Gillian Flynn
Gone Girl
Das perfekte Opfer
Roman
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh
FISCHER E-Books
GILLIAN FLYNNist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Im Juli 2012 erschien ihr dritter Roman ›Gone Girl‹ und löste ein riesiges Medienspektakel aus. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste und wurde weltweit mehr als 10 Millionen mal verkauft. David Fincher verfilmte den Roman prominent mit Ben Affleck und Rosamund Pike in den Hauptrollen. Für ihren ersten Roman ›Cry Baby‹ erhielt Gillian Flynn gleich zwei ›British Dagger Awards‹. Auch ihr zweiter Roman ›Finstere Orte‹ war ein großer Erfolg auf den Bestsellerlisten und wurde mit Charlize Theron und Nicolas Hoult in den Hauptrollen verfilmt. Nach Stationen in Kansas, Kalifornien und New York lebt die Autorin heute mit ihrer Familie in Chicago.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012
bei Crown Publishers, an imprint of the Crown Publishing Group,
a division of Random House, Inc., New York
© 2012 by Gillian Flynn
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung: Bernd Ott, Gallery Stock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402709-8
aus: Die Reifeprüfung
FÜR BRETT:
Licht meines Lebens senior
und
FÜR FLYNN:
Licht meines Lebens junior
Nichts auf der Welt ist so wandelbar wie die Liebe:
Lügen, Hass, sogar Mord, alles ist in ihr verschmolzen;
sie ist das unvermeidliche Aufblühen ihrer Gegensätze,
eine prächtige Rose, die schwach nach Blut duftet.
TONY KUSHNER, THE ILLUSION
Wenn ich an meine Frau denke, fällt mir immer ihr Kopf ein. Seine Form, um genau zu sein. Als ich ihr das erste Mal begegnet bin, hab ich ihren Hinterkopf gesehen, und den fand ich irgendwie hübsch. Die Konturen. Wie ein glänzendes, hartes Maiskorn oder ein Fossil aus einem Flussbett. Sie hatte, wie man es in viktorianischer Zeit genannt hätte, einen wohlgeformten Kopf. Man konnte sich gut den Schädel darunter vorstellen.
Ich hätte ihren Kopf überall erkannt.
Und was darin ist. Daran denke ich auch: an ihren Verstand. Ihr Gehirn, die ganzen Windungen, durch die ihre Gedanken flitzen wie hurtig-hektische Tausendfüßler. Wie ein Kind male ich mir aus, wie es wäre, ihren Schädel zu öffnen, das Gehirn aufzuribbeln und zu erforschen, ihre Gedanken einzufangen und zu studieren. Woran denkst du, Amy? Die Frage, die ich in unserer Ehe am häufigsten gestellt habe, wenn auch nicht laut und nicht der Person, die mir hätte antworten können. Vermutlich hängen solche Fragen wie Gewitterwolken über jeder Ehe: Woran denkst du? Wer bist du? Was haben wir einander angetan? Was werden wir noch tun?
Schlag sechs Uhr früh öffneten sich meine Augen. Kein Vogelflattern der Wimpern, kein leises Blinzeln in Richtung Bewusstsein. Einfach ein mechanisches Aufwachen. Ein gespenstisches Bauchrednerpuppen-Klicken der Augenlider: Erst ist die Welt schwarz, und dann plötzlich: Showtime! 6:00, sagte die Uhr – mitten in mein Gesicht, das Erste, was ich sah. 6:00. Es fühlte sich anders an. Sonst wachte ich nie zu so einer exakten Uhrzeit auf, ich war eher ein Mann unregelmäßiger Zeiten: 8 Uhr 43, 11 Uhr 51, 9 Uhr 26. Mein Leben war weckerlos.
Genau in diesem Moment, um 6:00, kletterte die Sonne über die Skyline der Eichen und offenbarte ihr volles wutgöttliches Sommerselbst. Ihr Widerschein loderte über den Fluss, hin zu unserem Haus, ein langer leuchtender Finger, der durch unsere dünnen Schlafzimmervorhänge direkt auf mich zielte. Anklagend: Man sieht dich! Es gibt kein Entrinnen!
Ich suhlte mich im Bett. Es war unser New Yorker Bett, aber es stand in unserem neuen Haus, das wir immer noch das neue Haus nannten, obwohl wir bereits seit zwei Jahren hier wohnten. Ein gemietetes Haus, direkt am Mississippi River, ein Haus, das die Assoziation »Neureiche Vorstadt« aufdrängte, die Art Haus, nach der ich mich früher, als Jugendlicher auf der Hanglage-Zottelteppich-Seite der Stadt, inbrünstig gesehnt hatte. Die Art Haus, die einem sofort bekannt vorkam: Es war nichts an ihm auszusetzen, es provozierte niemanden, es war einfach nur nigelnagelneu – ein Haus, das meine Frau verabscheuen würde. Und das tat sie auch.
»Soll ich meine Seele ablegen, bevor ich da reingehe?« Das war das Erste, was sie sagte, als sie es zu Gesicht bekam. Es war ein Kompromiss gewesen: Amy hatte darauf bestanden, in meiner kleinen Heimatstadt in Missouri nichts zu kaufen, sondern nur zu mieten, denn sie hoffte darauf, dass wir nicht allzu lange hier festsitzen würden. Doch die einzigen Häuser, die man mieten konnte, drängelten sich in diesem fehlgeschlagenen Bauprojekt, einer Miniatur-Geisterstadt von Villen in Bankbesitz, rezessionsruiniert, preisreduziert, eine Nachbarschaft, mit der Schluss war, ehe überhaupt irgendetwas angefangen hatte. Es war ein Kompromiss, aber Amy sah das nicht so, überhaupt nicht. Für Amy war es eine Laune von mir, mit der ich sie strafen wollte, ein gemeiner, egoistischer Schachzug, mit dem ich Salz in ihre Wunden streute. Wie ein primitiver Höhlenmensch verschleppte ich sie in eine Stadt, die sie aggressiv gemieden hatte, und zwang sie, in einer Art Haus zu leben, für die sie immer nur Hohn und Spott übriggehabt hatte. Wahrscheinlich handelt es sich bei einer Entscheidung, die nur einer der Beteiligten für einen Kompromiss hält, nicht wirklich um einen Kompromiss, aber so sahen Kompromisse bei uns meistens aus. Einer war immer wütend. Meistens Amy.
