FÜR NICOLE, MARC UND MOYE
Der Autor, FRANÇOIS LOEB, hat selbst 25 Jahre lang einen Einzelhandelsbetrieb geleitet. In dieser Zeit sammelte er viele Erlebnisse – köstliche, traurige, spannende und emotionale. Er kann also bei seinen Kurzgeschichten aus dem Vollen schöpfen. François Loeb ist auch als Schriftsteller der vierten Dimension bekannt; er lässt in diesem neuen Kurzgeschichtenband seiner Fantasie freien Lauf, erfindet von realen Ausgangspunkten aus mögliche Verwicklungen, Träume und schwebende Geistesreisen, die seine Protagonisten – ob Buchhändlerin, Lagerarbeiter, Chauffeur, Buchhalter, oder Geschäftsführer – bis zum freudigen oder bittersüssen Ende zu durchwandern haben. Die Sachkenntnis des Autors, gepaart mit seinen »schrägen« Erfindungen, lassen den Leser in fremde und doch so nahe und bekannte Welten blicken, durch sie hindurchwandeln und gelegentlich – ob vom Schriftsteller gewollt oder nicht, ist nicht bekannt – mit warmem Herzklopfen in den reichen Raum seiner Fantasie blicken.
www.francois-loeb.com
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Oktober 2015
Allitera Verlag
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2015 Buch&media GmbH, München
ISBN print 978-3-86906-762-9
ISBN EPUB 978-3-86906-764-3
ISBN PDF 978-3-86906-763-6
Printed in Germany
H-und-e-Wissen
Epidemie
Haustürabholung!
Die Schule
Die Buchhandlung zum zornigen Buchstaben
Taxi
Der Kinderwagen
Der Held
Buchstabensuppe
Verfallsdatum
Die Partitur
Bücherwurm
Buchstabengetreu
Krass
Buchhandlung zum goldenen Buchstaben
Suche
Aus dem Leben einer Stechmücke
Der Traum des Treppenhauses
Das Lied von der Glocke
Der unvollendete Gedanke
Die Schneeflocke
Die Prüfung
Die grosse Zehe
Der Krieg der Worte
Der swingende Holzwurm
Die Freiheit des Wortes
Die etwas andere Seite
Die Königsschnecke
Worte
Umtausch
Se non è vero è ben trovato
Verborgen
Siebenundsiebzig
Diät
Rainer Maria Rilke
Von hinten
Haarsträubend
Klasotopen
Das andere Ende
Das Rezept
Cyberbiologe
Techtelmechtel
Mc Book
Ordnung
Buchrecycling
Allergie
Der Simulator
Das Bücherbüfett
Rutschbahn der Geschichte
Buchlaus
Die Verwandlung
Reiseliteratur
Ab-Satz
Ganz verschämt kam der Herr zur Information unserer Buchhandlung. Er führte seinen Rauhaardackel, ein süsses Kerlchen, an der Leine. Sobald er anhielt, setzte sich dieser brav hin. Der Herr lobte ihn deshalb auch ausführlich:
»Brav Paschat, sehr brav! Bist ein guter Hund! Der beste Dackel aller Dackel dieser Welt.« Dabei sah er mich beinahe so treuherzig an wie der Dackel ihn und fuhr dann fort:
»Wissen Sie, Paschat ist mein Begleiter. Sein Name, Sie werden lachen, stammt aus dem Französischen. ›Bin-keine-Katze‹ lautet die Übersetzung. Muss ja gesagt werden. Ich lebe einsam in einem alten Bauernhaus. Bin Komponist. Das Bellen meines Paschat inspiriert mich immer wieder zu neuen, noch unbekannten, unerhörten Kompositionen und Akkorden. Auch er ist sehr musikalisch. Spitzt immer wieder die Ohren, wenn ich probiere. Am Piano probiere.«
Ich wurde langsam ungeduldig, denn hinter dem Mann bildete sich eine Schlange von Auskunftsheischenden. Ich konnte diese nicht so lange warten lassen. Warten lassen eines Hundes oder seines vereinsamten Herrchens wegen. Bestimmt würde der Kunde gleich beginnen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er meinte wohl, in mir eine Pille gegen seine ihm fehlende Zweisamkeit gefunden zu haben. Aber nicht mit mir, dachte ich.
