Die gebürtige Düsseldorferin CHRISTA HOLTEI arbeitete lange Zeit im Bereich der mittelalterlichen englischen Literatur, Sprache, Geschichte und Kultur am Anglistischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 1994 ist sie erfolgreich als Übersetzerin und Autorin für verschiedene Verlage tätig.
CHRISTA HOLTEI
DAS SPIEL DER TÄUSCHUNG
DÜSSELDORF 1834
Historischer Roman
Droste Verlag
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Umschlaggestaltung Guido Klütsch, Köln; unter Verwendung der Abbildungen Eduard Bendemann u. a., Der Schadow-Kreis (Die Familie Bendemann und ihre Freunde), 1830/31, Öl auf Leinwand, 109 x 157 x 3 cm, Sammlung Kunstmuseen Krefeld, Dauerleihgabe Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Foto: Volker Döhne, Kunstmuseen Krefeld, sowie Bauplan von Düsseldorf, 1831 © Stadtarchiv Düsseldorf, Sign. 5-1-0-24.0002.
ebook-Erstellung: CPI – books GmbH, Leck
ISBN 978-3-7700-4121-3
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Illusion, ein lateinisches Wort, bedeutet überhaupt Täuschung, falscher Schein, daher z. B. ein illusorischer Vertrag ein solcher ist, der nur zum Schein eingegangen wird. Vorzugsweise bedient man sich aber des Ausdrucks Illusion zur Bezeichnung jener den Zweck jedes Kunstwerks ausmachenden Täuschung, welcher gemäß es dem Beschauer unter dem Scheine vollendeter Wirklichkeit entgegentritt. Die Natur der Sache bringt es mit sich, daß besonders Malerei und Schauspielkunst darauf ausgehen, auch den äußern Sinnen eine scheinbare Wirklichkeit darzubieten, während die Poesie sich begnügt, auf den innern Sinn, auf die Phantasie, zu wirken.
(Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Leipzig 1838)
ROBERT REINICK
Die Stadt machte einen heiteren Eindruck auf uns. Gerade, lichte Straßen mit neuen freundlichen Häusern, nahe an der Stadt, fast in derselben der Hofgarten, ein hübscher Park, dabei das Schloß des Prinzen Friedrich. Sonst aber nichts von Bedeutung, keine schöne Kirche, kein altes Gebäude. Die Akademie liegt hart am Rhein. Es ist die ehemalige Residenz der Bergischen Großherzöge, ein alter zerschossener Thurm in der Nähe desselben ist das Einzige einigermaßen Malerische daran.
(Robert Reinick, Maler und Dichter,
Brief an Franz Kugler in Berlin vom 22. 10. 1831)
SAMSTAG, 26. APRIL 1834
Clemens Papenstiel trat an diesem Samstagmorgen voller Elan aus dem Haus. Seine gute Laune wurde jedoch augenblicklich von den tief hängenden Wolken gedämpft. Kühler Wind zog in Böen vom Rhein herauf, verfing sich in den Gassen und trieb einen feinen Nieselregen vor sich her, der jeden im Handumdrehen bis auf die Haut durchnässte. Ärgerlich schlug Clemens den Kragen hoch, duckte seine lange, schlaksige Gestalt gegen das Wetter und machte sich auf den Weg zur Zeichenstunde.
Er war froh, mit dem Unterricht im Zeichnen und Malen eine Verdienstquelle entdeckt zu haben, auch wenn dies bedeutete, an einem Samstagmorgen durch den Regen laufen zu müssen. Als Schüler der Königlich Preußischen Kunstakademie hatte er nicht viel Geld zur Verfügung. Seine Familie war nicht reich wie die manch anderer angehender Maler, und eigentlich konnte er sich das Studium gar nicht leisten. Aber es war sein sehnlichster Wunsch, Maler zu werden, und so hatten ihn die Eltern nach Düsseldorf ziehen lassen. Was dann geschah, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können! Akademiedirektor Wilhelm Schadow persönlich war von seinem Talent so sehr überzeugt, dass ihm ein Stipendium von fünfzig Talern im Jahr gewährt worden war. Nicht viel für ein ganzes Jahr, doch es hielt ihn über Wasser, aber eben nur so weit, dass er nicht unterging. Trotzdem hatte er sein Glück kaum fassen können!
In den drei Jahren, die er nun hier wohnte, hatte er überhaupt nur Glück gehabt. So war es wider Erwarten nicht schwer gewesen, schnell Freunde zu finden. Zusammen mit Johann Förster, der bereits ein Jahr länger als er an der Akademie studierte, konnte er sich eine kleine Wohnung in der Bolker Straße leisten. Sie bestand aus zwei Zimmern, beide sogar mit Ofen. Und sie kostete insgesamt nur drei Taler im Monat. Förster hatte ihm auch tatkräftig dabei geholfen, sich in das geschäftige Leben der Akademieschüler einzugewöhnen.
In Düsseldorf fand er sich inzwischen gut zurecht. Er stammte aus einem kleinen Ort in Westfalen und hatte befürchtet, sich in einer großen Stadt zu verlaufen. Aber schon nach ein paar Tagen hatte er diese Bedenken verworfen. Die Stadt war mehr als überschaubar. Im Norden wurde sie vom Hofgarten begrenzt, im Süden vom Schwanenmarkt, im Westen war der Rhein und im Osten, bereits außerhalb der alten Stadttore, der Stadtgraben mit der Mittel-Allee.
Der Regen wurde stärker. Clemens fing an zu laufen, bog auf den Marktplatz ein und suchte in einem Hauseingang Schutz. Der Aprilschauer würde zwar gleich wieder nachlassen, aber er ärgerte sich trotzdem, dass er keinen Schirm dabeihatte. Doch nicht nur er hatte es eilig, ins Trockene zu kommen. Auch die Bauern und Fischer, die auf dem Marktplatz rund um die Reiterstatue Jan Wellems ihre Waren in großen Körben anboten, flüchteten vor dem prasselnden Regen unter die Planen anderer Händler. Ein Bäckerjunge kam auf ihn zugelaufen und deckte hastig die frischen Apfeltörtchen in seinem Korb mit einem Tuch ab. Als er sich in den Hauseingang stellte, breitete sich ein verführerischer Duft aus. Clemens konnte nicht widerstehen. Er kaufte dem Jungen ein Törtchen ab.
Zufrieden kauend und mit deutlich besserer Laune beobachtete er das Treiben um sich herum. Er mochte den schon frühmorgens belebten Marktplatz. Im Hotel »Zu den Drei Reichskronen« gegenüber vom Rathaus saßen die Gäste beim Frühstück. Passanten eilten am Hotel vorbei und verschwanden nebenan in der Wärme und Trockenheit von Lacomblets Kaffeehaus, um dort zu frühstücken. Besonders dieses Kaffeehaus gehörte zu Clemens’ Lieblingsorten. Dort, im Lesekabinett, vertiefte er sich bei einer langen Tabakspfeife und einer Tasse Kaffee gerne in die aktuellen Zeitungen und Zeitschriften. Heute allerdings hatte er dafür keine Zeit. Er warf einen Blick zur Ecke des Platzes neben dem Rathaus, wo das Theater mit den vier neuen klassischen Säulen vor der Fassade stand. Noch war dort niemand zu sehen, aber das würde sich bald ändern. Gleich nach seinem Unterricht wurden er und einige andere Maler dort erwartet.