Aber an diesem Missstand bin nicht ich schuld, Amy. Mach die Konjunktur dafür verantwortlich, nenn es Pech, schieb es meinen Eltern in die Schuhe, deinen Eltern, dem Internet, den Menschen, die das Internet benutzen. Früher war ich Journalist. Ein Autor, der über Fernsehsendungen, Filme und Bücher schrieb. Damals, als die Leute noch Druckerzeugnisse auf Papier lasen, damals, als sich noch jemand für das interessierte, was ich dachte. Ich war Ende der Neunziger nach New York gekommen, die letzten Züge der glorreichen Zeiten, obwohl das natürlich niemand wusste. In New York wimmelte es von Journalisten, echten Autoren, denn es gab Zeitschriften, echte Zeitschriften, und zwar jede Menge. Es war die Zeit, in der das Internet noch ein exotisches Haustier war, das in einem kleinen Eckchen der Verlagswelt hauste – man warf ihm ein bisschen Trockenfutter hin, beobachtete, wie es an seiner kleinen Leine herumtänzelte, oh, wie niedlich, das wird uns bestimmt nicht eines Nachts totbeißen. Stellt euch das mal vor: Es war eine Zeit, in der College-Kids, die gerade ihren Abschluss gemacht hatten, nach New York kommen konnten und fürs Schreiben bezahlt wurden. Wir hatten keinen Schimmer, dass wir uns auf einen Beruf einließen, der innerhalb des nächsten Jahrzehnts vom Erdboden verschwinden würde.
Elf Jahre lang machte ich meinen Job, und dann war ich ihn los, von jetzt auf gleich. Überall im Land machten Zeitschriften dicht, erlagen einer plötzlichen, von unserem kaputten Wirtschaftssystem hervorgerufenen Infektion. Autoren (meine Art von Autoren: aufstrebende, ehrgeizige Schriftsteller, Grübler und Denker, Leute, deren Hirn nicht schnell genug arbeitet, um zu bloggen, zu vernetzen oder zu twittern, im Wesentlichen also alte, sture Aufschneider) gab es nicht mehr. Wir waren wie Hutmacher oder Peitschenhersteller für Pferdekutschen – unsere Zeit war vorbei. Drei Monate nach meiner Entlassung verlor Amy ihren Job. (Jetzt spüre ich, wie Amy mir über die Schulter schaut und grinst, weil ich so viel Zeit damit verbracht habe, über meinen Beruf und mein Pech zu berichten, während ich ihren Teil der Geschichte mit einem einzigen Satz abgetan habe. So ist er eben, würde sie euch erklären. Typisch Nick. Das war ein Lieblingsspruch von ihr: Typisch Nick, dass er … und was immer dann folgte, war schlecht – und typisch für mich.) Zwei arbeitslose Erwachsene, schlappten wir wochenlang in Socken und Pyjamas durch unser Brooklyner Stadthaus, ignorierten die Zukunft, verteilten ungeöffnete Briefumschläge auf Tische und Sofas, aßen Eis um zehn Uhr vormittags und hielten überlange Mittagsschläfchen.
Doch dann klingelte eines Tages das Telefon. Am anderen Ende war meine Zwillingsschwester. Margo war vor einem Jahr, nach ihrer eigenen Entlassung, von New York wieder nach Hause gezogen – das Mädchen war mir bei allem einen Schritt voraus, sogar beim Pechhaben. Margo rief mich also aus dem guten alten North Carthage, Missouri an, aus dem Haus, in dem wir aufgewachsen sind, und während ich ihrer Stimme lauschte, sah ich sie vor mir als Zehnjährige, mit ihrem dunklen Haarschopf, in Overall-Shorts, wie sie auf dem hinteren Dock meiner Großeltern hockte – zusammengesackt wie ein altes Kissen, die dünnen Beine baumelten im Wasser – und beobachtete, wie der Fluss über ihre fischweißen Füße hinwegfloss, schon als Kind ruhte sie absolut in sich.
Gos Stimme war warm und knistrig, trotz der kalten Nachricht, die sie zu überbringen hatte. Unsere Mutter lag im Sterben. Unser Dad war schon seit einer Weile auf dem Sprung – seine (böse) Seele und sein (armseliges) Herz wanderten über verschlungene Wege aufs große graue Jenseits zu. Aber nun sah es ganz danach aus, als würde unsere unbeugsame Mutter ihn überholen. Sechs Monate blieben ihr angeblich noch, vielleicht auch ein Jahr. Mir war klar, dass Go sich mit dem Arzt unterhalten und sich mit ihrer schlampigen Handschrift eifrig Notizen gemacht hatte, die sie jetzt mit verheulten Augen zu entziffern versuchte. Daten und Dosierungen.
»Hmm, Scheiße, ich hab keine Ahnung, was das hier heißen soll – ist das eine Neun? Ergibt das überhaupt einen Sinn?«, grummelte sie, und ich fiel ihr ins Wort. Hier war eine Aufgabe, ein Ziel, und meine Schwester hielt mir das Angebot wie eine Pflaume auf der ausgestreckten Hand hin. Um ein Haar hätte ich vor Erleichterung geweint.
»Ich komm zurück, Go. Wir ziehen wieder nach Hause. Du musst das nicht alleine durchstehen.«
Sie glaubte mir nicht. Ich hörte sie am anderen Ende der Leitung atmen.
»Ich meine es ernst, Go. Warum nicht? Was hält mich hier?«
Ein langes Ausatmen. »Und Amy?«
Darüber dachte ich nicht ausführlich genug nach. Ich ging einfach davon aus, dass ich meine New Yorker Ehefrau mit ihren New Yorker Interessen und ihrem New Yorker Stolz zusammenpacken, von ihren New Yorker Eltern wegreißen und in eine Missouri-Kleinstadt am Mississippi verpflanzen könnte. Sie würde ihr hektisches, spannendes Zukunftsland Manhattan hinter sich lassen, und alles würde gut werden.
Damals begriff ich nicht, wie naiv, wie optimistisch, ja, wie egoistisch dieser Gedanke war. In welches Elend er uns stürzen würde.
»Amy wird schon zurechtkommen. Amy …« An dieser Stelle hätte ich sagen sollen: »Amy liebt unsere Mom.« Aber ich konnte Go unmöglich erzählen, dass Amy unsere Mutter liebte, denn nach all der Zeit kannte Amy unsere Mutter kaum. Ihre seltenen Begegnungen hatten beide immer völlig ratlos gemacht. Noch Tage danach zerlegte Amy die Gespräche, die sie geführt hatten – »und was hat sie mit … gemeint?« –, als wäre meine Mutter eine Bäuerin aus irgendeinem alten Volksstamm, die gerade mit einem Arm voll rohem Yakfleisch und ein paar Knöpfen zum Tauschen aus der Tundra eingetroffen war und nun versuchte, von Amy etwas zu bekommen, was diese ihr nicht geben konnte.
Amy hatte kein Interesse daran, meine Familie kennenzulernen, sie wollte nichts über meinen Geburtsort wissen, und trotzdem dachte ich aus irgendeinem unerfindlichen Grund, es wäre eine gute Idee, nach Missouri zurückzuziehen.