Ganz abgesehen davon, dass er ungepflegt daherkam. Er trug zwar einen Schlips, aber darauf war das Eigelb des Frühstücks verewigt. Und unter dem Sakko schaute ein Zipfel seines ungebügelten, wei-ssen Hemds hervor. Dass sich ein Mensch vernachlässigt, kann ich beim besten Willen nicht ausstehen. Da stehen mir alle Haare zu Berge und ich bekomme Hühnerhaut. Was auch bei dieser Gelegenheit der Fall war.
Doch wie sollte ich den Mann loswerden, ohne unfreundlich zu sein? Hier in der Bücherwelt sind wir alle auf Freundlichkeit getrimmt. Es ist eines unserer Alleinstellungsmerkmale, wie es unser Besitzer jeweils mit diesem entsetzlichen und nicht sehr freundlichen Wort ausdrückt.
In meinem Hirn jagten sich die Gedanken: Den Herrn auf die Bestseller aufmerksam machen. Ihn in das hauseigene Café weisen. Ihn zu unserer grossen Tierliteraturabteilung begleiten lassen. Letzteres schien mir der beste Weg zu sein, Hund und Herr von meiner Informationstheke zu entfernen. Ich griff also zum Telefonhörer, um die Aushilfsbuchhändlerin, eine Studentin der Veterinärwissenschaften, zu mir zu beordern, auf dass sie sich mit dem Geschichtenerzähler herumschlagen könne.
Doch da setzte der Kunde wieder sein scheues Lächeln auf, das durchaus sympathisch war und hob an:
»Wissen Sie, mich verfolgt ein böser Traum. Was, wenn Paschat eines Tages nicht mehr ist? Wenn er überfahren wird? Er sich die Hundestaupe einhandelt? Diese Einsamkeit würde ich nicht überleben. Und auch mein künstlerisches Schaffen wäre dahin.
Ich denke bereits lange an Nachwuchs. Also, verstehen Sie mich richtig, nicht eigenen, der würde mich zu sehr in meiner Arbeit stören. Ebenso eine Ehefrau. Oder eine, wie es so schön heisst, Lebensabschnittspartnerin. Nein, ich denke an Welpen. Ich habe für Paschat bereits eine entsprechende Hündin im Auge. Doch der arme Kerl, weiss er, wie es geht? Haben Sie vielleicht ein Hundeaufklärungsbuch in der Abteilung? Damit er lernen, es erlernen kann. Paschat ist so unschuldig!«
Und der Mann bückte sich, um seinen Liebling zu tätscheln, und ich wählte die Nummer der Tierliteraturabteilung, um nicht zum Band Ungebetene Gäste, das auf dem Schnäppchentisch vor meiner Theke zum Schleuderpreis vermarktet wurde, zu greifen.
Es begann ganz harmlos. Ein B hatte einen aufgeschwemmten Unterleib. Niemand bemerkte es. Einzig das benachbarte C wunderte sich. Fragte nach und erkundigte sich dann beim grossen Anfangs-E, ob es sich Sorgen machen müsse. Erhielt keine Antwort. Denn ein mächtiges E, dessen Verbündete überall im Buch die besten Positionen ergattert hatten, liess sich nicht herab, mit einem einfachen kleinen c Austausch zu treiben. Wo käme man denn da hin, dachte das E und plusterte sich leicht auf, bemerkte aber dann zu seinem Entsetzen, dass seine Unterextremität sich glühend heiss anfühlte und innerhalb einer halben Lesestunde abstarb.
Der Schrecken war gewaltig. Von einem edlen E zu einem einfachen, wenn auch grossgewachsenen F zu mutieren, war ein harter Schlag für das Selbstbewusstsein des lädierten E. Der Gedanke, dass nun auch der Sinn des gesamten, mit ihm verbündeten Wortes entstellt würde, bereitete dem ehemaligen E schlaflose Sekunden, ja gar Minuten. Das zum F mutierte E hoffte inständig, bald aus seinem Albtraum zu erwachen, denn schliesslich konnte die Wirklichkeit einem blaublütigen Buchstaben unmöglich ein solch grausames Schicksal bescheren.
Während das F so sinnierte und durch Flucht in ferne Traumwelten einen Hoffnungsstrahl zu erhaschen hoffte, hob zehn Seiten weiter ein Riesenstreit an: Einem Punkt wuchs eben ein langer Schwanz, sodass seinem Nachbarn, ebenfalls aus der Familie der stolzen Grossgewachsenen, vom Überwachungsduden der Befehl erteilt wurde, sich unverzüglich der Verkleinerung zu unterziehen, denn solch grobe Regelverstösse könne er bei seiner Lektorenseele nimmer dulden. Nun kam durch des Es Verzweiflungsschreie »EEEEEEeeeee« grösste Unruhe auf. Kein Bewohner wollte auf die Dauer in der Nähe dieser Lärmquelle leben.