Endlich ließ der Regenschauer nach. Clemens verließ den Hauseingang und eilte die Marktstraße hinunter. Unter keinen Umständen wollte er seinen Unterricht nur wegen des launigen Aprilwetters zu spät beginnen. Schließlich hatte er es nicht nur mit Düsseldorfern zu tun, die solch kleinere Verfehlungen zumeist durchaus gelassen nahmen. Er hatte schnell gemerkt, dass es auch andere Reaktionen gab, denn nicht alle Einwohner waren Rheinländer. Auch »Ostländer« lebten inzwischen hier, an militärische Disziplin und Ordnung gewöhnte Preußen. Seit Napoleon vor fast zwanzig Jahren seine letzte Schlacht verloren hatte und die Rheinlande und Westfalen preußisch geworden waren, überschwemmten sie die Stadt geradezu.
Als Clemens hierhergekommen war, hatte es ihn gewundert, wie viel Unzufriedenheit über diese Fremden immer noch zu spüren war. Inzwischen verstand er diese Reaktion. Die Zugezogenen bekleideten nun die gut bezahlten Ämter, auf die mancher Düsseldorfer gehofft hatte, und sie waren protestantisch, was den Menschen hier noch weniger gefiel. Dennoch waren die Beamten und Militärs aus Berlin, Danzig oder Dresden für ihn und seine Malerfreunde ein Glücksfall. Sie kauften nicht nur Gemälde, auch der Bedarf an privaten Zeichenlehrern, insbesondere für Ehefrauen und Töchter, war gestiegen, selbst bei den angesehenen Düsseldorfer Familien.
Er hatte Schadows Rat befolgt und sein erstes Geld gleich für die richtige Kleidung ausgegeben. Schadow stammte aus Berlin und legte aus Erfahrung Wert darauf, dass seine Malerschüler stets gepflegt aussahen, damit sie sich jederzeit angemessen in der Gesellschaft bewegen konnten. Schließlich waren das die Menschen, die ihre Bilder kauften. Clemens verabschiedete sich also, wenn auch ungern, von seinem breiten Künstlerbarett, auf das er so stolz gewesen war. Er ließ sich seine langen dunkelblonden Haare schneiden und bis auf einen modischen Schnauzbart Wangen und Kinn rasieren. Dann besorgte er sich zu einem gerade noch erträglichen Preis einen Zylinder und einen gebrauchten Gehrock.
Die Wirkung war verblüffend. Mit dem veränderten Aussehen war es ihm tatsächlich viel leichter gelungen, Schüler zu finden. Seit einiger Zeit unterrichtete er nun auch die jüngste Tochter von Eduard Hartmann, Düsseldorfer Weinhändler en gros und en détail, in dessen Haus in der Bilker Straße. Hartmanns Frau Auguste war der Ansicht, dass dies zur modernen Erziehung von Töchtern aus gutem Hause gehörte. Hedwig selbst teilte die Meinung ihrer Mutter keineswegs. Das ließ sie Clemens jedes Mal zur Genüge spüren. So quälte er sich mit diesem Trotzkopf von sechzehn Jahren redlich herum, ohne jedoch größere künstlerische Erfolge zu erzielen.
»Papenstiel!« Eine etwas rostige Stimme holte Clemens aus seinen Gedanken, als er im Schutz der Bäume über den Carlsplatz lief. »So früh unterwegs? Geht es noch einmal zur Chorprobe vor dem heutigen Abend?«
Clemens wandte sich um. Ludwig Giesen, ein kleiner, drahtiger Mann undefinierbaren Alters, war wegen des Regens bis zur Nasenspitze in seinem Kragen verschwunden. Den aufmerksamen Augen unter der Schirmmütze entging jedoch nichts.
»Nein«, antwortete er, »wir hatten am Dienstag Probe. Mendelssohn war sogar halbwegs zufrieden mit uns! Jetzt bringe ich Mamsell Hartmann das Zeichnen bei. Falls die Dame geneigt ist.«
Ludwig Giesen nickte schmunzelnd, als wäre das keine Neuigkeit für ihn. Das war es auch nicht, denn als Düsseldorfs Theaterzettelträger kannte er fast alle Häuser der Stadt und ihre Bewohner. Clemens war ihm schon oft begegnet, wenn er in aller Frühe bei Abonnenten und Mitgliedern des neuen Theatervereins die Ankündigungen für den Abend verteilte. Oft bekam er sogar ein Extratrinkgeld dafür zugesteckt, obwohl er eigentlich nur an Neujahr und am Ende einer Theatersaison für seine Dienste bezahlt wurde. Reich wurde er davon zwar nicht, aber, wie er immer sagte, er hatte sein Auskommen und war dankbar dafür. Zumindest ging es ihm besser als manch anderem. Schließlich hatte er ja auch noch seine kleine Werkstatt, in der er Regen- und Sonnenschirme reparierte und allerlei Gegenstände aus Pappendeckel anfertigte. Er kannte die Leute, und die Leute kannten ihn, also hatte er ausreichend Kundschaft.
»Da haben wir ja denselben Weg!«, sagte Ludwig Giesen. »Zu den Hartmanns muss ich auch noch.«
Einträchtig gingen die beiden weiter und unterhielten sich angeregt, indem sie herzhaft auf das Wetter schimpften.
* * * * *
Auguste Hartmann saß am Frühstückstisch im hell und freundlich eingerichteten Morgenzimmer ihres Hauses auf der Bilker Straße. Sie war eine energische Person von etwas über vierzig Jahren, schon ein wenig füllig um die Taille und mit den ersten grauen Fäden im Haar, was die breiten Rüschen ihrer weißen Spitzenhaube jedoch zum größten Teil verdeckten. Ärgerlich blickte sie durch die Fenster in den verregneten Garten hinaus. Noch vor zwei Tagen hatte die Frühlingssonne warm geschienen, und man hätte meinen können, die kalte Jahreszeit wäre endgültig vorbei. Aber ausgerechnet an diesem Samstag, wenn sie sich auf einen Theaterabend freute, musste es regnen. Scheußliches Aprilwetter! Auguste hoffte inständig, dass es noch aufklarte. Bis sechs Uhr abends war ja Zeit genug.
Sie trank den letzten Schluck Kaffee aus der geblümten Tasse und überlegte den nächsten Schritt im Räderwerk ihres wohlorganisierten Haushalts. Eduard, ihr Mann, war bereits in die Weinhandlung aufgebrochen, die Köchin und das Dienstmädchen wussten, was zu tun war. Jetzt musste sie nur noch eines in Angriff nehmen. Rasch warf sie einen Blick zur Kommode, wo eine zierlich gearbeitete Uhr unter einer Glasglocke stand. Sonst brachte sie der goldene Putto, der so aussah, als wollte er die beiden kleinen Vögel über dem Zifferblatt fangen, immer zum Lächeln. Aber nun sprang sie auf, raffte entschlossen ihre Röcke und ging mit schnellen Schritten zu der geschwungenen Treppe in der Eingangshalle. In ihrer Eile stieß sie gegen einen der beiden eleganten Sessel, die dort für wartende Besucher standen. Gereizt rückte sie ihn wieder auf seinen Platz und lauschte. Von oben war kein Laut zu hören.
