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Vorwort (PD Dr. Udo Gansloßer)
Unser Verständnis des Sozialsystems von Wölfen und anderen Hundeartigen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Dazu tragen einerseits eine ganze Reihe von Freilandbeobachtungen an unterschiedlichen Stellen der Erde bei, andererseits auch weitreichende theoretische und durch Verhaltensdaten gestützte Überlegungen von Grundlagenforschern. So ist die Vorstellung einer strengen, von oben (gleich Alpha) bis unten (gleich Omega) durchstrukturierten Rangordnung heute bei Wolfs- und anderen hundeartigen Rudeln nicht mehr vertretbar. Diese aus Gehegesituationen entstandene Vorstellung ist einer Mehr-Familien orientierten, altersgestuften Interpretation des Verhaltens in einem solchen Sozialverband gewichen.
© Günther Bloch
Jungwolf Yukon (rechts) führt seine Schwester Nisha und seine Ersatzmutter Hope durch das Innenrevier des Bowtals.
Ebenso sind Vorstellungen über die Jagd, aber auch die gemeinsame Jungtieraufzucht als wichtigste oder sogar alleinige Triebfeder des sozialen Miteinanders bei Hundeartigen durch die Arbeiten beispielsweise von David Mac Donald überholt. Vielmehr sind gemeinsame Revierverteidigung und gemeinsame Nahrungsnutzung mit die wichtigsten ökologischen Einflussfaktoren.
Auch die Grundlagenwissenschaft, nämlich die Verhaltensbiologie selbst, hat tiefgreifende Paradigmenwechsel erfahren. So ist die zu Zeiten von Konrad Lorenz häufig beschworene Argumentation eines Vorteils für die Art als Triebfeder des Verhaltens nicht mehr anzutreffen, und insbesondere im Zusammenhang mit Aggressionsverhalten ist auch das Triebstaumodell und die daraus resultierende Überlegung einer immer niedriger werdenden Reizschwelle zur Auslösung aggressiven Verhaltens heutzutage nicht mehr in Mode.
© Günther Bloch
Ein großer Unterschied zum Haushund ist, dass Wölfe ihre Gruppenmitglieder mit Nahrung versorgen.
Alle diese Vorstellungen jedoch geistern noch durch die Köpfe sehr vieler Menschen, wenn sie versuchen, das Verhalten des Hundes zu verstehen oder Hundehalter über ein „artgerechtes“ Umgehen mit ihrem Hausgenossen aufzuklären. Vielfach findet man in den Handlungsanleitungen für den Umgang mit dem Haushund noch mehr oder weniger versteckt genau die oben genannten, heute nicht mehr aktuellen Vorstellungen der Verhaltensbiologie früherer Jahre. Nun ist es im Bereich der Wissenschaften sehr wohl ein Vorteil und keineswegs eine Schwäche, dass im Licht neuerer Erkenntnisse und neuer Daten auch ältere Überlegungen und theoretische Erklärungen geändert oder aufgegeben werden. Konrad Lorenz selbst hat dies in jüngeren Jahren durchaus auch so gesehen, als er sagte, es sei die beste Möglichkeit für einen Wissenschaftler, Frühsport zu begehen, wenn er jeden Tag nach dem Frühstück eine Lieblingshypothese aufgeben und über Bord werfen müsste.
Um solche Frühsportübungen auch dem Hundehalter zu ermöglichen, haben sich mit Günther Bloch und Elli Radinger zwei sehr erfahrene und des Schreibens sehr gut kundige Wolfskenner zusammengetan und das hier vorliegende Buch verfasst. Es ermöglicht den Menschen, die sich für die Wurzeln des Verhaltens ihres Hundes interessieren, den Vergleich althergebrachter Vorstellungen mit dem, was – zumindest auf der Basis der Erkenntnis von 2009 – heute über nordamerikanische Timberwölfe in freier Wildbahn wirklich akzeptiertes Grundlagenwissen ist.
Welche frühsportgymnastischen Übungen Sie selbst, liebe Hundehalter, aus diesen Darstellungen ziehen, bleibt Ihnen überlassen. Ich wünsche Ihnen jedoch dabei ein gutes Gelingen – Ihre Hunde werden es Ihnen sicher danken.
Privatdozent Dr. Udo Gansloßer,
Universität Greifswald
Zu diesem Buch
© Ulla Bergob
Elli H. Radinger und Günther Bloch betreiben Grundlagenforschung an frei lebenden Wölfen – sie im Yellowstone-Nationalpark/USA, er im Banff-Nationalpark/Kanada.
Als wir vor 20 Jahren begonnen haben, Wölfe in freier Wildbahn zu beobachten, ahnten wir nicht, wie sehr dies unser Leben verändern würde.
