Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Epilog
Kommentar
Journal
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2714
Das Ultimatum der Onryonen
Der Konflikt um ITHAFOR-5 eskaliert – das Atopische Tribunal greift ein
Uwe Anton
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine aufregende, wechselvolle Geschichte erlebt: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – haben nicht nur seit Jahrtausenden die eigene Galaxis erkundet, sie sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen – und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das nach alter Zeitrechnung dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.
Doch auf dem Erdmond hat sich eine fremde Macht eingenistet und Luna in eine geheimnisvolle Technokruste gehüllt. Die Onryonen fordern im Namen des Atopischen Tribunals die Auslieferung Perry Rhodans und Imperator Bostichs – sie sollen wegen zahlreicher Verbrechen vor Gericht gestellt werden.
Das schlimmste Verbrechen liege allerdings in der Zukunft und wird als »Weltenbrand« umschrieben.
Doch die Onryonen wollen die ganze Milchstraße der Gerechtigkeit der »Atopischen Ordo« zuführen und richten den Blick auch auf Krisengebiete. Eines davon liegt in der galaktischen Eastside. Und dort kommt es auch zum ULTIMATUM DER ONRYONEN ...
Ronald Tekener – Der »Smiler« weiß nicht viel Neues über Bostich zu berichten.
Monkey – Der Lordadmiral der USO sondiert die Lage.
Famather Myhd – Der tefrodische Hyperenergieexperte steht vor einem uralten Rätsel.
Oberst Anna Patoman – Die Kommandantin eines Beobachtungsraumers verzweifelt beinahe daran, nicht eingreifen zu dürfen.
Ghonvar Toccepur – Der onryonische Repräsentant verkündet ein Ultimatum.
Vetris-Molaud – Der Hohe Tamrat gibt sich die Ehre.
WOCAUD, 28. Juli 1514 NGZ
Da kommt etwas.
Es näherte sich mitten in dem roten Glimmen des Transferkamins, das immer intensiver und heller wurde.
Famather Myhd stand auf dem Transferdeck und starrte in einen Kamin, der sich vor ihm fünfhundert Meter weit erstreckte, bevor er im Nichts endete. Er wusste nicht genau, was er da ankommen sah.
Aber es war da. Er erahnte es eher, als dass er es erkannte. Er sah in das gleißende Licht, das in seinen Augen schmerzte. Verzweifelt versuchte er, etwas zu erkennen, mehr auszumachen als diesen ... diesen undefinierbaren Schatten. Nein, nicht einmal ein Schatten, es war ...
»Was ist das?«, murmelte er. Er wusste nicht, ob er sich über diesen unerwarteten Erfolg freuen oder voller Entsetzen sein Heil in der Flucht suchen sollte. Er wusste nicht einmal, ob es ein Erfolg war. Er wusste nur, er hatte Angst.
Angst um seinen Posten und in diesem Augenblick auch um sich selbst.
Nackte Angst.
Etwas geschah im Polyport-Netz. Es zeigte immer wieder Ausfallerscheinungen. Sendungen kamen gar nicht oder nur mit großer, unerklärlicher Verspätung an. Teilweise waren sie unvollständig oder beschädigt.
Die Störungen waren immer gravierender geworden. Zumindest in ITHAFOR-5. Oder in WOCAUD, wie sie den eroberten Polyport-Hof nun nannten. ITHAFOR-5, WOCAUD, wen interessierte das schon? Zwei unterschiedliche Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache. Für eine Sache, für die er die Verantwortung trug.
Er war der Experte an Bord des eroberten Polyport-Hofs, der sich seit mehr als zwei Wochen in tefrodischer Hand befand. Seine Aufgabe war es, das Polyport-System für das Neue Tamanium nutzbar zu machen. Als Hyperphysiker mit dem Schwerpunkt Hyperraumpassagen-Theorie hatte er dafür alle Voraussetzungen, meinten zumindest Tamrat Vetris und Gornen Kandrit.
Aber sie hatten keine Ahnung. Zumindest nicht, was den Polyport-Hof betraf. Es war eine Aufgabe, die er nicht bewältigen konnte. Auch nicht mit Projjid Tyx' Hilfe, falls er sie denn überhaupt bekam. Da musste er sich nichts vormachen.
Dann waren die Zustände schlimmer geworden.
Das Polyport-System hatte seinen Dienst eingestellt. Nichts, aber auch gar nichts ging mehr.
