Torsten Körner
Die Familie Willy Brandt
FISCHER E-Books
Torsten Körnerschrieb die hochgelobten Spiegel-Bestseller-Biographien über Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer und Götz George und ist seit vielen Jahren Juror des Grimme-Preises. Unter anderem wurde er 2010 ist er mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Als freiberuflicher Autor und Journalist schreibt er Medien- und Fernsehkritiken.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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ISBN 978-3-10-401415-9
SMS-Dialog mit Matthias Brandt am 4. Mai 2013
Peter Brandt, 5. Klasse
Kölner Stadtanzeiger, 4. Mai 1968
Der Historiker Ludolf Herbst hat in seinem Buch »Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias«, 2011, gezeigt, was Hitler mit Hollywood verbindet, indem er das Charisma Hitlers als durch und durch strategische und inszenierte Größe beschrieb, die nichts mit einem genialischen Funkenflug zu tun hatte.
Zum Begriff »Effizienz« vgl.: Franz Walter: Charismatiker und Effizienzen, Frankfurt am Main 2009.
Sabine Manke hat in ihrer Studie: »Brandt anfeuern. Das Misstrauensvotum 1972 in Bürgerbriefen an den Bundeskanzler« den kollektiven Bekenntnisdrang der Bürger untersucht. Ihrer Untersuchung zufolge wurden in den Tagen um den 17. April mehrere zehntausend Briefe an den Kanzler geschickt.
Wie aus dem Leiden ein »Kapital« werden konnte, hat Wolther von Kieseritzky in seinem Aufsatz »›Wie eine Art Pfingsten …‹ Willy Brandt und die Bewährungsprobe der zweiten deutschen Republik« beschrieben. Er findet sich in dem Buch von Frank Möller (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004; S. 219–258.
Ein Charismatiker ist wohl auch daran zu erkennen, dass kleine, kleingewachsene Männer wie mein Vater auf eine hohe Leiter steigen, obwohl es ihnen schwindelt, um das Bild eines großen Mannes zur Geltung zu bringen, und ihre Söhne mitnehmen, damit die ihnen zusehen bei diesen Heldentaten, die auch aus ihnen große Männer machen.
Für Mai
Im Sommer 1980 trat Willy Brandt das erste Mal öffentlich vor die Bürger Unkels. Er wirkte entspannt, das sonst oft melancholisch verquollene Gesicht war gestrafft. Die Schwermut auf Diät gesetzt, ein heiteres Lächeln glättete die Züge. Die kleine Rotweinstadt am Rhein in der Nähe von Bonn feierte den einhundertsiebzigsten Geburtstag des Freiheitsdichters Hermann Ferdinand Freiligrath, der von 1838 bis 1840 in Unkel gelebt hatte. Hier am Rhein hatte sich Brandt 1979 nach der Trennung von seiner zweiten Ehefrau Rut niedergelassen. Ein neues Kapitel seines Lebens sollte hier aufgeschlagen werden. Hier würde er noch einmal lieben, noch einmal heiraten, hier würde er das erste Mal überhaupt ein Haus bauen, in dem er 1992 schließlich sterben sollte.
Die Menschen standen dicht an dicht auf dem schmalen Marktplatz, der von geduckten Fachwerkhäusern eingezwängt war. Den populären Politiker wollten sie sehen, ihm galt ihre Neugier. An diesem Tag, dem 17. Juni 1980, war Willy Brandt 66 Jahre alt und glücklich, am Leben zu sein. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit drängte gerade an diesem Festtag scharf und schneidend heran. Brandts Leibwächter indes merkten davon nichts, Gefühle fielen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Der Unkeler Schriftsteller Leonhard Reinirkens hatte unmittelbar vor dem prominenten Mitbürger gesprochen und sich deshalb redlich bemüht, Freiligrath als politischen und revolutionär gestimmten Dichter herauszuarbeiten. Doch dann trat Brandt ans Rednerpult, dankte seinem Vorredner kurz und bemerkte lächelnd, man möge doch bitte nicht vergessen, dass Freiligrath auch sehr schöne Liebesgedichte geschrieben habe. Dann nahm er sich zur Verblüffung des Publikums, das eher Wahlkampftöne erwartet hatte, die Freiheit, eine Freiligrath-Strophe zu rezitieren: »O lieb’, so lang du lieben kannst! O lieb, so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst.«
Ein kurzer still-beklommener Moment, vorbei.
Fünf Monate später nahm Brandt auch formell Abschied von seinem alten Leben, jetzt wurde auf Papier bekundet, was im Leben längst besiegelt war. Am 16. Dezember 1980 wurden Rut und Willy Brandt nach 32 Jahren Ehe geschieden. Es waren die wichtigsten Jahre in ihrem Leben. Sie waren miteinander jung gewesen, sie hatten einander genügt, wie man sich nur im Gefühl der sicheren Liebe genügen kann, sie hatten ihre drei Kinder aufwachsen sehen und waren ein glanzvolles, ein sich bestärkendes und miteinander wachsendes Paar gewesen. Sie war die Frau an der Seite des Mannes, der aus dem Exil heimgekehrt war, sie war die Frau des Regierenden Bürgermeisters, sie war die Frau des SPD-Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten, sie war die Frau des Außenministers, schließlich die des Bundeskanzlers und auch die Frau des Friedensnobelpreisträgers. Sie liebte, sie war loyal, eine Ja-Sagerin war sie nicht, keine Erfüllungsgehilfin, keine, die nur abnickte, was er sagte und tat. Sie hatte ihren eigenen Kopf, auch dafür hatte er sie einst mehr als geschätzt. Doch zuletzt teilten sie nur noch das Gefühl, den anderen nicht mehr zu erreichen, nicht mehr zu verstehen.
Am Tag ihrer Scheidung in Bonn lachten sie ein letztes Mal miteinander, tranken in der Wohnung ihres Sohnes Lars ein Glas Wein, dann gingen sie auseinander. Doch dieser Tag war nicht, wie es Rut Brandt erhofft hatte, der Tag, an dem ihre Freundschaft begann, sondern nur ein schwer lastendes, unversöhnliches, nachtragendes, verletzendes Schweigen. Rut und Willy Brandt sprachen nie wieder miteinander und sahen einander nur noch im Fernsehen.