Unabhängig voneinander hatten wir beide eine Möglichkeit gesucht, Wölfe kennenzulernen. Wir waren uns beim Ethologie-Praktikum in Wolf Park, einer Forschungsstation im US-amerikanischen Bundesstaat Indiana, zum ersten Mal begegnet. Hier entstand auch die Idee, die „Gesellschaft zum Schutz der Wölfe e.V.“ zu gründen, in der wir beide zehn Jahre als Vorstand tätig waren. Bei der Beobachtung der Gehegewölfe von Wolf Park waren wir erstaunt, wie viele ernsthafte Auseinandersetzungen unter den Wölfen zu beobachten waren. Die einzige Konsequenz für die Wolf-Park-Betreiber war, immer wieder Tiere herauszunehmen und in Einzelgehegen unterzubringen, um sie zu schützen. Wir wunderten uns und beschlossen, zu schauen, ob sich die Tiere unter Freilandbedingungen anders verhalten. Da eine Beobachtung von wilden Wölfen in Europa kaum möglich ist, arbeitet Günther seit 1991 unter der Leitung von Dr. Paul Paquet in den kanadischen Nationalparks Banff, Kootenay, Yoho und Spray Lakes Provincial Park, und Elli seit 1995 in Zusammenarbeit mit dem Team von Rick McIntyre im US-amerikanischen Yellowstone-Nationalpark.
Die Verhaltensbeobachtungen, die wir seit dieser Zeit an wilden Wölfen durchführen, das Sammeln von Lebensdaten, die Möglichkeit, alle Individuen einer Wolfsfamilie auseinanderzuhalten, haben uns bestätigt, dass sich frei lebende Wölfe in vielen Bereichen anders verhalten als Tiere, die in Gefangenschaft leben. Um nur drei Beispiele zu nennen:
Frei lebende Wölfe brauchen sehr viel Energie bei der Nahrungssuche und beim Umherwandern im Revier, gefangene Wölfe nicht.
Bei frei lebenden Wölfen gibt es eine Familienkultur des Jagens, die von den Alttieren an die Jungen weitergegeben wird. Da Gehegewölfe nicht jagen können, sondern von Menschen gefüttert werden, entfällt diese Familienkultur völlig.
Besonders während der Paarungszeit herrscht in Gehegesituationen (sofern die Tiere nicht kastriert sind) eine sehr viel aggressivere Stimmung, weil hier viele Generationen älterer Tiere zusammenleben, die sich nicht aus dem Weg gehen können.
Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, warum das Verhalten von Wölfen in Gefangenschaft eher „wolfsuntypisch“ ist.
Obwohl die meisten dieser Erkenntnisse inzwischen veröffentlicht und bekannt sind, gibt es innerhalb der Hundeszene nicht nur zum Thema „Alpha“ und „Dominanz“ immer noch viele populäre Irrtümer. So muss der Wolf für vieles herhalten, weil es argumentativ gerade in eine Modewelle oder das entsprechende Trainingsschema einer Hundeschulmethode passt: „Wölfe verhalten sich so!“ Selbst Menschen, die grundsätzlich Wolf-Hund-Vergleiche ablehnen, übernehmen diese Argumente, wenn es für ihre Zwecke passt. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, das Buch „Wölfisch für Hundehalter“ zu schreiben.
Es gibt natürlich noch sehr viel mehr Klischees als die hier aufgeführten. Sie alle zu nennen, würde allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen. Darum haben wir diejenigen Klischees aufgeführt, die bei Seminaren und in Leserbriefen am meisten an uns herangetragen werden.
Warum raten wir Ihnen als Hundebesitzer überhaupt, „Wölfisch“ zu verstehen, wenn Sie einen Hund haben und keinen Wolf?
Wolf und Hund sind zwar grundsätzlich verschieden, haben aber eine Menge Gemeinsamkeiten, vor allem auch durch die Abstammung, die für die ganze Kanidenfamilie typisch ist. Wir geben Ihnen mit diesem Buch die Möglichkeit, sich intensiver über typische Eigenschaften und Verhaltensweisen von frei lebenden Wölfen zu informieren und diese Erkenntnisse in den Hundealltag einfließen zu lassen. Vielleicht sind Sie durch die zahlreichen Meinungen, Ansichten und Ratschläge auch schon völlig verunsichert, wie viele Hundehalter, die uns in Seminaren und nach Vorträgen immer wieder zu diesem Thema ansprechen.
Wir schreiben dieses Buch gemeinsam, weil wir beide das große Glück haben, jahrzehntelang Wolfsverhalten unter natürlichen Bedingungen in unterschiedlichen Lebensräumen beobachten zu dürfen. Außerdem fließen in das Buch zusätzlich noch weitere Erkenntnisse aus Freilandstudien mit uns befreundeter Wissenschaftler ein.