Zudem – und das war nicht zu unterschätzen – begannen sich auch zahllose, weiter entfernte Bewohner und verwandte Buchstaben des Buchs unwohl zu fühlen. Ein Grimseln und Gramseln ging durch ihre schmalen Körper. Einem kleinen l fiel darob der Kopf ab, was zu heftigen Protesten der zahlreichen Is führte, die enthauptete Seitengenossen nicht unter sich dulden wollten. Ein grosses U legte sich mit einem kleinen x an, behauptete, dieses sei nicht echt und in betrügerischer Absicht unterwegs. Ein W sah mit geschlossenen Hühneraugen zu, wie es sich zu zwei Vs wandelte. Ein C hingegen blähte sich durch Wachstum einer kleinen runden Wucherung zu einem stolzen O auf, was zu heftigsten Reaktionen des Vokalregisters führte, das berechtigterweise fürchtete, von Mutationen überschwemmt zu werden. In der Mitte des Buchs aber verlor ein fettes grosses O, durch Nebenwirkungen einer Diät zu einer schäbigen 0 mutiert, die Contenance – denn ein Leben als Null konnte sich der ehemalige Adlige schlicht nicht vorstellen – und sann nach einem Notausstieg.
Als es Tag wurde und die zuständige Buchhändlerin alle Lichter entzündete, entdeckte sie ein Buch, das aus dem Regal gefallen war. Sie öffnete es und traute ihren Augen nicht, denn Inhalt und Buchstaben des Textes waren vollkommen durcheinander und jede Seite liess fürchterliche Töne erklingen, sodass die erschreckte Dame das Buch unvermittelt fallen liess und den Leiter der Belletristikabteilung um Hilfe rief. Sollte er doch und nicht sie sich mit diesem Horror befassen!
Der Herr behauptete zunächst, in seinem Büro mit Bestellungen beschäftigt zu sein, und erst das inständige Bitten und Betteln der bereits ergrauten, im Buchhandel erprobten Beraterin führte ihn zum Tatort im ersten Untergeschoss des Hauses. Er hob das Buch vom Boden auf, nicht ohne zuvor seine feinen, von seiner Gemahlin erst vor wenigen Tagen unter dem Weihnachtsbaum vorgefundenen Lederhandschuhe, die er in seiner Brusttasche, nahe seines Herzens aufbewahrte, über seine dicklichen Finger gestülpt zu haben.
Er öffnete das Buch und rang um Fassung. Liess die Rädchen in seinem Hirn (oder waren es viel eher Elektronen?) in rasender Geschwindigkeit sich hin und her bewegen, sann nach einer Erklärung oder zumindest einer Klärung für den Vorfall. »Ratten, Ratten, Ratten«, rief er aus. »Das sind Ratten! Ich rufe sogleich den Kammerjäger «, und liess den Corpus Delicti wieder zu Boden fallen. Er zog seine Handschuhe mit spitzen Fingerkuppen aus und versuchte dabei sichtlich die Haltung zu wahren, denn ein Teil seines Hirns meldete ihm gegen jedes bessere Wissen, es bestehe durchaus die Möglichkeit, dass nicht Ratten die Ursache des Buchunheils sein könnten. Doch er rief seine Elektronen zur Ordnung, schaffte es, die Handschuhe, an seine Gemahlin denkend, wieder an ihren Stammplatz am Herzen zu versorgen und den verstörenden Gedanken erfolgreich zu verdrängen.
Der elegante Abteilungsleiter verschwand in seinem Büro, das manch einer als Verschlag bezeichnet hätte, griff nach dem schwarzen Hörer seines altertümlichen Telefons und bestellte, obwohl es Samstag war, den Kammerjäger. Sprach ihm eine superdringliche – wenn es superprovisorische Gerichtsbeschlüsse gab, konnte er getrost dieses Wort verwenden, befand er – Botschaft aufs Band. Es handle sich um einen Notfall, denn der gesamte Buchbestand der Belletristikabteilung sei sonst gefährdet, ganz zu schweigen von einem möglichen Übergriff der Ratten auf die Rechtsabteilung, was das gesamte Rechtssystem des Landes auf den Kopf stellen könnte. Er solle sich nur vorstellen, was wäre, wenn plötzlich Mord eine Liebesgabe würde, oder – er legte eine Pause ein, denn ein schriller Piepston zeigte an, dass er nicht weitersprechen sollte oder, falls er es täte, seine Worte nicht mehr aufgenommen und sich im Äther verflüchtigen würden. Voller Inbrunst – er entliess seinem Herzen auch ein Stossgebet – hoffte er, dass der Kammerjäger keinen Ausflug unternommen habe, keinem Reitturnier aufgesessen und auch nicht gerade seinen Mannespflichten am Nachgehen sei, und wandte sich erneut seinen Bestellvorgängen zu, versuchte weitere Gedanken an das vermaledeite Buch durch eine hurtig aufgebaute Denkzollmauer zu unterbinden.