Willy Brandt starb zwölf Jahre später am 8. Oktober 1992. Rut Brandt war weder zum klirrend-kühlen Staatsakt im Reichstag noch zur anschließenden Beerdigung auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof eingeladen worden. Die Söhne Peter, Lars, Matthias und Brandts Tochter Ninja aus erster Ehe folgten dem Sarg, vor ihnen Brigitte Seebacher-Brandt, Willy Brandts dritte Gattin, und Helmut Kohl. Der Staat und seine Repräsentanten, die Partei und ihre Genossen hatten den Toten ganz zu ihrem Toten gemacht. Familie als Randnotiz. Wolf-Rüdiger Knoche, ein Jugendfreund von Peter Brandt, beobachtete: »Bei der Beerdigung ist mir aufgefallen, aufgegangen, dass die Partei Brandts Familie war. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Mann so weinen sehen wie Holger Börner.«
Rut Brandt starb am 28. Juli 2006 in Berlin. Sie war schon seit längerer Zeit krank gewesen, Namen und Gesichter waren ihr entglitten, Zeiten und Bilder waren verloren, ihre Erinnerungen porös geworden. »Rut Brandt litt an Alzheimer« meldeten die Zeitungen. In ihrer Todesanzeige las man einen Sinnspruch des norwegischen Nationaldichters Bjørnstjerne Bjørnson: »Es gibt Sonne genug, es gibt Acker genug. Hätten wir nur der Liebe genug.« Auch Rut Brandt wurde auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof in Berlin beigesetzt. So liegen die Eheleute getrennt und doch beisammen. Das Grab des Bundeskanzlers befindet sich an einem breiten Hauptweg. Gleich auf der Rückseite liegt die Grabstätte des Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter, der für den jungen Heimkehrer Willy Brandt eine Vaterfigur wurde. Rut Brandts Grab hingegen ist nicht so leicht zu entdecken. »Fahren Sie mir mal nach, sonst finden Sie es nicht«, sagt der Friedhofsmitarbeiter, steigt in sein Auto und fährt los. Ich steige auf mein Rad. Es ist ein regnerischer und kalter Apriltag, kaum eine Menschenseele verliert sich auf dem riesigen Areal. Birken säumen still und winterstumm die Wege. Von dem breiten Weg zweigt ein schmaler Pfad ab. Hier hält das Friedhofsfahrzeug, auf dessen Ladefläche allerlei Erdwerkzeuge lagern. Der Mann steigt aus, winkt mir wortlos, ich folge. Er zeigt auf einen unscheinbaren Stein, steckt die Hände in die Taschen und überlegt. Dann sagt er: »Das ist das erste Mal, dass jemand nach ihrem Grab fragt. Er liegt da hinten, das haben Sie ja gesehen, und sie liegt hier. Was macht das Leben?« Er sieht mich dabei nicht an. »Bei ihm ist das anders!«
»Was ist anders?«, frage ich.
»An seinem Todestag kommen hier ganze Busladungen an. Das sind meistens Genossen, die zu seinem Grab pilgern. Da liegen dann die Blumen. Blumenberge. Meistens Nelken. Das war doch seine Blume oder?«
»Ja«, antworte ich, »Nelken und Rosen!«
Auf Willy Brandts Grabstein findet sich nur sein Name.
Die Welt kennt Willy Brandt, doch wer kennt seine Welt? Die SPD, seine Partei, war nur eine seiner Welten. Für viele Genossen aus entfernteren Provinzen ist der Besuch an dem Grab des legendären Parteivorsitzenden auch heute noch ein fester Programmbestandteil ihrer Berlinvisite. Aufstellung nehmen, Haltung zeigen, ein ernstes Gesicht hissen, Blumen ablegen, kurzes Innehalten, Foto. Es ist ein öffentliches Grab, eine kollektive Gedenkstätte. Rut Brandts Grab dagegen bleibt privat. Matthias hat es bepflanzt und einen Erinnerungsstein, den Peters Frau Antonia aus Norwegen mitgebracht hatte, auf das Grab gelegt. Der Stein diente in ihrem Ferienhäuschen, ihrer Hütte, die stets ein Knotenpunkt des familiären Lebens gewesen ist, als Türstopper.
Heimatstein.
Tote und Lebende werfen einander Fragen zu. Es ist selten still an Gräbern, es ist viel lauter, als man denkt. An Gräbern streiten Geschichten, an Gräbern geht die Zeit mit sich selbst ins Gericht. An Gräbern finden und verlieren sich Familien. Hier beginnen das »Ich«, das »Du«, das »Ihr« und das »Wir« ihre komplizierten Verhandlungen. An Gräbern schneiden sich alle ins eigene Fleisch.
Wie verschlug es die Norwegerin Rut Brandt, das »Arbeitermädchen aus Hamar«, nach Berlin? Warum fand Willy Brandt, der proletarische Junge aus Lübeck, seine letzte Ruhe auf dem Berliner Waldfriedhof? Woran ist diese Ehe zerbrochen, und warum fand Willy Brandt keine Worte mehr für seine Ex-Frau? Und was ist das für eine Familie im Schatten der Macht gewesen? Welche Wege sind die Kinder gegangen, welche Wege mussten sie gehen? Während der Vater durch seine geheimnisumwitterte Herkunft und unsichere Kindheit eine soziale Bindegewebsschwäche ausprägte und als belastendes Lebensgepäck mit sich trug, fand die Mutter trotz einer entbehrungsreichen Kindheit familiären Halt und Geborgenheit. Beide, Rut und Willy Brandt, waren ohne Vater aufgewachsen, doch erlebten sie zu Hause einen sehr unterschiedlichen Umgang damit und zogen daraus unterschiedliche Schlüsse. Während Ruts früh verstorbener Vater in den Erzählungen ihrer Mutter zu einer liebenswerten und tadellosen Märchengestalt wurde, blieb der Vater von Willy Brandt verschwunden, unsichtbar und wurde selbst dann noch totgeschwiegen, als ihn der Sohn durch forschendes Fragen zum Leben hätte erwecken können. Brandts Vater war ein »Flüchtling«, ein »Verräter« und »Treuloser«, Ruts Vater hingegen war ein »Unglücklicher«, ein »Unvergleichlicher«, den die Krankheit – er starb an Tuberkulose – aus dem Leben und aus seiner Familie riss. Ihm war nichts, Brandts Vater hingegen alles vorzuwerfen. Grabsteine – betrachtet man sie nur lang genug und liest ihre Zeichen – werden zu Fragezeichen.
Rut und Willy Brandt setzen Zeichen. An Heilig Abend 1959 stellen sie Kerzen in ihr Fenster, um den Gedanken der deutschen Einheit wachzuhalten. Damit folgen sie, wie viele andere Bundesbürger, einem Aufruf des Kuratoriums Unteilbares Deutschland.
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Ich verlasse den Friedhof. Der Regen hat aufgehört. Ein kleiner Bagger hebt ein Grab aus. Auf dem Rückweg fahre ich durch die Marinesiedlung am Schlachtensee, hier lebte die Familie Brandt von 1949 bis 1964 in einem bescheidenen Reihenhaus. Von dort aus ist es nicht weit in den Grunewald, wo der Regierende Bürgermeister und seine Familie in einer vom Senat gekauften Dienstvilla lebten, ehe die Brandts 1967 nach Bonn umzogen. Und zuletzt schaue ich noch am Schöneberger Rathaus vorbei, dieser »großen, steinernen Schachtel«, dort, wo Brandt von 1957 bis 1966 als Berliner Bürgermeister gewirkt hatte, wo Rut ein- und ausgegangen war, wo die Kinder ab und an in seinem dunklen Amtszimmer vorbeigeschaut hatten.