Deshalb können wir Ihnen jetzt einen Leitfaden an die Hand geben, der über das Verhalten von wilden Wölfen aufklärt und aufzeigt, was dies für die Mensch-Hund-Beziehung bedeutet. Anhand dieser Lektüre kann jeder selbst überprüfen, was gemeinhin erzählt wird und sich ein neutrales Bild machen. Wir haben für den alltäglichen Gebrauch dieses Buches absichtlich eine nicht-wissenschaftliche Tonart gewählt. Außerdem verzichten wir auch bewusst auf Literaturhinweise im Buchtext. Stattdessen finden Sie im Anhang eine Liste unserer eigenen Fachbücher sowie die wichtigsten Bücher einiger Kollegen, die wir Ihnen zum Weiterlesen ans Herz legen möchten.
Wir benutzen im Folgenden die Begriffe „Alpha“ oder „Rudel“ nur, wenn wir einen populären Irrtum demonstrieren wollen. Ansonsten verwenden wir die heute üblichen Begriffe „Leitwolf/Leitwölfin“ und „Familie/Gruppe“. Die nicht geschlechtsreifen Tiere nennen wir liebevoll Schnösel.
© Günther Bloch
Vom Sozialverhalten der Wölfe lernen heißt, familiäre Belange ernst nehmen!
Zur besseren Verständigung möchten wir Ihnen kurz erläutern, wie wir beim Aufbau vorgegangen sind.
Wir haben das Buch nach den Grundeigenschaften der Wölfe aufgeteilt: Sie sind sozial, territorial und sie sind Jäger.
Danach gliedern sich die einzelnen Kapitel wie folgt:
„Behauptet wird …“ – Hier finden Sie als Erstes Behauptungen und gängige populäre Irrtümer rund um den Wolf, mit denen ein Hundehalter heutzutage häufig konfrontiert wird.
„Fakt ist …“ – stellt im Anschluss wissenschaftlich fundierte Untersuchungsergebnisse aus vielen Freilandforschungen vor.
Mit der „Bedeutung für den Hundehalter“ hoffen wir, Ihnen Tipps für den Umgang mit Ihrem Vierbeiner geben zu können.
In „Beispiele von frei lebenden Wölfen“ stellen wir Ihnen jeweils ein Fallbeispiel aus unseren Studien im kanadischen Banff- und im US-amerikanischen Yellowstone-Nationalpark vor. Diese Beispiele sind exemplarisch.
Alle hier gemachten Aussagen berufen sich auf die Norm und stehen im Einklang mit den Forschungsergebnissen von Wissenschaftlern wie Paul Paquet, Mike Gibeau, Doug Smith, L. David Mech und anderen Freilandökologen. Aber natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen von der Regel. Unser Freund Dr. Paul Paquet pflegt hierzu zu sagen: „Auch Leittiere können Idioten sein.“ Denken sie bitte daran, lieber Leser, dass uns die Wölfe immer wieder von Neuem überraschen. Wir lernen nie aus.
Dies ist kein Hundeerziehungsbuch, es soll Ihnen als Hundehalter aber helfen, anhand von Wolfsverhalten Rückschlüsse für die Beziehung zu Ihrem Tier ziehen zu können. Wir sehen besonders Wolfseltern als kompetente Lehrmeister an, die wissen, wie man heranwachsende Gruppenmitglieder ohne großen Aufwand integriert – und das ohne ständig Kommandos zu geben.
Wir Autoren sind davon überzeugt, dass die Erziehung und das Zusammenleben mit unseren eigenen Hunden deshalb so gut gelingen, weil wir wilde Wölfe beobachten, deren Verhalten in unserer Beziehung zum Hund kopieren und in den Alltag mit einbauen. Und so sehen wir uns als eine Art „Dolmetscher“ für Sie und Ihr Tier.
Wir wünschen Ihnen viel Freude mit dem vorliegenden Buch!
Günther Bloch und Elli H. Radinger
DIE MENSCH-HUND-BEZIEHUNG
Zwei Arten leben eng zusammen
© Peter A. Dettling
Warum haben eigentlich so viele Menschen Probleme mit ihrem Hund? Warum streiten wir uns über alle möglichen Verhaltensfragen?
Viele Wissenschaftler argumentieren, dass wir Menschen uns nicht in die typischen Grundsätzlichkeiten von Kanidengesellschaften hineindenken können, weil wir gemeinsame Vorfahren aus der Affenwelt haben, wo oft hierarchische Zweckgesellschaften vorherrschen. Diese Hierarchie bringt vorwiegend Vorteile für den, der oben an der Spitze ist, weil Nahrung zum Beispiel sehr gut individuell gesucht und verteidigt werden kann. Männliche Tiere haben hier das Sagen.
Ein solches Verhalten entspricht nicht dem von Kanidengruppen, deren Zweckgemeinschaften eben gerade nicht streng hierarchisch funktionieren. Kein Wunder also, dass wir ein anderes Verständnis von Sozialverhalten haben als unsere Haushunde.
Damit wir als Hundehalter überhaupt verstehen, mit wem wir zusammenleben, ist es unsere Pflicht, Wölfe und andere Kaniden samt ihrer Gruppenstrukturen ernst zu nehmen und uns an deren Regeln zu orientieren.
