, von einer Leiche, die er aus dem Stein befreit hätte.
„Du armes Ich – Du!“ wurde mir plötzlich klar. Vielleicht hatte er zu viel Seele für seinen schwachen Körper, denn plötzlich merkte ich, dass er mich gar nie so sehen konnte, wie ich war – aber wenigstens konnte ich „ihn“ jetzt so sehen, wie er sich in der Außenwelt zu sein vorgab. Seine Augen wanderten viel sagend über meine Kleidung. Erst griff er in meinen Umhang und zog einen großen Schlüssel aus der Innentasche hervor, und dann ergriff er mit der Rechten meine andere Hand. Aber nicht, um sich mit mir zu versöhnen, sondern um mir den Ring mit dem Wappen vom Finger zu ziehen. Ich wollte mich erheben und etwas erwidern – doch zu meiner Überraschung rührte sich nichts. Ich war von der Außenwelt abgeschnitten, konnte meine Lippen nicht bewegen.
Das krachende Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür schreckte mich nicht; ich gewahrte, dass der Geist meiner zukünftigen Erinnerung das Zimmer wieder verließ. Ich hatte ihn in die Zukunft zurückgeschickt, denn es war nicht mehr notwendig, auf mich zu warten. Es war mir klar geworden, dass ich diesen anderen Teil von mir gar nie verstanden hatte, dass wir uns gar nie verstehen konnten, dass alles nur Einbildung war und alles, was wir voneinander und über die Welt zu wissen glaubten, in Wirklichkeit nichts anderes als überlieferte Vorurteile waren. Der Blues im Gehirn mit dem lieben Gott an der Harfe, dem Alten am Bass und dem Teufel an den Drums begann mächtig zu grooven, besonders das Lied von der inneren Spaltung, die uns zur Vertreibung aus dem Paradies und der babylonischen Sprachverwirrung führten – irgendwo im Tiefblau der Mitternacht. Es gab keine Zukunft für mich, das hatte ich auf meiner Reise entdeckt, es gab überhaupt nichts, das sich für mich zu entdecken lohnte. Er musste seinen Weg alleine finden. Ich war so müde von der langen Reise – ich wollte einfach in Ruhe bis zum Ende ausharren.
… dann wachte ich auf!
Um mich herum herrschte völlige Finsternis, die lediglich durch die Sterne unterbrochen wurde, die zu Abermillionen am Firmament funkelten. Als ich nach unten blickte, um mich zu vergewissern, wo ich mich befand, gähnte mir die gleiche Dunkelheit entgegen. Außer mir und der absoluten Stille gab es nichts um mich herum, an dem das Auge des Betrachters irgendeinen Fixpunkt hätte festmachen können. Ich schien irgendwo frei im Universum zu schweben. Die Frage, die sich mir stellte, war die: Wer oder was war ich? Und noch viel wichtiger in diesem Moment – was war die Wirklichkeit? Saß ich hinter meinem Monitor und tippte die Zeilen meiner Reise auf die Festplatte meines PCs oder war ich in meiner eigenen Schreibe endgültig von meiner selbst evozierten Paranoia eingeholt worden, die mir am Ende ein von kaltem Neonlicht erhelltes Hospitalzimmer auf der Sterbestation suggerierte, wo ich dem Ende entgegendämmerte, wartend, meinen letzten Schnaufer zu tun? Oder war das auch wieder nur ein Übergang zwischen den Welten, ein Ausblick auf das kommende Fegefeuer, dessen saturnische Wehen bereits am Horizont meines Unbewussten heraufzogen?
Kaum hatte ich diesen Gedanken beendet, begannen sich rechts von mir wie aus dem Nichts die Umrisse einer Gestalt zu schälen. Erleichtert machte ich darin die vertraute Gestalt meines Seelenführers aus, der sich in seinem dunklen Kapuzenmantel vor mir verdichtete. Wie ein der Schwerkraft trotzender Yogi schwebte er durch den freien Raum. Seine untere Gesichtshälfte wurde schwach vom Glanz seines leuchtenden Caduceusstabes erhellt, den er fest mit seiner Rechten umklammert hielt. Hierdurch bemerkte ich das spöttische Lächeln auf seinen Lippen, die er leicht verzog, als ich meine Frage an ihn richtete, wo wir uns denn nun gerade befänden.