Berlin, so viel ist klar, wird in dieser Geschichte keine geringe Rolle spielen. Matthias und Peter Brandt haben es nicht weit zum Grab ihrer Eltern, wenn sie in Berlin sind. Lars lebt in Bonn und Ninja in einem Außenbezirk von Oslo. Doch die Entfernung, die jemand zum Grab seiner Eltern einnimmt, bemisst sich nicht in Kilometern.
Auf der Fahrt durch die Stadt habe ich Zeit, über die Brandts, ihre Gräber und ihre Geschichte nachzudenken. Das, was jemand in der Öffentlichkeit über seine Beziehung zu den Gräbern seiner Eltern sagt, verdient besondere Beachtung, denn hier setzt jemand ein Signal: So will ich meinen Dialog mit den Toten verstanden wissen, so stehe ich ohne euch in der Welt. An Gräbern sucht man Wahrhaftigkeit und Wege zu sich selbst, denen man trauen möchte. Die Konfrontation mit dem Grab wird als beglaubigtes Echtheitssiegel der eigenen Empfindung verstanden.
In seinem Erinnerungsbuch »Andenken«, es erschien 2006 und wurde sofort ein Bestseller, in dem sich Lars Brandt mit seinem Vater und fremden wie eigenen Vaterbildern auseinandersetzt, stößt man auf eine Passage, die einen Besuch am Grab des Vaters schildert:
»Ich suchte nach seinem Grab, dessen Lage sich mir bei der Beerdigung, dem langen Gang durch flankierende Polizistenreihen, nicht eingeprägt hatte. Gleich mir fanden andere Leute, die mir unbekannt waren, auf dem weiten Areal die Stelle, wo er beigesetzt ist; sie legten Blumen an den Rand; Nelkensträußchen, die selber nicht gerade lebendig aussahen.
Ich stand an seinem Grab, aber hatte nicht das Gefühl von mehr Verfügungsgewalt über den, der in ihm liegt, jetzt, da er sich nicht mehr zu wehren vermochte. Er gab, was er zu geben hatte, auf seine Art.«
Hier wird deutlich, dass der Sohn selbst in so einem intimen Augenblick wie dem Friedhofsgang das eigene Erleben mit anderen, ganz fremden Menschen teilen und seinen eigenen Standpunkt daher behaupten muss. Schon die Beerdigung, ein öffentlicher Akt, ließ kaum zu, sich die Lage des Grabes einzuprägen. Auch deshalb ist mindestens ein zweiter Gang nötig, um einen eigenen, nicht entfremdeten Weg zum Grab zu finden. Doch der Tote ist dem Sohn, dem Überlebenden, jetzt nicht ausgeliefert, und der Sohn fühlt nicht mehr »Verfügungsgewalt« über den Mann, der sich nicht mehr wehren kann. »Verfügungsgewalt«? Ein merkwürdiges Wort, um eine Beziehung zwischen Personen, Lebenden oder Toten, zu charakterisieren. Über jemanden verfügen, eine »Verfügungsgewalt« über jemanden besitzen, ist das Wunsch oder Widerwille? Und noch am Grab findet der Sohn einen Charakterzug seines Vaters bestätigt. Die Art des Vaters, sich hinzugeben, war eine besondere, ihm eigene, die sich dem Begehren anderer, ihren Verfügungswünschen und Nähe-Ersuchen widersetzte. Was er gab, wenn er gab, gab er auf seine Art. Wer das nicht akzeptierte, auch das ist eine Flaschenpost dieser Schilderung, ging leer aus. Der Sohn, Lars, akzeptiert diese Eigenheit des Vaters und behauptet so gegen alle anderen öffentlichen und privaten Brandt-Sucher seine eigene, ihm gemäße Verbundenheit mit dem Vater.
Von Matthias Brandt ist ein anderer Ton überliefert, ein anderer Blick, eine andere Art, seinen Besuch am Grab der Öffentlichkeit mitzuteilen. Nachdem Matthias Brandt in dem zweiteiligen Fernsehfilm »Im Schatten der Macht« im Jahr 2003 ausgerechnet den Kanzlerspion Günter Guillaume spielte, jenen Mann, über den sein Vater gestürzt war, wird er einer der gefragtesten Schauspieler des Landes. Hätte ein Drehbuchautor diese Vater-Sohn-Konstellation erfunden, hätte man ihm diese Wendung der Geschichte kaum abgenommen. Der Kanzlersohn wird zum Schauspieler und brilliert in der Rolle jenes biederen Stasi-Agenten, der seinen Vater ausspionierte? Ham Sie’s nich ’ne Nummer kleiner? Ein bisschen realistischer? Stärker als zuvor wird wegen dieser romanhaften Wendung jetzt auch das Privatleben von Matthias Brandt für die Medien interessant: Es erscheinen zahlreiche Porträts über den jüngsten Sohn des Politikers. Im Januar 2009 publiziert der »Stern« ein Porträt unter dem Titel »Der Verstörende«. Die Reporterin Ulrike Posche begleitet den Schauspieler für einen Tag in seinem Berliner Leben. Zum Abschluss des Gesprächs fährt Matthias Brandt mit der Journalistin zum Waldfriedhof. Warum? Der Schauspieler ist ein ungemein zuvorkommender, höflicher Mensch. Will er der Journalistin entgegenkommen, weil er weiß, dass sie nach intimen Einblicken sucht? Ist es ein spontaner Einfall, eine intime Geste oder eine kleine Inszenierung? Ulrike Posche schildert den Gang zum Friedhof folgendermaßen: »Sollen wir noch eben bei Rut und Willy vorbeigehen?«, fragt Matthias Brandt. Dann stoppt er seinen tomatensaftroten Mercedes 200, Baujahr 81, vorm Zehlendorfer Hauptportal. Er schnürt den Weg hinauf, zeigt auf Ehrengräber links und Ehrengräber rechts. Hier Hildchen Knef, da Ernst Reuter, dort Günter Pfitzmann. Nach kurzer Strecke steht er vor seinem Vater. »Und wieder ’ne einzelne Rose drauf«, singsangt er und keckert ein brüchiges Matthias-Brandt-Lachen, »hat noch viele Verehrer, unser Willy. Und Verehrerinnen.« Matthias Brandt zeigt sich hier betont offen, locker und »unverkrampft«. Er sagt »unser Willy«, und damit verlässt er den ausschließlich familiären Standort. Willy gehört allen, nicht nur mir. »Unser Willy«, das ist die öffentliche Figur, der kultisch verehrte Politiker, das überparteiliche Vorbild. Klingt aber »unser Willy« vielleicht auch verächtlich, herablassend oder bitter? Nein, meint die Reporterin, es klingt nur »ein bisschen ironisch, vielleicht auch verlegen«. Was der Schauspieler wirklich meint, wenn er am Grab des Vaters von »unserem Willy« und seinen Verehrern spricht, bleibt in der Schwebe, wird durch den halb ironischen, halb verlegenen Tonfall in einer unbestimmten Vieldeutigkeit belassen. Distanz, Gelassenheit, verborgene Missbilligung, Humor, Zuneigung? Vieles ist denkbar, aber wirklich bestimmbar ist nichts. Einerseits gewährt der Schauspieler scheinbar freizügig Einblick in die Vater-Sohn-Beziehung, andererseits liefert er keine eindeutigen Lesarten und hüllt sich in verschwiegene Beredsamkeit. Zwischentöne beherrscht der Schauspieler Matthias ebenso wie sein Bruder Lars.