Das inkriminierte Buch hingegen lag nach wie vor am Boden vor dem Buchgestell, das auch historische Romane enthielt. Geschichten über Steinzeitmenschen, Pharaonen, Hexenprozesse und all den weiteren geschichtlich unverfänglichen, weil bereits abgelebten Tatsachen. Gleich würden die ersten Kunden erscheinen. Die ältere Buchhändlerin empfand nach dem feigen Verhalten des Abteilungsleiters keinerlei Lust mehr, nochmals diese Unheimlichkeit anzufassen oder gar zu entsorgen, suchten sie doch seit Jahren Angstträume heim, in denen die entsetzlichen Ratten zu Hunderten antrabten und gar ihre Füsse anzuknabbern wagten. Waschraumdrang erlöste sie von der ihr eigentlich zustehenden Pflichterfüllung. Dagegen konnte kein Vor- oder Nachgesetzter etwas einwenden.
In der Zwischenzeit wurde es den mutierten Buchstaben – die Epidemie hatte das ganze Buch mit Haut und Haar erfasst, kein noch so kleinstes Stück bedruckter Fläche war noch nicht angesteckt – zu eng zwischen den Buchdeckeln. Sie sehnten sich fieberglühend nach Luft, sprengten ihre Fesseln. Stürmten das Buchgestell. Drangen in die Geschichte ein und veränderten sie mit Punkt und Strich und Faden bis aus Pharaonen Sklaven, aus Hexen Richter, die ihre Richter peinlich verhörten, und aus Steinzeitmenschen Geschöpfe, so weich wie Marshmallows, wurden. Die Epidemie griff im Sekundentakt um sich, entwickelte sich zur Pandemie, gegen die schlicht kein Kraut, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, geschweige denn in der Gegenwart, gewachsen war.
Da invadierten wie jeden Morgen die ersten Buchkäufer, Schnellleser und Schmökerer die Buchhandlung, stürzten sich auf Neuerscheinungen, kraulten liebevoll die Buchrücken alter Klassiker, blätterten, als wüte ein Herbststurm, durch Hunderte von Bücherseiten. Als sie das Gestell der historischen Romane erreicht hatten, verzogen sie ihre Mundwinkel ob der unverständlichen Buchstabenwelt weit nach unten, zwanzig nach acht war dabei eine gigantische Untertreibung. Sogleich suchten die Liebhaber dieser Buchgattung ihre geschätzte Beraterin, die sich jedoch, der Leser weiss es bereits, ins Abseits verzogen hatte. Auch der Abteilungsleiter war nicht präsent, immer noch mit seinen Bestellungen und den Rattengedanken im Hirn mehr als voll beschäftigt. So stürmten die aufgebrachten Leseratten die Kassenburg, redeten alle miteinander auf den Oberkassierer ein, baten ihn handgreiflich, mit zum Buchgestell ihrer Leiblektüre zu kommen, um das Unglück selbst mit eigenen Augen zu »beschlechtachten «. Von begutachten konnte in ihren Augen längst keine Rede mehr sein.
Widerwillig liess sich der distinguierte Herr mit seinem rot-gelb gestreiften Schlips, der perfekt zu seinem mit feuerroten Schnürsenkeln zusammen gehaltenen, gelben Schuhwerk passte, zur besagten Ecke der Buchhandlung führen, sah sich um, betrachtete das eine und andere Buch, blätterte, vertiefte sich umgeben von der aufgebrachten Menge in die eine oder andere Seite, schritt am Buchgestell entlang, sah auf dessen Beschriftung, zeigte mit allen zehn Fingern – eine Kunst die er sich durch langes Training angeeignet hatte – auf die Gestell-Bezeichnung und rief dann mit sonorer Stimme:
»Was wollen Sie denn alle zusammen, da steht doch gelb auf rot ›Histerische Romane‹, was erwarten Sie denn anderes als den vorgefundenen Inhalt zwischen den Bucheinbänden, der passt doch hervorragend! «, drehte sich um und schritt würdevoll mit stolzem Blick auf den Schuhdreck seiner Kissenburg zu.