Mein Morgenatem wärmte das Kissen, und ich wechselte in Gedanken das Thema. Heute war kein Tag für nachträgliche Kritik oder Reue, heute war ein Tag zum Handeln. Von unten drang ein lange nicht gehörtes Geräusch an mein Ohr: Amy machte Frühstück. Hölzerne Schranktüren knallten (rums-bums!), Blech- und Glasbehälter klapperten (ding-pling!), eine Kollektion von Töpfen und Pfannen wurde hin und her geschoben und sortiert (schrapp-klapp!). Ein kulinarisches Orchester, das die Instrumente stimmte und energisch aufs Finale zuschepperte, der Trommelwirbel einer Kuchenform, die über den Boden rollte und mit einem Beckenschlag gegen die Wand donnerte. Etwas Beeindruckendes wurde geschaffen, wahrscheinlich ein Crêpe, denn Crêpes sind etwas Besonderes, und heute wollte Amy bestimmt etwas Besonderes produzieren.
Denn heute war unser fünfter Hochzeitstag.
Barfuß ging ich zur Treppe, blieb dort lauschend stehen, bohrte die Zehen in den plüschigen Teppichboden, den Amy aus Prinzip verabscheute, unschlüssig, ob ich bereit war, mich zu meiner Frau zu gesellen. Ohne etwas von meinem Zögern zu ahnen, werkelte Amy in der Küche und summte dabei eine melancholische Melodie, die mir bekannt vorkam. Angestrengt überlegte ich – war es ein Volkslied? Ein Schlaflied? Dann fiel es mir plötzlich ein: Es war die Titelmelodie von M*A*S*H. Selbstmord tut nicht weh. Ich ging nach unten.
Unter der Tür blieb ich stehen und beobachtete meine Frau. Ihre butterblonden Haare waren hochgebunden, und der Pferdeschwanz hüpfte fröhlich wie ein Springseil, während sie gedankenverloren an einer verbrannten Fingerspitze lutschte und vor sich hinsummte. Sie summte, weil sie die Weltmeisterin im Textvermurksen war. Bei unserem ersten Date kam ein Phil-Collins-Song im Radio: »She seems to have an invisible touch, yeah.« Und Amy trällerte stattdessen: »She takes my hat and puts it on the top shelf.« Als ich sie fragte, ob sie glaubte, dass sie sich annähernd, ungefähr, in etwa richtig an den Text erinnerte, antwortete sie, dass sie immer geglaubt hatte, die Frau in dem Song würde den Mann wirklich lieben, weil sie seinen Hut ganz oben aufs Regal legte. Da wusste ich, dass ich Amy mochte, sehr sogar – dieses Mädchen, das für alles eine Erklärung hatte.
Irgendwie beunruhigend, wenn man sich an etwas Schönes, Warmes erinnert und sich dabei so absolut kalt fühlt.
Amy betrachtete den Crêpe, der in der Pfanne brutzelte, und leckte sich etwas vom Handgelenk. Sie sah siegessicher aus, eine richtige Ehefrau. Wenn ich sie jetzt in den Arm nähme, würde sie nach Beeren und Puderzucker duften.
Als sie mich entdeckte, wie ich mich da in meinen schmuddeligen Boxershorts herumdrückte, die Haare standen mir wie Heat Miser zu Berge, lehnte sie sich an die Anrichte und sagte: »Oh, hallo, mein Hübscher.«
Galle und Furcht stiegen mir in die Kehle. Und ich dachte: Okay, geh jetzt.
Ich kam viel zu spät zur Arbeit. Als meine Schwester und ich beide wieder nach Hause gezogen waren, taten wir das, worüber wir früher immer geredet hatten. Wir machten eine Bar auf. Dafür liehen wir uns Kohle von Amy, achtzigtausend Dollar, was für Amy früher mal fast nichts, jetzt aber fast alles war. Ich schwor ihr, dass wir ihr das Geld zurückzahlen würden, mit Zinsen. Ich war kein Mann, der sich Geld von seiner Frau borgte – ich konnte spüren, wie mein Dad allein bei dem Gedanken verächtlich den Mund verzog. Tja, es gibt mehrere Arten von Männern, das war sein vernichtendster Spruch, und die zweite Hälfte blieb immer ungesagt: Und du bist einer von der falschen Art.
Aber in Wahrheit war es ein ganz praktischer Entschluss, eine kluge Businessentscheidung. Amy und ich brauchten beide einen neuen Beruf – und jetzt hatte ich meinen gefunden. Irgendwann würde auch sie sich einen aussuchen – oder vielleicht auch nicht –, aber in der Zwischenzeit hatten wir ein Einkommen, ermöglicht durch den Rest von Amys Trustfonds. Wie das Haus, das ich gemietet hatte, spielte auch die Bar eine symbolische Hauptrolle in meinen Kindheitserinnerungen – ein Ort, den nur Erwachsene besuchen und das tun, was Erwachsene eben tun. Vielleicht bestand ich deshalb so hartnäckig darauf, sie zu kaufen, nachdem man mir meine Lebensgrundlage entzogen hatte. Als Erinnerung daran, dass ich trotz allem ein erwachsener Mann war, ein nützlicher Mensch, obwohl ich den Beruf verloren hatte, über den ich mich identifizierte. Den gleichen Fehler würde ich nicht noch mal machen: Das früher so zahlreiche Heer von Journalisten würde weiterhin dezimiert werden – vom Internet, von der Rezession, von der amerikanischen Öffentlichkeit, die lieber fernsah oder Videospiele spielte oder ihren Freunden elektronisch so wichtige Nachrichten schickte wie »Regen ist scheiße!«. Aber es gibt keine App, mit der man an einem warmen Tag in einer kühlen, dunklen Bar einen kleinen Bourbon-Schwips kriegt. Die Welt wird immer trinken wollen.
Unsere Bar ist eine Eckkneipe mit einer willkürlichen Patchwork-Ästhetik. Ihr bestes Stück ist ein massives viktorianisches Rückbüfett mit Drachenköpfen und Engelsgesichtern – eine extravagante Eichenholzarbeit, mitten in unserer beschissenen Plastikzeit. Der Rest der Kneipe ist auch tatsächlich ziemlich beschissen, ein Mischmasch der schäbigsten Designideen aus jedem vergangenen Jahrzehnt: ein Linoleumboden aus der Eisenhower-Ära, dessen Ecken sich nach oben wölben wie verbrannter Toast, an den Wänden die halbseidene Holzvertäfelung wie aus einem Siebzigerjahre-Pornovideo, Halogen-Stehlampen, eine unbeabsichtigte Hommage an mein Zimmer im Wohnheim in den Neunzigern. Alles in allem wirkt sie aber seltsam gemütlich – die Kneipe sieht gar nicht so sehr aus wie eine Bar, sondern eher wie eine freundlich vernachlässigte, renovierungsbedürftige Privatwohnung. Und einladend: Wir teilen uns den Parkplatz mit der Bowlingbahn, und wenn unsere Tür aufschwingt, klingt das Gepolter der fallenden Pins wie eine Runde Applaus für den neuen Gast.
Wir tauften die Kneipe »Die Bar«. »Die Leute werden denken, wir meinen das ironisch. Und nicht kreativ bankrott«, meinte meine Schwester.