»Hedwig! Hedwig, komm sofort herunter!«, rief sie mit vor Ärger schriller Stimme. Das klang zwar nicht gerade kultiviert, und sie war froh, dass ihre Kaffeekränzchen-Damen, allen voran die spitznasige Madame Kaspers, sie so nicht sahen, aber es ging nun einmal nicht anders. Was dachte sich dieses Kind? Sogar die Rüschen an Augustes Spitzenhaube zitterten vor Empörung.
»Aber Mama! Ich lese!«
Auguste warf in stummer Verzweiflung die Arme in die Höhe. An manchen Tagen haderte sie mit ihrem Schicksal, die Mutter zweier Töchter zu sein – die eine ein störrischer Backfisch, die andere im heiratsfähigen Alter. Beide waren eine Strafe Gottes, davon war sie überzeugt, obwohl sie nicht genau wusste, wofür Gott sie eigentlich strafen wollte.
»Sofort kommst du die Treppe herunter! Ich sage es nicht noch einmal.«
Zögernde Schritte und raschelnder Stoff ließen hoffen. Auguste atmete tief ein und wappnete sich für das, was jetzt unweigerlich bevorstand.
»Was für Schauerromane liest du da eigentlich wieder?«, fragte sie, als ihre Tochter mit vorwurfsvollem Gesicht vor ihr stand. Auguste war zwar froh, dass das Kind die Leihbibliothek der Stahl’schen Buchhandlung auf der Marktstraße entdeckt hatte, aber ihrer Meinung nach stürzte sich Hedwig leider zu sehr auf Romane von höchst zweifelhaftem Inhalt. Sie nahm ihrer Tochter das Buch aus der Hand und runzelte ungehalten die Stirn. »›Kaspar Hauser oder die eingemauerte Nonne. Wahrheit und Dichtung‹!«
»Es ist gerade so spannend!« Hedwig versuchte, der Mutter das Buch wieder abzunehmen. »Der Abt will die unglückliche Familie wegen ihres Besitzes ausrotten! Seine Schergen sind schon auf dem Weg, um …«
»Ach was!«, unterbrach Auguste ihre Tochter und warf das Buch ungeduldig auf den Sessel. »Kaspar Hauser ist seit vier Monaten tot und begraben. Wenn du Dichtung und Wahrheit willst, lies Goethe! Und jetzt Schluss damit. Gleich kommt Papenstiel, und ich erwarte von dir Interesse an seinem Unterricht! Nun geh und steck deine Haare auf. Du bist ja noch gar nicht gekämmt!«
Hedwig warf dem Buch einen sehnsüchtigen Blick zu, aber gegen die Anweisungen ihrer Mutter war sie machtlos.
»Ach Mama!« Schmollend ging sie wieder die Treppe hinauf.
»Kunst hat noch keinem geschadet!«, bemerkte Augustes ältere Tochter Emma spitz und ein klein wenig hochnäsig, als sie auf dem Weg nach unten an ihrer Schwester vorbeiging. Hedwig stampfte mit dem Fuß auf und rannte die letzten Stufen hoch. Oben hörte man eine Tür zuschlagen.
Seufzend rüstete Auguste sich zur nächsten Attacke, nicht ohne vorher alle Heiligen um Kraft anzuflehen.
»In deinem Fall kann man es mit der Kunst auch übertreiben, Emma!«, sagte sie scharf. »Du vergeudest deine besten Jahre mit Klecksereien, die niemanden interessieren, nun sieh es endlich ein! Es ist allerhöchste Zeit, dass du dich verheiratest, solange dich noch einer will.«
»Nein! Ich will Malerin werden, und das weißt du sehr gut!«, erwiderte Emma etwas patziger als beabsichtigt. Mit ihren neunzehn Jahren fühlte sie sich erwachsen und tat alles dafür, auch als Erwachsene behandelt zu werden. »Ich werde jetzt frühstücken.«
Sie ließ ihre Mutter stehen und ging mit festen Schritten zum Morgenzimmer, wo der Frühstückstisch zum Glück immer noch gedeckt war, obwohl sie sich verspätet hatte. Die Skizzen zu ihrem neuen Ölbild, einem Porträt, hatten sie gleich morgens beschäftigt.
Wenn ihre Mutter sie nur endlich mit ihren Heiratsplänen in Ruhe ließe! Sie wünschte sich so sehr, Malerin zu werden! Am liebsten hätte sie an der Akademie studiert wie Katharina Severin von der Buchbinderei in der Mittelstraße. Die hatte vor elf Jahren, als sie in Emmas Alter war, bei Lambert Cornelius, dem Bruder des damaligen Akademiedirektors, und bei Heinrich Kolbe Privatunterricht genommen. Schadow ließ jedoch Schülerinnen nicht mehr in die Ateliers, also hatte sie sich auf Katharinas Rat hin direkt an Professor Kolbe gewandt. Er hatte sich inzwischen mit Schadow überworfen und war von seinem Amt beurlaubt. Aber er nahm Privatschüler an. Fast ihr gesamtes Nadelgeld gab Emma für den Unterricht bei ihm aus. Ihre Eltern wussten nichts davon, sie hätten es ohnehin nicht gestattet. Vorsichtshalber hatte sie ihre Bilder sogar in Katharinas Atelier untergestellt. Emma befürchtete, dass nicht viel davon übrig bliebe, wenn ihre Mutter beschloss, sie endgültig von der Malerei abzubringen. Ihr kleines Versteckspiel lohnte sich jedoch. Professor Kolbe, selbst ein angesehener Porträtmaler, war sehr zufrieden mit ihr.
Trotzig setzte sie sich hin und nickte dem Dienstmädchen zu. Frieda griff sofort nach der bauchigen Kanne und goss Kaffee in ihre Tasse. In Ruhe frühstücken würde sie allerdings nicht können, stellte Emma seufzend fest. Ihre Mutter war ihr sichtlich verärgert gefolgt, gab Frieda ein Zeichen, sie allein zu lassen, und schloss energisch die Tür.
* * * * *
Kurz darauf betätigte Clemens den Türklopfer am Hause Hartmann. Frieda öffnete, ließ ihn eintreten und steckte Ludwig Giesen mit einem strahlenden Lächeln ein Extratrinkgeld für den Theaterzettel zu. Bevor sie die Tür wieder schloss, konnte Clemens sehen, wie Ludwig Giesen die Münze sorgfältig einsteckte und trotz des Regens schmunzelnd und mit nahezu beschwingten Schritten weiterging. Das Dienstmädchen hatte aber auch wirklich ein reizendes Lächeln. Frieda schien nichts davon bemerkt zu haben. Sie nahm Clemens seinen nassen Mantel ab und hängte ihn auf.
»Nehmen Sie doch einen Moment Platz, Herr Papenstiel. Ich sage Mamsell Hedwig Bescheid, dass Sie da sind.«
Während sie rasch die Treppe hinauflief, ließ sich Clemens in einen Sessel fallen. Aber er sprang sofort wieder in die Höhe. Was war denn das um Himmels willen? Es war nur ein Buch, aber als er den Titel betrachtete, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch. Wie? Eduard Hartmann duldete, dass man in seinem Haus solch schaurige Romane las? Wahrscheinlich Hedwig, vermutete er belustigt.