Tochter Ninja und Peter Brandt haben sich noch nicht öffentlich über das Totengedenken geäußert. Ich werde versuchen, sie zu fragen, welche Wege sie zum Grab führen und ob sie mit den Toten Zwiesprache halten.
Der Dialog mit den Toten, der ja überall und nicht nur an Gräbern stattfinden kann, gehört zu einer Familie, weil er das Gestern und Heute verknüpft, weil in ihm die Fragen aufgeworfen werden, die eine Familie bewegen. Die vorliegende Familiengeschichte versucht jedoch nicht, den Faden der Erzählung enger zu knüpfen, als das Gewebe zwischen den Mitgliedern der Familie tatsächlich gewesen ist. Irgendwann geht jeder eigene Wege, irgendwann ist jeder allein unterwegs, mag er auch noch so sehr sich gebunden fühlen oder gebunden sein. Die Familie Brandt, die Familie Willy Brandt wurde nicht von einem Bundeskanzler regiert, und sie soll hier auch nicht dazu dienen, Willy Brandt über krumme Wege durch Küche, Bad und Bett als Mensch auf die Schliche zu kommen. Familien lassen sich nicht auf einen Namen und Nenner bringen, und wenn man fünf Kinder die Geschichte ihrer Familie erzählen ließe, bekäme man vermutlich fünf sehr unterschiedliche Versionen zu hören.
Diese Familiengeschichte soll daher in besonderem Maße offen sein für Fragmente, rivalisierende Einschätzungen, Leerstellen, Entwicklungssackgassen und abgerissene Fäden. Im Zentrum des Buches steht nicht Willy Brandt, obwohl die Gravitation seiner Ämter und seiner Persönlichkeit die Familie natürlich in besonderer Weise gefesselt und bewegt hat. Vielmehr möchte ich die Geschichte von verschiedenen Seiten anpacken, möchte da und dort den Kindern stärker folgen als dem Vater, möchte hier länger bei der Ehefrau und Mutter verweilen oder scheinbar über Gebühr von einem Freund oder Feind der Familie berichten. Dahinter verbirgt sich auch die Überzeugung, dass zu einer Familie immer mehr Menschen gehören als nur Vater, Mutter, Kind. Der »Onkel« Herbert Wehner wird eine Rolle spielen oder auch die alte »Tante« SPD, aber auch ein Nachbar kann dazugehören, ein Modeschöpfer, ein Hausmädchen, ein Fotograf, ein falscher Freund. Wahlverwandtschaften aller Art sollen hier ihre berechtigte Rolle spielen.
Das Buch wird auch von Begegnungen berichten, von Erlebnissen während meiner Recherche. Ab und an sage ich »Ich«, aber nicht um von mir zu erzählen, sondern um das Zustandekommen des Berichts, seine Gebundenheit und seine Herkunft zu verdeutlichen. Eine Familiengeschichte verträgt keinen allwissenden, allmächtigen Erzähler. Wo sich etwas nicht fügt, fügt es sich nicht. Man wird hier vieles, aber sicherlich nicht »alles« erfahren. Wer »alles« wissen will, muss Sterne lesen.
Vom ersten Tag seines Lebens an ist Willy Brandt ein Verlassener. Er wird geboren in ein Familienpuzzle, in dem viele Teile fehlen und in dem das, was vorhanden ist, zusammenzulegen niemand versuchen wird, er am allerwenigsten. Familienfragmente wohin man blickt, abgerissene Fäden, kein familiäres Kontinuum in Raum und Zeit. Als Willy Brandt am 18. Dezember 1913 um 11 Uhr 45 in Lübecks Arbeitervorstadt St. Lorenz als Herbert Ernst Karl Frahm geboren wird, begrüßt ihn kein einträchtig lächelndes Doppelgesicht über der Wiege. Nur die Hebamme Luise Lotzow steht der neunzehnjährigen Martha Frahm in der kargen Dreizimmerwohnung zur Seite. In der Geburtsurkunde bleibt der Name des Vaters ungenannt, Herbert Frahm ist ein unehelich geborenes Kind. Damit ist dem Knaben bereits mit der Geburt der »Urmakel, diese Idioten-Erbsünde« (Heinrich Böll) der bürgerlichen Gesellschaft mit ins Lebensreisegepäck geschnürt, ein Stigma, das ihn lebenslänglich begleitet. »Über meinen Vater«, schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen, »sprachen weder Mutter noch Großvater, bei dem ich aufwuchs; dass ich nicht fragte, verstand sich von selbst. Und da er so offenkundig nichts von mir wissen wollte, hielt ich es auch später nicht für angezeigt, die väterliche Spur zu verfolgen.« Wo der Vater fehlt, fehlt schon mal die Hälfte einer Familie. Kein stolzes Paar nimmt sich des Jungen an, keine Schar von Tanten und Onkeln reicht den Jungen von Arm zu Arm. Und wo sind die Großeltern mütterlicherseits? Wilhelmine Frahm stirbt 1913 kurz vor der Geburt ihres Enkelkindes, und der Stiefgroßvater Ludwig Frahm zieht 1914 in den Krieg. Den Enkel lernt dieser vorerst nur auf Fotografien kennen, die ihm seine angenommene Tochter ins Feld schickt. Herbert im hellen Kleidchen wie ein Mädchen, Herbert im Marine-Dress als kleiner Matrose. Martha Frahm ist in den ersten Jahren als Mutter auf sich allein gestellt, ihr Sohn wird von Nachbarn mitversorgt, weil sie als Verkäuferin arbeiten muss, dreizehn, vierzehn Stunden am Tag.
Willy Brandt im Alter von 9 Monaten (1914).