Und wieso kommt ausgerechnet jetzt was durch?, fragte sich Myhd. Unangekündigt, von keinem anderen Hof abgeschickt?
Famather Myhd musste den Tatsachen ins Auge sehen. Nicht er bestimmte, was mit WOCAUD geschah, genauso wenig, wie Tyx Herr über ITHAFOR-5 gewesen war.
Die wahre Macht über das Polyport-Netz hatten die Schattenmaahks. Pral und die anderen verfügten über hochwertige Controller, gegen die sein Gerät nichts ausrichtete. Sie agierten im Verborgenen, unangreifbar für Normalsterbliche wie ihn. Soviel er sich auch mit dem Polyport-Netz beschäftigt hatte, so groß sein Interesse daran war und die Hoffnung, die er darauf setzte – letzten Endes drückte er nur auf ein paar Knöpfchen des Controllers und hoffte, dass etwas geschah. Echten Einfluss hatte er nicht.
Weder Gornen Kandrit noch Tamrat Vetris persönlich würden von seiner bisherigen Leistung begeistert sein.
Aber was sollte er tun? Was konnte er tun?
Die Transferkamine waren wie tot. Nichts kam an, nichts ging ab.
Erloschene Kamine, auf die ein Controller der Klasse A keinen Zugriff erhielt. Und wahrscheinlich auch keiner der Klassen B oder C. Da spielte es keine Rolle, dass man mit einem C-Controller selbst erfolgreiche Manipulationen seinerseits jederzeit wieder rückgängig machen oder von vornherein blockieren konnte.
Doch in diesem Moment ... passierte etwas!
Etwas kam durch. Aber Famather Myhd bezweifelte, dass der Schattenmaahk Pral auch nur das Geringste damit zu tun hatte.
Oder auch nur ansatzweise gewusst hätte, was sich da in dem Transferkamin befand.
*
Sämtliche Kamine des Transferdecks glommen nun rötlich. Aber Myhd sah nicht das übliche Leuchten, das einen eintreffenden Transport bislang angekündigt hatte. Das Licht war ... anders.
Es war wie von Myriaden feinster Risse durchzogen. Sie fluktuierten ununterbrochen, zogen sich zusammen, dehnten sich wieder aus.
Myhd blinzelte, trat ein paar Schritte vor. Die Größe der Risse schien sich nicht zu verändern. Sie blieben winzig, als seien ihre Maße nicht relativ, sondern absolut.
Eine optische Täuschung?, fragte sich Myhd. Oder gab es eine Erklärung für diese Erscheinung, die auf den ersten Blick unerklärlich war?
Etwa zwanzig Sekunden lang veränderten die Risse ihre Größe, ohne sie wirklich zu verändern. Dann wurde hinter ihnen, in dem roten Leuchten, etwas sichtbar. Doch Famather Myhd erkannte es in dem unendlich feinen Gewirr der Sprünge nicht genau. Es blieb ein undefinierbarer Schatten, ein ...
Unsinn!, sagte er sich. Ein Schatten, das war eine nutzlose Umschreibung. Wenn ein Schatten geworfen wurde, musste auch etwas vorhanden sein, was ihn warf.
Aber was? Sosehr Myhd sich bemühte, es blieb ihm verborgen. Es könnte ein Lebewesen sein, ein Fahrzeug, eine Maschine – oder eine Mischung aus allem. Es war groß, ja riesig, und unförmig. Ansonsten entzog es sich jeder Einschätzung.
Doch dann bemerkte Myhd etwas anderes.
Es war eigentlich genauso unmöglich wie die Größe der Risse, die sich veränderte und dennoch irgendwie gleich blieb.
Etwas mit den Konturen des Dings, das er undeutlich vor sich ausmachte, stimmte ganz einfach nicht.
Er konnte es nicht erklären, nicht in Worte fassen, die für ihn auch nur den geringsten Sinn ergaben.
Die Umrisse des Objekts schienen gleichzeitig in dessen tiefstem Inneren zu liegen und an seiner äußersten Peripherie. Es ... es war sehr klein und zugleich sehr groß.
Aber das Ding selbst entzog sich weiterhin Myhds Sinnen. Mehr noch, es entzog sich allen Begriffen, jeglichem Verstehen.