Sie fragen sich vielleicht zu Recht, warum Sie sich an den Regeln Ihres Hundes orientieren sollen, statt er sich an den Ihren. Fakt ist, Sie leben mit einer anderen Spezies gemeinsam in einem Haushalt. Natürlich brauchen Sie überhaupt keine Rücksicht auf das kanidentypische Verhalten Ihres Tieres zu nehmen und können Ihr Leben ausschließlich nach Primatenregeln führen. Die Ihnen anvertraute Hundeseele würde sich nicht wehren können und die Welt nicht mehr verstehen. Wenn Sie aber ein harmonisches Zusammenleben erreichen wollen, sollten Sie sich über das Wesen informieren, mit dem Sie einen Haushalt teilen.
Und schließlich sei noch mit einem kleinen Augenzwinkern erwähnt, dass es für uns Menschen gar nicht mal so schlecht ist, von Wölfen zu lernen. Im Laufe des Buches werden Sie erkennen, dass Wölfe manchmal die „besseren Menschen“ sind.
Günther Bloch und Timber gestalten sowohl ihre aktiven als auch ihre inaktiven Phasen gemeinsam. Hier machen sie ein gemeinsames Nickerchen auf der Couch, ohne dass das irgendeine Bedeutung für die viel gerühmte „Alphaposition“ hat.
… Die Beziehung Mensch-Hund ist einmalig, weil sich hier zwei unterschiedliche Arten sozialisieren, zu Kooperationspartnern werden und sich auf der Gefühlsebene austauschen. In der Tierwelt gibt es weder zwischenartliche Beziehungen noch ein Zusammenleben zweier Arten auf Lebenszeit.
… Auch wenn wir es gerne glauben möchten, dass die Beziehung zwischen Mensch und Hund so einmalig sein soll, entspricht dies nicht den Tatsachen. Viele Tierarten, auch Wölfe, bilden durchaus gut funktionierende Zweckgemeinschaften (Symbiosen) in freier Wildbahn. Als Beispiele seien hier nur die zeitlimitierten Jagdgemeinschaften zwischen Kojote und Dachs, Bär und Fuchs oder die Zusammenarbeit zwischen Honigdachs und Honigvogel genannt. Sie alle sind symbiotische Verhältnisse.
Ganz anders ist die Beziehung zwischen Wolf und Rabe, die in einer sozialen Mischgruppe zeitlebens eng zusammenleben. Im Laufe ihrer intensiven Freilandbeobachtungen stellten Günther Bloch und seine Kollegen fest, dass stets dieselben Rabenfamilien in der Nähe derselben Wolfsfamilien nisteten, gemeinsam mit ihnen auf die Jagd gingen und nach Hause zurückkehrten (siehe Literaturhinweis „Wolf und Rabe“).
Zwei Arten, die aufeinander geprägt worden sind, bildeten also eine gemeinsame soziale Mischgruppe.
Von dem Moment an, wo ein Welpe aus der Höhle klettert, gibt es keinen Tag, an dem er nicht mit Raben zu tun hat. Neben dem Rest seiner vierbeinigen Familie, deren Geruch er sich einprägt, lernt er auch die gefiederten „Familienmitglieder“ und deren Geruch kennen. Er speichert den strengen Geruch der Rabenfedern in seinem Gehirn ab – für sein ganzes Leben. Das eben ist eine Sozialisation und keine einfache Symbiose.
Grundsätzlich ist so eine Wolfshöhle äußerst interessant für Raben. Da ihr Verhalten stark futtermotiviert ist, warten sie darauf, dass etwas für sie abfällt, wenn die erwachsenen Wölfe Fleisch für ihre Kleinen hervorwürgen oder Futterbrocken mit zur Höhle bringen. So lernen schon die jungen Rabenvögel, wie weit sie sich Wölfen nähern können und wie sich diese verhalten. Neben ihren Geschwistern sind die schwarzen gefiederten Gesellen die ersten Spielkameraden der kleinen Wölfe. Sie spielen Fangen oder jagen sich gegenseitig Knochen und Fellreste ab. Sie toben gemeinsam umher und interagieren im Spiel (Im-Kreis-Laufen, gegenseitiges Austricksen und Ähnliches), was eine gefühlsbetonte Ebene deutlich zum Ausdruck bringt. Unterdessen scheinen die Wolfseltern froh zu sein, vom Unterhaltungsprogramm für ihre Zöglinge kurzfristig entbunden zu werden.
Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Raben gehört es, die Wölfe (auch die erwachsenen Tiere) zu necken, am Schwanz zu ziehen oder ihnen provozierend – und genau kalkuliert – dicht vor der Schnauze herumzuhüpfen. So finden sowohl zwischen erwachsenen Wölfen und Raben als auch zwischen Wolfswelpen und Raben eine ständige Interaktion und Kommunikation statt.
