Buch
Nachdem Daire Santos plötzlich von mysteriösen Visionen heimgesucht wird, zieht sie zu ihrer Großmutter Paloma in die kleine Stadt Enchantment in New Mexico. Dort erfährt sie, dass sie eine Seelensucherin ist, die zwischen den Welten der Lebenden und der Toten wandeln kann. Mit Palomas Hilfe lernt sie gerade noch rechtzeitig, mit ihren Kräften umzugehen. Denn eine mächtige Familie hat es darauf abgesehen, die Unter-, Mittel- und Oberwelt zu stürmen. Daire ist der einzige Mensch, der sie stoppen kann, aber es gibt ein Problem: Sie liebt jemanden, der zu dieser Familie gehört. Es ist Dace, der trotz seiner Herkunft eine reine und gute Seele besitzt. Doch er hat auch einen abgrundtief bösen Zwillingsbruder, der Daires Kräfte nutzen will, um seine eigenen finsteren Pläne durchzusetzen. Wird Daire es schaffen können, ihre Bestimmung zu erfüllen, ohne ihre wahre Liebe dabei zu zerstören?
Weitere Informationen zu Alyson Noël sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Alyson Noël
Soul Seeker
Im Namen des Sehers
Roman
Band 3
Ins Deutsche übertragen
von Ariane Böckler
Page & Turner
Zur Erinnerung
an Shaun Daniel Winegar
1966 – 2012
Man sieht nur mit dem Herzen gut –
das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry
Haus aus Licht und Schatten
Eins
Daire
I ch erwache in einem schlagartig hell gewordenen Raum, als mich Axel von der Tür her anspricht.
Er wartet. Gibt mir Zeit, mich zu sammeln, ehe er zu mir ans Bett kommt. Sein Weg wird begleitet vom sanften Ein- und Ausströmen seines Atems und dem leisen Huschen seiner Füße auf dem glatten Steinfußboden.
Seine Stimme ist eine Melodie.
Seine Bewegungen gleichen einer leichtfüßigen Choreografie.
Doch als er neben mir steht und mir vorsichtig die Hand auf die Schulter legt, weiche ich seiner Berührung aus und kneife die Augen zu. Kehre zurück in den Traum, um die Erinnerung an Dace und seine Umarmung festzuhalten. Seine streichelnden Finger auf meiner Haut … seine Lippen auf meinen … die unstillbare Sehnsucht, mich im glitzernden Feuer seiner kaleidoskopartigen Augen zu verlieren, die mein Gesicht tausendfach widerspiegeln. Das Traumbild von Dace und mir, glücklich wiedervereint an der verzauberten Quelle, erscheint mir weitaus verlockender als die freudlose Realität, die mich erwartet.
»Daire, bitte. Ich weiß, dass du wach bist.« Axels Worte klingen gleichmütig, als würde ihn mein Spielchen nicht im Geringsten verärgern. »Ich kann gern den ganzen Tag hier sitzen bleiben, wenn es sein muss.« Er lässt sich auf meiner Matratze nieder und wartet darauf, dass ich seine Anwesenheit zur Kenntnis nehme.
»Du hast die Geduld eines Heiligen«, blaffe ich ihn an, während ich den Traum widerwillig aufgebe und mich damit abfinde, dass er nur ein Hirngespinst ist. Beim Anblick von Axels sorgenvollen lavendelfarbenen Augen erstarre ich und beobachte gebannt, wie sie sich zu einem düsteren Violett verfinstern, bevor sie wieder so klar und strahlend werden wie an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.
Dem Tag, an dem wir die ersten Worte wechselten und uns miteinander bekannt machten.
Dem Tag, an dem er mich in die Arme nahm und mich hoch in den Himmel katapultierte, das prachtvolle seidige Gewebe durchstieß und mit mir in eine Welt aus strahlend goldenem Licht vordrang.
So anders als zuvor – einmal tief unter Wasser – einmal auf einem gespenstischen Platz in Marokko –, als ich noch so naiv war, die Geschehnisse als Zufälle abzutun.
»Ein Heiliger bin ich wohl kaum.« Seine Finger graben sich in das blonde Haar, das ihm in sanften Locken in die Stirn und über die Wangen fällt. Eine Geste, die ich schon unzählige Male an ihm gesehen habe, dennoch wirkt sie noch genauso hinreißend wie beim ersten Mal. Mit seinen platinblonden Haarsträhnen, dem makellosen, durchscheinenden Teint und den pastellfarbenen Augen wirkt er unglaublich engelhaft – ihm fehlen nur noch Flügel und Heiligenschein.
»Wenn du kein Heiliger bist, dann vielleicht ein Engel?« Die Frage hängt bedrückend in der Luft und ist nicht annähernd so witzig, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen mag. Hier in der Oberwelt ist nichts unmöglich, und ich setze alles daran, die Wahrheit über die sonderbare Situation, in der ich mich befinde, zu ergründen. »Oder ein Geistführer vielleicht? Womöglich mein Geistführer?«
Ich mustere ihn mit zusammengekniffenen Augen, während ich im Stillen über die unausgesprochenen Fragen nachgrübele:
Bin ich eine Genesende oder eine Gefangene?