Sein Verstand versuchte, in Worte zu fassen, was ihm völlig unklar blieb. Er wollte dem Gegenstand, dem Wesen oder der Maschine eine Eigenschaft überstülpen, die es eigentlich nicht hatte. Eine Begrifflichkeit finden, die ihm half, mit dem Unerklärlichen umzugehen.
Das Etwas hat eine paradoxe Kontur, dachte Myhd.
Damit war alles und gleichzeitig nichts gesagt. Wenn das Objekt sehr klein und sehr groß zugleich war, erfasste paradoxe Kontur dessen Erscheinung sehr gut und sehr schlecht zugleich.
Hinter den Rissen im roten Schein der Transferkamine bewegte sich das Ding nun, zuerst langsam, zögernd, dann immer stärker, bis Famather den Eindruck hatte, das undefinierbare Etwas würfe sich gegen den Wall aus Licht, um ihn zu zertrümmern. Um zu ihm, Myhd, vorzudringen, ihn zu erreichen!
Täuschte er sich, oder überschlug sich irgendwo das Jaulen einer Alarmsirene?
Die Risse im Licht schienen nun größer und breiter zu werden. Oder war das auch nur eine Illusion oder Einbildung?
Dann spürte Myhd, dass ihn etwas berührte wie ein Hauch. Ganz leicht nur, aber es streifte ihn, und diesmal war jeder Zweifel ausgeschlossen.
Das Etwas hinter dem roten Licht griff nach ihm.
Warum?
Um ihn anzugreifen? Um sich an ihm festzuhalten? Um ihn auf die andere Seite zu ziehen? Oder um sich an seinem Körper auf diese Seite zu hangeln?
Übergangslos schlug das rote Glimmen in ein grelles blaues Wabern um.
Myhd schrie auf, zuckte zurück, wollte sich umwenden, die Berührung abstreifen, sich ihr entziehen. Doch er konnte sich nicht bewegen, kein Glied rühren. Starr stand er da, sah das Ding, das immer größer wurde, immer näher kam ...
Das blaue Licht erlosch von einem Lidschlag zum nächsten.
Und mit ihm das Etwas.
Leer und dunkel lagen die Transferschächte vor ihm.
*
Famather Myhd zitterte haltlos, schnappte nach Luft, doch es strömte kein Sauerstoff in seine Lungen. Nur langsam beruhigte er sich wieder und bekam die Kontrolle über Körper und Geist zurück.
Was war das gewesen?
Wieso war dieses Etwas zugleich hinter allen Kaminen existent gewesen?
Und wieso hatte das Ding sich ihm genähert?
Warum hatte er es nicht ... akzeptiert? Er war Wissenschaftler. Er hatte gerade eine unheimliche Begegnung gehabt. Warum war er so passiv geblieben und nicht auf das Neue, Unbekannte zugegangen?
Weil ich schreckliche Angst hatte, gestand er sich beschämt ein.
Oder hatte er sich alles nur eingebildet? Hatte sein überreizter Verstand ihm einen Streich gespielt? War er dermaßen versessen darauf gewesen, eine Reaktion des Polyport-Systems zu erzwingen, dass sein Unterbewusstsein so schreckliche Bilder heraufbeschworen hatte?
Nein.
Er hatte das ... das Etwas hinter dem roten Licht tatsächlich gesehen. Es war da gewesen. Auch wenn er noch keine Erklärung dafür hatte, die Begegnung war real gewesen.
Was ihm auch die Alarmsirene bestätigte, die noch immer jaulte. Die automatische Überwachung hatte zumindest darauf reagiert, dass ein Transferkamin aktiviert worden war.
»Licht!«, befahl er, und in dem Schacht flammte die zusätzlich installierte Beleuchtung auf.
Aus zusammengekniffenen Augen schaute er in den langen Kamin. Fünfhundert Meter erstreckte er sich, dann verlor er sich im Nichts.
Aber da war nichts mehr. Der Kamin lag verlassen da.
Oder befand sich da etwas mitten auf dem Boden, ziemlich am Anfang des Schachts?
Es war so klein, dass er es fast übersehen hätte. Und es war reiner Zufall, dass sein Blick es streifte und er stutzig wurde.
Ja, da war tatsächlich etwas.
Plötzlich zitterte er wieder. Er hatte Angst, noch einmal in den Schacht zu treten, diesem Etwas erneut zu begegnen. Das nackte Entsetzen, das die mentale Berührung hervorgerufen hatte, steckte ihm in den Knochen. Er musste sich dazu zwingen.