Plötzlich drangen laute Stimmen aus dem hinteren Teil des Hauses an sein Ohr. Madame Hartmann stritt sich mit jemandem, das war unverkennbar. Jetzt antwortete eine zweite Stimme. Emma! Clemens schoss die Röte ins Gesicht, während er mit weichen Knien wieder in den Sessel sank. Er betete Emma an, seit sie das erste Mal als neues Mitglied des Chores zu den Proben gekommen war. Nur aus der Ferne versteht sich, alles andere wäre unschicklich gewesen. Schließlich war sie unerreichbar für einen Malerschüler wie ihn, der sich erst noch einen Namen machen musste. Aber er gab die Hoffnung nicht auf. Nicht umsonst hatte er es auf sich genommen, ihre unwillige Schwester zu unterrichten. Und einmal hatte Emma ihn auch schon um Rat gefragt, als sie an einem Bild arbeitete. Zum Dank hatte sie ihn angelächelt, und er hatte sich ganz sonderbar glücklich gefühlt.
Emma war … sie war unbeschreiblich. Groß gewachsen, schlank, dichtes blondes Haar. Im Atelier hatte er versucht, sie aus dem Gedächtnis zu zeichnen, aber es war ihm nicht gelungen. Ihr Gesicht war so lebendig! Strahlende Augen und ein allerliebster Mund. Die Nase war etwas zu groß geraten, aber das tat Emmas Charme keinen Abbruch.
»Du wirst tun, was man dir sagt!« Auguste Hartmanns aufgebrachte Stimme schrillte in Clemens’ Träumerei. »Was meinst du, warum ich dich in den Chor geschickt habe? Mendelssohn ist jung, sieht gut aus und ist eine glänzende Partie.«
Clemens fühlte sich unbehaglich. Es handelte sich um ein sehr privates Gespräch, das er da zu hören bekam. Trotzdem setzte er sich unwillkürlich in seinem Sessel auf und spitzte die Ohren.
»Ich will nicht von dir verkuppelt werden!«, rief Emma zornig. »Ganz Düsseldorf lässt doch schon die Töchter an ihm vorbeiparadieren. Seit er da ist, sind im Chor plötzlich dreißig Mitglieder mehr. Fast nur junge Damen. Und ich muss ja unbedingt eine von ihnen sein!«
»Wie redest du mit mir? Wir sind doch wohl nicht ›ganz Düsseldorf‹ und außerdem …«
»Und außerdem ist er fast einen halben Kopf kleiner als ich!« Emma schien ihre Stimme kaum noch beherrschen zu können. »Ich will Malerin werden! Das weißt du genau!«
»Natürlich!«, entrüstete sich Auguste. »Das Frauenzimmer will sein Geld wie ein Mann verdienen! Und auch noch mit Kunst! Du hast doch gar nicht den Verstand dafür! Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst heiraten, und zwar bald.«
»Ach Mama! Es ist so sinnlos mit dir!«
Die Tür wurde aufgerissen, und Emma rannte schluchzend an der Sitzecke vorbei, ohne Clemens überhaupt wahrzunehmen. Während sie die Treppe hinauflief, versuchte er, seine Fassung wiederzugewinnen.
Auguste folgte ihrer Tochter mit gerötetem Gesicht, doch als sie Clemens sah, ging ein Ruck durch ihre Gestalt. Sie zupfte ihre Haube zurecht und kam einigermaßen würdevoll auf ihn zu.
»Sie müssen entschuldigen, Herr Papenstiel«, sagte sie liebenswürdig, »ein kleiner häuslicher Disput. Kinder!«
Clemens war hastig aufgesprungen.
»Selbstverständlich«, sagte er mit einer raschen Verbeugung.
Auguste warf ihm einen wohlwollenden Blick zu und wandte sich erwartungsvoll zur Treppe. Aber nur Frieda kam die Stufen herunter.
»Mamsell Hedwig ist sofort da«, sagte das Dienstmädchen. »Ich habe ihr noch bei der Frisur geholfen.«
»Dieses Mädchen bringt mich noch um den Verstand! Ach, und Frieda, du solltest doch schon längst unterwegs sein, um mein Kleid abzuholen! Ich will es heute Abend im Theater tragen. Komm aber gleich zurück, hier gibt es noch mehr zu tun.« Seufzend schaute Auguste ihrem Dienstmädchen nach. »Nun, Herr Papenstiel«, wandte sie sich an Clemens, »was für Neuigkeiten gibt es von unseren lieben Malern in Schadows Akademie? Und was ist das für ein Gerücht über einen neuen Künstler hier in Düsseldorf? Er soll aus Berlin kommen, obwohl er einen so holländisch klingenden Namen hat.«
»Ah, Sie meinen de Boer«, antwortete Clemens nach kurzem Nachdenken. »Er ist eigentlich kein Künstler. Er will hier wohl eine Kunsthandlung eröffnen, sagt man. Ich habe ihn noch nicht persönlich kennengelernt.«
Augustes Augen blitzten neugierig auf.
»Eine Kunsthandlung? Da wird er doch in mehr als guten Verhältnissen leben? Sie müssen mir alles erzählen! Wie heißt seine liebe Frau? So neu in der Stadt sucht sie sicher weibliche Bekanntschaft. Oder«, sagte sie nach einem wohlbedachten kleinen Zögern, »ist er am Ende gar nicht verheiratet?«
Clemens runzelte unwillig die Stirn. Daher wehte der Wind! Er verbarg seine Empörung, so gut es ging.
»Es tut mir leid, aber dazu kann ich nichts sagen«, antwortete er höflich.
Zum Glück kam Hedwig in diesem Augenblick die Treppe herunter und erlöste ihn aus seiner peinlichen Lage.
* * * * *
Etwa um die gleiche Zeit stand Felix Mendelssohn Bartholdy in seiner Wohnung am Flinger Steinweg unweit des Kälbermarktes vor dem Ankleidespiegel. Er war ein schlanker junger Mann von mittlerer Körpergröße mit einem schmalen Gesicht, kurzen schwarzen Locken und großen, dunklen Augen, die meist vergnügt in die Welt blickten. Jetzt hatten sie einen ungehaltenen Ausdruck, während er versuchte, mit der neuen Halsbinde zurechtzukommen, die ihm sein Musiker-Freund Ignaz Moscheles aus London gesandt hatte. Der schwarze Seidenstoff glitt ungemein weich durch die Finger, war aber deshalb schwer zu binden. Wenn er sich weiterhin so ungeschickt anstellte, würde er in diesem Städtchen wirklich noch ganz verwildern. Diese Befürchtung hatte er auch schon an Freund Moscheles geschrieben. Besonders in Fragen der Eleganz lebte man hier hinter dem Mond. Man fand einfach nicht die richtigen Stoffe für Westen oder Beinkleider, und wenn man einen Schneider beschäftigte, hielten die Nähte höchstens eine Woche. In Rom, Paris und vor allem in London mit seinen exquisiten Herrenschneidern hatte er das ganz anders erlebt. Zugegeben, diese Vergleiche waren ungerecht, aber ein städtischer Musikdirektor musste nun einmal auf seine Erscheinung achten. Und trotz allem fühlte er sich ja wohl hier, ganz ungemein sogar.