Ja, wir hielten uns für clevere New Yorker – der Name war ein Witz, den niemand wirklich verstehen würde, jedenfalls nicht so wie wir. Nicht meta-verstehen. Wir malten uns aus, wie die Einheimischen die Nase rümpfen würden: Warum habt ihr eure Kneipe »Bar« genannt? Aber unser erster Gast, eine grauhaarige Frau mit Bifokalbrille und rosa Jogginganzug, sagte: »Ich mag den Namen. Wie in Frühstück bei Tiffany, da heißt Audrey Hepburns Katze auch einfach ›Katze‹.«
Danach fühlten wir uns schon viel weniger überlegen, und das war gut so.
Ich fuhr auf den Parkplatz und wartete, bis ein Treffer aus der Bowlingbahn zu hören war – danke, danke, liebe Freunde –, dann stieg ich aus. Eine Weile bewunderte ich die Umgebung, deren Anblick mich noch immer nicht langweilte: das untersetzte helle Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite – ein Postamt (samstags geschlossen) –, das bescheidene beigefarbene Bürohaus ein Stück weiter die Straße runter (endgültig geschlossen). Die Stadt florierte nicht mehr, im Gegenteil. Himmel, sie ist nicht mal ein Original, es gibt zwei Carthages in Missouri – strenggenommen sind wir North Carthage, was vielleicht nach Zwillingsstadt klingt, aber unser Carthage liegt ein paar hundert Meilen entfernt vom anderen und ist das Kleinere von beiden: ein beschauliches Fünfzigerjahre-Städtchen, das sich zu einer mittelgroßen Vorstadt aufgebläht und das als Fortschritt verkauft hat. Aber hier ist meine Mom aufgewachsen und hat mich und Go großgezogen. Dieses Städtchen hat Geschichte. Zumindest meine.
Als ich über den Beton-und-Unkraut-Parkplatz auf die Bar zuging, schaute ich die Straße hinunter und sah den Fluss. Das habe ich schon immer an unserer Stadt geliebt: dass sie nicht auf einer sicheren Anhöhe gebaut ist, von der man über den Mississippi blickt – nein, wir befinden uns direkt am Mississippi. Man kann einfach die Straße runterspazieren und landet am Wasser, ein kleiner Abhang, nicht mal einen Meter hoch, und schon ist man unterwegs nach Tennessee. In der Innenstadt sind Striche an den Gebäuden, die zeigen, wie hoch der Wasserpegel bei der jeweiligen Überschwemmung war – bei der von 61, 75, 84, 93, 07, 08, 11. Und so weiter.
Jetzt gab es kein Hochwasser, aber der Fluss floss schnell, mit starken, ungleichmäßigen Strömungen und Wirbeln. Eine lange Reihe von Männern ging im Gänsemarsch am Ufer entlang, die Augen zu Boden gerichtet, die Schultern angespannt, marschierten sie unerschütterlich ins Nirgendwo. Plötzlich blickte einer von ihnen auf und sah mich an, das Gesicht im Schatten, ein schwarzes Oval. Ich wandte mich rasch ab.
Auf einmal überfiel mich der heftige Drang, mich ins Haus zu verziehen. Kaum fünf Meter weit war ich gekommen, als mein Hals schon schweißnass war – noch immer war die Sonne ein wütendes Auge am Himmel. Man sieht dich.
Meine Eingeweide verkrampften sich, und ich ging schneller. Ich brauchte einen Drink.
Tra und lala! Ich lächle ein Lächeln, so breit wie das eines adoptierten Waisenkinds, während ich das hier schreibe. Peinlich, dass ich mich so sehr freue, wie ein knallbunter Technicolor-Comic von einem Teenager-Mädchen am Telefon, die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, eine Sprechblase über dem Kopf: Ich hab einen Jungen kennengelernt!
Aber genau das ist passiert. Das ist die fachliche, empirische Wahrheit. Ich habe einen Jungen kennengelernt, einen tollen, gutaussehenden Kerl, einen witzigen, coolen Typen. Ich will die Szene beschreiben, weil sie es verdient, für die Nachwelt festgehalten zu werden (nein, bitte, so abgedreht bin ich nicht. Nachwelt, pah). Aber trotzdem. Es ist nicht Neujahr, aber das Jahr ist noch ziemlich neu. Winter, früh dunkel, saukalt.
Carmen, eine ziemlich neue Freundin – eine Halbfreundin, eine Kaum-Freundin, die Art Freundin, der man nicht absagen kann –, hat mich überredet, mit nach Brooklyn zu fahren, zu einer ihrer Journalisten-Partys. Also, ich mag Partys mit Schreiberlingen, ich mag Leute, die schreiben, ich bin das Kind von zwei Autoren, ich schreibe selbst. Noch immer liebe ich es, dieses Wort – AUTORIN – zu kritzeln, jedes Mal, wenn auf einem Formular, einem Fragebogen, einem Dokument nach meinem Beruf gefragt wird. Na gut, ich verfasse bloß Persönlichkeitstests, ich schreibe nicht über die großen Ereignisse des Tages, aber ich denke, es ist trotzdem angemessen, mich Autorin zu nennen. Ich benutze dieses Tagebuch, um besser zu werden, an meinem Talent zu feilen, Details und Beobachtungen zu sammeln. Um zu zeigen, ohne zu erzählen und diesen ganzen anderen schriftstellerischen Mist. (»Ich lächle wie ein adoptiertes Waisenkind«: Ich meine, das ist doch echt nicht schlecht, oder?) Aber mal im Ernst, ich finde wirklich, dass allein meine Tests mich qualifizieren, zumindest auf einer ehrenamtlichen Basis. Oder etwa nicht?
Bei einer Party bist du umgeben von echt talentierten Journalisten, die bei profilierten, angesehenen Zeitungen und Zeitschriften arbeiten. Du selbst schreibst nur für Frauenmagazine. Wie reagierst du, wenn jemand dich fragt, womit du deinen Lebensunterhalt verdienst?
Du wirst verlegen und sagst: »Ich schreibe bloß diese Tests, albernes Zeug.«
Du gehst in die Offensive: »Also, ich bin zurzeit Journalistin, aber ich spiele mit der Idee, mal was anderes zu machen, was mich mehr fordert und ausfüllt. Warum, was machen Sie denn?«
Du verkündest voller Stolz: »Ich hab einen Master in Psychologie und schreibe wissenschaftliche Persönlichkeitstests. Ach ja, und nebenbei bemerkt bin ich witzigerweise auch noch die Inspiration für eine beliebte Kinderbuchserie, die kennen Sie bestimmt. Amazing Amy?« Tja, dagegen kannst du nicht anstinken, du bescheuerter Snob, was?