„Wir befinden uns an dieser Stelle noch immer zwischen den Welten“, bestätigte er meine Vermutung, „im NIEMANDSLAND, wo du dich an NIEMAND erinnern kannst. Es ist die Lücke im Kopf des Schreibers, als du seine Erinnerungen zwischen den Welten verschobst. Das war der Moment, als dir die Aufzeichnungen aus dem Regal fielen. Seitdem existiert dort ein Vakuum.“ Ich spürte den Sog aus dem Zentrum des Hirns und hatte den Eindruck von etwas Lebendigem im Gewebe meiner Gedankenlinien.
„Zwischen welchen Welten?“ Etwas zog mich durch seinen Willen an.
„Zwischen Anfang und Ende, Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traum. Am Schnittpunkt dieser Dualitäten ist dir das Buch aus dem Regal gefallen. Wenn es dir gelingt, den Eingang wieder zu verschließen, wachst du als Geträumter direkt in der Hölle deiner zukünftigen Erinnerung auf.“ Deshalb hielt ich es von Vorteil, unsere Diskussion in eine Dimension zu verlagern, die deinen Verstandeszensor nicht unnötig in Versuchung führt, alles Vernommene sogleich wieder mit altbekannten Bildern zu besetzen, um diese besser kontrollieren zu können.“
„Das wird nicht leicht sein“, antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte ebenfalls ein Lächeln, „denn nach all dem, was wir gemeinsam durchlebt haben, scheint es nicht mehr viel zu geben, dessen ich nicht ansichtig geworden wäre.“
„Deiner Bescheidenheit hat es zumindest keinen Abbruch getan“, kam Akrons schulmeisterliche Antwort, „aber du wirst dich noch wundern, denn zwar ist das große Mysterium etwas näher herangerückt, doch kann seine Gewahrwerdung niemals zwischen den beschriebenen Papierseiten zweier Buchdeckel erfasst werden“, er macht eine kurze Pause, „und hineingepresst werden schon gar nicht.“
Ich wurde unsicher: „Du meinst damit, dass alles, was ich bisher auf hunderten von Buchseiten geschildert habe, umsonst gewesen ist?“
„Ja. Das Interesse an solchen Reisen hat sich in der Zwischenzeit erheblich gemindert. Als wir miteinander in die Tiefe aufbrachen, war das Internet noch kaum existent. Diese Technologie hat das Verhalten der Menschen unwiderruflich verändert.“
„Was willst du damit sagen?“ Da wurde mir erst richtig klar, wie wichtig mir diese Aufzeichnungen geworden waren. Dank ihnen konnte ich über meine seelischen Befindlichkeiten innerhalb und außerhalb von mir reflektieren.
„Ich will damit sagen, dass im Zeitalter kreativer Software, wo man Informationen bald direkt in die Gehirne der Menschen scannen kann, das Medium Buch zum Auslaufmodell geworden ist.“
„Siehst du denn keine Chancen für unsere Erlebnisse?“ Das Problem war, dass man so nah an das Unbewusste herangehen musste, um die Gefahren zu sehen, was wiederum die Chance erhöhte, selbst hineingezogen zu werden.
„Für die Erlebnisse schon, doch für deren Publizierung weniger. Sicher wird es, wenn die Menschheit die neue Technologie ausgereizt hat, irgendwann auch wieder kreativ inspirierte Leute geben, die sich ähnlich wie die Liebhaber der Vinylplatten dem guten alten Buch zuwenden. Aber ob es dann gerade unsere Erkenntnisse sein werden, die ihre Hirnganglien entzünden, das lassen wir dahingestellt.“
„Aber versuche ich nicht gerade die Grenzen des Denkens mit denkerischen Mitteln zu erweitern, sozusagen eine Sprengung der zweidimensionalen Realität … liegt das nicht im Trend?“
„Das hätte Ende der achtziger Jahre erfolgen müssen, als die Cyberspace-Gesellschaft noch Fiktion war, als ein Sprung hinter die Schwellen der Erkenntnis auf der Basis von Halluzinogenen noch das Nonplusultra von geistigen Entdeckungsreisen war. Als man noch nicht so sehr am Grauen dran war. Heute ist das längst Realität und der kollektive Geist hat das alles verinnerlicht. Er hat sich sozusagen in die Erwartungen seiner Hoffnungen und Ängste eingesperrt.“
„Zu spät für die Wahrheit?“ Seine Kassandrarufe lösten in mir eine Unzahl von unbehaglichen Informationen aus, die für mich nicht leicht zu sortieren waren.