Laut Kontrakt war er für den Chor und das Orchester des Vereins für Tonkunst zuständig, um mit ihnen Konzerte und Kirchenmusik aufzuführen. Ihm gefiel seine Aufgabe, obwohl er an Sängern und Musikern noch sehr feilen musste, damit sie die Qualität erreichten, die er erwartete. Das Beste aber war die Tatsache, dass er daneben noch genügend Zeit und Ruhe fand, neue Musik zu schreiben. Wegen dieser wunderbaren Möglichkeit hatte er die Stelle in Düsseldorf überhaupt nur angenommen!
Wilhelm Schadow, der alte Freund seiner Familie, hatte ihm darüber hinaus letztes Jahr den Anfang sehr leicht gemacht und ihm zwei Zimmer im Parterre seines Hauses angeboten. Nun hatte er sich in seiner kleinen Wohnung eingerichtet, besaß einen Flügel zum Komponieren, einen Unterschlupf für seinen Diener Johann und einen Platz im Stall für sein Pferd Tyrol. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag im Februar hatte Schadow sogar die besten Familien zu einer Soiree mit Ball eingeladen! Das alles gefiel ihm ganz prächtig. Wenn nur die jungen Düsseldorferinnen hübscher wären und nicht gar so provinziell, so wenig charmant! Er hätte schon Lust, sich zu verlieben. Aber nein, hier gab es nicht die Richtige für ihn.
Die Halsbinde saß jetzt endlich zu Mendelssohns vollster Zufriedenheit. Er konnte den Tag in Angriff nehmen: ein Geburtstagsfrühstück bei seinen Malerfreunden, wenn möglich eine Partie Schach mit Schadow und danach Komponieren. Vielleicht die Melodie zu einem Heine-Lied? Er vertrug sich zwar nicht mit Heinrich Heine seit dessen Auftritt im Haus seiner Schwester Fanny. Außerdem war ihm der Sarkasmus in seinen Schriften zuwider. Aber seine Lieder waren echte Poesie! Er könnte auch an seinem »Paulus« weiterarbeiten. Oder sollte er lieber mit dem neuen Prozessionsmarsch beginnen? Zu Fronleichnam musste er fertig sein. Nun, das würde er noch entscheiden.
Er knöpfte seine Weste zu und legte die Kette um, an der seine goldene Taschenuhr befestigt war. Zeit war heute wichtig, denn abends musste er pünktlich ab sechs Uhr die Musiker und Sänger bei Immermanns »Andreas Hofer« im Zaum halten. Er hatte speziell für das Drama um den Tiroler Freiheitshelden eine Zwischenaktmusik für kleines Orchester, Männerchor und zwei Solostimmen komponiert. Ihm gefiel seine Idee immer noch, die Marseillaise mit einem Tirolerlied zu kombinieren, dessen Melodie man wiederum von dem Lied »Kommt ein Vogel geflogen« kannte. Er hatte Fanny die Noten nach Berlin geschickt, und sie hatte es jedenfalls gemocht. Die Musik sollte auch ausreichen, bei der Umbaupause das Gerumpel hinter dem Vorhang zu überdecken. Manchmal gelang das nicht. Er musste unbedingt noch einmal mit Hausmann, dem Bühnenmaschinisten, reden. Seine Leute machten einfach zu viel Krach.
Jetzt musste er wirklich rasch aufbrechen. Eine seiner Düsseldorfer Qualen begann im Nebenhaus. Schadows Nachbarin übte wie alle Tage Klavier. Rossini-Arien. Eigentlich sollte die Musik sprühen vor Leben, aber sie spielte die Melodien so unerträglich langsam! Und da war er wieder, der Fehler an immer der gleichen Stelle! Jetzt müsste doch – ja. Der Lehrer (oder die Mutter?) schlug mindestens siebzehnmal den richtigen Ton an, damit die Spielerin ihn endlich behielt. Das war zwecklos. Er wusste aus eigener trüber Erfahrung, dass sie ihn nicht behalten würde. Aber er sollte sich nicht beklagen, wahrscheinlich quälte er die Nachbarn mit seinem Klavierspiel zu allen Zeiten noch mehr. Er hatte sich bisher lieber nicht danach erkundigt. Mendelssohn schlüpfte in Gehrock und Mantel, setzte sich seinen Zylinder auf und verließ eilig das Haus.
* * * * *
Frieda war so schnell wie möglich zum Schneider gelaufen, um Madame Hartmanns Anweisungen auszuführen. Das hatte nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass sie so pflichtbewusst gewesen wäre. Es lag ganz einfach daran, dass der Frauenschneider Schmitz auf der Mühlenstraße 1 ihr Vater war. Sie freute sich darauf, wieder einmal in seiner Werkstatt auf ihrem Hocker am Fenster zu sitzen, wie sie es als kleines Kind so gerne getan hatte. Seit sie bei Hartmanns arbeitete, hatte sie kaum noch Zeit dazu.
Bei der Konditorei Steiner an der Ecke zur Mühlenstraße blieb sie einen Moment stehen und betrachtete das Treiben auf dem Burgplatz. Ganz anders als in der Bilker Straße gab es hier wenigstens etwas zu sehen! Die Regenwolken hatten sich verzogen, und immer mehr Trödelhändler fanden sich auf dem Platz vor der Akademie ein, um gebrauchte Kleidung und Alltagsgegenstände anzubieten. Zwischen ihnen übten Gassenjungen Radschlagen für den Fall, dass vielleicht ein vornehmer Akademiebesucher vorbeikam und sie ihm mit ihrer Kunst ein paar Pfennige abluchsen konnten. Direkt gegenüber hatten die Soldaten an der Hauptwache nicht viel zu tun, dafür würde die Wachablösung nachher umso schneidiger sein. Sie warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Köstlichkeiten in den beiden Schaufenstern der Konditorei und ging weiter zum Haus ihres Vaters.
Einige Malerschüler mit Bildrollen unter dem Arm kamen ihr entgegen, aber Frieda kannte sie höchstens vom Sehen. Inzwischen hatte die Akademie fast zweihundert Schüler – man konnte sie gar nicht mehr alle mit Namen kennen. Vor ein paar Jahren war das noch möglich gewesen, als Schadow die Akademie aufgebaut hatte. Und die Namen dieser ersten Schüler würde in Düsseldorf niemand so schnell vergessen, schließlich waren sie hier inzwischen die besten und berühmtesten Maler. Auch Frieda war sehr stolz auf sie und ihre Erfolge.
Sie hegte einen Verdacht, warum Madame Hartmann sie vor einem Jahr so schnell als Dienstmädchen eingestellt hatte, obwohl sie mit ihren fünfzehn Jahren noch gar keine Referenzen aus anderen Häusern vorweisen konnte. Der Grund war wohl, dass ihr Vater nah bei der Akademie wohnte und sich sogar zwei der bekanntesten Maler, Eduard Bendemann und Heinrich Mücke, in seinem Haus eine Wohnung teilten. Madame Hartmann legte großen Wert darauf, Neuigkeiten und Klatsch aus der Akademie als Erste zu erfahren, damit sie bei den regelmäßig stattfindenden Kaffeekränzchen die eingeladenen Damen mit ihrem Wissen überraschen konnte. Es war Frieda völlig klar, dass sie nachher, wenn sie in die Bilker Straße zurückkehrte, auch wieder ausgefragt werden würde.
