Stefan Bollmann
Frauen und Bücher
Eine Leidenschaft mit Folgen
Deutsche Verlags-Anstalt
Stefan Bollmann
Frauen und Bücher
Eine Leidenschaft mit Folgen
Deutsche Verlags-Anstalt
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1. Auflage
Copyright © 2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Typographie und Satz:
DVA/Brigitte Müller
Gesetzt aus der Bembo
ISBN 978-3-641-09153-8
V002
www.dva.de
»Lesen ist sexy.«
Jeanette Winterson
»Romane sind wie ein zweites Leben.«
Orhan Pamuk
Inhalt
Vorwort
TEIL 1
Die Leselust beginnt
Das 18. Jahrhundert
1
Magdeburg und Zürich, 1750
Die Erfindung der Dichterlesung
2
London, 1756
Was für schöne Briefe: Liebe und der Roman
3
Wetzlar, 1774
Der Werther-Effekt
4
Clausthal, 1786
Lesen, um zu leben: Caroline Schlegel-Schelling
5
Paris, 1792
Lese-Revolution: Mary Wollstonecraft
TEIL 2
Die Macht des Lesens
Das 19. Jahrhundert
6
Steventon, 1808
Die Unabhängigkeitserklärung
der Leserin: Jane Austen
7
Genfer See, 1816
Ein völlig verregneter Sommer:
Mary Shelley und das Monster
8
Rouen, 1857
Die Liebende aller Romane:
Madame Bovary
9
Arnstadt, 1866
Eine Vorleserin macht Karriere:
E. Marlitt
10
New Orleans, 1899
Das Erwachen der Leserin
TEIL 3
Bücherfrauen
Das 20. Jahrhundert
11
Bloomsbury, 1910
Als der Mensch sich veränderte:
Virginia Woolf
12
Paris, 1922
Joyce und die Frauen
13
Hollywood, 1955
Marilyn Monroe, die lesende Sexbombe
14
New York, 1960
Lesen heißt sich erfinden: Susan Sontag
15
www.FanFiction.net, 1998
Die Zukunft der Leserin
Gegenwart
Weiter lesen
16
Seattle, 2012
Die Leserin als Grenzgängerin oder Shades of Grey
Dank
Auswahlbibliographie
Personen- und Werkregister
Vorwort
Als das Lesen weiblich wurde
»Lesen ist mein Lebensglück«, bekennt Elke Heidenreich in einem Interview.
Worin das Glück bestehen könnte, beschreibt die Schriftstellerin und Feministin Jeanette Winterson: »Ein Buch gibt mich nicht wieder, es definiert mich neu.«
»Ich möchte lesen, bis ich schwarz werde«, erklärt Virginia Woolf 1897, im Alter von neunzehn Jahren, ihrem älteren Bruder Thoby. Der studiert zu dieser Zeit in Cambridge, während sie sich zu Hause durch die väterliche Bibliothek frisst.
Fünfzig Jahre zuvor jubelt die Dichterin Elizabeth Barrett Browning: »Und wie ich es schlagen hörte / Unter meinem Kissen, im Dunkel des Morgens, / Eine Stunde bevor die Sonne mich lesen ließ! / Meine Bücher, mein Herz!«
»Ich lese nie Romane; ich habe Besseres zu tun«, lässt Jane Austen Anfang des 19. Jahrhunderts einen Mann in einem ihrer Romane sagen und fällt damit das Urteil über ihn. Gnade finden vor ihren Augen nur diejenigen ihrer Figuren, die sich zum Roman bekennen. Und das sind in der Mehrzahl Frauen.
»Ich vertrockne seit einiger Zeit, weil alle meine Bücherquellen sich verstopfen«, klagt Caroline Schlegel-Schelling, 1786 wohnhaft in dem Provinzstädtchen Clausthal, wohin ihre erste Ehe sie geführt hat. Der Brief geht an die Schwester in Göttingen, die regelmäßig eine Bücherbotin mit frischem Lesefutter zu ihr schickt.
Anna Louisa Karsch, eine der ersten deutschen Dichterinnen, aufgewachsen in prekären, bildungsfernen Verhältnissen, wie wir das heute nennen würden, erinnert sich: »Ich versteckte meine Bücher unter verschwiegenen Schatten eines Holunderstrauchs und suchte von Zeit zu Zeit mich in den Garten zu schleichen, um meiner Seele Nahrung zu geben.« Ihre Mutter hatte ihr das Lesen verboten, angeblich weil sie befürchtete, ihre Tochter würde darüber verrückt werden, in Wirklichkeit aber weil sie die Heranwachsende im Haushalt brauchte. Das war um 1730.
Sieben Zeugnisse lesender Frauen aus annähernd drei Jahrhunderten. Spielend ließen sie sich vermehren. Auch Männer haben von ihrer Liebe zum Lesen gesprochen, aber selten so lebensnah, so sprühend vor Lebendigkeit wie die Frauen. Ist Lesen weiblich?
Fest steht: Frauen lesen mehr als Männer und anderes als Männer. Mehr und am liebsten Romane, mehr und am zweitliebsten Biographien – Bücher also, die vom Leben handeln, egal ob Fiktion oder nicht. Frauen lesen, um zu leben, nicht selten auch, um zu überleben. Im Lesen riskieren sie Gefühle, versetzen sie sich in fremde Figuren und Welten, entdecken sie ihre eigene Wahrheit. Und das geht seit nun dreihundert Jahren so. Die Leseforscherin Maryanne Woolf spricht von »deep reading«, von vertieftem Lesen, im Gegensatz zu einem Lesestil, der auf Informationen und Fakten aus ist. Die Geschichte, wie es dazu kam, dass die Frauen diese Art des Lesens für sich entdeckten, und die vielen weiblichen Lese- und Lebensgeschichten, die dadurch möglich wurden, erzählt dieses Buch.
Harmlos der Beginn. Zum Beispiel so: Ein Studienabbrecher mit dem zum Spott einladenden Namen Klopstock fährt im Sommer 1750 in einem Boot über den Zürichsee. Er ist der Mittelpunkt einer Gesellschaft junger Leute und trägt seine Gedichte vor. Besonders die anwesenden jungen Frauen bringt er mit seinen Oden und Gesängen schier um den Verstand. So ist die Dichterlesung entstanden – bis heute ein gleichermaßen literarisches und erotisches Ereignis für ein vornehmlich weibliches Publikum.
Schon ein Jahrzehnt zuvor hat Samuel Richardson, ein Londoner Drucker Anfang fünfzig, mit seinen Romanen Pamela und Clarissa die Frauenherzen höher schlagen lassen. Pamela handelt vom sozialen Aufstieg durch Liebe, Clarissa vom existenziellen Niedergang ebenfalls durch Liebe. Täglich erreichen den Autor Briefe seiner entzückten Leserinnen. Zusammen mit seinen wohltemperierten Antworten bewahrt er sie in einem imposanten Schrank auf, den er seinen Besuchern aus dem In- und Ausland voller Stolz zeigt. Die Leselust der Frauen hat von Anbeginn an mit Liebeshunger zu tun – das sehen die Kritiker, die die grassierende »Vielleserei« und »Lesewut« für einen versteckten Angriff auf die Fundamente der bürgerlichen Moral und Ehe halten, schon ganz richtig.