Der Rabenexperte Professor Bernd Heinrich beschreibt zum Beispiel den Futterruf der Raben als ein vitales „Jaa-huaaa!“. Die Warnrufe der großen Vögel alarmieren die Wölfe vor herannahenden Feinden wie Bären oder Pumas, und ohne die Unterstützung der Wölfe können die schwarzen Gesellen keinen Kadaver öffnen. Wölfe helfen den Raben, ihre Angst vor Neuem (Neophobie) zu überwinden. Die schwarzen Vögel sind nämlich, entgegen ihrem forschen Auftreten, auch sehr ängstlich. So konnten wir beobachten, dass sie sich einer Beute, die nicht von Wölfen getötet wurde, nur sehr selten und dann äußerst vorsichtig nähern, wohingegen sie sich bei einem Beuteriss vom Wolf ohne zu zögern auf den Kadaver stürzen.
Beide Spezies haben also ihr ganzes Leben lang einen Nutzen von ihrer Beziehung. Sie gehen nicht nur eine Symbiose auf bestimmte Zeit ein, sondern leben – wie Mensch und Hund – ein Leben lang in einer sozialen Mischgruppe zusammen. Dies weist auf eine gemeinsame, evolutionäre Geschichte hin. Bernd Heinrich spricht sogar aufgrund eines Millionen Jahre langen Beziehungsaufbaus zwischen beiden Arten von Wolfsgenen in Raben beziehungsweise Rabengenen in Wölfen.
Fazit: Neben der Beziehung Mensch-Hund gibt es in der Tierwelt noch andere Beziehungen zweier Arten, die durch langfristige Sozialisation (im Gegensatz zur kurzfristigen Symbiose) entstanden sind, wie das Beispiel Wolf-Rabe zeigt.
Wie bereits erwähnt, wird oft argumentiert, dass die Beziehung Mensch-Hund so einmalig ist, weil nur sie durch besondere gegenseitige Emotionen gekennzeichnet sei und außerdem der Hund stets die Gesellschaft von Menschen der anderer Hunde vorziehe. Dass Letzteres nicht so ist, können wir anhand von drei Beispielen belegen:
Wie die Verhaltensstudien von Günther Bloch an verwilderten Haushunden in Italien eindeutig belegten, zogen die nicht auf Menschen sozialisierten und im Wald lebenden Hunde die Nähe zu ihresgleichen eindeutig den Tierschützern vor, obwohl diese sie jeden Tag fütterten.
Gut auf Schafe und Ziegen sozialisierte Herdenschutzhunde sind dafür bekannt, dass sie die Nähe ihrer Schutzbefohlenen eindeutig Menschen vorziehen.
Selbst ganz normale Haushunde die mit mehreren Hunden zusammenleben, zeigen nicht pauschal, aber doch recht häufig größeres Interesse an ihren Artgenossen als an ihren Menschen.
Offensichtlich geht es also weder bei Wolf und Rabe noch bei den Hunden um Futter.
Fazit: Die frühe Prägung und Sozialisation auf eine andere Spezies hat der Hund vom Wolf „geerbt“. Aber er hat nicht nur die soziale Fähigkeit entwickelt, mit dem Menschen zu leben, sondern auch mit anderen Arten, die zum Haushalt gehören und mit denen er gemeinsam eine soziale Gruppe bildet. Wobei dies jedoch nur speziell für diese Gruppe im Haus gilt. Jeder Hundehalter, dessen Tier mit Vögeln, Katzen oder Kaninchen groß geworden ist, weiß, dass der Hund diese Tiere zu Hause als eigene Gruppe akzeptiert und ihnen nichts tut. Das bedeutet jedoch nicht, dass Bello von nun an draußen in Feld und Flur nicht mehr nach Vögeln, Katzen oder Kaninchen jagt. Darum Vorsicht! Verwechseln Sie nicht die Sozialisation auf Mitglieder innerhalb der eigenen Gruppe mit dem Verhalten Fremdtieren aus anderen Gruppen gegenüber.
Im Sommer 2007 zog, etwa 100 Meter von der traditionellen Höhle der Bowtal-Wolfsfamilie entfernt, ein Rabenpaar drei Jungtiere auf. Die Rabenfamilie war uns vertraut. Die Elterntiere nisteten schon seit Jahren hier. Darum nennen wir sie mittlerweile längst die „Bowtal-Raben“. Man kennt sich persönlich; gemeinsame Familienkultur ist Trumpf. Auch Leitweibchen Delinda war diesen Vögeln gegenüber wieder sehr tolerant. Ganz so wie ihr Lebensgefährte Nanuk und deren erwachsener Nachwuchs und genau so wie die vielen Bowtal-Wölfe vor ihnen.
Auch Fluffy, Delindas Tochter, zeigte im Sommer 2009 das gleiche soziale Interesse an den Raben. Offensichtlich fand hier erneut das übliche Ritual statt: Eine umfangreiche Sozialisation, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Mütter leben quasi ihren Töchtern „Raben-Toleranz“ vor. Und die Raben scheinen sich auf ihre Weise „erkenntlich“ zu zeigen.