Als Frieda das Treppenhaus betrat, tönte von oben aus dem ersten Stock fröhlicher Lärm und Tellergeklapper. Die Maler feierten irgendetwas, wahrscheinlich hatte einer von ihnen Geburtstag. Das ließen sie sich nie entgehen! Sie öffnete die Tür zur Werkstatt und blieb einen Moment stehen, um den vertrauten Anblick zu genießen: Stoff- und Fadenreste auf dem Boden, an den Wänden die Regale mit einer kleinen Auswahl an Stoffen, die Schubladen mit Garnen, Litzen, Knöpfen und Schnallen. Ein halb fertiges Kleid hing über einem Bügel am Regal. Zwei Fischbeingestelle mussten noch in die weiten Ärmel eingenäht werden, um sie von der Schulter bis zum Ellbogen in Form zu halten. Wie schnell hatte sie sich doch an die schöne und teure Einrichtung der Hartmanns gewöhnt! Jetzt fiel ihr auf einmal auf, wie abgenutzt die Möbel hier inzwischen aussahen. Ihre Familie hatte zwar immer genug zum Leben gehabt, aber die Werkstatt hatte schon bessere Zeiten gesehen. Ihr Vater saß am großen Tisch dicht vor dem Fenster, um genügend Licht beim Nähen zu haben. Er blickte von seiner Arbeit auf und lächelte erfreut.
»Ach, du bist es, Kind! Setz dich auf deinen Hocker und leiste mir Gesellschaft. Meine Näherin ist krank und deine Mutter auf dem Markt, wo sie wahrscheinlich um den Sonntagsbraten feilscht. Ich bin also schändlich allein gelassen!«
Das ließ sich Frieda nicht zweimal sagen. Sie erzählte ihm vom Trubel im Hause Hartmann, worauf er nur mehrmals verwundert den Kopf schüttelte und ruhig weiternähte. Er hatte sich noch nie sonderlich für den Klatsch aus der feinen Gesellschaft interessiert, wollte aber genau wissen, ob es ihr bei ihrer Herrschaft auch gut ging.
Seine Ruhe hatte schon immer diesen Raum bestimmt, nur unterbrochen vom Ticken einer kleinen Uhr auf dem Kaminsims. Sie war der ganze Stolz ihres Vaters. Er hatte sie vor Jahren von einer reichen Kundin geschenkt bekommen, nachdem er einen ganzen Tag und eine Nacht ein Ballkleid für sie genäht und pünktlich fertiggestellt hatte. Noch nicht einmal bei diesem eiligen Auftrag hatte er seine Ruhe verloren. Die kleine Uhr fing leise an zu surren und ließ zehn erstaunlich klare Töne hören. Frieda sprang erschrocken auf.
»Oh Gott, ist es schon so spät?« Mit Madame Hartmann war nicht zu spaßen, wenn es um Pünktlichkeit ging.
»Vergiss das Kleid nicht!« Ihr Vater wies auf ein Fach im Regal. »Der Riss am Rocksaum ist repariert, man sieht nichts mehr davon.«
Frieda nickte. »Ich bringe dir das Geld am Montag. Madame Hartmann hat vergessen, es mir zu geben.«
»Das ist schon in Ordnung. Und nun beeil dich, Kind.«
Frieda küsste ihren Vater zum Abschied, nahm das sorgfältig verpackte Kleid und trat aus dem Haus.
Plötzlich schallte aus den offenen Fenstern im ersten Stock ein Lied über die Mühlenstraße. Frieda versuchte zu erraten, wer da oben bei den beiden Malern wohl feierte. Deren Freunde aus der Akademie kannte sie fast alle. Sie blieb also stehen und hörte zu.
»Sohn, Schmidt, Bendemann, Schroedter, Lessing, Mücke
sitzen hier am Kaffeetisch und fressen sich ganz dicke
Juwelt, Flink und Schroedter, Mücke
feiern den Geburtstag heut und fressen sich ganz dicke.«
Nach dem letzten lang ausklingenden und etwas schiefen Ton folgte Gelächter und Beifall. Einige Passanten schauten belustigt zu den Fenstern hinauf, und Frieda kicherte in sich hinein. Was hatten die Maler da nur wieder zusammengereimt! Jetzt versuchte sich eine hohe Stimme durchzusetzen, die sie nicht sofort erkannte.
»Hochgeehrte Versammlung, wir haben gerade dieses Lied poetisch und musikalisch auf die Welt gebracht. Erheben wir also die Gläser, weil es heute auch Geburtstag hat.«
Ein vielstimmiges »Hoch!« folgte der kleinen Rede, die jedoch noch nicht zu Ende war.
»Deshalb sollten wir seinem Taufnamen auch alle Ehre machen. Es heißt Kanon und nicht Gassenhauer. Ich muss also sehr bitten, auf die richtigen Einsätze zu achten!«
»Er kann’s nicht lassen, dieser Musiker!«, kommentierte eine tiefe Stimme gutmütig. Sie gehörte Carl Ferdinand Sohn, kein Zweifel.
»Den Chor quält er auch immer! Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt noch mitmache!«
»Doch, das weißt du, Schroedter. Zu viel holde Weiblichkeit, zu viele hohe Töne. Eure tiefen Stimmen retten ihn vor Alteration in der Musik und im Gemüt!«
Frieda nickte zufrieden. Das war Carl Friedrich Lessing, der »lange Lessing«, wie seine Freunde ihn nannten.
»Richtig, aber wie willst du deine Musik nun gesungen haben, Felix?«, fragte Bendemann.
»Vor allem nicht so pathetisch! Eher leicht, heiter. Ungefähr so …«
Jetzt spielte Mendelssohn die Melodie auf Mückes Klavier, und sie hörte sich auch für Friedas Ohren völlig anders an. Viel fröhlicher.
»Genau so!«, rief Mücke. »Auf, Männer, noch mal! Zeigen wir’s ihm!«
Diesmal klang der Kanon bis zum Schlusston wunderbar, und das erneute Gelächter und der Applaus waren dementsprechend lauter. Nun ja, dachte Frieda lächelnd, Mendelssohn wusste eben immer, was er tat. Sie riss sich los, bog bei der Konditorei um die Ecke und ging an der Hauptwache vorbei Richtung Markt. Und auf einmal wurde ihr klar, dass sie in der Bilker Straße heute nichts mehr zu befürchten haben würde. Wenn sie erzählte, was sie gerade erlebt hatte, würde Madame Hartmann sofort vergessen, sich über ihre Verspätung aufzuregen. Die Melodie wusste sie noch, aber hoffentlich konnte sie sich den Vers merken! Eigentlich war er ganz einfach, es waren ja fast nur die Namen der bekanntesten Maler der Stadt. Aber die Reihenfolge? Die musste sie unbedingt behalten. Vor sich hinsummend lief sie rasch weiter: »Sohn, Schmidt, Bendemann …«
* * * * *
Clemens hatte den Unterricht mit Hedwig Hartmann beendet und war so schnell er konnte zur Akademie geeilt. Wahrscheinlich warteten sie dort schon auf ihn. Er passierte den Weg zwischen der Hauptwache und dem niedergebrannten Ostflügel des Schlosses mit dem halb zerstörten Turm und ging weiter durch das eiserne Gitter in den Galeriehof.