Will er mich retten oder zur Sklavin machen?
Als er zusammenzuckt und den Blick abwendet, weiß ich, dass er nicht nur meine Worte, sondern auch meine Gedanken gehört hat.
»Und wenn ich dir sage, dass ich nichts von alldem bin?«
»Dann würde ich annehmen, dass du lügst«, sage ich mit entschlossener Stimme. Er soll wissen, dass ich ihm zwar körperlich unterlegen und auf seine Hilfe und Pflege angewiesen bin, aber nach wie vor über einen starken Willen verfüge. Meine Tage als Patientin nähern sich dem Ende.
»Wenn du auf einer Bezeichnung bestehst, was offensichtlich der Fall ist, könnte man wohl am ehesten sagen, dass ich ein Mystiker bin.« Er streicht über seine weiße Tunika.
»Ein Mystiker?« Mein Tonfall ist genauso schroff wie mein Gesichtsausdruck.
Er nickt und studiert das an Georgia O’Keeffe erinnernde Gemälde eines leuchtend blauen Sees an der gegenüberliegenden Wand, bevor er sich auf den Rand des gekachelten Beckens setzt, in dem ich immer mit einem züchtigen weißen Gewand bekleidet bade und mir von Axel den Seifenschaum von Schultern und Haaren spülen lasse.
»Wie definierst du Mystiker?«, frage ich. Mehr als das habe ich trotz wiederholter Versuche bislang nicht aus ihm herausbekommen, und ich bin wild entschlossen, ihn diesmal aus der Reserve zu locken.
»Jemand, der in esoterische Mysterien eingeweiht ist.« Sichtlich zufrieden mit seiner Erklärung sieht er mich an, doch ich bin alles andere als zufrieden.
»Könntest du das bitte ein bisschen genauer darlegen, oder bleibst du mit Absicht so vage?« Ich hebe das Kinn und stelle überrascht fest, dass er meinen Sarkasmus mit einem strahlenden Lächeln auf die Probe stellt. Ein Lächeln, das sich von seiner Kinnspitze bis zum Haaransatz ausbreitet. Ein Lächeln, so offen, freundlich und aufrichtig, dass es mich enorme Willenskraft kostet, es nicht zu erwidern.
»Ich drücke mich mit Absicht so vage aus, das will ich gar nicht abstreiten. Und wenn die Fragestunde beendet ist, könnten wir dann vielleicht über dich reden?« Er fasst mein Schweigen fälschlicherweise als Kapitulation auf und rückt ein wenig näher. »Wie fühlst du dich?«, fragt er, mustert mich mit besorgter Miene und streicht mir mit seiner kühlen Hand über Stirn und Wangen. Er sucht nach Anzeichen von Fieber und Schüttelfrost, worunter ich seit meiner Ankunft hier leide.
»Die Fragen hören nie auf. Das solltest du mittlerweile wissen.« Ich weiche seinen Berührungen aus und bemühe mich um einen strengen Tonfall. »Was genau ist ein Mystiker?«, will ich wissen.
Er hält sich die Hand vor die Augen und seufzt. »Ich fürchte, das sprengt den Rahmen menschlicher Vorstellungskraft.«
»Versuch’s trotzdem.« Ich runzle die Stirn. Starre ihn grimmig an. Ich werde so lange warten, bis er mir eine vernünftige Antwort gibt. Doch wieder bekomme ich von ihm nichts weiter als ein Lächeln. »Komm schon, Axel«, bettle ich. »Wieso willst du mir nicht sagen, was es bedeutet? Ist jeder in der Oberwelt ein Mystiker? Und wenn ja, wo sind dann die anderen? Warum habe ich in der ganzen Zeit, die ich hier bin, niemanden außer dir zu Gesicht bekommen?«
Er hüllt sich in Schweigen, und die Frage bleibt unbeantwortet in der Luft hängen.
»Na schön.« Ich stoße einen frustrierten Seufzer aus. »Aber glaub bloß nicht, das war es schon. Heute kannst du mir noch ausweichen, aber irgendwann komme ich dahinter. Du bist nicht der einzige Sturkopf hier im Raum«, sage ich, krampfhaft bemüht, seinen Charme von mir abprallen zu lassen, doch es ist sinnlos. Selbst wenn er nicht lächelt, sich verlegen durchs Haar streicht oder irgendeine andere einstudierte Gebärde aus dem Handbuch für entwaffnende Gesten vollführt, ist seine Ausstrahlung von einem derartigen Übermaß an aufrichtiger Güte, Wohlwollen und unbestreitbarem Charisma geprägt, dass es nicht lange dauert, bis ich kapituliere. »Also gut, um mich kooperativ zu zeigen – was dir übrigens auch nicht schaden könnte –, werde ich deine Frage beantworten und dir mitteilen, dass mein Fieber endlich abgeklungen ist.«
Kurz berührt er meine Wange, dann legt er die Hand wieder in den Schoß. Fasziniert verfolge ich seine Bewegungen, die von einem wunderbaren Lichtschleier umgeben sind, ohne den kleinsten Hauch von Dunkelheit oder Schatten.