[SPIEGEL TV]
An dem Sohn vollzieht sich, was bereits die Mutter erlebte, denn auch sie wurde unehelich geboren und hat ihren leiblichen Vater nie kennengelernt. Somit ist der Großvater des Jungen, zu dem er Papa sagen und der noch in seinem Abiturzeugnis als Vater firmieren wird, gar nicht sein leiblicher Großvater. Und als der Großvater, bei dem er überwiegend lebt und aufwächst, noch einmal heiratet, bekommt der Junge eine Stiefgroßmutter, die er nicht ausstehen kann und »Tante« nennt. Dass der geliebte Großvater gar nicht sein leiblicher Großvater ist, wird Willy Brandt 1934 von seinem Onkel Ernst mitgeteilt (der wiederum »nur« der Halbbruder seiner Mutter ist). Mit dieser Nachricht sei, so schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen, das »familiäre Chaos« um ihn herum vervollständigt worden. Dazu passt noch, dass auch er einen Halbbruder bekommt, denn seine Mutter heiratet 1927 den Maurerpolier Emil Kuhlmann, den Stiefvater nennt Willy »Onkel«. Von Emil stammt Martha Frahms zweiter Sohn Günter. Da dieser jedoch erst 1928 zur Welt kommt, wächst Willy Brandt wie ein Einzelkind auf. Und als sei dieser familiäre Flickenteppich nicht schon löchrig genug, nimmt sich der Mensch, den er bislang als den verlässlichsten kennenlernte, der ihm die meiste Orientierung bot, das Leben. Ludwig Frahm schießt sich 1936 eine Kugel in den Kopf, krank, verzweifelt, hoffnungslos. Sein Enkel, der schon nicht mehr seinen Namen trägt, erhält die Nachricht im Exil in Norwegen.
Verlassenheit ist also eine zentrale Erfahrung in Willy Brandts Kindheit und Jugend. Es fehlt an bergenden Mächten, es fehlt an familiärem Zuspruch, es fehlt an zustimmenden, bekräftigenden Instanzen. Es ist eine unbehauste Jugend, die Ich-Identität des jungen Mannes ist fragmentarisch, disparat, emotional zerfranst, sie hat sich nicht in Übereinstimmung oder im Widerspruch zu einem familiären Kollektiv entwickeln können. Charakterbildende Konflikte hat der Junge mit sich selbst ausgetragen, ohne Widerpart ist das ein schwieriges Geschäft. Der unbehauste, der verlassene Junge baut sich ein Nest auf den Schultern, eine Dachstube, in die er einzieht, die er ein Leben lang mit sich herumtragen wird. Im Haus des Großvaters bezieht der Junge eine Dachkammer, ein Privileg in seiner proletarischen Jugend. Hier hat er die Chance, die existentielle Verlassenheit zu nobilitieren, aus der Not eine Tugend, aus dem Leiden Gewinn, vielleicht Genuss zu schmieden. Lesen, schreiben, sich bilden, das Ich phantasievoll formen und umformen. Er verinnerlicht die Dachkammer, sie ist sein Ich-Raum, den er braucht, um sich im Gespräch mit sich selbst wieder zur Welt zu bringen und sich an den eigenen Haaren aus allen Tiefen und Sümpfen zu ziehen.
Wo familiärer Zuspruch fehlt, wo die Familie als Ordnungs- und Orientierungsrahmen ausfällt, übernehmen im besten Falle andere Instanzen diese stabilisierende Funktion. Willy Brandt wird in den Sozialismus hineingeboren, in die SPD, oder genauer noch, er wird der Obhut der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung übergeben, in der auch Mutter und Großvater ein geistiges Obdach und emotionale Heimat gefunden haben. Das geben sie an ihren Jungen weiter. Er kann kaum laufen, da stecken sie ihn, zur körperlichen Ertüchtigung, in die Kinder-Turngruppe des Arbeitersports. Dann findet er, zur musischen Bildung, Aufnahme im Arbeiter-Mandolinenklub, und bald übt er sich auch im Bühnen- und Puppenspiel. Das sind die Bildungsanstrengungen der Arbeiter, die die bürgerlichen Bildungswege nachempfinden, sich zu eigen machen. Die Mandoline, die Geige des kleinen Mannes, ist allemal günstiger als ihre bürgerliche Schwester und robuster, kleiner und somit auf den beliebten Wanderfahrten der Arbeiterjugend eine mobile Gefährtin, gut einsetzbar am abendlichen Lagerfeuer. Das Flackern des Lagerfeuers – die gesellige Runde ums brennende, krachende Holz – wirft ein Licht auf den Jungen, das bleibt als Erfahrung von Nestwärme und Geborgenheit im Kreis einer Gesinnungsfamilie, in der die Herkunftsfamilie aufgeht, die größer und machtvoller ist als diese, sich ständig erneuert, wächst und unbezweifelbare Väter anbietet.
Im Gegensatz zum verschwundenen Vater, der noch lebte, aber totgeschwiegen wurde, sprach man, »als ich klein war, öfter bei Bier und Schnaps (Kööm) als bei Kaffee und Kuchen« viel über »den Alten«, »Meister August« oder ganz familiär über »August«. Gemeint ist August Bebel, der »Kaiser der kleinen Leute«, der legendäre Arbeiterführer und Vorsitzende der SPD. Bebel starb am 13. August 1913, also vier Monate bevor Willy Brandt geboren wurde, dennoch rückt Brandt Tod und Geburt in seinem Buch »Links und frei« so eng und auffällig zusammen, dass man unweigerlich an die Idee der Reinkarnation denken muss, so als ob Geist und Seele des sterbenden Bebel im Knaben Herbert Frahm ein neues Zuhause gefunden hätten: »Bebel starb im Sommer jenes Jahres 1913, gegen dessen Ende ich auf die Welt gekommen bin. Nicht selten hatte ich die Empfindung, ihn noch selber zu treffen. Tatsächlich lernte ich einige Persönlichkeiten kennen, die – wie Rudolf Wissell, Paul Löbe oder Wilhelm Kaisen – in der Bebelschen Partei groß geworden waren. In bin in Lübeck nicht wenigen begegnet, die Bebel gehört und gesehen hatten, die Kraft seiner Worte rühmten oder die Sicherheit seines Urteils über das, was kommen werde. Manche sahen ihn wenigstens von fern, als er 1901 anlässlich des Reichsparteitags in Lübeck weilte.« Das schreibt Willy Brandt 1982 als Vorsitzender der SPD, als Besitzer von Bebels Taschenuhr, die ihm als sein legitimer Erbe und Nachfolger wie eine Reliquie, wie ein Vater-Sohn-Erbstück übergeben wurde. Brandt vergisst auch nicht, seine Leser über die Uhr wissen zu lassen: »Sie ging noch gut.« Brandt, der seine leibhaftige Familie nur diskontinuierlich erlebt hat, betont in dieser Passage den Kontinuitätsgedanken, er lässt den Geist des Mannes gleichsam über sich schweben (»hatte ich die Empfindung, ihn noch selber zu treffen«) und führt auch die Aura-Boten an, die Bebel »gehört und gesehen hatten«, denen er in Lübeck häufig begegnet war und die ihm Bebel zutrugen, antrugen, die ihm die Aura des Mannes übermittelten.