(Antwort: C, unbedingt C)
Jedenfalls wird die Party von einem von Carmens Freunden veranstaltet, der Filmbesprechungen für eine Kinozeitschrift schreibt und Carmen zufolge sehr witzig ist. Eine Sekunde lang mache ich mir Sorgen, dass sie uns verkuppeln möchte: Ich bin nämlich definitiv nicht daran interessiert, verkuppelt zu werden. Ich muss aus dem Hinterhalt überrumpelt werden, ich bin so eine Art wilder Liebes-Kojote. Sonst bin ich viel zu gehemmt. Sobald ich merke, dass ich versuche, charmant zu sein, versuche ich, noch charmanter zu sein, und dann verwandle ich mich praktisch in Liza Minelli: Ich tanze in Strumpfhose und Pailletten und bettle darum, geliebt zu werden. Stock und Stepptanz und jede Menge Zähneblecken.
Aber nein. Während ich zuhöre, wie Carmen von ihm schwärmt, wird mir klar, dass sie ihn mag. Gut.
Wir steigen drei schiefe Treppen hinauf, und ein Schwall Körperwärme und Autorentum schlägt uns entgegen: jede Menge schwarzgerahmter Brillen und Wuschelhaare, Pseudo-Westernhemden und heidekrautlila Rollkragenpullover, auf der Couch eine Lawine schwarzwollener Cabanjacken, die langsam auf den Boden rutscht, ein deutsches Poster von The Getaway (Ihre Chance war gleich Null!) verdeckt eine Wand, von der die Farbe abblättert. Aus der Anlage schallt Franz Ferdinand: »Take Me Out«.
Ein paar Typen hängen in der Nähe des Kartentischs rum, auf dem der ganze Alkohol steht, kippen sich alle paar Schlucke was nach, obwohl sie natürlich genau wissen, wie wenig für die anderen übrig bleibt. Ich dränge mich zu ihnen durch, strecke die Hand mit meinem Plastikbecher mitten ins Zentrum wie ein Straßenmusikant, und ein Kerl mit einem netten Gesicht und einem Space-Invaders-T-Shirt versorgt mich mit klirrenden Eiswürfeln und einem Schuss Wodka.
Bald werden wir auf eine Flasche mit tödlichem Grüner-Apfel-Likör – eine ironische Erwerbung des Gastgebers – zurückgreifen müssen, jedenfalls wenn keiner bereit ist, einen Ausflug zu machen und Nachschub zu besorgen. Da aber jeder zu denken scheint, dass er derjenige ist, der sich beim letzten Mal geopfert hat, scheint das nicht sehr wahrscheinlich. Eine typische Januar-Party, alle noch vollgefressen und zuckerbesoffen von den Feiertagen, gleichzeitig faul und genervt. Eine Party, bei der die Leute zu viel trinken, mit gewählten Worten einen Streit vom Zaun brechen und den Zigarettenqualm stur zum Fenster rausblasen, obwohl der Gastgeber sie gebeten hat, zum Rauchen nach draußen zu gehen. Alle haben schon bei tausend Weihnachtspartys miteinander geplaudert, keiner hat mehr wirklich was zu sagen, alle sind kollektiv gelangweilt, wollen aber auch nicht wieder raus in die Januarkälte – die Knochen tun noch weh von den U-Bahn-Treppen.
Inzwischen habe ich Carmen an ihren Verehrer, den Gastgeber, verloren – die beiden diskutieren in einer Küchenecke, die Schultern hochgezogen, die Gesichter einander zugewandt, formen sie ein Herz. Gut. Ich überlege, ob ich etwas essen soll, damit ich nicht bloß untätig im Zimmer rumstehe, und grinse wie die neue Schülerin im Speisesaal. Aber da ist nicht mehr viel zu holen. In einer riesigen Tupper-Schüssel liegen noch ein paar Kartoffelchips-Trümmer. Auf einem Couchtisch steht unberührt eine Supermarkt-Schale mit vertrockneten Möhren, verhutzelten Selleriestücken und einem spermaartigen Dip, dazwischen ausgedrückte Kippen, die auch aussehen wie Gemüsestifte. Ich spiele mein Spiel, mein Impuls-Spiel: Was, wenn ich jetzt vom obersten Theaterrang springe? Was, wenn ich den Penner, der mir in der U-Bahn gegenübersitzt, abküsse? Was, wenn ich mich jetzt bei dieser Party ganz allein auf den Boden setze und alles aus der Supermarkt-Schale aufesse, einschließlich der Kippen?
»Bitte iss nichts in dieser Gegend«, sagt er. Er ist es (bum bum BUMMM), aber ich weiß noch nicht, dass er es ist (bum-bum-bummm). Ich weiß, er ist ein Typ, der mit mir reden wird, er trägt seine Unverfrorenheit wie ein ironisches T-Shirt, nur passt sie ihm besser. Ein Typ, der sich benimmt, als hätte er jede Menge Sex, ein Typ, der Frauen mag, ein Typ, der mich bestimmt ordentlich vögeln würde. Und ich würde gern ordentlich gevögelt! Mein Dating-Leben scheint sich um drei Arten Männer zu drehen: adrette Ivy-League-Studenten, die denken, sie befinden sich in einem Scott-Fitzgerald-Roman, aalglatte Wall-Street-Kerle mit Dollarzeichen in Augen, Ohren und Mund, sensible Schlauberger, die so selbstkritisch sind, dass alles sich anfühlt wie ein Witz. Die Fitzgerald-Typen sind im Bett meistens ineffektiv pornographisch, jede Menge Lärm und Akrobatik und nicht wirklich was dahinter. Die Finanz-Jungs werden wütend und schlaff. Die Schlauberger vögeln, als würden sie mathematischen Rock komponieren: Erst klimpert die Hand hier, dann ist der Finger mit einem hübschen Bass-Rhythmus dran … Ich klinge wie eine Schlampe, was? Moment, ich zähle mal nach … elf. Nicht schlecht. Ich hab immer gedacht, zwölf wäre eine solide, vernünftige Zahl, bei der man aufhören kann.
»Im Ernst«, fährt Nummer 12 fort. (Ha!) »Lass die Finger von dem Zeug. James hat bis zu drei weitere Lebensmittel in seinem Kühlschrank. Ich könnte dir eine Olive mit Senf anbieten. Allerdings nur eine einzige Olive.«
Allerdings nur eine einzige Olive. Das ist eigentlich nicht besonders lustig, aber irgendwie hat der Satz schon das Gefühl von einem Insiderwitz, von etwas, das immer witziger wird, je öfter man es nostalgisch wiederholt. Ich denke: In einem Jahr schlendern wir über die Brooklyn Bridge, einer von uns beiden flüstert: Nur eine einzige Olive, und wir fangen an zu lachen. (Dann reiße ich mich zusammen. Grässlich. Wenn er wüsste, dass ich mir jetzt schon eine »In einem Jahr«-Geschichte ausdenke, würde er davonlaufen, und ich würde mich genötigt fühlen, ihm zu applaudieren.)