»Und meine Erinnerungen kehren langsam zurück«, füge ich hinzu und bemerke, wie ein leichter Anflug von Sorge seine Züge umwölkt, während er den Blick erneut auf das Gemälde richtet.
»Und was genau offenbaren diese Erinnerungen?«, fragt er, wobei seine Stimme so leise und unsicher klingt, wie ich sie noch nie gehört habe.
Ich zögere, brauche einen Moment, um mir zu überlegen, was ich sagen soll. Einerseits möchte ich so tun, als wüsste ich mehr, als ich weiß – was wohl auf den simplen Wunsch nach einer Art Überlegenheit zurückzuführen ist –, andererseits würde ich mein Wissen gern kleinreden, in der Hoffnung, dass er mir dann endlich erklärt, wie es dazu kam, dass er mich sterbend in der Unterwelt gefunden hat, niedergestreckt von meinem eigenen Athame. Dessen zweischneidige Klinge zerschnitt mir das Herz, als Cade Richter meine Seele in Besitz nehmen wollte.
»Ich weiß, dass es einen Kampf gab. Ich weiß, dass ich ihn verloren habe. Und ich habe gehofft, du könntest die Erinnerungslücken auffüllen.« Ich durchbohre ihn mit meinem Blick, weil ich ihn zwingen will, sich mir zuzuwenden, mich wahrzunehmen, doch er starrt eine halbe Ewigkeit lang nur auf die Wand. »Na schön«, sage ich schließlich. »Behalt dein Geheimnis fürs Erste für dich. Irgendwann finde ich es schon heraus. Aber könntest du mir wenigstens verraten, ob es Dace gut geht oder nicht? Wenn ich hier bei dir in der Oberwelt bin, werden wahrscheinlich alle in der Mittelwelt denken, ich sei tot. Was bedeutet, dass die Prophezeiung abgewendet wurde. Was auch bedeutet, dass Dace am Leben ist und ich ihn retten konnte. Stimmt’s?«
Axel presst die Lippen zusammen, und ich kann mich kaum beherrschen, ihn an den Schultern zu packen und eine Antwort aus ihm herauszuschütteln. Nach einer quälend langen Pause meint er schließlich: »Ich halte nichts geheim, Daire. Ich sehe nur keinen Sinn darin, die Vergangenheit heraufzubeschwören, wenn die Gegenwart auf dich wartet.«
»Aber die Vergangenheit hat mich hierhergebracht!«, rufe ich und ärgere mich augenblicklich über den hysterischen Klang meiner Worte. Ich rege mich zu sehr auf. Ich muss mich zurückhalten. Muss wieder zu Kräften kommen. Diese emotionalen Ausbrüche bringen niemals etwas Gutes. »Wie lange bin ich schon hier?«, frage ich betont beiläufig, als würde mich die Antwort nicht besonders interessieren. Meine Versuche, den Überblick über meine Verweildauer zu behalten, haben mich nur verwirrt. Die meiste Zeit verbringe ich schlafend, und das Licht, das durch die mit Gardinen verhängte Fensterscheibe dringt, scheint sich kaum zu verändern, sodass es unmöglich ist, die Tage zu zählen.
»Ein linearer Zeitverlauf existiert hier nicht«, erklärt Axel. »Aber das weißt du ja schon.« Er führt die Hand an meine Brust, um sich dringlicheren Problemen zuzuwenden. »Darf ich?« Seine Hand bleibt unsicher in der Schwebe, wartet auf meine Erlaubnis fortzufahren, trotz der Tatsache, dass er als mein einziger Pfleger das hier wohl kaum zum ersten Mal macht.
Ich schmiege die Wange in die mit weichem Seidenstoff bezogenen Daunenkissen, die er mir unter den Kopf geschoben hat. Beschämt, dass mir das Blut in die Wangen schießt, als er mein Gewand lockert und meine Wunde bloßlegt.
»Es verheilt gut.« Er lässt den Finger über die wulstige, krumme Linie aus gerötetem Fleisch gleiten, das er mit seiner Platinnadel und dem goldenen Faden wieder zusammengenäht hat. Seine Berührung durchdringt mich bis ins Innerste, bis hin zu dem unter der Oberfläche verborgenen unsichtbaren Narbennetzwerk, wo er seine Magie gewirkt und mein Herz wieder zusammengesetzt hat.
»Wann kann ich zurückkehren?«, will ich von ihm wissen. Es ist dieselbe Frage, die ich immer stelle.
Und wie immer weicht Axel aus, nimmt ein kleines Schraubglas vom Nachttisch, wiederholt sein übliches Mantra, während er den Deckel aufdreht und ihn auf das Glastischchen legt, das neben mir steht. »Noch nicht. Aber bald … sehr bald.«
Er taucht den Finger in die blaue Salbe. Doch bevor er sie auf die Wunde geben kann, packe ich sein Handgelenk und stoße ihn weg.