„Zu früh für die seelische Katastrophe, von den inneren Ängsten verschlungen zu werden. Die hysterischen Ausbrüche einer unpersönlichen, aus ihrer inneren Mitte geratenen und sich an die Wachstumsmodelle verlorenen Gesellschaft betäuben das natürliche Empfinden der Menschen, das sie vergeblich warnt.“
„Du glaubst, dass sich die Leute heute für diese Themen nicht mehr interessieren?“ Der unverstandene Schmerz des Künstlers durchbebte meine Züge.
„Mach dich nicht vom Interesse der Leute abhängig. Nimm diese Expedition als Chance, dich über deine persönliche Wahrnehmung hinaus mit den Ängsten und Gespenstern in den kollektiven Morästen babylonischer Sündentürme beschäftigen zu können.“
„Oh ja“, winkte ich ab, „du hast recht. Das braucht mich nicht zu kümmern. Ich habe getan, was ich tun musste und bin meinem inneren Aufruf gefolgt, der mich schließlich zu dir und bis zu diesem Punkt unserer Reise geführt hat.“
Akrons süffisantes Grinsen verhieß nichts Gutes: „Du solltest dich hören! Du klingst wie ein Kreuzritter, der von sich glaubt eine heilige Mission erfüllen zu müssen.“
„Ja glaubst du denn“, entgegnete ich empört, „dass ich all diese Dinge zu meinem Vergnügen hier niedergeschrieben habe? Blut und Tränen habe ich geschwitzt bei diesem Unterfangen, das durch meinen Geist über die Hände auf der Tastatur bis auf den Bildschirm geflossen ist.“
Akron lächelte verständnisvoll: „Da bist du sicherlich nicht der einzige. Vielleicht sollten wir es dem Leser ein bisschen erleichtern …?“
Erstaunt blickte ich meinen Seelenführer an: „Du – und erleichtern? Du glaubst tatsächlich auf die mentalen Schlingen deines Hirnyogas verzichten zu können, die meine Gehirnzellen stets zum Rauchen bringen …“
„… die du mir andauernd in den Mund legst“, gab er schmunzelnd zurück, „aber schau, wir sind schon auf dem richtigen Weg. Ein wenig Alchemie, ein paar alte Symbole und mythische Gestalten, so etwas mögen die Menschen, die auf okkulten Pfaden wandeln. Schließlich wartet der selbsternannte Hüter der Traditionen auf uns: der Steinbock. Das dürfen wir nicht vergessen.“
„Schon gut, ich habe verstanden“, lenkte ich ein. „Im Moment wäre ich allerdings schon froh, wenn ich wüsste, wie und wo die Geschichte weitergehen soll. Bin ich nun der, der denkt, dass er alles aufschreibt, was er erlebt, und du mein Mentor, oder sitze ich irgendwie in meinen finsteren Hirnkammern fest und alles um mich herum sind nur Traumgestalten, von meinem eigenen Unbewussten ersonnen, um das Ganze vor meinem Verstehen so zu arrangieren, damit ich mich an diesen Gedankenfäden entlanghangeln und möglichst unbeschadet aus meinen Alpträumen wieder herausgelangen kann.“
„Spielt das für den Fortbeginn deines Buches denn eine Rolle?“ traf seine Frage direkt meinen wunden Punkt.
Ertappt seufzte ich etwas hilflos auf: „Eigentlich nicht...“ Vor meinem inneren Auge leuchtete eine Pyramide auf …
„Dann lass uns dort anknüpfen, wo wir uns zuletzt begegnet sind ...“