Vor allem lächle ich, das gebe ich zu – ich lächle, weil er toll aussieht, so toll, dass es einen ablenkt, toll auf eine Art wie Feuerwerk, auf eine Art, dass man den rosa Elefanten sofort ansprechen will, der da im Zimmer rumsteht: »Du weißt doch, dass du toll aussiehst, oder nicht?« Und dann kann man weiter Smalltalk machen. Wetten, dass andere Männer ihn hassen? Er sieht aus wie der böse reiche Knabe in einem Teenagerfilm aus den Achtzigern – einer, der die sensiblen Außenseiter tyrannisiert, einer, der irgendwann eine Torte aufs Maul kriegt, und dann jubelt die ganze Cafeteria, während ihm die Sahne den hochgestellten Kragen durchweicht.
Aber er benimmt sich nicht wie so einer. Er heißt Nick. Der Name gefällt mir. Das klingt nett und normal, und das ist Nick auch. Als er mir seinen Namen sagt, antworte ich: »Also, das ist doch mal ein richtiger Name.« Und er strahlt und spult auch noch einen Spruch herunter: »Nick ist ein Typ, mit dem du ein Bierchen trinken kannst, ein Typ, den es nicht stört, wenn du in sein Auto kotzt. Das ist Nick!«
Er macht ein paar grausame Kalauer. Ich kriege drei viertel seiner Kinoanspielungen mit. Vielleicht zwei drittel. (Nicht vergessen: The Sure Thing ausleihen.) Er schenkt mir nach, ohne dass ich ihn fragen muss, und stöbert irgendwie ein letztes Gläschen von dem guten Zeug auf. Er macht seinen Anspruch auf mich geltend, er hat seine Flagge aufgepflanzt: Ich war als Erster hier, sie gehört mir, mir. Nach meiner Serie nervöser, respektvoller, postfeministischer Männer ist es eigentlich ein gutes Gefühl, ein Territorium zu sein. Nick hat ein tolles Lächeln, ein Katzenlächeln. So, wie er mich anschaut, sollte er eigentlich gelbe Zwitschervögelchenfedern aushusten. Er fragt mich nicht, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, was in Ordnung und vor allem mal eine Abwechslung ist. (Ich bin Journalistin, hab ich das schon erwähnt?) Stattdessen redet er mit mir in seinem Missouri-Akzent, der klingt wie dahinplätschernde Mississippi-Wellen. Er ist ganz in der Nähe von Hannibal geboren und aufgewachsen, wo Mark Twain als Kind gewohnt hat, seine Inspiration für Tom Sawyer. Nick erzählt, dass er als Teenager auf einem Dampfschiff gearbeitet hat, Dinner und Jazz für die Touristen. Und als ich lache (das New Yorker Gören-Balg, das sich noch nie in einen dieser großen, unhandlichen Staaten gewagt hat, in diese Mittleren Staaten, In Denen So Viele Andere Menschen Leben), informiert er mich, dass Missouri (bei ihm klingt es wie ein -a am Schluss, nicht wie ein -i) ein wahrhaft magischer Ort ist, der schönste der Welt, einen tolleren gibt’s gar nicht. Seine Augen funkeln, er hat lange Wimpern. Ich kann mir genau vorstellen, wie er als kleiner Junge ausgesehen hat.
Wir nehmen zusammen ein Taxi nach Hause. Die Straßenlaternen werfen schwindlige Schatten, das Auto rast, als würden wir verfolgt. Es ist ein Uhr nachts, als wir in einer von New Yorks unerklärlichen Sackgassen stecken leiben, zwölf Blocks von meiner Wohnung entfernt. Also steigen wir aus, hinaus in die Kälte, in das große Was Nun? Nick begleitet mich heim, die Hand auf meinem Kreuz, unsere Gesichter steif von der Kälte. Und als wir um die Ecke biegen, wird dort der Bäckerei gerade Puderzucker geliefert, fässerweise in den Keller gefüllt, als wäre es Zement, und in der süßen weißen Wolke sehen wir nur die Schatten der Lieferleute. Die ganze Straße wabert, und Nick zieht mich an sich, lächelt wieder dieses Lächeln, nimmt eine Haarsträhne von mir zwischen zwei Finger und lässt sie bis zum Ende durchgleiten, zieht zweimal daran, als wäre es eine Klingelschnur. Seine Wimpern sind mit Puderzucker bestreut, und bevor er sich über mich beugt, wischt er den Zucker von meinen Lippen, damit er nicht nur den schmeckt, sondern mich.
Ich ließ die Tür zu meiner Bar weit aufschwingen, schlüpfte in die Dunkelheit und nahm den ersten richtigen Atemzug des Tages, sog den Geruch von Zigaretten und Bier ein, den Beigeschmack von verkleckertem Bourbon, den penetranten Duft von altem Popcorn. Nur ein einziger Gast war in der Bar, allein, ganz hinten: eine ältere Frau namens Sue, die jeden Donnerstag mit ihrem Mann hierherkam, bis er vor drei Monaten starb. Jetzt kam sie allein, jeden Donnerstag, redete nie viel, sondern saß einfach da mit ihrem Bier und ihrem Kreuzworträtsel und hielt ein Ritual aufrecht.
Meine Schwester stand hinterm Tresen, die Haare mit Nerd-Girl-Spangen zurückgesteckt, die Arme rosa, und tunkte die Biergläser ins warme Spülwasser. Go ist schlank und hat ein seltsames Gesicht, was aber nicht heißen soll, dass sie unattraktiv ist. Es dauert nur einen Moment, bis ihre Gesichtszüge für den Betrachter einen Sinn ergeben: das breite Kinn, die spitze Nase, die dunklen Kulleraugen. In einem alten Film würde ein Mann bei ihrem Anblick an seinen Filzhut tippen, ihr hinterherpfeifen und sagen: »Echt scharfe Braut!« Das Gesicht einer Screwball-Filmdiva lässt sich nicht immer leicht in unsere Zeit der Elfenprinzessinnen übersetzen, aber in den Jahren, die wir zusammengelebt haben, habe ich gelernt, dass Männer meine Schwester mögen, sehr sogar, was mich in die sonderbare Bruder-Bredouille bringt, gleichzeitig stolz und wachsam sein zu wollen.
»Machen die immer noch diesen gewürzten Fleischkäse?«, fragte sie als Begrüßung, ohne aufzublicken, denn sie wusste, dass ich es war, und ich fühlte die übliche Erleichterung, wie immer, wenn ich sie sah: Vielleicht war nicht alles toll, aber es würde schon okay werden.