Vielleicht sollte er doch lieber warten, bis der Sicherheitsdienst endlich kam, statt selbst nachzusehen und sich in Gefahr zu begeben?
Er machte einen Schritt, bereit, diesmal wirklich sein Heil in der Flucht zu suchen, sollte der Schacht wieder zu glimmen beginnen.
Nichts dergleichen geschah. Der Kamin blieb dunkel.
Schließlich hatte er den kleinen Gegenstand auf dem Boden erreicht.
Er ging in die Hocke, bückte sich, streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Doch er zog die Finger wieder zurück, als hätte er sie sich verbrannt.
Es ist bei dem Transportvorgang im Transferkamin zurückgeblieben! Plötzlich kam es ihm nicht mehr besonders ratsam vor, den Fund ohne jede Sicherheitsvorkehrung anzufassen.
Er schaute sich den Gegenstand noch einmal an, von oben, von rechts, von links.
Es schien sich um den Teil einer Hand zu handeln, nur wenige Zentimeter groß. Oder vielleicht auch einer Klaue, das war ihm nicht ganz klar.
Genau genommen war es nur der Teil eines Fingers.
Zwei Glieder, keine Kuppe.
Und versteinert, wenn er sich nicht völlig irrte.
Wie gelangte ein solcher Gegenstand in einen Transferkamin?
Zögernd berührte er sein Kommunikationsarmband.
»Hier spricht Famather Myhd, verantwortlicher Hyperphysiker für das Polyport-System«, sagte er aufgeregt. »Es wurde Alarm gegeben. Bei einem Transportvorgang ist etwas durchgekommen. Wo bleibt der Sicherheitsdienst?«
»Ist unterwegs. Kannst du dich klarer ausdrücken?«, erklang eine weibliche Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Brauchst du Hilfe?«
Er überlegte. Gornen Kandrit würde nicht sehr erfreut sein, wenn er wegen einer Nichtigkeit Alarm für den gesamten Polyport-Hof schlug.
Aber das Ding im Kamin war wirklich vorhanden gewesen, und Kandrit musste davon erfahren.
»Ja«, sagte Myhd. »Und zwar dringend.«
ARGO, 28. Juli 1514 NGZ
Der Lagunennebel erinnerte Admiral Ronald Tekener in der dreidimensionalen Darstellung unwillkürlich an ein großes rotes Herz, das ein begnadeter Künstler auf eine Leinwand aus dem schwarzen Samt des Alls gemalt hatte. Tekener überlegte kurz, ob er seiner spontanen Laune nachgeben und das Holo mithilfe der Positronik manipulieren sollte, damit das Herz auch pulsierte, langsam, aber regelmäßig schlug.
Klick.
Doch dann verzichtete er lieber darauf. Der schwarze Schwan zerstörte mit seinem Eifer, die beeindruckenden Bilder in allen Details festzuhalten, auch den letzten Rest der erhabenen Stimmung, die dieses prachtvolle Schauspiel der Schöpfung bei Tekener erzeugte.
Klick.
Der Admiral ignorierte das störende Geräusch und konzentrierte sich auf ein anderes Holo, das eine Vergrößerung des Emissions- und Reflexionsnebels zeigte, und zwar den Sanduhrnebel. Auch er sah wunderschön aus. Ein grünes Auge mit blauer Pupille schien Tekener aus zwei roten, wabernden Ringen anzustarren, die in der dreidimensionalen Betrachtung eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Stundenglas hatten.
Nun schien sich auch die Aufmerksamkeit des schwarzen Schwans zu verlagern. Hektisch tanzte er ausgerechnet um jenes Holo herum, das Tekener ausgewählt hatte, und schickte sich an, mit seinem antiquierten Gerät die beeindruckenden Bilder aus allen nur erdenklichen Winkeln einzufangen.
Klick.
Muss das sein, Schwan?, dachte Tekener. Kannst du dir kein anderes Objekt der Begierde aussuchen?
Klick.
Natürlich wusste Tekener, dass es eine Erklärung für die seltsame Anordnung des Nebels gab. In den letzten Jahren des nuklearen Lebens eines Sterns entkoppelte sich die äußere Hülle von seinem Inneren, und beide Bestandteile drehten sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Die Magnetfelder der beiden Komponenten verstärkten sich und verschlangen sich ineinander. Die Materie, die von dem sterbenden Stern ins All geschleudert worden war, folgte im Wesentlichen diesen verbogenen Magnetlinien.