Fluffy hatte in diesem Jahr fünf Welpen, die sich munter spielend vor dem Höhleneingang die Zeit vertrieben, während Mama ihren Entspannungsschlaf hielt. Wolfswelpen müssen die Welt entdecken, eigene Erfahrungen sammeln und in den verschiedenen Situationen lernen, sowohl Erfolge als auch Misserfolge zu verarbeiten.
Plötzlich näherte sich zunächst unbemerkt ein Schwarzbär – so dachte der jedenfalls. Er hatte allerdings die Rechnung ohne die Raben gemacht. Ein grober Fehler, denn die aufmerksamen Vögel stießen sofort ihren „Da-kommt-ein-Bär“-Warnruf aus. Der riss Fluffy aus dem Schlaf. Sie schaute sich um. Als sie Meister Petz auf die Kleinen zukommen sah, schickte sie als Erstes ihre Welpen mit einem Alarmwuffen in Richtung Höhle. Die Kinderschar wusste zwar nicht, worum es ging, verschwand jedoch sofort im schützenden Bau. Einer der Kleinen blickte noch einmal kess aus dem Eingang. Er sah zu seiner Mutter Fluffy herüber, die unter lautem Getöse und wahrlich „stinksauer“ den Bären davonscheuchte. Dieser hatte vor lauter Panik „Knoten in den Ohren“ und rannte eine Böschung herunter. Dann war der leicht überforderte Bär außer Sicht. Fluffy blieb am Waldrand stehen und schien ihm noch ein Wort mit auf den Weg geben zu wollen. Ganz nach der Devise: „Wenn du dich meinen Kindern näherst, bekommt du Probleme. Rechne mit ernsten Konsequenzen, wenn du nochmals zurückkehren solltest.“ Nach zehn Minuten schlüpften nach und nach alle fünf Welpen wieder aus dem Bau. Sie liefen mit angelegten Ohren zu ihrer Mutter und schienen sich für die beherzte Gefahrenabwehr regelrecht bedanken zu wollen. Fluffy nahm’s gelassen und legte sich wieder hin. Pflichterfüllung nach Wolfsart.
Nach solchen Erlebnissen steht für uns fest: Erwachsene Wölfe können die verschiedenen Warnrufe und Kommunikationslaute der Raben sehr genau unterscheiden. Und sie haben sich daran gewöhnt, die verschiedenen Rufe ihrer schwarzen Kumpel ganz bestimmten Lebenssituationen präzise zuzuordnen. Auf den Punkt gebracht: Fluffy hatte diese Fähigkeit durch sehr genaue Beobachtung von ihrer Mutter Delinda gelernt. Nun brachte sie an diesem Tag ihrerseits ihrem Nachwuchs bei, was der Alarmruf der Raben bedeutete. Bemerkenswert!
„Wenn du Wölfe suchst, musst du in den Himmel schauen!“
Dies ist eine der ersten Lektionen, die wir als Wolfsbeobachter lernen: Wir halten Ausschau nach Raben. Die „Augen der Wölfe“, wie sie die Indianer nennen, sind immer in der Nähe der großen Kaniden.
Ähnliches gilt aber auch für die Bären von Yellowstone. Zwar haben sie keine gemeinsame evolutionäre Entwicklung mit den Wölfen, so wie die Raben, aber sie sind seit der Wiederansiedlung der Wölfe die größten Nutznießer von deren Rückkehr. Nie zuvor war ihr Tisch so reich gedeckt. Schnell haben sie gelernt, dass sie nur den Spuren der Wölfe folgen müssen, um Futter zu finden. Besonders im Frühjahr, wenn die pelzigen Gesellen hungrig aus langer Winterruhe kommen und es noch keine leicht zu erlegenden Beutetierbabys gibt, lassen die Bären – besonders die Grizzlys – die Wölfe für sich „arbeiten“. Haben die Kaniden einen Hirsch getötet, dauert es nicht lange, bis ein Grizzly kommt und den Kadaver „übernimmt“. Dann haben die Wölfe keine Wahl. Sie müssen sich zurückziehen und Meister Petz ihre Mahlzeit überlassen. Einige Bären folgen inzwischen schon den Wölfen, wenn diese auf die Jagd gehen.
Manchmal fressen auch beide Spezies gemeinsam am Kadaver. Ich konnte einmal zwölf Wölfe und vier Grizzlys gemeinsam an einem Bisonkadaver fressen sehen, wobei jedoch immer der größte Bär das Futter „kontrollierte“. War er mit Fressen beschäftigt oder zu satt, um etwas zu unternehmen, konnten die Wölfe auch ihren Teil der Beute abstauben. Die übliche Vorgehensweise jedoch ist die, dass der Bär dankend den Kadaver übernimmt, die Mahlzeit verspeist und sich dann auf ihr schlafen legt, während das gemeine Volk (sprich: die Wölfe) hungrig um den Mittagstisch herumliegt und wartet, bis Meister Petz endlich verschwindet. Hier zeigt sich übrigens eine andere Tugend der Wölfe: Geduld.