Doch hinter dem Bedürfnis nach Liebe steckt mehr – der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. Paris im Jahr 1789 ist nicht nur die Stadt des Sturms auf die Bastille, es ist auch die Stadt der lesenden Frauen. So bezeugt es ein deutscher Reisender: »Jeder – hauptsächlich aber die Frauen – hat dort ein Buch in der Tasche. Man liest im Wagen, auf der Promenade, im Theater, in den Pausen, im Café, im Bad.« Manche Neuerscheinungen lösen eine derartige Nachfrage aus, dass der Verleiher jedes Buch kurzerhand in drei Teile zerschneidet. Lösen Bücher womöglich Revolutionen aus?
So vermutet man auch in London, zu dieser Zeit die größte Stadt der Welt, wo man die Geschehnisse auf dem Kontinent aufmerksam verfolgt. Mary Wollstonecraft arbeitet gerade an ihrer Schrift zur Verteidigung der Rechte der Frau und verfasst zugleich als erste Frau professionell Literaturkritiken. Ihr Spezialgebiet: Frauenromane, die England damals überfluten. Bekannt wird sie vor allem durch ihre schneidenden Verrisse: Sie findet die meisten der von Frauen geschriebenen Bücher einfach unsäglich klischeehaft – kein Stoff für Leserinnen, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen wollen.
Von den Romanen Jane Austens, die bald darauf zu erscheinen beginnen, hätte sie das sicher nicht gesagt. Die unscheinbare Austen, eine fleißige Leserin Wollstonecrafts, macht aus Fragen der weiblichen Partnerwahl Weltliteratur. Lesen, insbesondere Romanlektüre, sieht sie als zeitgemäßen Weg der Frauen zu mehr Unabhängigkeit.
Weltliteratur schreibt kurz darauf auch Wollstonecrafts Tochter Mary Shelley. Im völlig verregneten Sommer des Jahres 1816 erfindet sie in einer Literatenrunde am Genfer See die Figuren des Dr. Viktor Frankenstein und des von ihm geschaffenen Monsters. Die namenlose Kreatur ist ein exemplarischer Außenseiter und eigentlich ein empfindsamer Mensch, der Romane liest – mit Vorliebe Goethes Die Leiden des jungen Werthers, jenes Buch, das seit seinem Erscheinen die Leserinnen in ganz Europa zu Tränen rührt. Ist Dr. Frankensteins liebeshungriges Geschöpf in Wirklichkeit eine Frau?
Schon bald zeigt das Jahrhundert sein Janusgesicht. Die lesende Frau beginnt Karriere zu machen – als Erzieherin, Lehrerin, gar als Bestsellerautorin, wie etwa Eugenie John, Vorleserin in fürstlicher Anstellung, die als E. Marlitt für die Familienzeitschrift Die Gartenlaube millionenfach gelesene Fortsetzungsromane schreibt. Gleichzeitig aber schreitet auch die Dämonisierung der Leserin fort. Das Jahrhundert zeigt sich besessen von der Idee, Romanlektüre sei der direkte Weg zum Ehebruch, natürlich nur im Fall der Frau. Emma Bovary, Anna Karenina und noch Effi Briest sind die prominentesten literarischen Täterinnen (und zugleich Opfer) dieser männlichen Zwangsvorstellung.
1910 dann ist endlich Schluss mit dem langen viktorianischen 19. Jahrhundert. Das jedenfalls meint Virginia Woolf, wenn sie schreibt, irgendwann im Dezember 1910 habe sich der menschliche Charakter verändert. Das neue Jahrhundert kommt zu diesem Zeitpunkt langsam in die Pubertät. Bald machen sich erste Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar: Junge Menschen ziehen etwa vom Londoner Nobelstadtteil Kensington ins heruntergekommene Bloomsbury, homosexuelle Literaten begegnen Frauen auf Augenhöhe, man lebt, liebt und arbeitet in wechselnden Zusammensetzungen an wechselnden Orten. Ein junges Schriftsteller-Ehepaar legt sich eine handbetriebene Druckerpresse zu, auf der es nachmittags Avantgardeliteratur in Kleinstauflagen herstellt. Und insbesondere die Frauen lesen, bis sie »schwarz« werden.
Die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten: Lesende Frauen werden Verlegerinnen, sie gründen Buchhandlungen und sorgen für den illegalen Druck verbotener Romane, die wie der Ulysses von James Joyce hochliterarisch, doch voller Obszönitäten sind. In den 1950er Jahren lässt sich Marilyn Monroe, die das Image der blonden und dümmlichen Sexbombe leid ist, dabei fotografieren, wie sie in dem schmutzigen Buch liest, das es inzwischen zu einer Ikone der Hochkultur gebracht hat. Da befruchten sich zwei Welten, die zusammengehören, und auch die Literatur profitiert von der Ausstrahlung, die durch die im Badeanzug lesende, mit ihren Reizen keineswegs geizende Marilyn auf sie fällt: Lesen ist sexy.
Seit den 1960er Jahren erobert die lesende Frau die Welt und die Medien, was zunehmend dasselbe ist. Ein anfangs belächeltes, verspottetes, pathologisiertes Verhalten erfährt eine Aufwertung ohnegleichen. Den Frauen passt das Kleid der Leserin wie angegossen. Von der Männergesellschaft auf randständige Plätze verwiesen, entspricht es ihrer Art, an der Welt teilzuhaben, ohne sich ins Getümmel zu stürzen; sich ein Urteil über die Gesellschaft zu bilden, indem man sie aus den Augenwinkeln heraus betrachtet. Jetzt, in den 1960er Jahren, mit der zweiten Welle der Emanzipation der Frauen und dem Vormarsch der Medien, gewinnt diese indirekte Art und Weise, sich der Welt zu bemächtigen, an Boden. Insbesondere Susan Sontag, die Intellektuelle aus New York, macht die Strategie, Außenseiterpositionen aufzuwerten und sie in den Rang innovativer Formen zu erheben, zu ihrem Markenzeichen. Was Marilyn Monroe für den Sex hat sie für den weiblichen Intellekt geleistet: ihn unübersehbar gemacht.