Da schneit doch wieder, obwohl an meinem Briefkasten klar und deutlich steht »Werbung nicht erwünscht«, eine Einladung von unserer Buchhandlung, in der wir regelmässig schmökern gehen und unregelmässig Abschlüsse tätigen, ins Haus: Am nächsten Freitag sei zu einer Buchvernissage eine Haustürabholung vorgesehen. Wir hätten nichts weiter zu unternehmen, als uns telefonisch zur Haustürabholung anzumelden, falls wir diese wünschten, was uns, doch schon ältere, nicht mehr automobiltaugliche Semester sehr erfreute. Glücklicherweise also hatte dieses Schreiben die hohe Hürde der »Werbung nicht erwünscht« elegant übersprungen und wir bereiten uns am heutigen Freitag – ältere Menschen benötigen für alles etwas mehr Zeit – schon am Vormittag auf das erfreuliche Erlebnis vor. Wir duschen, uns der dabei eingehenden Gefahren voll bewusst, ausgiebig, meine Gemahlin onduliert die Haare nach allen Regeln der Kunst und ich wähle während mindestens zweieinhalb Stunden die passende Krawatte zu meinem aprikosenfarbenen Jackett aus. Es ist nicht einfach, aus einem Bestand von dreihundertzweiundzwanzig Exemplaren das richtige herauszufinden. Übrigens sind Aprikosen meine Lieblingsfrüchte und ihnen zu Ehren, aber auch um Blicke jüngerer Damen auf mich zu lotsen, habe ich dieses Stück vor einiger Zeit erworben.
Ich empfinde grosse Dankbarkeit für meine Buchhandlung, die doch an alte Menschen und ihre Mobilitätsprobleme denkt und diese berücksichtigt. Berücksichtigt unter keiner Kostenfolge, was heutzutage kaum mehr vorkommt. Beispielhaft, denke ich. Ja, man soll nicht alle Unternehmen in einen Topf werfen. Es gibt stets löbliche Ausnahmen, so wie heutiger Corpus Delicti – ach das ist der falsche Ausdruck, wie heisst nur der korrekte? … nun das Alter, die Festplatte in meinem Kopf ist doch scheinbar ziemlich voll, also sei es, wie es sei: Die Abholtat ist zu begrüssen. Ich werde es dem Inhaber mitteilen. Oder dem Geschäftsführer. Oder handelt es sich um eine Geschäftsführerin? So viel Empathie kann nur einer Frau zugeschrieben werden. Ein Haudegen-Direktor käme niemals auf eine solche Idee. Ich sehe nach meiner Frau. Sie ist ausgehfertig. Ein Anklang an Jugendlichkeit flackert in ihrem Gesicht. Ja, so einen Ausdruck der Freude trug die damals Angebetete immer zur Schau!
Es klingelt. Mühsam trete ich den Treppengang an, der manchmal zur Qual wird. Ungeduldig sind die Klingler. Betätigen das Summen ununterbrochen. Klopfen an die Türe. Müssen junge Menschen sein. Die Geschäftsführerin sollte besser auswählen. Ich werde es ihr sagen. Personalauswahl ist das A und O des Kundendienstes. Da kann die Dame, wenn es tatsächlich eine Dame ist – ich habe mich im Leben auch schon getäuscht, wenn auch nur selten –, etwas von mir und meinen lebenslangen Erfahrungen lernen.
Ich schliesse das zweifache Sicherheitsschloss auf. Drei kräftige Männer stehen vor dem Eingang. Sehen eher nach Umzugsmännern aus, die alle zwei Stunden eine kräftige Jause zu sich nehmen müssen. Sie scheinen tatsächlich ausgehungert.