In manchen Gebieten von Yellowstone hängt das Überleben der Bären direkt von den Wölfen ab. In den Hochtälern des Pelican Valley dauert der Winter sehr lange und Beutetiere sind rar. Die großen Hirschherden ziehen im Herbst in die Täler. Lediglich einzelne Bisonherden bleiben zurück. Eine Wolfsfamilie, Mollies Gruppe, hat sich in dieser unwirtlichen Gegend auf die Jagd der mächtigen Grasfresser spezialisiert. Die Grizzlys, die im Pelican Valley leben, haben sich schon so sehr auf die Mollies als Futterlieferanten eingestellt, dass sie von März bis Oktober jede Beute, die das Wolfsrudel macht, innerhalb kürzester Zeit übernehmen. Das jedoch hat wiederum zur Folge, dass immer weniger Fleisch für die Wölfe übrig bleibt und die Wolfsfamilie sich langsam auflöst.
Von der Anwesenheit der Wölfe profitieren neben den Raben viele Tiere, ganz besonders aber die Bären. In Yellowstone gibt es inzwischen immer mehr Bären, die wegen der ausreichenden Nahrungsmenge, die in der schneereichen Jahreszeit zur Verfügung steht, keine oder nur eine verkürzte Winterruhe halten. Und auch die Weißkopfadler nutzen die neuen Nahrungsquellen und fliegen nicht mehr nach Süden, sondern überwintern im Park.
Namen oder Nummern?
In unseren Beispielen aus dem Alltag frei lebender Wölfe werden Sie feststellen, dass die Wölfe unterschiedlich benannt werden. In Banff haben Karin und Günther Bloch jedem einzelnen Wolf einen Namen gegeben, wohingegen man alle Yellowstone-Wölfe die ein Radiohalsband erhalten, zwecks Identifikation mit Nummern versieht. Diese Nummern werden in der Reihenfolge vergeben, in der die Wölfe eingefangen und besendert werden. Der Nummer hinzugefügt wird ein „M“ für „male“ (= männlich) und „F“ für „female“ (= weiblich).
Den Gruppennamen erhalten die Wölfe anlehnend an das Gebiet, in dem sie leben.
WOLF, MENSCH UND HUND SIND SOZIAL
Mythos „Alpha“
© Peter A. Dettling
… Der Alpharüde dominiert alle anderen im Rudel und verpaart sich nur mit der Alphawölfin.
…Wir wissen aus etlichen Jahren Freilandbeobachtungen, dass die „Alphanummer“ von Leitrüden schon allein deswegen nicht stimmt, weil häufig Weibchen die Entscheidungsträgerinnen in den Familien sind. Bei den Leittieren beruht die Paarbindung auf gegenseitigem Respekt. Je nach Größe des Territoriums und der Dichte der Population kann es sein, dass sich nur die Leittiere verpaaren. Mehrfachverpaarungen sind jedoch nicht unüblich. Besonders in Yellowstone kommen sie immer wieder vor. Dort paart sich etwa ein Viertel aller Wölfe auch mit anderen Partnern. Und in der Folge bekommen auch mehrere Weibchen in einer Familie Welpen. Es wurde schon beobachtet, dass fünf Mütter gemeinsam ihren Nachwuchs aufziehen.
In der Mensch-Hund-Beziehung existiert keine soziale Rangordnung, schon allein deshalb, weil der Mensch sich nicht mit dem Hund verpaaren kann. Da wir aber die „Ersatzeltern“ für unsere Hunde sind, müssen wir eine Vorbildfunktion haben und soziale Kompetenz ausstrahlen. Dies tun wir nicht, indem wir sie ständig maßregeln oder womöglich noch auf sie einprügeln, sondern, indem wir unseren Tieren Lebenserfahrung und Wissen vermitteln.
Als Hundehalter haben Sie also die Pflicht, das soziale Miteinander in den Vordergrund Ihres Zusammenlebens zu stellen und eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Wie das konkret auszusehen hat, erläutern wir im weiteren Verlauf des Buches.
In einer Hundegruppe etablieren sich soziale Rangordnungsstrukturen. Auch wenn einzelne Individuen eines „Hunderudels“ kastriert sind, können sich durchaus klare Dominanzbeziehungen herausbilden.
… Jeder Wolf im Rudel will Alpha werden.
…Das Verhalten der Leittiere anderen Familienmitgliedern gegenüber, ist sehr viel friedfertiger, als man es gemeinhin denkt. Die Familienoberhäupter sind stark am sozialen Geschehen und an der Harmonie in der Gruppe interessiert. Die Position der Leitwölfe beinhaltet mehr Pflichten als Rechte. Darum ist dieser Job für manche Tiere auch nicht unbedingt so begehrenswert, wie es scheinen mag.