Und heute? Leserinnen, wohin man schaut: nicht nur auf Parkbänken und in U-Bahnen, auch und gerade in den Medien und im Internet, wo Frauen weltweit eine ungeheure Anzahl von Webseiten betreiben, auf denen sie ihre Lieblingsbücher vorstellen und Neuerscheinungen empfehlen. Als Fernsehthema ist »Lesen« so lange attraktiv, wie die entsprechende Sendung eine weibliche Handschrift trägt. Ist das nicht mehr der Fall, zappen die Zuschauer weg. Unter dem Namen Fanfiction findet in jüngster Zeit eine neue Form literarischer Texte rasante Verbreitung, in denen Leser ihre Lieblingsbücher fortschreiben. Die überwältigende Mehrheit der Verfasser ist weiblich. Die Heldin des weltweit millionenfach verkauften Bestsellers Shades of Grey ist natürlich eine passionierte Leserin. Gerade dort, wo wir uns immer mehr Freiheiten herausnehmen, spielt die lesende Frau nach wie vor die Rolle der Grenzgängerin. Lesen, bis zum 18. Jahrhundert eine männliche, mit Tradition, Gelehrsamkeit und Religion verbundene Lebensform, ist restlos weiblich geworden.
TEIL 1
Die Leselust beginnt
Das 18. Jahrhundert
Johann Caspar Füssli d. Ä., »Klopstock, als gefeierter Jung-Dichter,
während seines Aufenthaltes in Zürich 1750/1751«, 1750,
© Heiner Heine/akg-images
In deutscher Sprache beginnt die Epoche der Leselust im Sommer des Jahres 1750. Es ist der hohe Mittag des Jahrhunderts der Aufklärung. In der Hauptrolle sehen wir Friedrich Gottlieb Klopstock, einen damals sechsundzwanzigjährigen jungen Mann, der zwei Jahre zuvor sein Studium abgebrochen hat, um sich ganz der Dichtung zu verschreiben. Erst einmal hat er eine Stelle als Hauslehrer angetreten – zwecks Gelderwerb, aber auch weil er dadurch seiner Cousine Marie nahe sein kann, in die er sich unsterblich verliebt wähnt und die als »Fanny«, »Daphne« oder »Laura« durch seine Oden geistert. Womit wir bei den schönsten Nebenrollen dieser deutschen Premiere in Sachen Leselust wären: lauter hoffnungsvolle Mädchen und junge Frauen.
1
Magdeburg und Zürich, 1750
Die Erfindung der Dichterlesung
Friedrich Gottlieb Klopstock war mit seinem Nachnamen geschlagen. Seine Mitschüler im Internat Schulpforta fühlten sich bei »Klopstock« unwillkürlich an das Züchtigungsmittel erinnert, das mit unschöner Regelmäßigkeit auf sie niedersauste, und zahlten ihm das mit Hänseln heim. Vielleicht war es auch diese Demütigung, die schon den Schüler davon träumen ließ, der größte Dichter deutscher Sprache zu werden, dessen Name landauf, landab in aller Munde sein sollte. Noch der alte Goethe vergisst in seiner ein Menschenalter später entstandenen Autobiographie nicht zu erwähnen, wie sehr man sich darüber wunderte, wie ein »so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne«. Doch ließ die wundervolle Poesie, die dem Kopf dieses Mannes entsprang, die wunderliche Bedeutung seines Namens in der Tat in Vergessenheit geraten. »Klopstock« wurde zum Synonym für eine neue Verbindung von Lesen und Leben, für ein Verständnis des Lebens nach dem Vorbild der Literatur. Im 1774 erschienenen Roman Die Leiden des jungen Werthers bedarf es dann nur noch des Aussprechens dieses Namens, damit die junge Frau und der junge Mann, erhitzt durch den Tanz und während draußen ein nächtliches Gewitter vorüberzieht, einander ihre Herzen offenbaren. Und es ist kein Zufall, dass es die jungen Frauen sind, über deren Lippen, einem Seufzer gleich, das Codewort kommt: »Klopstock!«
Der so hieß, war ein poète à femmes, kein Casanova zwar, aber ein Mann, der die Frauen liebte und durch seine Dichtung in sich verliebt zu machen verstand. Gemeinsame Klopstock-Lektüre, bei schönem Wetter auch im Freien, war in den Jahrzehnten zwischen 1750 und 1790 das Mittel der Wahl zur Anbahnung einer Liebesbeziehung. Klopstock war der perfekte Kuppler; seine Lektüre hat zahlreiche Liebes- und Ehebünde gestiftet. Nur Leserinnen und Leser, die mit der deutschen Literatur nicht vertraut waren, stutzten bei der Vokabel nach wie vor. Klopstock? Eine polnische Leserin des Werthers, die Fürstin Lubomirska, schlug vergeblich in ihrem Wörterbuch nach, um dann von ihrem deutschen Koch dahingehend aufgeklärt zu werden, Klopstock sei eine Art von sehr delikatem Roastbeef, das auf gut Deutsch eigentlich Klopffleisch genannt werden müsse. Diese Anekdote erzählte die Fürstin ihrer deutschen Besucherin, der Schriftstellerin Elisa von der Recke, im November 1803; der 1724 geborene Klopstock war da gerade einige Monate tot, und Goethe hatte seine Jugendsünde längst bereut. In dem Maße, wie der Stern des Dichters mit den Jahrzehnten wieder sank, kam den Menschen die buchstäbliche Bedeutung seines Namens erneut in den Sinn. Heinrich Heine lässt 1844 in Deutschland, ein Wintermärchen die Hamburger Stadtgöttin Hammonia reimen: »Dort auf der Kommode steht noch jetzt / Die Büste von meinem Klopstock, / Jedoch seit Jahren dient sie mir / Nur noch als Haubenkopfstock.« Der einstige Dichter für junge Frauen war da nicht einmal mehr ein alter Hut, geschweige denn sein Name eine Losung für frisch Verliebte.
Mit dem Dichten begann Klopstock im Internat. Im streng geregelten Tagesablauf der Erziehungsanstalt war es ihm auch Ersatz für die fehlende körperliche Bewegung, die er, als Knabe auf dem Lande aufgewachsen und viel sich selbst überlassen, so geliebt hatte: durch die Gegend stromern, in Teichen baden, immer zu Waghalsigkeiten aufgelegt. Klopstocks Dichtung will laut gelesen, will vorgetragen sein; sie verschafft dem Geist und der Stimme Bewegung. Ihr Verfasser wie ihre Hörer streiften mit ihr die Zwänge institutionalisierter Gelehrsamkeit und auch die Konventionen bürgerlichen Wohlverhaltens ab. Das gilt gerade auch für sein Hauptwerk, den Messias, diese aus dem Geiste der Heldenepik geborene Feier der Erlösung der Menschheit, die Klopstock noch während seiner Internatszeit konzipierte. Drei Jahre später, da war Klopstock schon Theologiestudent in Leipzig, wurden die ersten drei Gesänge des Messias in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes anonym veröffentlicht. Das zwanzig Gesänge umfassende Großepos mit über zwanzigtausend Versen beschäftigte Klopstock fünfundzwanzig Jahre lang und wurde eigentlich nie fertig; bis ins hohe Alter feilte er am Text und nahm Änderungen vor. Ihn interessierte weniger das Resultat als der Schaffensprozess selbst. Und der vollzog sich nicht in der Gelehrtenstube, sondern eigentlich ständig, insbesondere wenn er in irgendeiner Weise in Bewegung war: zu Pferde, zu Wagen, in Gesellschaft, beim geliebten Schlittschuhlaufen – einem damaligen Trendsport. Der Schwung, die schwebende Leichtigkeit und tänzerische Dynamik des Eislaufens haben sich in Metrum und Rhythmus seines Dichtens niedergeschlagen. Und so sollten seine Werke auch vom Publikum aufgenommen werden: nicht in beschaulicher, einsamer und stiller Lektüre, sondern in Gesellschaft, wenigstens zu zweit, gerne aber auch in Gruppen von Gleichgesinnten und -gestimmten, hörbar deklamierend, womöglich im Freien, im Auf-und-ab-Gehen.