Meine Zwillingsschwester Go. Dieses Wort habe ich schon so oft gesagt, dass es eine Art Mantra geworden ist, aus dem man die einzelnen Worte gar nicht mehr heraushört. Wir sind in den Siebzigern geboren, damals, als Zwillinge noch eine Seltenheit waren, ein bisschen magisch sogar: Verwandte des Einhorns, Elfen-Geschwister. Wir haben sogar einen Hauch Zwillings-Telepathie. Go ist wirklich und wahrhaftig die einzige Person auf der ganzen Welt, bei der ich ganz ich selbst bin. Ich habe nicht den Drang, ihr zu erklären, was ich tue. Ich beschönige nichts, ich zweifle nicht, ich mache mir keine Sorgen. Inzwischen erzähle ich ihr nicht mehr alles, aber ich erzähle ihr mehr als sonst irgendjemandem. Bei weitem. Ich erzähle ihr, so viel ich kann. Schließlich haben wir neun Monate Rücken an Rücken verbracht, und der eine hat dem anderen Deckung gegeben. Das ist inzwischen zu einer lebenslangen Gewohnheit geworden. Mich hat es nie gestört, dass Go ein Mädchen war, eigentlich seltsam für ein unsicheres Kind wie mich. Aber was soll ich sagen? Sie war einfach cool. Schon immer.
»Du meinst das Zeug, das so ähnlich ist wie Frühstücksfleisch? Ich glaube, ja.«
»Dann sollten wir uns was davon holen«, sagte sie. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Interessiert mich.«
Ohne zu fragen, zapfte sie mir ein Pint Pabst Blue Ribbon in ein Glas von fragwürdiger Sauberkeit. Als sie mich dabei ertappte, wie ich den verschmierten Rand anstarrte, hob sie das Glas an die Lippen, leckte den Fleck weg und produzierte dafür eine Spuckespur. Dann stellte sie das Bier vor mich hin. »Besser so, mein Prinz?«
Go ist überzeugt, dass ich von unseren Eltern in allem das Beste abgekriegt habe, weil ich der Junge war, den sie geplant hatten, das Einzelkind, das sie sich leisten konnten, und dass sie – Go – sich an meinen Fuß geklammert und auf diese Weise in die Welt gemogelt hat, ein unwillkommener Fremdling. (Besonders für meinen Dad.) Sie glaubt, dass man sie die ganze Kindheit hindurch vernachlässigt hat, eine erbärmliche Kreatur mit wahllos aufgetragenen Klamotten und verschollenen elterlichen Erlaubnisscheinen, strengen Sparauflagen und genereller Entbehrung. Dass an dieser Sicht der Dinge etwas Wahres sein könnte, gebe ich nur sehr ungern zu.
»Ja, meine armselige kleine Sklavin«, antwortete ich und wedelte in majestätischem Dispens mit den Händen.
Dann kauerte ich mich zu meinem Bier, das ich bitter nötig hatte, eines oder vielleicht auch drei. Meine Nerven vibrierten noch von heute Morgen.
»Was ist los mit dir?«, fragte Go. »Du machst so einen nervösen Eindruck.« Sie spritzte mich mit ihrem Spülzeug an, mehr Wasser als Schaum. Die Klimaanlage legte los und föhnte die Haare auf unserem Oberkopf. Wir verbrachten mehr Zeit in der Bar, als notwendig gewesen wäre, sie war das Kinder-Clubhaus geworden, das wir nie hatten. Letztes Jahr hatten wir in einer Saufnacht die Kisten im Keller unserer Mutter aufgebrochen. Sie lebte noch, aber es war klar, dass sie nicht mehr lange bei uns sein würde, wir brauchten Trost und begrüßten mit viel Ooh und Aah unsere alten Spielsachen und Brettspiele. Weihnachten im August. Als Mom dann starb, zog Go in unser altes Haus, und langsam, Stück für Stück, transferierten wir unser Spielzeug in die Bar: eine Strawberry Shortcake Puppe, inzwischen völlig geruchlos, erschien eines Tages auf meinem Hocker (ein Geschenk von mir für Go). Dann stand plötzlich ein winziger Hot Wheels El Camino, dem ein Rad fehlte, auf einem Eckregal (ein Geschenk von Go für mich).
Wir überlegten uns, einen Brettspiel-Abend einzurichten, obwohl die meisten unserer Kunden zu alt waren, um bei unseren Hungry Hungry Hippos oder bei unserem Spiel des Lebens mit den winzigen Plastikautos, die mit winzigen Plastik-Ehefrau-Figuren und winzigen Plastik-Babys besetzt wurden, in Nostalgie zu schwelgen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie man eigentlich gewann. (Darüber hätte ich locker einen ganzen Tag meditieren können.)
Go füllte Bier für sich und mich nach. Ihr linkes Augenlid hing ein winziges bisschen herab. Es war genau zwölf Uhr mittags, und ich fragte mich, wie lange sie wohl schon trank. Sie hatte ein ziemlich holpriges Jahrzehnt hinter sich. Sie, meine spekulative Schwester mit dem raketenwissenschaftlichen Hirn und dem Rodeo-Esprit, hat in den späten Neunzigern das College abgebrochen und ist nach Manhattan gezogen. Sie gehörte zu den ersten dot.com-Phänomenen – hat zwei Jahre irre viel Geld verdient, bis im Jahr 2000 die Internet-Blase platzte. Aber Go ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie war noch nicht mal dreißig, sie behielt Oberwasser. Im zweiten Akt machte sie ihren Abschluss und schloss sich der grau gewandeten Welt des Investment-Banking an. Sie hatte eine Position im mittleren Bereich, nichts Protziges, nichts Beschämendes, aber beim Finanzcrash von 2008 verlor sie ihren Job, und zwar ruckzuck. Bis sie mich von Mom aus anrief und sagte: Ich geb auf, wusste ich nicht mal, dass sie New York verlassen hatte. Ich flehte sie an, ich drängte sie und hörte vom anderen Ende nur verärgertes Schweigen. Nachdem ich aufgelegt hatte, unternahm ich eine besorgte Pilgerfahrt zu ihrer Wohnung in der Bowery und sah dort Gary, ihren geliebten Benjamini, gelb und tot auf der Feuertreppe stehen. Da wusste ich, dass meine Schwester nicht zurückkommen würde.
Die Bar schien sie aufzuheitern. Sie machte die Buchführung, sie schenkte Bier aus. Mehr oder weniger regelmäßig klaute sie aus der Trinkgeldkasse, aber sie arbeitete ja auch mehr als ich. Über unser früheres Leben sprachen wir nie. Wir waren die Dunnes, wir waren erledigt und seltsam zufrieden damit.
»Und?«, fragte Go, ihre übliche Einleitung für eine Unterhaltung.
»Hm.«
»Was hm? Hm, mies? Du siehst schlecht aus.«
Während ich mit den Achseln ein Ja zuckte, musterte sie durchdringend mein Gesicht.
»Amy?«, fragte sie. Das war eine leichte Frage, und ich zuckte erneut die Achseln, diesmal als Bekräftigung und als ein Was-soll-man-da-machen?
Beide Ellbogen auf die Theke gestützt, Kinn auf den Händen, Gesicht amüsiert, machte sie sich bereit für eine präzise Obduktion meiner Ehe. Go, die Expertin. »Was ist mit ihr?«
»Schlechter Tag. Einfach ein schlechter Tag.«
»Lass dich nicht von ihr runterziehen.« Go zündete sich eine Zigarette an. Pro Tag rauchte sie genau eine. »Frauen sind verrückt.« Go rechnete sich selbst nicht zur Kategorie Frauen und benutzte das Wort grundsätzlich abwertend.