Trotz aller Harmonie gibt es auch in der Beziehung Mensch-Hund Konfliktsituationen, die geklärt werden müssen. Es ist heutzutage modern, Konflikten aus dem Weg zu gehen oder sie zeitlich zu verschieben, und viele Menschen haben Angst vor Konflikten. Aber dadurch, dass wir den Kopf in den Sand stecken, kommen wir nicht weiter. Das hat nichts mit Alphastatus zu tun. Als Entscheidungsträger liegt es an Ihnen, klare Regeln aufzustellen und diese durchzuführen. Beispiel: Ihr Hund bekommt einen festen Platz im Haus zugewiesen, auf den Sie ihn immer dann schicken können, wenn dies erforderlich ist.
… Die Alphas kontrollieren alle Aktionen von rangniederen Tieren. So auch die berühmt-berüchtigten „durchgeknallten fünf Minuten“ bei den Jungwölfen.
Eine permanente und ständige Kontrolle der Aktionen von rangniederen Tieren ist nicht nötig. Die Leitwölfe haben wahrlich Besseres zu tun, als die anderen Familienmitglieder immer zu beobachten und zu kontrollieren. So schauen sie sich beispielsweise auch das Im-Kreis-Laufen und das Zickzack-Laufen des Nachwuchses in aller Ruhe an, ohne etwas zu tun. Dieses Verhalten dient nämlich jedem Tier dazu, individuell ein optimales Verhältnis zwischen Langeweile und Erregungszustand zu finden, und hilft ihm, wieder „runterzufahren“. Jedes Tier, ob jung oder alt, versucht seine innere Balance zu finden. Die „verrückten fünf Minuten“ haben weder etwas mit Alphagehabe, noch mit Dominanzabsicht zu tun. Oft enden sie im gemeinsamen Rennspiel mit anderen Familienmitgliedern.
Wenn Ihr Hund seine „durchgeknallten fünf Minuten“ hat und im Kreis rennt, besteht für Sie als Hundebesitzer kein Handlungsbedarf. Sie müssen weder etwas kontrollieren noch abstellen. Genießen Sie einfach den Anblick des „verrückten Viehs“. Sobald Ihr Hund sein inneres Gleichgewicht gefunden hat, was je nach Temperament zeitlich unterschiedlich dauert, wird er sich wieder ruhiger verhalten.
Jedem Hund stehen seine „verrückten fünf Minuten“ zu und das möglichst ohne irgendwelche Kommentare des Menschen. Auch mit kurzen Beinen lässt es sich gut rennen und Spaß haben, dafür sind die Ohren umso länger.
… Der Alpha ist immer ein älteres Tier, hat immer Erfahrung und weiß stets, wo es langgeht. Er ist immer der größte und schwerste Wolf in einem Rudel.
… Die Frage, was eine Führungspersönlichkeit ausmacht, stellen sich tagtäglich unzählige Headhunter, die Manager für große Firmen einstellen müssen. Ganz sicher ist es nicht die Größe, das Gewicht oder das Aussehen eines Menschen. Das Gleiche gilt auch für wölfische Führungskräfte. Diese Position ist unabhängig von Größe und Gewicht. Fakt ist, dass auch kleinere und nicht so schwere Tiere Führungspositionen übernehmen können. Es ist zuallererst deren mentale Stärke, die sie zu einer anerkannten Persönlichkeit werden lässt.
Ein Leittier muss auch nicht unbedingt ein erwachsener Wolf sein. Es gibt immer wieder Schicksalsschläge in Wolfsfamilien. Besonders hart trifft es die Gruppe, wenn sie ihr Familienoberhaupt verliert. Dann kann es passieren, dass junge Wölfe aufgrund besonderer Begebenheiten in die Leitposition schlüpfen müssen. Uns sind mindestens zwei Fälle aus Yellowstone bekannt, in denen 17 und 20 Monate alte Jungwölfe zu Leittieren wurden. Beiden fehlte jedoch die Erfahrung, ihre Familie über einen längeren Zeitraum zu führen. Grundsätzlich gilt, dass eine Führungspersönlichkeit bzw. Idolfigur sowohl über eine gewisse soziale als auch über Lebensraumintelligenz verfügen muss, um von den übrigen Gruppenmitgliedern ernst genommen zu werden.
Nicht nur Erwachsene, sondern auch Jugendliche können von Hunden durchaus als soziale „Leittiere“ mit Vorbildcharakter Anerkennung finden. Voraussetzung ist allerdings, dass sie eine gewisse Reife an den Tag legen und wissen, was sie wollen. Das ist bei manchen, die sich selbst noch deutlich im Selbstfindungsprozess befinden, natürlich nicht immer gegeben. Es gibt Kinder, die im Alter von zwölf Jahren schon die Reife eines Erwachsenen haben und andere, die auch mit 17 noch auf dem Entwicklungsstand eines viel jüngeren Kindes stehen. Eltern kennen ihre „Sprösslinge“ am besten und müssen deshalb individuell entscheiden, ob sie als letzte Instanz tätig werden oder nicht.