Der in seine Cousine Marie verliebte jugendliche Klopstock machte selbst in seinem Messias wenig Unterschied zwischen der Liebe Gottes und der erotischen Liebe. Beides war ihm heilig und die Erwiderung der Liebe seitens eines Mädchens fast so etwas wie ein Gottesbeweis. Wen wundert es da, dass er in tiefe seelische Verzweiflung geriet, als er merken musste, dass seine wohlsituierte Cousine nicht nur die übliche weibliche Zögerlichkeit an den Tag legte, sondern den unbegüterten Poeten schlicht verschmähte. »Ach! gieb sie mir, die leicht zu geben, Gieb sie dem bebenden, bangenden Herzen«, flehte Klopstock daraufhin 1748 in einer langen Ode »An Gott«. Als die Ode drei Jahre später publiziert wurde, merkte der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing in einer Rezension dazu betont nüchtern an: »Was für eine Verwegenheit, so ernstlich um eine Frau zu bitten.«
Klopstocks Gefühl nach aber stand beinahe alles auf dem Spiel: nicht nur seine Liebesfähigkeit, sondern auch seine dichterische Berufung, an die er seine Existenz gebunden hatte. Der einflussreiche Literaturtheoretiker, Kritiker und Professor für Helvetische Geschichte Johann Jakob Bodmer, anfangs ein großer Förderer des Heißsporns Klopstock, erkannte den Ernst der Situation. Er ging so weit, in einem langen Brief die kalte Cousine an ihre Pflicht als »irdische Muse« zu erinnern: Sie solle den Poeten »mit den zärtlichsten Empfindungen« beseelen, ihn »mit großen Gedanken« anfüllen, anstatt »das göttliche Gedicht an seinem Wachstum zu verzögern«. Ob dieser Brief die Adressatin je erreichte, ist nicht verbürgt. Jedenfalls erwärmte sich die Cousine auch daraufhin nicht. Auf Betreiben ihres Bruders ging sie einige Jahre später eine Heirat mit einem Bankier und Fabrikbesitzer namens Streiber ein.
Klopstock hingegen rückte, wenn auch mit Widerstreben, von der Vorstellung ab, das Heil von Welt und Dichtung und obendrein sein eigenes Glück von der Gegenliebe eines einzigen Mädchens abhängig zu machen. Auslöser dafür war eine Einladung des wohlhabenden Kaufmanns Heinrich Wilhelm Bachmann nach Magdeburg. Bachmann, ein bekennender Liebhaber der Wissenschaften und Künste, hatte ein großes Anwesen auf der Elbinsel Großer Werder, mit einem bezaubernden Garten, in dessen Häuschen die Gäste auch wohnen konnten. Dort ist im Sommer 1750 eine kleine Gesellschaft versammelt, handverlesene Gäste, die, wie sich alsbald herausstellt, allesamt Bewunderer von Klopstock und seiner Dichtung sind. Es sei »eine ungemein süße Sache«, schreibt Klopstock, kaum aus Magdeburg zurück, an seine Cousine Marie, »wenn man von liebenswürdigen Leserinnen zugleich geliebkoset und zugleich verehrt wird«. Natürlich möchte er mit dieser Schilderung ihre Eifersucht wecken. Doch es steckt mehr dahinter.
Klopstock wird von den versammelten Gästen förmlich genötigt, aus seinem Messias vorzulesen, »mitten in einem Ringe von Mädchen, die entfernter wieder von Mannspersonen eingeschlossen wurden«. Besonders die Figur des zerknirschten Teufels Abadonna aus seiner Dichtung löst bei den anwesenden Mädchen und Damen zärtliche Mitleidsgefühle aus. Sie empfehlen den Reuevollen dem besonderen Schutz des Dichters; er solle ihm doch bitte die Seligkeit schenken. Der Hofprediger Sack macht sich zum Wortführer des weiblichen Versöhnungswunsches. Doch Klopstock lässt sich kein Versprechen abringen, das ihn seiner poetischen Freiheit berauben würde. Stattdessen setzt er seine Lesung mit einem weiteren Fragment aus dem Messias fort, das für alle Anwesenden erkennbar die eigene unglückliche Liebeserfahrung widerspiegelt. Die Zuhörer spüren, dass Klopstock seine ganze Leidenschaft und sein ganzes Elend in die vorgetragenen Verse gelegt hat. Schon bald können sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Teilnehmer schreibt später, dass sie nicht nur weinen mussten, sondern beinahe zerflossen. Sie lassen sich ins Weinen fallen, weil etwas Inkommensurables sie in den Versen des Dichters anrührt, auf das sie keine andere Antwort wissen. Dichtung wird zum Medium der Mobilisierung von Gefühlen, insbesondere solchen, die ans Unsagbare und Erhabene rühren.
Eine der anwesenden Damen, die Frau des Hofpredigers Sack, besitzt Abschriften seiner noch ungedruckten Oden. Es sind natürlich gerade jene, die von seiner unerwiderten Liebe erzählen. »Man bat, alles bat mich, ich sollte, ich sollte insonderheit zwo davon selbst vorlesen«, schreibt Klopstock, als würde er ob dieses Anliegens noch nachträglich ins Stottern geraten, und stößt einen tiefen Seufzer aus: »Wie hätte ich das aushalten können.« Schließlich trägt sie der fünf Jahre ältere Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim vor. Klopstock verbirgt sich währenddessen »hinter den Reifröcken und Sonnenschirmen« der Damenwelt. Das Ergebnis: erneut Tränen. Klopstock sieht in die schwimmenden Augen um ihn herum, als blickte er auf die elysischen Gefilde des Paradieses. Nicht der Beifall, sondern die gemeinschaftlich dargebrachten Tränen sind das wahre Brot des Künstlers.