»Guten Morgen, Durchlaucht!«, murmelte er im Vorbeilaufen und musste dann über sich selbst lachen.
Die weiße Marmorstatue des Kurfürsten schien ihn immer zu einem Gruß aufzufordern, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Jan Wellem stand wie ein Wächter in voller Rüstung auf seinem Sockel und blickte gebieterisch zum Eingang der Galerie, als könnte er einen gewissen Grad an Respekt erwarten. Mit Recht, fand Clemens, nach dem zu urteilen, was er inzwischen über ihn wusste. Schließlich hatte Johann Wilhelm, Kurfürst von der Pfalz und Herzog von Jülich-Berg, die Kunst nach Düsseldorf geholt und für seine großartige und europaweit berühmte Gemäldesammlung dieses Gebäude errichten lassen. Er war kinderlos geblieben, und deshalb waren fast alle Bilder vor dreißig Jahren aus Erbfolgegründen von den Wittelsbachern nach München gebracht worden, weshalb nun die Akademie in die leeren Räume eingezogen war.
Clemens öffnete die Tür zur Galerie und lief rasch die breite Treppe mit dem fein gearbeiteten Geländer hinauf. Er konnte sich noch gut erinnern, wie unglaublich beeindruckt er diese Treppe zum ersten Mal hinaufgestiegen war. Fast hatte er gar keinen Mut mehr gehabt weiterzugehen. Beim letzten Franzosenangriff hatte das Galeriegebäude zum Glück nicht gebrannt, und so war die Pracht des alten Schlosses hier noch zu erkennen: vergoldeter Stuck an den Decken, Verzierungen über den Doppeltüren, große Fresken in Stuckrahmen an den Wänden.
Oben angekommen ging Clemens in den jetzigen Ausstellungssaal der Akademie, vorbei an Gabriel Grupellos Marmorbüsten von Jan Wellem und seiner Gemahlin Anna Maria Luisa de’ Medici, die links und rechts neben dem Eingang standen. Kaum hatte er den Saal betreten, kamen ihm drei Maler eilig entgegen: sein Freund Johann Förster, Theodor Hildebrandt mit seinem imposanten Schnauzbart und der kleine, untersetzte Johann Wilhelm Schirmer.
»Endlich, Papenstiel!«, rief Hildebrandt. »Wir müssen ins Theater, sonst mäkelt Immermann wieder. Du kennst ihn doch!«
Hildebrandt, Meisterschüler Schadows, einer der besten Maler der Akademie und seit diesem Jahr selbst Dozent, war auch Mitglied des Theatervereins. Durch ihn wussten die Künstler immer, welche Bühnenhintergründe Immermann brauchte, und malten sie ihm für seine Inszenierungen. Als Dank dafür spendierte Immermann ein Abendessen bei Beeking im Hotel »Zu den drei Reichskronen« gegenüber dem Rathaus oder dichtete etwas für die inzwischen in ganz Düsseldorf berühmten Maskenspiele und Lebenden Bilder der Malerfeste. Und seit Mendelssohn da war, hatte man sogar die Musik dazu. Auch das war ein Grund, warum Clemens sich hier so wohlfühlte: Alle Düsseldorfer Künstler arbeiteten Hand in Hand, jeder unterstützte mit seinen Fähigkeiten die Vorhaben der anderen.
»Ich hole meine Farben, dann komme ich sofort in den Hof!« Eilig lief Clemens die Treppe wieder hinunter und weiter zu den Arbeitsräumen im Erdgeschoss.
Für Immermanns »Andreas Hofer« war in den vergangenen Wochen nach Schirmers Vorlage ein Alpenprospekt entstanden, der die ganze Höhe und Breite des Bühnenhintergrunds einnahm. Die beiden hohen, offenen Durchgänge rechts und links der Bühne und die Doppeltür in der Mitte standen fast direkt davor und sollten so aussehen, als führten sie wirklich hinaus in die Natur. Alle vier hatten in einem Saal der Akademie daran weitergemalt, wann immer sie Zeit hatten. Unterschiede würde man trotzdem nicht wahrnehmen, dafür war der Prospekt von den Bühnenlichtern gar nicht ausreichend genug beleuchtet. Zudem waren sie alle Schadows Schüler, was sich in ihrer Art zu malen zeigte, obwohl jeder von ihnen seine eigene Handschrift besaß.
Clemens holte seinen Malkasten mit den vorbereiteten Farben, hängte ihn sich über die Schulter und lief zurück in den Galeriehof. Dort warteten die drei anderen bereits auf ihn.
»Dann lasst uns gehen«, sagte Schirmer. »Hoffentlich hat der Prospekt nicht allzu sehr gelitten, als er gestern ins Theater gebracht wurde. Die Farben waren an manchen Stellen noch ziemlich frisch.«
»Das sehen wir, wenn Hausmann und seine Leute ihn gleich aufgehängt haben«, beruhigte ihn Förster. »Sonst bessern wir eben noch aus.«
Sie bahnten sich einen Weg durch die Trödelstände, gingen um die Hauptwache herum und weiter über den Burgplatz Richtung Markt.
»Wie sieht es mit der Besuchszeit morgen Mittag aus?«, fragte Hildebrandt. »Hoffentlich muss ich nicht allein unsere Ateliers bewachen, wenn das Publikum die Galerie stürmt. Lessing hat gesagt, dass er wieder mal in den Grafenbergen Hasen jagt. Und von Sohn und Hübner habe ich noch nichts gehört. Wie ist das bei euch Landschaftern, Schirmer? Ist jemand von euch da?«
Es gehörte in Düsseldorf inzwischen zum guten Ton, sonntags zwischen elf und ein Uhr, pünktlich nach der Kirche und der anschließenden Wachtparade, die Galerie und auch die geöffneten Meisterateliers zu besuchen. Die Künstler und ihre Lehrer hatten nichts dagegen. Im Gegenteil. Sah man ein Bild auf der Staffelei entstehen und lernte den Künstler sogar persönlich kennen, war das durchaus verkaufsfördernd und sicherte den Malern ihren Lebensunterhalt.
»Ich werde wohl da sein müssen«, seufzte Schirmer in gespielter Verzweiflung. »Sonst verkauft mein vorwitziger Schüler Andreas Achenbach auch noch meine Farbskizzen an Ort und Stelle, als wären sie fertige Gemälde.«
Förster lachte auf. »Das ist ihm zuzutrauen!«, grinste er. »Vor fünf Jahren hat er ja schon sein erstes Bild verkauft. Da war er gerade mal vierzehn. Der weiß, wie das geht, mit oder ohne unsere Ausstellungen.«
»Genau, was ist eigentlich mit der Ausstellung dieses Jahr?«, fragte Clemens hoffnungsvoll. Er dachte dabei an die Rheinlandschaft auf seiner Staffelei.
Hildebrandt verstand sofort, was er meinte.