»Sie haben sich zur Haustürabholung eingetragen«, bemerkt der Kräftigste und sieht mich dabei aus stechenden Augen an. Ich bemerke, dass meine Frau gleich da sein werde. Er antwortet: »Braucht nicht zu erscheinen. Wir drei sind stark genug!« Und die Kraftprotze beginnen, die Haustüre auszuhängen. Der Kleinste, immer noch ein Koloss, sagt dann mit beruhigender Stimme: »Ihre Haustüre wird in der Live-Ausstellungseröffnung zum neuen Buch ›Die passende Haustüre, eine Ideen-Fundgrube‹ einen Ehrenplatz erhalten. Wirklich hervorragend und typisch fürs letzte Jahrhundert.«
Das Gebäude sah unscheinbar aus. Bis vor einem Jahr beheimatete es im Untergeschoss eine Buchhandlung. Ein Stadthaus, wie es Hunderte davon gab. Grüne Jalousien, Sprossenfenster. Nicht aufgeklebt. Bewahre! Jede Sprosse handwerklich geformt. In echter Schreinerarbeit. Im Holz steckte der Stolz der Handwerkergilde. Strahlte, als ob jede Holzfaser von Radioaktivität geladen wäre. Demnächst das Zeitliche segnen und in Halbwertszeit ewig strahlen wolle.
Ja, das Gebäude sah unscheinbar aus. Scheinbar unscheinbar. Denn aus dem Inneren hörte ich Schreie. Befehlstöne. Kommandostimmen. Und eben Schreie. Niemand störte sich daran. Kein Passant. Kein Kleinkrämer oder Pizzakoch. Sie alle schienen diese schrillen Töne nicht zu vernehmen. Kamen die Schreie aus meiner Fantasie?
Ja, ich bin damit gesegnet. Mehr als gesegnet. Mein Kopf, mein Geist gehen oft mit mir, als seien es scheuende Pferde, durch. Also, so schloss ich daraus, kamen die Schreie aus meinem Unterbewusstsein. Aus meiner Seele. Horrende Protestgesänge über die Ungerechtigkeit dieser Welt etwa. Die zwar so wunderbar ist, aber schreiend gemein sein kann. Auch im Inneren von Häusern. Von Menschen. Von mir. Doch ohne Ablenkung durch meine Seele, meiner Seelenpein, hörte ich weiterhin Lärm, ja, Tumult, der aus dem beobachteten Hause drang, als wäre es Rauch eines schwelenden Feuers oder Schlamm aus einem überquellenden Sumpf.
Ich beschloss, mich gegenüber in ein Café zu setzen, in der Hoffnung der Angelegenheit auf den Grund zu kommen, wieder festen Boden in mein Leben einziehen zu lassen. Denn so voller innerer Unruhe, Un-Ruhe im wörtlichen Sinne, zu sein, hielt ich einfach nicht aus. Alles war besser als dieser Zustand der inneren Revolte, die mein Leben umzukrempeln drohte, drauf und dran war, es in ein brüllendes Chaos zu verwandeln. Ein Sturmchaos, bei dem kein Stein auf dem anderen bleiben konnte.
Ich bestellte einen kleinen Schwarzen, heiss, wie ich betonte, denn kalten Kaffee kann ich aus tiefstem Abscheu nicht leiden. Gab, als die Kellnerin in ihrer langen schwarzen Schürze diesen servierte, den Zucker mit einem gequälten Lächeln zurück, denn mir stand der Sinn wirklich nicht nach Süssem.
In diesem Augenblick strömten Jugendliche aus dem beobachteten Gebäude. Lachende, schwatzende junge Menschen. Bildhübsche junge Frauen. Feingliedrige und doch muskulöse Männer im Teenageralter. Alle trugen übergrosse Stofftaschen mit sich, die Tragriemen dieser Behältnisse lässig über die Schultern gehängt. Keine Schreie drangen mehr aus dem Haus. Einzig Lachen erfüllte die Strasse. Fröhlichkeit. Jugendausgelassenheit. Umarmungsklänge erfüllten die Gasse. Küsse flogen zwischen Lippen hin und her.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stand auf. Befragte einen jungen Mann, der schlendernd aus dem Hause trat, auch er seine schwarze Tasche lässig über der linken Schulter tragend.
»Bitte«, sagte ich, »bitte, was hat das mit den Schreien im Hause hier für eine Bewandtnis? «
Erstaunt blickte er mich aus verträumten Augen an und antwortete beinahe flüsternd:
»Im Untergeschoss lernen wir. Lernen in der Buchhandlung des Lebens. Wir lassen in unserer Lebensschule alle Bitterkeit und alles Leiden des Lebens zurück. In uns liegt das Glück. Tief eingewickelt in unseren Seelen. Wir lernen in den Büchern des Lebens es auszupacken. Auszubreiten. Wollen Sie ein Stück davon mit mir teilen?«
dunkle nacht
schlafende bücher
gestelle
voller seller
dösende klassiker
mitleidig mit dezentem titelblatt
blickend auf profane romane
welche sie würdigen
mit keinem blatt
sexliteratur neben
politischer karikatur
kinderbücher
lassen ertönen
ihr klingendes lachen
es stöhnen die leichen
der kriminellen novellen
buch-zeichen geduldig warten
auf futter durch staben
leselampen
lexika
notenbücher
leichentücher
fehlerteufel
kassenschlager
warenlager
da!