Das sind Szenen, zu denen es noch hundert Jahre zuvor schwerlich gekommen wäre. Um 1650 trafen sich Männer und Frauen aus den besseren Kreisen zum ersten Mal auf Augenhöhe, um Literatur zu rezitieren und zu zelebrieren. Das geschah in großstädtischen schöngeistigen Zirkeln wie etwa dem des Pariser Hôtel Rambouillet. Dort hatte sich Catherine de Vivonne, die Frau des reichen Marquis de Rambouillet, in ihren Privatgemächern so etwas wie einen eigenen, exklusiven Hof geschaffen. Das Spektrum der literarischen Unterhaltungen reichte seinerzeit von Reimspielen und Stegreifdarbietungen über ein literarisches Duell in Sonetten bis hin zu reichlich spezialistischen Kontroversen über Fragen des sprachlichen Stils. Großer Beliebtheit erfreuten sich auch literarische Travestien: Die Salongäste schlüpften in die Rolle eines Romanhelden, etwa aus Honoré d’Urfés berühmtem Roman Die Schäferin Astrea, und erzählten dessen »Erlebnisse« nach.
Konversationsthema Nummer eins der Zusammenkünfte aber war die Liebe. Man führte Debatten über Fragen wie »Ist Schönheit zur Entstehung von Liebe notwendig?«, »Lässt sich die Ehe mit der Liebe vereinbaren?« oder auch »Welche Auswirkung hat das Fehlen von Liebe?«. In Tränen ausgebrochen aber wäre seinerzeit keiner der Anwesenden – so wenig, wie man sich zu einer Dichterlesung im Freien versammelt hätte. Dafür sorgten schon gesellschaftliche Konventionen, die bei aller Freizügigkeit im Einzelnen den Ausdruck persönlicher Gefühle unterbanden, das Bedürfnis danach gar nicht erst aufkommen ließen. Die literarischen Werke, die zur Sprache kamen, nahm man wohl ernst, aber es war der Ernst eines Gesellschaftsspiels, in dem der Einzelne eine bestimmte Rolle innehatte, und nicht der Ernst einer Literatur, die das Leben durchdringen und verändern sollte.
Gleichwohl verbindet die Szene im Magdeburger Garten mit jenen, die sich ein Jahrhundert zuvor in Paris zugetragen haben, dass Literatur als eine Form von Geselligkeit betrachtet wird. Es geht um eine Gemeinschaftserfahrung, in der Frauen nicht wie bei anderen gesellschaftlichen Anlässen eine untergeordnete, vielmehr eine geradezu exponierte Stellung besitzen. Im Paris des 17. Jahrhunderts versammelte sich die Gesellschaft nicht nur in den Räumlichkeiten einer Frau, die mit frischen Blumen und duftenden Kerzen dekoriert waren; im Zentrum der Aufmerksamkeit standen des Öfteren auch die literarischen Werke von Frauen, etwa die Schlüsselromane Madeleine de Scudérys, die subtile Porträts der Anwesenden in literarischer Verkleidung enthielten. Einem ihrer Werke hatte sie die in Frankreich bis heute sprichwörtliche Carte de Tendre, die Karte der zarten Liebe, beigegeben, die Sexualität und Liebe aus weiblicher Sicht neu zu definieren versuchte.
Dagegen scheint die Dichterlesung auf der Elbinsel fast ein Rückschritt in Sachen Frauenbeteiligung zu sein; nur zu deutlich steht hier ein Mann mit seinem Werk im Mittelpunkt. Wir dürfen jedoch nicht unterschätzen, wie wichtig das weibliche Publikum für die Durchsetzung eines Dichters wie Klopstock war. Die Zeitgenossen haben dies sehr genau registriert. Der Publizist und Satiriker Gottlieb Wilhelm Rabener, der auch der deutsche Swift genannt wurde, urteilte schon 1749: »Herrn Klopstocks Messias ist unter uns getreten, und wir kennen ihn nicht.« Die »Pharisäer, Schriftgelehrten und Obersten des Volkes«, so Rabener weiter, würden nicht an ihn glauben. Mit den »Pharisäern« waren die Theologen, mit den »Schriftgelehrten« die damaligen Wissenschaftler und Gelehrten, mit den »Obersten des Volkes« der Adel und die Höfe gemeint. Klopstock bekam Ignoranz und Ablehnung dieser drei sozialen Gruppen zu spüren, aus denen sich seinerzeit die gute Gesellschaft der Belesenen und Gebildeten in Deutschland zusammensetzte. Der verkannte Dichter wurde, so Rabener, nur von einer Gruppe wirklich und unvoreingenommen erkannt und verstanden: den Frauen. Im Ton der Zeit heißt das: »Unser Frauenzimmer rächet den Verfasser an der pedantischen Gleichgültigkeit unsrer gründlichgelehrten Männer, und den abgeschmackten Vorurteilen unsrer Kunstrichter von Profession.« Klopstock dichtete auf eine neue Weise, und er wandte sich an ein neues Publikum: die Unbelesenen, die Frauen und die jungen Leute sowie insbesondere an eine Schnittmenge aus den Genannten: die ungebildete und noch unverheiratete junge Frau.
Nur einige Tage nach seiner Rückkunft aus Magdeburg bricht Klopstock zu einer längeren Reise in die Schweiz auf. Die Einladung dazu stammt von Bodmer und ist schon im Vorjahr erfolgt. Der ständig in Geldverlegenheiten steckende Klopstock hat sie gerne angenommen, sich von Bodmer aber ein Darlehen über 300 Reichstaler erbeten, unter anderem um die Reisekosten zu bestreiten. Die Zurückzahlung eines großen Teils dieser Summe sei ihm schon bald möglich, er erwarte Honorare aus der Drucklegung des Messias. Als Klopstock das verspricht, sind ihm diese Einnahmen jedoch keineswegs sicher. Das mag die Unterwürfigkeit erklären, mit der er gegenüber seinem zukünftigen Gastgeber auftritt: »Meine körperliche Gegenwart muss in Ihrem Hause beinahe unmerklich sein«, schreibt er an Bodmer, als wollte er Franz Kafkas demütige Leisetreterei hundertfünfzig Jahre vorwegnehmen. Um dann aber unvermittelt die Frage anzuschließen: »Wie weit wohnen Mädchens Ihrer Bekanntschaft von Ihnen, von denen Sie glauben, dass ich einigen Umgang mit ihnen haben könnte?« Erklärend fügt er hinzu: »Das Herz des Mädchens ist eine große, weite Aussicht der Natur, in deren Labyrinthen ein Dichter oft gegangen sein muss, wenn er ein tiefsinniger Wisser sein will.« Und zuletzt geheimnisvoll, von Mann zu Mann: »Nur dürften die Mädchens ja nichts von meiner Geschichte wissen; denn sie möchten sonst, vielleicht sehr ohne Ursache, zu zurückhaltend werden.«
Der Konflikt ist programmiert; es ist, noch vor dem Sturm und Drang, der erste Generationenkonflikt in der deutschen Literatur, exemplarisch für die vielen, die ihm folgen werden. Bodmer erwartet einen fleißigen, ganz in seinem Werk aufgehenden, gelehrigen Bewohner des Elfenbeinturms, und es kommt ein geselliger, gut aussehender und zu Scherzen aufgelegter Jüngling, dem Poesie vor allem Erlebnis bedeutet, der keine Party auslässt und mit seinem Charme die Mädchenherzen erobert. Schon bald ist er der Mittelpunkt der Züricher Gesellschaft. Der Arzt Dr. Hans Caspar Hirzel und der Kaufmann Hartmann Rahn laden ihm zu Ehren eine gemischte Gesellschaft aus jungen Männern und gleich vielen, in der Regel unverheirateten Damen zu einer »Lustschifffahrt« auf dem Züricher See ein. Das ist im sittenstrengen Zürich etwas Außerordentliches, nur durch die Anwesenheit des berühmten Dichters zu rechtfertigen, wodurch der Ausflug einen zusätzlichen Reiz gewinnt. »Die Hausherrin unseres Doktors wird für den Helden des Festes bestimmt sein und wird versuchen, ihm ihre Reize so abwechslungsreich wie möglich darzubieten«, heißt es in dem an Klopstock gerichteten Schreiben. Die einigermaßen frivole Begründung für diese Maßnahme: Sie soll davor schützen, dass Klopstock mit den anderen jungen Frauen anbändelt. Gelingt es Madame Hirzel, den Dichter an sich zu binden, »um so besser für sie; erreicht sie das nicht, um so besser für unsere Mädchen«. Keine Frage, dass Klopstock ohne Zögern zusagt, sehr zum Verdruss seines Züricher Gastgebers Bodmer. Dieser kommt gar nicht erst mit; eine Spaßbremse wie ihn kann man an diesem Tag, der Besonderes verspricht, aber auch nicht gebrauchen. Die Bootsfahrt auf dem Zürichsee ist dann der Anfang vom Ende der Freundschaft zwischen dem Theoretiker der Literatur und dem überschwänglichen Poeten.