»Ich will nicht, dass sie verblasst«, sage ich, während ich von der Anstrengung, mich ihm zu widersetzen, nach Luft schnappe. Angesichts seines skeptischen Blickes füge ich hinzu: »Jetzt, wo ich mich erinnere, kann ich es mir nicht leisten zu vergessen, wie ich hier gelandet bin.«
Er murmelt ein paar unverständliche Worte in irgendeiner archaischen Sprache mit verschliffenen Vokalen und harten Konsonanten, die ich nicht verstehe. Dann stellt er das Schraubglas ab, schließt mein Gewand und sagt mit einem resignierten Seufzer: »Wenn du Rachepläne hegst, gebe ich dir den guten Rat, sie zu begraben. Dadurch begibst du dich nur auf Cades Ebene herab, zerstörst dein Potenzial und machst dich zu seinesgleichen. Willst du das?«
»Rache ist nicht mein Motiv.« Ich balle die Hände zu Fäusten, eine Geste, die meine Worte Lügen straft. »Es ist Liebe. Meine einzige Sorge gilt Dace.« Beim Aussprechen seines Namens krampft sich mein Herz schmerzhaft zusammen, und ich mag mir die Trauer nicht vorstellen, die er fühlen muss, ohne die volle Wahrheit dessen zu kennen, was in jener Nacht wirklich passiert ist.
Und obwohl auch mir der genaue Ablauf der Geschehnisse noch schleierhaft ist, bin ich mir einer Sache ganz sicher: Ich habe ihn gerettet.
Ich musste sterben, damit Dace leben konnte.
Nur dass ich nicht wirklich tot bin.
Er glaubt nur, dass ich es bin.
»Auch darüber solltest du besser nicht nachdenken.« Axel dreht mir ablehnend den Rücken zu. »Du musst gesund werden. Deshalb bist du hier.« Unsicher streicht er sich durchs Haar.
»Ist das der einzige Grund, aus dem ich hier bin?« Ich stütze mich auf und starre seinen Rücken an. Es ist ein unerfreuliches Thema, doch ich muss es ein für alle Mal wissen.
Warum hat er mich gerettet?
Und was erwartet er als Gegenleistung?
»Was willst du wirklich von mir wissen, Daire?« Er wendet sich mir wieder zu, und sein Blick ist so offen und direkt, dass er mich damit augenblicklich zum Schweigen bringt, da ich nicht mehr sicher bin, wie ich mein dringendstes Anliegen in Worte fassen soll.
Ist er ein verrückter Stalker, der einen Moment der Schwäche ausgenutzt hat, um mich zu entführen?
Oder ist er wirklich ein guter Samariter, ein Mystiker, wie er behauptet, der nur mein Bestes will?
Obwohl er mich immer mit Güte und Respekt behandelt hat, werde ich den leisen Verdacht nicht los, dass er nicht aus völlig uneigennützigen Motiven handelt.
Bedrückendes Schweigen senkt sich über uns herab. Die Art von Schweigen, die mich früher dazu verleitete, etwas Dummes zu sagen oder einen blöden Witz zu reißen, doch jetzt nicht mehr. Dieses Mädchen bin ich nicht mehr. Die neue Daire ist geduldig.
Sie kann warten.
Sie hat keine andere Wahl.
Doch als Axel in Richtung Tür geht, bedauere ich es augenblicklich, ihn zu sehr bedrängt zu haben. Er darf nicht gehen. Noch nicht. Er ist hier nicht der Einzige, der bestimmte Ziele verfolgt.
Ich kämpfe mich hoch, bis ich fast aufrecht dasitze, wobei ich übertrieben keuche und mit den Zähnen knirsche. Und wie erhofft, eilt er augenblicklich wieder an meine Seite.
Geduld. Du kannst es schaffen. Denk an das, was Paloma dich gelehrt hat: Denk vom Ende her.
»Übertreib es nicht, Daire.« Axel umfasst meine Schultern und drückt mich sanft zurück in die Kissen. »Dass du kein Fieber mehr hast, bedeutet nicht, dass du schon wieder gesund bist.«
Ich nicke, als würde es mir nicht im Traum einfallen, an seiner Weisheit und der unwiderlegbaren Wahrheit seiner Worte zu zweifeln. »Ich bin wohl einfach zu ungeduldig«, sage ich bekümmert und hoffe, dass ich den Bogen nicht überspanne. »Ich bin es nicht gewohnt, bettlägerig und schwach zu sein.« Ich mache ein schuldbewusstes Gesicht. »Und wenn ich jemals wieder von hier wegkommen will, muss ich alles dafür tun, um meine Muskeln zu trainieren. Je länger ich hier liege, desto mehr verkümmern sie. Deshalb würde ich gern versuchen, ein paar Schritte zu gehen. Was meinst du?«
Ich halte die Luft an, sehe ihn erwartungsvoll an und hoffe, dass meine Worte nicht zurechtgelegt, sondern überzeugend wirken.
Als er für meinen Geschmack nicht schnell genug antwortet, kämpfe ich mich erneut Grimassen schneidend und zähneknirschend hoch, bis ich mit rotem Gesicht und außer Atem am Kopfteil lehne und ihn anflehe: »Bitte. Ich muss aufstehen und mich bewegen – wenigstens ein paar Schritte. Aber ich brauche deine Hilfe. Allein schaffe ich es nicht.« Ich zwinge mich, die Lüge zu verschlucken, doch ihr bitterer Geschmack klebt mir an der Zunge. »Komm schon, Axel, du hast doch versprochen, mich zu heilen, mich wieder gesund zu machen! Das hast du doch gesagt, oder?«
Er runzelt die Stirn und verzieht das Gesicht, und ich weiß, dass ich gewonnen habe. Dass er sieht, was ich ihm vor Augen führen wollte – ein atemloses, schweißnasses, blasses Etwas, das Forderungen stellt, die meinen Kräften nicht entsprechen.