Nachdem Willy Brandt Berliner Bürgermeister geworden war und sich 1960 anschickte, das erste Mal Kanzlerkandidat der SPD zu werden, veröffentlichte er unter dem Titel »Mein Weg nach Berlin« erstmals eine Autobiographie. Längst hat Willy Brandt Herbert Frahm abgespalten, und er lässt seinen Co-Autor Leo Lania über sein früheres Ich schreiben: »Von dem Knaben Herbert Frahm, von seinen ersten vierzehn Jahren, habe ich nur eine sehr unklare Erinnerung behalten, nicht viel mehr als die paar hier geschilderten Episoden. Ein undurchsichtiger Schleier hängt über diesen Jahren, grau wie der Nebel über dem Lübecker Hafen. (…) Es ist schwer für mich, zu glauben, dass der Knabe Herbert Frahm ich selber war.«
Eine Episode, ein Erlebnis sticht aus diesem Nebel hervor, und Willy Brandt hat sie wieder und wieder erzählt, in seinen Büchern, Interviews und persönlichen Gesprächen, um sein Herkommen und seine Bewusstseinsbildung zu erklären. Diese Szene ist eine Ur-Szene seiner Identität, jedenfalls hat er sie retrospektiv zu einem Baustein seiner politischen Biographie gemacht. In seinen Büchern hat er sie mal flott in epischer Prosa erzählt oder als dramatisch dialogische Szene dargestellt. Aber immer hat er betont, wie wichtig sie für ihn sei.
Streik in Lübeck, Kampf um mehr Lohn. Die Arbeiter werden ausgesperrt, kein Geld, wenig Essen. Auch Ludwig Frahm, der als Lastwagenfahrer für die Draeger-Werke arbeitet, gehört zur ausgesperrten Belegschaft. Herbert, acht Jahre alt, wohnt mit seinem Großvater in einer Dienstwohnung gleich neben dem Werk.
Der Junge steht mit knurrendem Magen vor dem Schaufenster der Bäckerei. Brötchen, Brote, Gebäck.
»Hast du Hunger, Junge?« Der dreht sich um. Hinter ihm steht einer der Direktoren des Draeger-Werks. Herbert blickt zu ihm auf. Das ist der »Herr Staatsanwalt«, den hat man zu grüßen, ein hoher Herr. »Habt ihr genug zu essen?«
Der Junge sagt nichts. Schweigt. Vielleicht schüttelt er auch den Kopf. Der Direktor weiß Bescheid. Er nimmt den zögernden Jungen an der Hand, zieht ihn in die Bäckerei, kauft zwei frisch gebackene Brote und reicht sie dem verblüfften Jungen.
»So, und nun lauf!« Das lässt er sich nicht zwei Mal sagen. Er rennt nach Hause. Zwei Brote! Was für ein unerhörtes Glück! Doch der Empfang ist frostig. Das Kind kann die Reaktion des Großvaters kaum einordnen.
»Trag die Brote schnell zurück!« Der Junge schaut verständnislos.
»Zurücktragen? Wieso?«
»Kein streikender Arbeiter lässt sich von seinem Arbeitgeber bestechen. Das ist Verrat. Wir lassen uns nicht abspeisen. Wir wollen den Lohn, der uns zusteht, keine Almosen, mein Junge. Geh schon, trag es zurück!«
Hat der Junge wirklich triumphiert, als er die Brote zurück über den Ladentisch schob? So liest man es in »Mein Weg nach Berlin«, ein Buch, das seinen Helden von Anfang an als unbeirrbaren, selbstsicheren Sozialisten auftreten lässt, ein idealisierendes Bilderbuch, das Zweifel, Irrwege und ideologische Sackgassen auf Willy Brandts Weg weitgehend beiseitelässt oder klein schreibt und eine nahezu bruchlose politische Kontinuität suggeriert. Dass der Junge trotzig triumphierte, als er das Almosen ablehnte, mag überzeichnet sein, doch die geschilderte Brot-Szene ist kein proletarisches Märchen, sondern Brandt hat hier für sich ein Lebensmotiv entdeckt: Brot holen, ohne es beschämt zurücktragen zu müssen. Er wird auf den Spuren von August Bebel ein Leben lang um soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich kämpfen. Seine kindliche Erinnerungslandschaft ist karg, familiäre Szenen fehlen fast völlig, aber diese Szene des politischen Erwachens gehört zu seiner Daseinsversicherung. Das ist der verinnerlichte Ich-Appell: Geh, kämpf um gerechtes Brot, lehne Gnadenbrot ab.
Willy Brandt hat die Brotszene immer als politisches Initiationserlebnis verstanden. Mit 14 tritt er den »Roten Falken« bei, dann, mit 15, wird er Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). Er entdeckt sich als Redner, als Agitator, er erlebt die Zustimmung der Gruppe, ihren Beifall oder ihre Ablehnung als ich-bildende Substanzen, als Stufen zum Ich-Ideal. In »Links und frei« analysiert er: »Mir hat die Jugendbewegung viel bedeutet: Durch die Gemeinschaftserlebnisse, wohl auch als Familienersatz und gewiss als Boden persönlicher Erprobung.« Er macht sich selbst, bildet sich selbst, zieht sich selbst heran. Ein Selbstgemachter, ein sich auf sich selbst Verlassender. So sieht er es.
Brandt ist ein guter Schüler. Als begabter Schüler darf er das Johanneum besuchen, überwiegend ein Gymnasium für Bürgerkinder, Brandt ist eines der wenigen Arbeiterkinder. Zunächst ist er einer der besten Schüler, seine Leistungen sacken aber ab, als er sich in die Politik stürzt. Er fehlt viel, schreibt sich die Entschuldigungen selbst, gleichwohl schafft er das Abitur mit leichter Hand. Im Abituraufsatz legt er selbstbewusst dar, dass die Schüler der Schule nicht eben viel zu verdanken haben, weil man auf ihr nichts »Wesentliches fürs Leben« lerne. Auch diese Anekdote hat Brandt oft erzählt, auch sie bekräftigt das Pathos eigenverantwortlicher Selbsterschaffung. Früh wollte sich dieser junge Mann niemand anderem verdanken, früh hat er darauf hingewiesen, trotz aller Widerstände aus eigener Kraft seinen Weg gegangen zu sein.