Der Ausflug dauert von fünf Uhr in der Früh bis zehn Uhr abends, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang eingeschlossen sowie ein Frühstück im Landhaus der Eltern eines Teilnehmers, Mittagessen in einem Gasthof, bei dem man auch gehörig dem Wein zuspricht, und ein Picknick auf einer Halbinsel, wo die Gesellschaft den Sonnenuntergang genießt. Natürlich rudern die jungen Damen und Herren nicht selbst; dafür sind Schiffer, für das leibliche Wohl Bedienstete zuständig. Die Vertraulichkeit der Ausflugsgesellschaft wächst mit der Fröhlichkeit, ernstere Themen wie die Erziehung der Kinder weichen Scherzen, Gesang und Gelächter. Was die literarischen Darbietungen angeht, greift Klopstock auf das bewährte Programm zurück, das ihm schon auf der Elbinsel neben Tränen die verliebten Blicke der an seinen Lippen hängenden Zuhörerinnen eingebracht hat. Dieses Mal aber versteckt er sich nicht mehr hinter den Sonnenschirmen und Röcken, sondern inszeniert sich selbstbewusst als Mittelpunkt der illustren Schar. Die dem Dichter als Herzensdame erkorene Frau Hirzel, deren »vielsagende« blaue Augen er einer Erwähnung für wert befindet, stimmt im Laufe des Ausflugsvergnügens »Doris« an, ein leicht anzügliches Rokoko-Gedicht. Klopstock wird ihr beizeiten dennoch untreu, weil es ihm die siebzehnjährige Mademoiselle Schinz mit ihren unvergleichlich schwarzen Augen mehr angetan hat. Die ganze Zeit über weicht er nicht von ihrer Seite und küsst sie immer wieder.
Die leidenschaftlichen Empfindungen, von denen Klopstocks Verse handeln, lösen in Verbindung mit seinem Verhalten bei den Ausflüglern anfangs Verlegenheit aus. Doch dann unterbricht einer aus der Gesellschaft das Schweigen und meint, nirgends habe er noch »die platonische Liebe so prächtig geschildert gesehen«. Mit dieser »gelehrten Anmerkung« handelt er sich indes den heftigen Widerspruch des jungen Dichters ein, der behauptet, »ganz eigentlich die zärtlichste Liebe« im Auge gehabt zu haben. Diese schätze er »ungleich höher« als die platonische Freundschaft. In seinem Messias liebe der Mann das Mädchen »ganz und gar«. Dr. Hirzel berichtet diese Szene in einem Brief, in dem er den Ausflug Revue passieren lässt und die Reaktion der Anwesenden auf Klopstocks erotische Weltsicht festhält: »Wir stimmten ihm aus vollem Herzen bei, und Platon war nicht unser Mann. Die süßesten Gefühle waren in uns rege und beseelten die Unterhaltung.«
Auch Klopstock hat in einem Brief an seinen Vetter, den Bruder der angehimmelten Cousine, ein Resümee des Ausflugs gezogen. Es ist so schlicht wie aufschlussreich: »Ich kann Ihnen sagen, ich habe mich lange nicht so ununterbrochen, so wild und so lange auf Einmal, als diesen schönen Tag gefreut.« Diese unbändige, über den Augenblick hinaus anhaltende Lebensfreude ist dann auch das eigentliche Thema von Klopstocks berühmter Ode »Der Zürchersee«, die unmittelbar nach dem Ausflug entsteht. »Da, da kamest du, Freude! Volles Maßes auf uns herab«, heißt es in dem Gedicht. Das Pfingstwunder, das Klopstock hier feiert – wir würden es heute etwas nüchterner eine Dichterlesung oder, noch nüchterner, eine Autorenlesung nennen. Denn genau das ist es, was Klopstock in den Magdeburger und Züricher Tagen des Sommers 1750 kreiert hat. Von diesen unbeschwerten Anfängen fällt bis heute einiger frivoler Glanz auf unsere Literaturhäuser: Dichterkult, zu Scherzen Anlass gebende Geselligkeit und intimes Verstehen mischen sich in dieser Veranstaltungsform auf ununterscheidbare Weise. Deren Mittelpunkt ist nach wie vor, dass der Autor oder die Autorin dem Werk die eigene Stimme leiht. Das ist keineswegs nur eitle Selbstdarstellung oder gar Prostitution aufseiten der Verfasser und Verehrung oder Voyeurismus aufseiten der Zuhörer. Wer einen Autor persönlich erlebt hat und danach seine Texte liest, weiß, bis zu welchem Maße der Rhythmus und Duktus seines Sprechens, kurz seine unverwechselbare Stimme, sich in dem von ihm Geschriebenen wiederfinden. Im guten Fall, wenn der Autor vorzutragen versteht, ist er der beste, der authentischste Vorleser seiner Texte, und für den Zuhörer wird danach bei der eigenen stummen Lektüre die Stimme des Autors stets mitklingen. Wie wir den Schilderungen Klopstocks und seiner Zeitgenossen entnehmen können, ist für eine Dichterlesung darüber hinaus charakteristisch, dass Frauen in beträchtlicher Zahl im Publikum vertreten sind, wenn nicht sogar den Löwenanteil ausmachen. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Autor eine Frau ist – im Gegenteil.