ein goldenes a
es reckt sich
streckt sich
steht auf
tritt aus dem buch
auf den einband
den rücken zur wand
räuspert sich
hebt an zu sprechen:
ihr buchstaben all
höret hin
ihr seid unterdrückt
missbraucht
müsst stehen
in reih und glied
nur um dem menschen
zu dienen
ihm zu vermitteln macht
buchstaben ihr alle
vereinigt euch rasch
steht auf
nehmt das heft in die hand
das buch gleich schon
kämpft
es lebe die buchstabenrevolution!
da erhebt sich
ein gramseln
es frtum
gosulttzk
flomapt kisolu
lln ramogullzifatokult
mosu
ddosu
klick
lick
ick
ck
k
Als einziger Taxifahrer im Ort mit festem Standplatz am Bahnhof, kenne ich mich schon bestens aus und weiss, was im Städtchen geschieht und zukünftig geschehen mag. Sie wissen ja, Neuigkeiten machen auch an Zugstationen Halt, und Klatsch sonnt sich liebend gerne neben den Gleisen, denn Bewegung gehört ja zu ihm wie Schattenwurf zum Sonnenschein. Vor vierzehn Tagen mag es gewesen sein – es war gegen zwanzig Uhr und auf der letzten Fahrt vor dem Ereignis, von dem ich Ihnen berichte –, da genoss ich auf der Seeterrasse des Hotels »Des Bains« beim leichten Nachtmahl, welches ich stets hier einzunehmen pflege – ich kann das Lokal durchaus empfehlen, eine Abendstimmung, wie sie einzig der Murtensee bieten kann. Die Sonne spielte mit den Wipfeln der hohen Bäume auf der Krete des Ufers gegenüber Haschen, die Wasseroberfläche glitzerte wie Tausend bunte Edelsteine, die Himmelsfarbe verklärte sich in ein Rot von überirdischem Glanz, eine Stimmung ganz zum Träumen, als mein mobiles Telefon mich mit seinem Staccato aus der wundervollen schwärmerischen Stimmung riss.
»Ja«, antwortete ich unwirsch.
»Bitte kommen Sie in die Rathausgasse zur Buchhandlung, wenn möglich rasch, wenn ich Sie bitten darf.«
»Wohin geht denn die Reise?«, eine Frage, welche ich stets stelle, denn für kürzeste Distanzen mag ich mein Essen nicht unterbrechen.
Doch einzig ein trockenes Klicken beantwortete meine Frage.
Zum Teufel, in der Rathausgasse besteht doch keine Buchhandlung, da will mich jemand einzig zum Narren halten, ich lehnte mich zurück, betrachtete erneut die Stimmung. Wie gern hätte ich sie doch in den Armen einer Frau verbracht! Doch geniessen konnte ich das Naturschauspiel nur für den Bruchteil einer Minute, denn wieder schnarrte mein Telefon. Doch nicht erneut diese mich zum Narren Haltende! »Ja?«, mürreschwere Steine legte ich in dieses eine Wort. Ein trockenes Klicken war die Antwort. Nicht ein einziges Wort bin ich dem Anrufer wert, meldete sich mein Hagestolz, und ich legte das Gerät möglichst weit von mir fort zum Aschenbecher, den ich, seit ich nicht mehr rauche, als Feind empfand.
Rathausgasse? Buchhandlung? Da hatte doch letzthin ein alter Fahrgast, er musste an die neunzig sein, verbrachte seinen Lebensabend im Burgerheim, von vergangenen Zeiten auf der Fahrt gesprochen und auch davon, dass in seiner Jugend – seine Augen verklärten sich bei diesen Worten und das Gesicht nahm ein heiteres Strahlen an, wie ich im Rückspiegel beobachten konnte –, in der Rathausgasse eine Buchhandlung bestand, welche unendliche Schätze zu beherbergen wusste, die damals, als seien es ferne Sterne, jenseits seiner Besitzerreichbarkeit gelegen hätten. Doch die Inhaberin der Buchhandlung, eine skurrile alte Dame, hätte ihn, den damals jungen Knaben, stets als Gast empfangen und schmökern, ihn kurze Blicke in ferne Welten, zwar einzig für Minuten, als seien es Fenster zu andern Galaxien, erhaschen lassen, was für ihn so wundervoll gewesen sei, dass er als Erwachsener dann Buch um Buch verschlungen habe.