»Du bist sehr gut geworden. Wenn du mit deinem Bild bis zum Sommer fertig bist, kann ich mir vorstellen, dass Schadow es zur Düsseldorfer Ausstellung zulässt. Ich würde es jedenfalls tun und werde ihm das auch sagen.«
Schirmer nickte. »Ja, ich denke auch, dass du so weit bist. Kannst du es bis dahin schaffen?«
Ob er das schaffen konnte? Clemens wäre am liebsten sofort ins Atelier gelaufen. Aber er zwang sich zur Ruhe, obwohl ihm das kaum gelang. Schirmer und Hildebrandt, die ihre Werke sogar schon mehrfach bei der großen Jahresausstellung in Berlin gezeigt hatten und von der Kunstkritik himmelhoch gelobt wurden, sagten ihm ganz einfach eines Samstags, dass er, Clemens, auf dem besten Wege war, zu diesem Kreis von Künstlern zu gehören. Das würde ja bedeuten, dass er endlich mit seinen eigenen Bildern Geld verdienen konnte! Ganz kurz tauchte sogar Emmas Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Vielleicht würde sie auch nicht mehr gänzlich unerreichbar für ihn sein!
Hildebrandt beobachtete lächelnd die wechselnden Gefühle in Clemens’ Miene.
»Wenn es dir nicht ganz gelingt, ist das auch nicht tragisch. Oft hängen ja auch nur Farbskizzen oder teilweise fertige Bilder in unserer Ausstellung. Trotzdem finden sich Käufer, denen deine Idee so gut gefällt, dass sie gerne warten, bis du zu Ende gemalt hast.«
»Für Berlin im Herbst geht das nicht mit den halb fertigen Sachen«, brummte Schirmer. »Ich muss mich sputen!«
»Ach richtig, Berlin! Haben wir für die Transportkisten eigentlich schon einen neuen Schreiner gefunden?«, wollte Hildebrandt wissen. »Der vor zwei Jahren hat nichts getaugt. Beim ersten Rumpeln des Wagens fielen die Kisten auseinander.«
»Doch, da gibt es einen«, sagte Schirmer. »Ich habe mich umgehört. Ein junger Mann. Er versteht sein Handwerk und ist vertrauenswürdig. Johann Baptiste Paffrath heißt er wohl.«
»Wunderbar. Wir sehen ihn uns an und sagen Schadow Bescheid, dass diese Sorge vom Tisch ist. Und wenn seine Kisten für manche zu teuer sind, können sie ihn ja wie üblich mit ihren Bildern bezahlen. Hoffentlich ist er damit einverstanden!«
»Und wann erfahre ich, ob mein Bild in Düsseldorf überhaupt dabei ist?«, brachte Clemens das Gespräch wieder auf das Thema zurück, das ihn am meisten interessierte.
»Schadow wird es dir schon sagen«, antwortete Hildebrandt. »Und wenn er es vergessen sollte, merkst du es spätestens, wenn der Kupferstecher dein Bild haben will, damit er es für den Kunstverein stechen kann.«
»Und dann schüttet irgendein Kritiker seinen Spott über dich aus«, stichelte Förster, worauf er Clemens’ Ellbogen in seinen Rippen spürte.
»Das liegt an unserer Zeit«, verkündete Schirmer und deklamierte mit tiefer Stimme: » ›Unsere Zeit kann sich dem kritischen Kampfe nach allen Richtungen des geistigen Lebens hin nicht entziehen!‹«
Die Maler brachen in Lachen aus.
»Das hört sich nach von Uechtritz an«, prustete Förster. »Hast du wieder spät Licht angehabt, und er hat dich erwischt?«
Der Jurist und Dichter Friedrich von Uechtritz war bei seinen jungen Malerfreunden dafür bekannt, dass er sogar spät- abends noch vorbeikam, um ihnen aus seinen neuesten Werken vorzulesen und ihre Meinung dazu zu hören, vor allem, wenn er wieder etwas über die Akademie geschrieben hatte.
»Gib es ruhig zu!«, grinste Clemens. »Von Uechtritz streift doch immer so lange durch die Gassen, bis er bei einem von uns noch Licht sieht. Und gestern wolltest du eigentlich gerade müde ins Bett fallen, aber er hat es gar nicht gemerkt und dir gleich mehrere Versionen seines neuen Artikels vorgelesen. War es so?«
Schirmer nickte kläglich. Mehr musste er nicht tun, damit seine Freunde ihm wortreich ihr tiefstes Mitleid ausdrückten. In bester Stimmung erreichten die Maler den Marktplatz und betraten das Theater.
* * * * *
Um drei Uhr nachmittags kam Eduard Hartmann aus dem Bureau seiner Weinhandlung in der Mittelstraße, wünschte seinen erstaunten Kontoristen einen schönen Sonntag und machte sich auf den Heimweg. Es war ungewöhnlich für ihn, sein Handelshaus eine ganze Stunde früher zu verlassen, aber er musste erst noch ein wenig zu sich kommen, bis er so weit war, dass er den Theaterabend genießen konnte. Außerdem würde seine Frau Auguste über die Neuigkeit, die er zu berichten hatte, hocherfreut sein und ihn so lange ausfragen, bis er auch das kleinste Detail preisgegeben hatte. Das konnte eine Weile dauern, wie er aus langjähriger Erfahrung wusste. Aber dieses Mal freute er sich darauf, es ihr lang und breit zu erzählen. Er konnte ja selbst nicht genug davon bekommen.
Als er auf den Carlsplatz einbog, blieb er einen Moment stehen und hielt sein Gesicht in die Sonne, die inzwischen von einem strahlend blauen Himmel schien. Morgens war er noch missmutig durch den Regen gelaufen und hatte sich von diesem grauen Tag nicht viel erhofft. Aber manchmal war das Leben wie der April und hielt Überraschungen bereit, wenn man sie am wenigsten erwartete. Er ging weiter und beschleunigte seine Schritte, auch wegen der Aussicht auf eine wohlverdiente Tasse Kaffee und ein Stück des wunderbaren Kuchens, den Hanna, die Köchin, an den Wochenenden backte, so dass er schneller als gedacht zu Hause war.
Wie er gehofft hatte, duftete es nach frisch gebrühtem Kaffee im Haus. Er gab Frieda Zylinder und Mantel und warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Mit geübten Griffen strich er seine schon merklich gelichteten Haare glatt und zog die Weste mit der goldenen Uhrkette über seinen wohlgerundeten Bauch. Seine schlanken, jugendlichen Jahre waren vorbei, stellte er wieder einmal seufzend fest, aber für einen Mann um die fünfzig machte er insgesamt doch noch einen stattlichen Eindruck. Er betrat den Salon und sah erfreut den hoch aufgegangenen Rosinenkuchen auf einem Teller prangen. Er war dick mit feinem Zucker bestreut, genau wie er es liebte. Auguste saß mit einer Stickerei am Tisch. Sie blickte auf und lächelte überrascht.
»Eduard! Du kommst früh! Dann können wir ja gemeinsam Kuchen essen. Außerdem muss ich mit dir sprechen.«
»Und ich mit dir.« Eduard beugte sich hinunter und gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Aber zuerst brauche ich einen Schluck Kaffee. Wie ist es dir heute ergangen? Und wo sind die Mädchen?«
Während er sich auf das hohe Sofa an den Tisch setzte und sich reichlich mit Kaffee und Kuchen bediente, hörte er Auguste zu.