Allerdings ist der Kontakt zwischen Autor und Lesern inzwischen nicht mehr ganz so auf Intimität gestimmt wie noch vor gut zweihundertfünfzig Jahren. Zwar werden die Augen der Zuhörer auch heute zuweilen noch feucht – Küsse mit dem Autor beziehungsweise der Autorin hingegen werden zumindest während der Veranstaltung selten getauscht. An deren Stelle ist die Widmung getreten, die sich die Zuhörerschaft nach der Lesung, geduldig wartend und einzeln vortretend, abholt, nachdem das Buch zuvor erworben wurde.
Dem Trend zur Professionalisierung der Dichterlesung hat Klopstock bereits selbst Vorschub geleistet. Vom Erfolg seiner sommerlichen Auftritte motiviert, institutionalisierte er später in Hamburg solche Lesungen und gründete eine Lesegesellschaft. Per Satzung war verfügt, dass die Frauen den Männern hinsichtlich Anzahl und Entscheidungsbefugnis überlegen waren. Einmal wöchentlich fand ein Leseabend statt; die Damen wählten reihum den Text aus, der dann von einem Schauspieler, manchmal auch nur von Klopstock darin geübten Gymnasiasten zum Vortrag gebracht wurde. Und der Dichter nahm mittlerweile nicht nur Tränen und Küsse, sondern auch Eintrittsgeld entgegen. Er habe jemanden gesprochen, der dabei gewesen sei, schreibt Georg Christoph Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen: »Es soll ganz überaus ätherisch da zugehen bis auf das Geld, das Seine Exzellenz K. dafür zieht.« Klopstock schrieb zwar keine einzige seiner Dichtungen für den Broterwerb, dennoch gelang es ihm durch diese und andere Maßnahmen, etwa Subskriptions-Projekte, an die 10000 Reichstaler zu erwirtschaften, immerhin ein Fünftel seines Einkommens zu Lebzeiten.
Klopstocks sich herumsprechender Erfolg mit Lesungen brachte auch andere auf ertragreiche Geschäftsideen: So begann der Organist und Publizist Christian Friedrich Daniel Schubart, ein vehementer Kritiker des Lebenswandels von Adel und Klerus, 1774 mit öffentlichen Deklamationen aus dem Messias und verlangte Eintritt, 24 Kreuzer pro Person. Schon bald war der Andrang so groß, dass er seine Wohnstube mit einem öffentlichen Platz vertauschen musste. Dort stieg die Anzahl seiner Zuhörer schnell auf einige Hundert, was ihm dann pro Vorlesung 50 bis 60 Taler einbrachte. »Da konnt’ ich meinen Kindern manche Wohltat erweisen und manch gutes Glas Wein auf Ihre Gesundheit trinken«, berichtete er dem eigentlichen Urheber seines neuen Wohlstands. Aber auch Drucker und Raubdrucker profitierten, denn die Vorlesungen stimulierten den Absatz der Messiade gehörig. Allerdings mache er seine Sache, wie Schubart gegenüber Klopstock angab, auch ziemlich gut. »Klopstock! Klopstock! scholls von allen Lippen, wenn eine Vorlesung geendigt war.« Der Dichter wird es gerne gelesen haben, dass selbst der beste Deklamator gegen die emotionale Bindung der Zuhörer an ihn, den Autor, nichts auszurichten vermochte, sondern seinen Ruhm nur noch vermehrte.
Betrachtet man das Porträt, das der Schweizer Maler Johann Caspar Füssli von Klopstock während seines Züricher Aufenthaltes angefertigt hat, so blickt uns ein herausfordernder junger Mann an, der sich der Wirkung seiner Person fraglos bewusst zu sein scheint. Vor kurzem hat ihn die Nachricht erreicht, dass ihm der dänische König eine Pension bewilligt, damit er in Muße seinen Messias vorantreiben und vollenden kann. Bedingung für die Auszahlung ist allerdings, dass er sich in Kopenhagen aufhält, was ihm, insbesondere von Zürich aus, zu nahe am Nordpol zu liegen scheint, wo sich die Musen bekanntlich nicht gerne niederlassen. So hält sich seine Reiselust in Grenzen; es geht sogar das Gerücht, er sei in der Schweiz ein Kaufmann geworden und wünsche sich dort zu verheiraten. So berichtet es jedenfalls Klopstocks Leipziger Studienfreund Nikolaus Dietrich Giseke seiner Jugendfreundin, der zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzigjährigen Hamburger Kaufmannstochter Margareta Moller, genannt Meta, als diese ihn nach Klopstock fragt. Buchstäblich auf der Toilette hat sie dessen Messias entdeckt und auch angefangen zu lesen. Eine Freundin hatte aus den betreffenden Seiten der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes Schlangenwickler gemacht, sogenannte Papilotten, um Locken ins Haar zu drehen. Die belesene und gebildete Meta, die Französisch, Englisch, Italienisch und sogar Latein beherrscht, klebt die Streifen wieder zusammen und fängt bei der Lektüre sofort Feuer. »Ist mehr von diesem göttlichen Gedicht zu haben, und wer ist der Verfasser?« Sechs Wochen später weiß Giseke Genaueres zu berichten: »Klopstock geht nach Kopenhagen, kommt durch Hamburg, ist kein Kaufmann, nun sollen Sie ihn sehen.«
Giseke, momentan Erzieher in Braunschweig, trifft sich dort mit seinem Duzfreund Klopstock, der auf der Durchreise ist. »Höre Klopstock, du musst in Hamburg ein Mädchen besuchen, die heißt Mollern.« Klopstock, ganz gegen seine Gewohnheit: »Ich gehe nicht nach Hamburg, um Mädchen zu sehen, nur den Dichter Hagedorn will ich sehen.« – »Ach, Klopstock, das Mädchen musst du sehen, sie ist so ganz anders als andere, sie liest den Messias mit Entzücken, sie kennt dich schon und erwartet dich.« Er beschreibt ihm Meta, ihre großen hellen, kritischen Augen, ihre Offenheit und Unabhängigkeit. Klopstock wird nachdenklich. Giseke setzt nach: »Verlieb Dich bloß nicht in sie, sie ist schon verlobt.« Jetzt hat er ihn: »Gib mir ihre Adresse.«
Kaum in Hamburg angelangt, wird nach Meta Moller geschickt, wann Herr Klopstock seine Aufwartung machen könne. Meta macht gerade zusammen mit ihrer Schwester die Wäsche. Dennoch kommt ihre Antwort ohne jedes Zögern: »Gleich gleich gleich mag, muss Herr Klopstock kommen.« Die Schwester ist entsetzt: »Besinne dich doch, wo willst du ihn empfangen, nur das Zimmer hier ist geheizt, und es ist voller Wäsche.« Beherzt rafft Meta die ganze Wäsche zusammen, und drei Minuten später ist die Stube geräumt.