Ich schnappe nach Luft, schiebe die Finger unter die Matratze und mache den Versuch, die Beine über die Bettkante zu schwingen. »Sieht so aus, als würdest du dich nicht umstimmen lassen – ganz egal, was ich sage.«
»Sieht so aus«, flüstere ich und gönne mir ein verstohlenes Lächeln, als er mir den Arm um die Taille legt, meine Füße auf den Boden stellt und mich hochzieht, bis ich fest an seinen Körper gedrückt dastehe.
Seine Berührung strahlt eine beruhigende Kraft aus, die mich verunsichert und an den Moment erinnert, als er mich gerettet hat. Ich denke daran, wie er seine Lippen auf meinen Mund presste und mich aus den Klauen des Todes riss – mich mit einem Kuss wieder zum Leben erweckte.
Die Frage ist, warum?
Warum ich?
Und, was noch wichtiger ist, wieso hält er mich versteckt, nachdem er mich gerettet hat?
Keine Menschenseele ist vorbeigekommen, seit ich hier bin. Und oft, wenn er denkt, dass ich schlafe, beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie er durch die Vorhänge späht, während seine Finger nervös zucken, aus Angst, gesehen zu werden.
Trotz der aufopfernden Pflege, mit der er mich umsorgt, drängt mich seine Weigerung, meine Fragen zu beantworten, zu der Vermutung, dass seine Motive keineswegs so lauter sind, wie sie scheinen. Dass sie weniger mit seinen inneren moralischen Werten zu tun haben als mit der simplen Tatsache, dass er es – aus welchen Gründen auch immer – nicht ertragen könnte, mich zu verlieren.
Als hätte er einen persönlichen Anspruch auf mich.
Als würde ich ihm weitaus mehr bedeuten, als es eigentlich sein dürfte.
Ein Verdacht, der mich nervös macht.
Mein Herz gehört Dace. Und wenn es stimmt, was ich Axel unterstelle, dann hat er mein Leben zu einem Preis gerettet, den ich niemals zurückzahlen kann.
»Könntest du vielleicht einen Gehstock für mich manifestieren?«, frage ich, und obwohl ich schon viele Male gesehen habe, wie er seine Magie ausübt, beobachte ich mit unverhohlener Bewunderung, wie sich ein wunderschön geschnitzter Elfenbeinstock zwischen seinen Fingern materialisiert.
»Hoffentlich wurde dafür kein Elefant verstümmelt!« Ich umfasse den Griff und teste die Stabilität des Stocks, indem ich mich mit meinem ganzen Gewicht darauf stütze.
»Er kam aus dem Äther und wird dorthin zurückkehren, sobald du ihn nicht mehr brauchst.« Er lockert den Griff um meine Taille und gewährt mir etwas mehr Bewegungsfreiheit, während er aufmerksam über mich wacht, jederzeit bereit, mich aufzufangen. »Jetzt stehst du also wieder auf eigenen Beinen. Und wohin willst du nun gehen?«
Das seltsame Glitzern in seinen Augen kann ich nicht deuten. Ist es Belustigung? Stolz? Könnte es sein, dass er mir auf die Schliche gekommen ist und meine Scharade durchschaut?
»Du musst ein Ziel haben, Daire. Du kannst kein Ziel treffen, das du gar nicht siehst.«
»Die Tür.« Ich deute mit dem Kopf auf die mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Doppeltür, als sei sie mir gerade erst in den Sinn gekommen. Als hätte ich nicht in jeder wachen Minute davon geträumt, meine Hände gegen das schwere Holz zu pressen und hinaus in die Freiheit zu drängen.
Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen, sorgsam darauf bedacht, mein Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Schließlich will ich keine weitere Verletzung riskieren, nur um mich selbst zu beweisen. Ich spüre, wie Axel meinen Bewegungen folgt. Bis mein Gang unsicher wird und meine Beine anfangen zu zittern und er mich mit festem Griff stützt und an seine Brust zieht.
»Du wirst es schon schaffen, Daire. Hab keine Angst«, sagt er, als ich niedergeschlagen seufze und in mir zusammensacke, während er mich wieder in mein Krankenbett legt und sorgfältig zudeckt. »Es dauert nur ein bisschen länger, als dir lieb ist, das ist alles.«
Ich nicke gehorsam und schließe die Augen, als würde ich mich von seinen geflüsterten Versprechungen einlullen lassen: Bald, ganz bald …
Bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt und ich aus dem Bett springe.
Zwei
Dace
Dunkel.
Das Wort hallt in meinem Kopf wider. Dröhnt mir in den Ohren. Reißt mich heraus aus der süßen, betäubten Leere und zurück ins grelle Licht der Wachheit.
Wie ein undichter Wasserhahn, der innehält, Feuchtigkeit sammelt und einen weiteren Tropfen herabfallen lässt.
Dunkel.