Im Hinblick auf den Familienmenschen Willy Brandt lassen sich einige Kindheitsmuster feststellen: Die Familie wird von ihm als diskontinuierliche und disparate Erzählung erlebt. Sie ist kein verlässlicher Raum der Selbstfindung und Selbstbegründung. Daraus resultiert ein verkümmerter Familiensinn. Willy Brandt ist früh in sich selbst zerfallen. In der frühkindlichen Phase seines Lebens fehlen Mutter und Vater. Der Großvater als Orientierungspol tritt erst in sein Leben, als Brandt fünf Jahre alt ist. Der übernimmt zwar die Vaterstelle, aber dass da ein anderer ist, dass da einer fehlt, ist dem Kind nur zu klar. Der abwesende Vater begleitet den Sohn wie ein Schatten, der verborgen werden muss. Anstatt ihn selbst durch Sprache ans Licht zu bringen, unterdrückt der Sohn dieses Scham-Erbe, das später von anderen hervorgezogen und missbraucht wird. Der junge Willy Brandt verinnerlicht die Dachkammer als Lebensraum und Lebensweise. Sich zurückziehen, die Tür schließen, mit sich selbst und über sich selbst und über die Welt und die anderen sprechen. Das Selbst wird zur Dachkammer, zum Labor, in dem man Selbst-Bilder entwickelt. Willy Brandt hat es nicht gelernt, seine Gefühle zur Sprache zu bringen. Da es an verlässlichen emotionalen Bindungen fehlt, ist er gezwungen, vieles allein auszutragen. Er leidet, im privaten Raum, an emotionaler Ausdrucksschwäche. Zeitweilig versinkt er in Sprachlosigkeiten, lastendem Schweigen. Das Leitbild des Politikers, sein Ur-Bild, ist August Bebel. Dieser »große Vater« wird ihm früh nahegebracht. Er lernt, dass einer zwar tot, dennoch aber sehr lebendig sein kann. Das Bildnis des gütigen Vaters macht er sich zu eigen. Willy Brandt bliebt ein Leben lang auf der Suche nach dem Lagerfeuer. Die gesellige Runde ist ein Kreis von Menschen, der durch Ideen, durch gemeinsame Wege und Erlebnisse verbunden ist. Wer das Lagerfeuer sucht, geht auf Wanderschaft. Brandt wird zum Vagabunden, der immer wieder aufbricht, sich losreißt, um sich draußen zu holen, was er drinnen nicht bekommt. Der Kampf um das gerechte Brot und gegen das Gnadenbrot ist ein Lebensantrieb, ein Lebensmotiv. Politik wird als Chance erkannt, verschiedene Entwicklungsstufen und Erlebnisse zu integrieren, sich selbst zu finden und zu erfinden. Politik ist die Chance, vielen Menschen nahezutreten, ohne dem einen Menschen wirklich nahekommen zu müssen. Politik ist eine Haut.
Oberstudienrat Dr. Kramer unterrichtete Willy Brandt auf dem Johanneum in Französisch und Englisch. Was hat er gemeint, als er seine Mutter Martha Frahm beiseitenahm und ihr den Ratschlag gab? »Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern! Der Junge hat gute Anlagen, es ist schade um ihn. Die Politik wird ihn ruinieren.« Kramer, ein Gegner des Nationalsozialismus, wurde 1933 gezwungen, das Johanneum zu verlassen. Er wusste keinen Ausweg und nahm sich das Leben. Sein Schüler Herbert Frahm war jung und frei genug, andere Wege zu gehen.
Und: Willy Brandt war kein Tänzer.
Rut Brandt hat sich ein Leben lang geborgen gewusst. Durch Herkunft, Heimat, Familie. Während ihr späterer Mann Willy Brandt diese drei bergenden Mächte abstreifte oder gezwungen wurde, sie abzustreifen, hat Rut Brandt ein Leben lang an diesen bergenden Hüllen, diesen Häuten ihrer Identität festgehalten.
Sie wird am 10. Januar 1920 im Örtchen Stange nahe der norwegischen Kleinstadt Hamar geboren, die am Mjøsa-See liegt, dem größten Binnensee Europas. Hamar, das damals etwa 7000 Einwohner zählte, liegt inmitten der Provinz Hedemark, eine der Kornkammern Norwegens. In ihren beiden Erinnerungsbüchern »Freundesland« und »Wer an wen sein Herz verlor« gewinnen die Passagen über Hamar und die umgebende Natur mitunter eine lyrische Beschwörungskraft, so dass es leichtfällt, die lebendige Sehnsucht der Autorin zu spüren: »Hedemark ist mein Norwegen. Dort bin ich geboren. Dort gehöre ich hin. ›Es ist gleich, wo ich in der Welt wohne – wenn ich nur den Mjøsa sehen kann‹, sagen die Menschen in Hedemark. Bei dem kleinen Ort Stange öffnet sich die Landschaft auf stattliche Höfe und Felder. Und dann siehst du plötzlich Hamar. Von der kleinen Anhöhe wirkt die Stadt beinahe groß. Im Winter legt sich eine Eisdecke über den Mjøsa und bleibt bis weit in den April liegen. Vor der Asphaltzeit diente der gefrorene See auch als Verkehrsweg – ich erinnere mich an Lastautos mit Waren und Pferdeschlitten, die Leute von Hamar nach Gjøvik an das gegenüberliegende Seeufer brachten.« Es sind knappe, klare, unumstößliche Sätze, da muss nichts bezweifelt oder zweifelsreich erinnert werden, da werden die Sätze wie unantastbare Wegmarken zu Papier gebracht.
Als Rut drei Jahre alt ist, stirbt ihr Vater Andreas Hansen, der als Chauffeur auf einem Gut gearbeitet hatte, an Tuberkulose. Seine Frau Manghild Hansen und ihre vier gemeinsamen Kinder stehen nun allein in der Welt. Hjørdis, Martha (Tulla gerufen), Rut und Olaug. Es fällt auf, dass Rut Brandt nie den Namen ihrer Mutter genannt hat, jedenfalls nicht in ihren Erinnerungen, sie ist einfach immer nur »Mutter«. So steht die Mutter in dieser Erinnerungslandschaft fast wie eine naturhaft archaische Kraft. Die starke Frau, die Optimistin, die alles und alle zusammenhält, die keinen Mann mehr braucht und will, die nachts näht und am Tag in die Milchfabrik arbeiten geht. Mutter, die sich auf alle Künste des Haushalts versteht, Mutter, die ihren Mann in den Himmel hob: »Mein Andreas war nicht wie die anderen Männer. Er ging nicht in Arbeitskleidung wie sie. Er trug Livrée mit blanken Knöpfen und Hirschlederhandschuhen und musste sich zwei Mal am Tag rasieren.« Dieser prachtvolle Mann rauchte nicht, trank nicht, er prügelte nicht, er war friedlich. Das unterschied ihn von den anderen Vätern. Für die Kinder gab es keine schlimmere Drohung als diese: »Wenn ihr nicht artig seid, heiratet eure Mutter wieder.« Andreas Hansen blieb unvergleichlich, »er erschien uns wie eine Märchengestalt«, er hatte nur einen Fehler, für den er nichts konnte: Er starb zu früh. Während Willy Brandt von seinem Vater nichts wissen wollte, weil der von ihm nichts hatte wissen wollen, wollte Rut Hansen von ihrem Vater alles wissen, weil sie keine eigene Erinnerung an ihn besaß.