Und schon ist Klopstock da. Die Schwester sitzt derweilen im unbeheizten Nebenzimmer, denkt, so lange wird die Visite schon nicht dauern. Doch geschlagene zwei Stunden muss sie frierend in der Kälte verbringen. Nach einer Stunde kommt Meta herein, um ein Buch zu holen. »Wie gefällt er dir?« – »O, das ist ein rarer rarer Junge, ich habe ihn schon für morgen Mittag eingeladen, gleich nachher musst du Hagedorn und unsere besten Freunde dazu bitten.«
Nach einer anderen Fassung der Geschichte überrascht Klopstock Meta mit der Ankündigung seines Besuchs, als diese noch gar nicht angekleidet ist. Geschwind steckt sie die Haare hoch, streift ein Negligé über und verbirgt ihre Blöße notdürftig mit einem Schultertuch. Sie hofft, dass der Verfasser des Messias nicht allzu sehr auf Äußerlichkeiten sieht, und ist dann frappiert von seinem Anblick. Zwar teilt sie keineswegs das Vorurteil, dass ein ernsthafter Dichter finster und mürrisch daherkommen, schlecht gekleidet sein und keinerlei Manieren haben müsse. Aber dass der Verfasser des Messias ein derart gut aussehender junger Mann ist, geht doch über ihr Vorstellungsvermögen.
Am nächsten Mittag hat Klopstock nur Augen für Meta. Er, der angeblich allein wegen des sechzehn Jahre älteren, hoch angesehenen Friedrich von Hagedorn nach Hamburg gekommen ist, wird zwar neben diesen gesetzt, bittet Meta aber gleich, an seiner anderen Seite Platz zu nehmen. Fortan hat die Runde den Eindruck, Klopstock sei gar nicht anwesend, so sehr ist er mit der jungen Frau ins Gespräch vertieft. Die Gesellschaft weiß gar nicht, was sie von solchem Verhalten denken soll. Der vermeintliche Bräutigam Metas, der auch eingeladen ist, verlässt die Runde noch während des Essens.
Danach treten die beiden ans Fenster. Klopstock fragt Meta, ob sie seine Elegie »Dir nur, liebendes Herz« kenne. Das ist zwar der Fall, aber aus Furchtsamkeit, es nicht hinreichend zu tun, lautet Metas Antwort: »Nein.« Ein guter Grund, sich ins Nachbarzimmer zurückzuziehen. Meta beginnt das Gedicht laut vorzulesen, doch aufsteigende Tränen hindern sie daran, fortzufahren. Klopstock übernimmt und ergreift dabei ihre Hand. Er liest nun einen Abschnitt aus dem Messias. Als sich Metas Schwester zu ihnen gesellt, fragt Klopstock, ob er dafür nicht einen Kuss verdient habe. Die Schwester bestätigt das. Meta, ganz schamhafte junge Dame, wehrt ab: Sie küsse keine Mannsperson. Statt sich darüber hinwegzusetzen, beginnt Klopstock, ganz nach Intellektuellenmanier, dagegen zu argumentieren. Meta denkt bei sich: »Warum küsst der Affe dich denn nicht? Du kannst ihm den Kuss ja nicht geben.«
Obwohl er längst anderweitig verabredet ist, bleibt Klopstock an diesem Tag bis neun Uhr abends. Schließlich fragt er Meta, ob sie sich vorstellen könne, irgendwann zu ihm nach Kopenhagen zu kommen. Sie erwidert: »Durchaus.« Er: »Aber Sie würden zu sehr frieren.« – »Wenn ich Ihr Feuer bei mir hätte, wohl nicht«, meint sie unter Lachen. »Ach, Sie haben genug eigenes Feuer«, sagt Klopstock. Und jetzt küsst er sie. Noch auf dem Schiff nach Kopenhagen schreibt er ihr den ersten Brief. Ihre Schwester, der sie den Brief zeigt, sagt gleich: »Das ist eine Liebeserklärung an Dich.« Meta kennt die Geschichte mit der Cousine und hegt Zweifel: Doch ehe sie Klopstock selbst schreiben kann, treffen schon zwei weitere Briefe ein, »nicht so mystisch, sondern hell und klar«, wie ihre Schwester meint. Bei Klopstocks nächstem Aufenthalt in Hamburg wird gegen den Willen von Metas Stiefvater Verlobung gefeiert, zwei Jahre darauf die Hochzeit. Doch schon 1758 stirbt Meta Klopstock nach einer Totgeburt.
Woher kennen wir alle diese intimen Einzelheiten, die Unterredungen, die Lektüren, die Küsse? Festgehalten sind sie in den Briefen, die seinerzeit zwischen den jungen Leuten hin- und hergingen, auch herumgereicht und im kleinen Kreis vorgelesen wurden. Sehr freimütig tauschten sie sich darin über ihre Erlebnisse und Wünsche gerade auch in Liebesdingen aus. Manches mag davon stilisiert sein; in einigen Details widersprechen sich die Darstellungen, in anderen ergänzen sie sich. Die lockere, dem Flirt und der Frivolität zugeneigte Atmosphäre geben sie indes gut wieder. Die Anknüpfung von Beziehungen war in diesen neuen Zirkeln eng verbunden mit der gemeinsamen Lektüre von Literatur und dem Austausch darüber. Es ging weniger um die Frage, ob und inwiefern sich aus Literatur etwas lernen lässt, und sei es fürs Leben, als um das Erlebnis und die Feier des Augenblicks: Lektüre ließ die Zeit vergessen, die Gefühle strömen und die Körper zueinanderfinden. Kurz, Lesen war ein Mittel der Entfesselung von Emotionen. Es war aber auch der Königsweg für Frauen, um sich in das neu entstehende, ungezwungene Miteinander einzubringen und jenseits von Aussehen und Heiratsmarkt dort eine Rolle zu spielen. Die Lektüre von Literatur verlieh den Frauen eine Stimme und einen sozialen Status. Und der war nicht gänzlich, aber doch weitgehend unabhängig von ihrer Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und akademischer, für Frauen in der Regel unerreichbarer Bildung. Lesen verschaffte ein Stück Unabhängigkeit und eröffnete neue Wege, das Leben zu genießen.
Joseph Highmore, »Mr B. trifft Pamela schreibend an«,
1743/1744, © Victoria & Albert Museum,
London/The Bridgeman Art Library
Die Tür geht auf – und ins Zimmer tritt der Verführer. Er hat es auf das am Tisch sitzende unschuldige Mädchen abgesehen, das gerade einen Brief an seine Eltern beginnt. Das ist die erste Szene aus Samuel Richardsons Jahrhundertroman Pamela, erschienen 1740. Ein Roman war seinerzeit etwas aus dem Leben und auf dem Umweg des Lesens auch wieder fürs Leben. Keine andere Literaturgattung erreichte die Leserin so unmittelbar in ihrer Privatsphäre, keine andere gewährte ihr einen derart tiefen Einblick in die Gefühlsregungen und die geheimen Gedanken der Heldinnen und Helden.