Ich blies den Rauch zurück zu seiner Besitzerin. »Wir haben heute Hochzeitstag. Fünf Jahre.«
»Wow.« Go legte den Kopf in den Nacken. Immerhin war sie Brautjungfer gewesen, ganz in Violett – »die hinreißende, in Amethyst gehüllte Dame mit dem rabenschwarzen Haar«, hatte Amys Mutter sie getauft –, aber Hochzeitstage gehörten nicht zu den Terminen, an die sie sich erinnerte. »Himmel. Scheiße. Alter. Das ging ja schnell.« Wieder blies sie mir eine Rauchwolke ins Gesicht, ein träges Spiel von Fang-den-Krebs. »Macht sie eine von ihren, wie nennt sie das immer, nicht Schnitzeljagd, sondern …?«
»Schatzsuche«, ergänzte ich.
Meine Frau liebte Spiele, hauptsächlich Psychospiele, aber auch richtige Spiele, und für unseren Hochzeitstag organisierte sie immer eine ausgeklügelte Schatzsuche, bei der jeder Hinweis zum Versteck des nächsten Hinweises führte, bis ich irgendwann am Ziel und bei meinem Geschenk angekommen war. Das hatte ihr Dad am Hochzeitstag immer für ihre Mom gemacht, und glaubt jetzt nur nicht, ich sehe nicht die Geschlechterrollen und kriege den Wink mit dem Zaunpfahl nicht mit. Aber ich bin nicht in Amys Familie aufgewachsen, sondern in meiner, und soweit ich mich erinnere, war das letzte Geschenk, das mein Dad meiner Mom gemacht hat, ein Bügeleisen, das ohne Geschenkpapier auf der Küchentheke stand.
»Wollen wir eine Wette abschließen, wie sauer sie dieses Jahr auf dich sein wird?«, fragte Go und grinste über den Rand ihres Bierglases.
Das Problem mit Amys Schatzsuchen war nämlich, dass ich die Hinweise nie kapierte. An unserem ersten Hochzeitstag, noch in New York, habe ich zwei von sieben geschafft. Das war mein bestes Jahr. Die Eröffnung verlief folgendermaßen:
Nicht viel mehr als ein Loch in der Wand ist der Ort,
Doch an einem Dienstag im letzten Herbst küssten wir uns dort.
Habt ihr als Kind mal an einem Buchstabierwettbewerb teilgenommen? Diese schneeweiße Sekunde nach der Bekanntgabe des Worts, wenn man das Gehirn durchforscht, wie man es korrekt schreibt? Den gleichen Effekt hatte die Schatzsuche auf mich. Nackte Panik.
»Eine irische Bar in einer nicht so irischen Gegend«, half Amy mir auf die Sprünge.
Ich biss mir auf die Lippe, setzte zu einem Achselzucken an, schaute mich hilfesuchend in unserem Wohnzimmer um, als könnte die Antwort dort irgendwo erscheinen. Amy gab mir eine weitere sehr lange Minute Zeit zum Nachdenken.
»Wir hatten uns im Regen verirrt«, sagte sie, und ihre Stimme war ein Flehen auf dem besten Weg zur Wut.
Ich brachte mein Achselzucken zu Ende.
»McMann’s, Nick. Weißt du nicht mehr, wie wir uns im Regen in Chinatown verlaufen haben, weil dieser Dim-Sum-Laden in der Nähe der Konfuzius-Statue sein sollte, aber es gibt zwei davon, deshalb sind wir in dieser irischen Kneipe gelandet, total durchnässt, und haben ein paar Whiskeys gekippt, und du hast mich gepackt und geküsst, und das war …?«
»Stimmt! Du hättest mir einen Hinweis mit Konfuzius geben sollen, den hätte ich sofort kapiert.«
»Aber es ging ja nicht um die Statue, es ging um die Bar. Um den Moment. Den fand ich so besonders.« Die letzten Worte sagte sie in einem kindischen Singsang, den ich früher mal anziehend fand.
»Er war auch besonders.« Ich zog sie an mich und küsste sie. »Und der jetzt grade war eine spezielle Wiederaufführung zum Hochzeitstag. Lass es uns noch mal bei McMann’s machen.«
Der Bartender von McMann’s, ein großer, bärtiger Bären-Knabe, sah uns reinkommen, grinste, schenkte uns zwei Whiskeys ein und schob mir den nächsten Hinweis über den Tisch.
Wenn ich richtig traurig bin
Zieht’s nur zu einem Ort mich hin.
Wie sich herausstellte, meinte Amy damit die Statue von Alice im Wunderland im Central Park, bei der Amy als Kind – das hatte sie mir hundert Mal erzählt, da war sie ganz sicher – Trost gesucht hatte, wenn sie deprimiert war. Aber ich kann mich an kein einziges derartiges Gespräch erinnern. Ganz ehrlich. Ich bin ansatzweise aufmerksamkeitsgestört und fand meine Frau schon immer ein bisschen überwältigend. Wie wenn man zu lange in ein blendendes Licht starrt – irgendwann kann man nicht mehr klar sehen. Es war anstrengend genug, in ihrer Nähe zu sein und ihr zuzuhören – worum es ging, war mir irgendwann nicht mehr so wichtig. Vielleicht hätte es wichtig sein müssen, aber so war es leider nicht.
Als der Tag sich dem Ende entgegenneigte und es zum eigentlichen Austausch von Geschenken hätte kommen sollen – die für das erste Ehejahr traditionellen Geschenke aus Papier –, redete Amy nicht mehr mit mir.
»Ich liebe dich, Amy. Du weißt, dass ich dich liebe«, sagte ich, während ich ihr zwischen den Familienpacks benommener Touristen, die blind und mit offenem Mund mitten auf dem Gehweg standen, zu folgen versuchte. Amy wuselte durch die Central-Park-Menschenmengen, manövrierte sich zwischen laseräugigen Joggern und scherenbeinigen Skatern, am Boden knienden Eltern und wie besoffen schwankenden Kleinkindern durch, immer ein kleines Stück vor mir, schmallippig und gehetzt, aber ohne Ziel. Ich bemühte mich aufzuholen und sie am Arm zu packen. Irgendwann blieb sie endlich stehen und hörte mit starrem Gesicht zu, während ich ihr, meine Verzweiflung mit letzter Verstandeskraft unterdrückend, erklärte: »Ich verstehe nicht, warum ich dir meine Liebe dadurch beweisen soll, dass ich mich an genau die gleichen Dinge erinnere wie du, und auch noch auf die gleiche Art wie du. Wenn ich das nicht tue, bedeutet das doch nicht, dass ich unser gemeinsames Leben nicht liebe.«