Es ist das erste Wort, das ich höre, seit … wie vielen Tagen? Es ist unmöglich zu sagen. Ohne jede Spur von Sonne oder Mond, mit nichts weiter als dem trostlosen Himmel aus pappigem grauem Matsch über mir, gibt es keinerlei Hinweise auf den Verlauf der Zeit.
Dennoch freue ich mich über die Gesellschaft. Bin froh, nicht länger auf mich allein gestellt zu sein in diesem sonderbaren, fremdartigen Land.
Ich versuche, ein Auge zu öffnen, um zu sehen, wer zu mir gekommen ist. Doch eine dicke Kruste hat meine Lider verklebt, und ich muss mit blutverschmierten Fingern daran kratzen, um sie abzulösen.
»Wer ist da?«, rufe ich mit rauer, fremder Stimme – eine Folge meiner eitrigen Halswunde. »Zeig dich!« Ich drehe mich auf die linke Seite und inspiziere meine Umgebung, nur um festzustellen, dass niemand da ist. Dann drehe ich mich auf die rechte Seite, wo ich zu demselben Ergebnis komme.
Nur ich bin hier.
Nur ich allein.
Mit nichts weiter als dieser trostlosen, öden Landschaft als Gesellschaft.
Dunkel.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und drehe mich auf den Rücken. Möchte über meine Dummheit lachen, doch die Heiterkeit kommt einfach nicht an die Oberfläche. Sie ist zusammen mit all den anderen Tugenden gestorben, die ich einst so hoch geschätzt habe.
Dinge wie Glaube, Hoffnung, Barmherzigkeit und Liebe haben hier keinen Platz.
Obwohl die Liebe überraschend hartnäckig war und sich kräftig zur Wehr gesetzt hat.
Nachdem die anderen längst verloren waren, hat die Liebe überdauert.
Entschlossen, sogar dann noch auszuharren, als mein Herz zu einem kalten, verbitterten Stein wurde.
Selbst dann noch, als meine Erinnerungen an Daire sich gegen mich auflehnten, zu einem Feind wurden, der nur existierte, um mich zu quälen. Zu einem findigen, gerissenen Widersacher, der mit unendlicher Geduld den richtigen Moment abwartet – wenn Erschöpfung sich in Verzweiflung wandelt –, um unvermittelt und gnadenlos zuzuschlagen. Mich vernichten können mit ein paar glücklichen Bildern, kurzen Szenen, die eine lachende, verliebte Daire zeigen, doch dann wurde der Film immer schneller vorgespult, bis zu dem Moment, als ihre Augen mich angstvoll anstarrten, weil sie sah, wie ich mich verändert hatte. Als sie die beschämende Wahrheit der unverantwortlichen Wahl erkannte, die ich getroffen habe. Dass ich meine Seele geopfert habe, um sie zu retten, indem ich wie Cade wurde.
Und doch war es ihr Gesicht, an das ich mich geklammert habe, als der Tod kam, um mich zu holen.
Es war ihr Gesicht, das den Fall abfing.
Doch jetzt, wo ich nicht mehr unter den Lebenden bin – und auch keine Heimstatt bei den Toten habe –, ist es ihr Gesicht, das mich verfolgt.
Daire ist tot.
Tot und erloschen.
Bei meinem Versuch, sie zu retten, habe ich versagt. Und jetzt gibt es dort, wo einst meine Seele lebte, nur noch Reue.
Dunkel.
Ich beiße mir auf die Zunge. Halte mir mit blutverkrusteten Händen die Ohren zu. Dennoch ertönt das Wort erneut.
Und da begreife ich es.
Da wird mir klar, dass der Klang nicht von außen kommt – es ist ein Wort, das in meinem Kopf entstanden ist.
Der Klang wiederholt sich. Wird mit jedem Mal eindringlicher, während mir die Ungeheuerlichkeit meiner Situation aufgeht.
Die Dunkelheit, von der es spricht, dröhnt in meinem Inneren.
Meine Finger gleiten über meinen Rumpf, tasten nach der klaffenden Wunde, wo ich mir Daires Athame tief in die eigenen Eingeweide gerammt habe, bereit, mein eigenes Leben zu opfern, um das meines Bruders auszulöschen. Ein märtyrerhafter Akt, der mir versagt wurde, als Kojote in allerletzter Sekunde in die Bresche sprang, Cades flüchtende Seele zwischen die Zähne nahm und sie zurück in seinen Körper stopfte, wodurch meine davonschweben konnte …
Dennoch sind wir auf wundersame Weise miteinander verbunden, und eines ist sicher – wenn Cade lebt, bin auch ich am Leben.
Oder zumindest ein Abbild von mir.
Dunkel.
Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Niemand wird mich finden. Ich werde an diesem Ort verrotten und habe es auch nicht besser verdient.
Ich schließe die Augen, falte die Hände über der Brust und warte darauf, dass die betäubende Woge der Bewusstlosigkeit mich erneut davonträgt.
Drei
Daire
K aum habe ich das Bett verlassen, blitzen Sterne vor meinen Augen auf, und mir wird so schwindelig, dass ich mich kurz am Nachttisch festhalten muss. Fast so hilflos wie zuvor bei Axel, wie ich mit Entsetzen feststelle. Meine Schwäche war anscheinend doch nicht nur gespielt.