Damit kein anderer Mann die Vaterstelle einnimmt, damit die Mutter tagsüber in der Fabrik arbeiten kann, sind die Töchter frühzeitig gefordert, den Haushalt zu führen und Geld dazuzuverdienen. Eine weiterführende Schule kann keine von ihnen besuchen. Mit 15 Jahren geht Rut von der Schule ab, arbeitet zunächst in einer Bäckerei, dann beginnt sie eine Schneiderlehre. Die Familie ist arm, aber, so liest es sich, fröhlich. Arm darf man sein, aber man darf nicht arm scheinen oder für arm gehalten werden. »Wir lernten früh, dass es wichtig war, hübsch gekleidet zu sein. Arm war man, wenn man in zerlumpten Sachen herumlief und wenn man dreckig war.« Der Dreck muss bekämpft werden. Putzszenen schildert Rut Brandt einige und sie verbindet damit Klarheit, Frische, Reinlichkeit, aber auch Geselligkeit und familiären Zusammenhalt: »Sonntag war ein guter Tag. Mutter war zu Hause und verbreitete Wohlbehagen. Wenn der Sonnenschein über den frisch gescheuerten Küchenboden schien, wenn vier Paar Schuhe blankgeputzt beim Holzkasten standen, wenn der Frühstückstisch festlich gedeckt war mit Eiern und Ansjovis, Dauerwurst und Presswurst, Käse und Marmelade auf selbstgebackenem Brot, wenn die Messingstange auf dem Herd frisch geputzt mit dem Kupferkessel um die Wette blitzte und das Schmuckhandtuch mit der Kreuzstichstickerei gewaschen und gesteift an der Wand hing: Mein Heim ist meine Burg – ja, dann wussten wir, dass man es nicht besser haben konnte.« Das ist ein Sonntagsbild, das vom werktäglichen Mangel spricht, aber auch vom Binnenraum Familie, der für vieles entschädigt, was das Leben vorenthalten mag. Das kleine, geordnete Haus ist ein Erinnerungsstück, das lebenslänglich hält und noch im Rückblick Wärme spendet. Die machtvolle Mutter, die nicht einmal einen Namen braucht, um für immer Mutter zu sein, die Schwestern, die das Leben Zusammenhalt lehrt und die von dieser Lektion nie lassen werden.
Vier Schwestern, ein Leben lang eng verbunden: Olaug, Hjördis, Rut und Martha, genannt Tulla
[Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung]
Der Zusammenhalt der Schwestern wird, sofern das überhaupt möglich ist, noch enger, als die Mutter mit gerade einmal 40 Jahren 1931 einen Schlaganfall erleidet und wochenlang gelähmt ist. Die sonst so besonnene Hjördis sagt verzweifelt: »Wenn unsere Mutter stirbt, nehme ich mir das Leben.« Die Schwestern wachen abwechselnd am Krankenlager, erst Monate später wird die Mutter gesund und kann wieder ihre Arbeit in der Molkerei aufnehmen. Rut ist eine gute Schülerin, doch da es an Geld fehlt, bleibt ihr der Besuch einer weiterführenden Schule verwehrt. »Meine einzige systematische Ausbildung« erzählte sie der Journalistin Heli Ihlefeld, »waren die sieben Volksschuljahre. Erst später, als ich mehr Geld verdiente, nahm ich Privatstunden, kaufte mir Bücher auf Abzahlung und lernte im Studienzirkel der Sozialistischen Jugend.« Ihre Mutter bleibt nach dem Schlaganfall eine kränkliche Frau, die Sorge, sie früh zu verlieren, legt sich wie ein drohender Schatten über das Leben der Schwestern. Manghild Hansen stirbt 1955 im Alter von 65 Jahren.
So wie Rut und Willy Brandt vollkommen unterschiedlich damit umgehen, dass sie beide ohne Vater aufwachsen – sie macht eine Märchenfigur, er macht eine Unperson aus dem fehlenden Vater –, so unterschiedlich gestaltet sich in ihrer Jugend das Verhältnis zur Politik. Zwar betonen beide in ihren Erinnerungsbüchern, dass sie »geborene Sozialisten« sind, dass sie in den Sozialismus und seine Tradition hineingeboren werden, doch dieses Hineingeboren werden vollzieht sich sehr unterschiedlich und hat andere Konsequenzen. Während Willy Brandt, »kaum dass er laufen kann«, in verschiedenen Bildungs- und Beschäftigungsgruppen der Arbeiterbewegung sozialisiert wird, auch weil ihm die Familie fehlt, geht Rut diesen Schritt erst als Jugendliche mit 15, 16 Jahren. Er wird in der großen roten Familie abgegeben, auch weil die Not das diktiert, Rut geht freiwillig, weil es ihr Freude bereitet, an den zahlreichen Aktivitäten teilzunehmen. Während Willy Brandt in die Gesinnungsfamilie hineinwächst, von dieser adoptiert wird und ihr schließlich bald den Vorrang vor seiner Herkunftsfamilie gibt, bleibt Rut ihrer Herkunftsfamilie treu. Bei ihr wird das familiäre Prinzip auf die Politik übertragen, die ein familiär-freundschaftlicher Raum ist, kein Raum, um sich selbst zu profilieren, kein Raum, um sich selbst darzustellen, um sich selbst überhaupt erst zu finden. Herbert Frahm findet erst im politischen Milieu zu Willy Brandt, er begründet sein Selbst erst hier richtig, der politische Raum liefert ihm die Identitätsbausteine, die das ungefestigte Selbst braucht, um seine Ich-Identität befriedigend zu begründen. Rut hingegen bringt ein gesichertes Selbst in den politischen Raum ein und findet in ihm nichts, was sie reizen könnte, sich umzubauen. Rut hat ein unernstes, ein egalitäres Verhältnis zur Politik, für sie gehört zur Politik auch das gemeinsame Wandern, Singen, Jungsein, Radfahren, Kaffee, Kuchen, Tanz. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, wie sie in ihren Erinnerungen einige bürgerliche Intellektuelle beschreibt, die aus ihrem Milieu ausgebrochen sind und nun die Nähe zu den Proletariern suchen (denen Rut sich zurechnet), um sie aufzuklären, um ihnen die Heiligen der Theorie nahezubringen. Rut erzählt, wie die »Intellektuellen« sie und ihre Schwester Tulla zu einer 1. Mai-Feier 1939