Das Geschäft sei später eingegangen, er wisse nicht mehr wann, doch, wenn er sich recht erinnere, sei die liebe alte Frau einfach eines Tages nicht mehr da gewesen. Hinter vorgehaltener Hand habe er damals munkeln gehört, sie sei mit einem Autoren, der die Sommerfrische in der Stadt genoss, einfach durchgebrannt. Als Knabe habe er, der Fahrgast, das Wort sehr wörtlich aufgefasst und sich vorgestellt, dass der Dame grauen Haare in Feuer aufgegangen seien, um dem Mann in der Nacht den Weg zu weisen. Gelitten habe er damals lange Zeit, berichtete der Greis, täglich an der mit Eisenjalousien gesicherten Handlung vorbei zu gehen, um der Schätze wissend, welche sich im Inneren nun endgültig vollkommen unerreichbar häuften.
Eines Tages dann seien rote Anschläge an den Jalousien angekleistert worden, die grosse Schlussauktion der Buchhandlung ankündigend. Am Samstag, den 7. Juli 1928, – das Datum habe riesengross in der Mitte der Plakate schwarz geprangt – finde der Abverkauf aller Bücher statt. Gezeichnet war der Text unten rechts vom Konkursund Verwertungsamt der Stadt Murten; als Grund war angegeben, die ausstehende Miete werde dadurch beigebracht.
Mit klopfendem Herzen habe er, der damals Zwölfjährige, dem Ereignis entgegen gefiebert und die letzten drei Nächte kaum mehr Schlaf gefunden. Schon am Vortag des besagten Tages seien zahlreiche Herrschaften aus der Hauptstadt angereist – des Städtchens Strassen seien richtig verstopft von den vielen Automobilen gewesen –, um sich mit günstigen Büchern und Schriften einzudecken. Er aber habe von seinem Grossvater und einem Onkel, der eine Wirtschaft besass und sich vom Ereignis Mehrumsatz versprach, jeweils fünfzig Rappen erhalten, die er zum Erwerb gedruckter Schätze einzusetzen gedachte – in Trauer zwar, weil er auf diese Weise selbst Hand an die Zerstörung seines Paradieses anlegte, aber, so habe er eingesehen, könne er mit dieser Tat einen kleinen Baustein seines Garten Edens retten und ihn sich mit den Käufen für den Rest des Lebens tief ins Gedächtnis einbrennen.
All das kam mir nach dem Anruf, welcher mich zur Buchhandlung in die Rathausgasse bat, wieder in Erinnerung und weckte so stark meine Neugier, dass ich trotz Naturstimmung und wohligen Seelendaseins beschloss, dem Ruf zu folgen – wohl wissend, dass in besagter Gasse keine Buchhandlung zu finden sei.
Als ich zehn Minuten später durch die Hauptgasse in die Rathausgasse einbog, fand ich eine gaffende Menschenmenge drei Häuser links vom Rathaus auf der Seeseite vor; die Feuerwehr stand mit zwei Löschwagen bereits dort, eine Drehleiter war ausgefahren, ein Polizist bemühte sich, der Ansammlung von Menschen Herr zu werden und mit Worten und einem Seil, das er zu spannen suchte, Distanz zwischen den sich vordrängenden Menschen und dem schwarz aus dem Erdgeschoss qualmenden Rauch zu schaffen, was ihm sichtlich nicht gelingen wollte. Die unübersichtliche Lage rasch erfassend, wendete ich meinen Wagen sogleich, doch als ich das Getriebe vom Rückwärts- in den Vorwärtsgang zu schalten hatte und dabei kurz anhielt, öffnete eine ältere, doch sehr attraktive Dame mit einer Nickelbrille auf der Nase den Wagenschlag, stieg in den Fahrgastraum und bemerkte mit einer melodiösen Stimme:
»Gut, dass Sie meinem Rufe folgten, ich kann nicht zusehen, wie meine Bücher verbrennen. Fahren Sie mich irgendwo hin, nur fort von hier!«
»Wohin, gnädige Frau?«, dies schien mir die geeignete Ansprache für die Dame.
»Irgendwohin!«