Aber ich darf mich davon nicht aufhalten lassen. Darf mich nicht von den Schmerzen unterkriegen lassen. Getrieben von dem Ziel, hier herauszukommen und dafür zu sorgen, dass Cade unter Kontrolle bleibt, arbeite ich mich verbissen vor, bis ich mich ein gutes Stück vom Bett entfernt habe.
Wer auch immer gesagt hat, Schmerz sei ein guter Lehrer, hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Während der Zeit hier drinnen habe ich mehr gelernt als in den sechzehn Jahren davor.
Ich steuere den Schrank am anderen Ende des Raums an, in der Hoffnung, dass meine Kleider noch da sind. Doch bis auf ein ätherisches, weißes Abendkleid mit Spaghettiträgern und zarten Perlenstickereien auf der Vorderseite ist der Schrank leer.
Ich reiße das Kleid vom Bügel und inspiziere es genauer. Es steht in so krassem Gegensatz zu meiner üblichen Kleidung, die meist aus Röhrenjeans, lässigen Stiefeln, engen Trägertops und meiner geliebten grünen Armeejacke besteht, dass ich einen Widerwillen dagegen habe. So ein Kleid würde man höchstens beim Abschlussball oder auf einer Hochzeit tragen, was meine Angst vor Axels Absichten nicht gerade mindert.
Offensichtlich hat er es mir zugedacht. Ich bin die Einzige hier.
Die Frage ist, warum?
Will er mich etwa zu seiner Braut machen?
Da ich keine Alternative habe, lege ich den Bademantel ab und streife das Kleid über, dessen seidiger Stoff mir über Hüften und Beine gleitet, bis er meine Knöchel umspielt. Dann hole ich tief Luft und schaue in den Spiegel, schockiert von dem fremdartigen Bild, das mir entgegenblickt. Axel hat mich die ganze Zeit von sämtlichen reflektierenden Oberflächen ferngehalten, und bislang hatte ich noch kein Interesse an einem Spiegel. Doch jetzt kann ich nicht aufhören, es anzustarren und mich zu fragen, ob meine Verwandten und Freunde wohl bemerken werden, wie sehr ich mich verändert habe.
Mein Haar ist dunkler geworden. Die Farbe meiner Lippen intensiver, was meine Haut noch bleicher wirken lässt. Und obwohl meine Wangen knochiger, ausgeprägter und eingefallener sind als früher, sind es meine Augen, die mich am meisten erschrecken. Die Iriden haben einen fiebrigen Smaragdton angenommen, in dem das brennende Verlangen nach Rache lodert.
Zwar habe ich habe Axel gegenüber beteuert, Liebe sei meine größte Antriebskraft, doch mein Bedürfnis nach Rache ist fast ebenso groß.
Ich setze die Bestandsaufnahme fort. Sehe einen Körper, der dünner und schwächer ist, jedoch längst nicht mehr so zerschlagen wie bei meiner Ankunft. Abgesehen von der tiefroten Narbe, deren oberes Ende über dem tiefen Ausschnitt zu sehen ist, gibt es keinerlei Anzeichen der Gewalt, die Cade mir angetan hat. Jener grauenvollen Taten, die er niemals wiederholen können wird. Ich werde aus meinen Niederlagen lernen und diese Erkenntnisse nutzen, um meine Ziele zu verfolgen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich werde Vergeltung üben. Ich werde dafür sorgen, dass Cade für seine Taten bezahlt.
Meine Tagträume werden durch das Geräusch von Schritten jenseits der Tür unterbrochen, und ich erstarre vor Angst davor, was Axel wohl tut, wenn er mich so vorfindet.
Wenn er tatsächlich nur mein Bestes will, würde ihn mein Verrat vermutlich zutiefst kränken.
Und wenn nicht …
Wenige Sekunden später sind die Schritte verhallt, und ich setze die Suche nach meinen Sachen fort. Bin erleichtert, als ich den weichen Wildlederbeutel finde, den Paloma mir geschenkt hat, und den Schlüssel an der schwarzen Schnur, ein Symbol für die Liebe, die Dace und mich verbindet. Leider ist Djangos schwarze Jacke verschwunden und damit eine der wenigen greifbaren Erinnerungen an meinen Vater. Entweder ist sie in der Unterwelt liegen geblieben, oder sie wurde bei meinem Kampf gegen Cade so lädiert, dass Axel sie mit meinen übrigen Sachen entsorgt hat.
Ich streife mir meine Talismane über den Kopf und werfe einen Blick in den Beutel. Der steinerne Rabe, die Rabenfeder, Djangos Bär, der kleine Aquamarin, den ich im Wasserfall gefunden habe, und das Türkisherz, das ich von Dace als Wichtelgeschenk zu Weihnachten bekommen habe – all diese Dinge sind glücklicherweise noch da, auch wenn ich mich frage, ob sie ihre Magie behalten haben.
Paloma hat mir eingeschärft, gut auf den Beutel aufzupassen, ihn immer in Reichweite zu haben und niemanden hineinschauen zu lassen, sonst sei seine Macht verloren.
Seit meiner Ankunft hier habe ich ihn nicht mehr gesehen, und außerdem könnte ich darauf wetten, dass Axel ihn bei der erstbesten Gelegenheit inspiziert hat.
Dennoch verstecke ich den Beutel unter dem Kleid und schiebe den kleinen goldenen Schlüssel darunter. Genieße das Gefühl des kalten Metalls auf der Haut. Wie es kühl und fremdartig auf der Narbe liegt, die meine Brust in zwei Hälften teilt.
Eine weitere Erinnerung an all das, was ich verloren habe.
Einigermaßen angezogen und bereit, eile ich ans Fenster und spähe durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Vergewissere mich, dass die Luft rein ist, bevor ich zur Tür gehe und die Handflächen gegen das schwere Holz presse, wie ich es mir unzählige Male vorgestellt habe.
Doch obwohl ich so fest drücke, wie ich kann, regt sich die Tür keinen Millimeter.
Ich drücke erneut.
Und noch einmal.
Werfe mich verzweifelt gegen das kunstvoll geschnitzte Holz, nur um festzustellen, dass die Tür von außen verriegelt ist.
Ich stürme zum Fenster und suche nach einem Griff, finde jedoch keinen.
Ich greife nach dem Wasserkrug und schleudere ihn mit aller Kraft gegen die Fensterscheibe, die jedoch heil bleibt, da sie offensichtlich aus bruchsicherem Glas besteht.
Auf der verzweifelten Suche nach einem Fluchtweg haste ich in alle vier Ecken des Raums, doch es gibt kein Entrinnen.
Ich sitze in der Falle.
Eingesperrt.
Meine schlimmsten Befürchtungen werden bestätigt.
Axel rettet mich und macht mich zugleich zur Sklavin.
Er war meine einzige Möglichkeit hereinzukommen – und jetzt ist er mein einziger Ausweg.
Hoffnungslos sinke ich zu Boden. Mir bleibt nichts anderes übrig, als wieder den Bademantel anzuziehen, zurück ins Bett zu gehen und über einen besseren Plan nachzugrübeln. Einen Plan, für dessen Entwicklung ich Tage oder Wochen brauchen werde. Da ich keine Wahl habe, raffe ich mich wieder auf, fasse den Saum des Kleides und will es mir über den Kopf streifen. Dabei ziehe ich den Wildlederbeutel mit, bis ich das Wärmegefühl bemerke, das er auf meiner Haut hinterlässt.
Es ist ein Zeichen. Daran habe ich keinen Zweifel. Es wäre nicht das erste Mal, dass das Amulett versucht, meine Aufmerksamkeit zu wecken.
Ich zupfe das Kleid wieder zurecht und umschließe den Beutel mit den Händen. Während mir das versehrte Herz in der Brust hämmert, rufe ich die Geister unzähliger Generationen meiner Santos-Vorfahren an. Beschwöre die kollektive Weisheit von Valentina, Esperanto, Piann, Mayra, Maria, Diego, Gabriela, Alejandro und Django herauf, bevor ich ganz ruhig werde und auf ein Zeichen ihrer Nähe warte.
Ihre Botschaft erfolgt augenblicklich in Form von eindringlich geflüsterten Worten, die nur in meinem Kopf zu hören sind.
Was außerhalb von dir liegt, ist nichts im Vergleich zu dem, was in deinem Inneren ist. Du musst bereit sein, das zu tun, wovon du glaubst, du kannst es nicht.
Obwohl die Bedeutung klar ist, habe ich das Problem, nicht mehr zu wissen, was ich kann.
Ich dachte, ich könnte die Prophezeiung abwenden, und vielleicht habe ich das auch getan. Doch Axels Weigerung, darüber zu reden, macht mich nervös.
Ich dachte auch, ich sei bereit gewesen, Cade zu töten – bereit und gewillt und durchaus in der Lage. Und obwohl die Erinnerung noch verschwommen ist, kann ich nicht leugnen, dass ich gezögert habe, als ich ihm das Messer an die Kehle drückte. Ihn unter meinen Händen bluten zu sehen – das war ganz anders, als ich es erwartet hatte. Es fühlte sich nicht wie das Abschlachten einer Bestie an, sondern mehr wie die Ermordung eines menschlichen Wesens.
Ein Fehler, den ich kein zweites Mal begehen werde.
Doch eines ist klar, wenn ich nach Enchantment zurückkehren will, dann muss ich schnell handeln. Und auch wenn es verführerisch ist, einen leichteren Weg einzuschlagen, indem ich Axel zu überreden suche, mich freizulassen, darf ich nicht das Risiko eingehen, dass es nicht funktioniert.
Ich brauche einen soliden, sicheren Plan.
Einen Plan, der sich nicht auf Axels Einverständnis gründet.
Du musst bereit sein, das zu tun, wovon du glaubst, du kannst es nicht.
Ich zerre den schweren Schreibtischstuhl zur Tür, lehne mich mit dem Rücken an die Wand und warte.
Visualisiere das Szenario von Anfang bis Ende.
Sehe mich selbst, wie ich die Tat ohne Zögern ausführe.
Ohne einen Funken von Bedauern.
Entschlossen, alles zu tun, was nötig ist, um hier herauszukommen.