Dort waren viele Sterne gestorben, Hunderte, Tausende, und hatten so die majestätischen Konturen dieses gigantischen Stundenglases gebildet.
Aber an jenem Ort wurden auch viele Sterne geboren. Und zwar in den Globulen, den dunklen Flecken vor dem Hintergrund des Emissionsnebels, bei denen es sich eigentlich um räumlich eng begrenzte Teile der Molekülwolken handelte, die aus der Materie gestorbener Sterne hervorgegangen waren. Dort verdichteten sich Protosterne immer weiter, bis sie heiß genug für die Kernfusion waren, die dann zur Sternentstehung führte.
Aber diese Erklärungen waren so schrecklich langweilig und rational. Ronald Tekener hätte in diesem Augenblick gern auf sie verzichtet. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, betrachtete das Holo und schloss die Augen.
Er stellte sich vor, wie der begnadete Künstler sich weiterhin auf seiner riesigen Leinwand austobte. Ein junges Genie im Drogenrausch, ein bärtiges Original mit langen, vom Kopf abstehenden Haaren in einem ehemals weißen, nun farbverklecksten Kittel. Mit leicht irrem Blick tauchte er den Pinsel in die Palette und verlieh mit kräftigen, weit ausholenden Bewegungen den unwahrscheinlichsten Farbvisionen auf der schwarzen Leinwand des Alls Gestalt.
Wie trivial waren demgegenüber die Magnetlinien und -felder, die für die Form des planetarischen Nebels verantwortlich waren! Bloße Astrophysik, mit Formeln zu erfassen, schnöde Mathematik, wenn auch auf hohem Niveau.
Und doch bringt diese bloße Astrophysik, diese schnöde Mathematik, ein so farbenprächtiges, ein so eindrucksvolles Gemälde zustande, wie es keinem menschlichen Künstler je gelingen könnte, dachte Tekener.
Klick.
Er gab auf. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Viel Zeit für solche Betrachtungen und Überlegungen blieb nicht mehr. In wenigen Minuten würde dieser seltene Augenblick der Ruhe und Besinnung verwehen und der Schiffsalltag die Gedanken an kosmische Gemälde mit brachialer Gewalt verdrängen.
Er öffnete die Augen und betrachtete den schwarzen Schwan, der noch immer Verrenkungen ausführte, sich vorbeugte, den Oberkörper drehte. Klick. In die Knie ging. Klick. Sich zurücklehnte, bis er fast das Gleichgewicht verlor. Klick.
»Du kannst das Holo doch speichern und nach Belieben wieder abrufen«, sagte Tekener. »Dann hast du alle Zeit der Welt, es dir in Ruhe anzusehen und die interessantesten Perspektiven auszuwählen. Falls ich deine Tätigkeit damit einigermaßen zutreffend umschrieben habe«, fügte er nach einem Moment hinzu.
Bordingenieur Siegfried Schwan schob vor Konzentration die Zungenspitze zwischen die Lippen. »So einfach ist das nicht«, antwortete er geistesabwesend. »Es gibt mehrere Theorien der klassischen Fotografie. Man kann ein Bild sorgfältig arrangieren, man kann versuchen, einen spontanen Schnappschuss zu schießen ...« Klick.
»Und du versuchst gerade, eine gewisse ... Spontaneität zu erreichen, nicht wahr? Deshalb willst du das Holo nicht speichern.«
Schwan fuhr mit den Fingern durch den dichten schwarzen Haarschopf, dem er seinen Spitznamen verdankte, und ließ die Hand mit der Kamera sinken. »So ungefähr«, sagte er. »Momentaufnahmen sind vergänglich, und diese Vergänglichkeit versuche ich mit meinen Bildern einzufangen.
Aber meine Freischicht ist sowieso vorbei. Ich muss mich wieder um die ARGO kümmern, Admiral.«
Tekener hatte den Eindruck, dem Mann den Spaß verdorben zu haben. Er empfand allerdings nur geringes Bedauern darüber. »Die ARGO ist weitgehend robotisiert«, antwortete er. »Sie hat nur wenige Besatzungsmitglieder an Bord, unter anderem dich als Bordingenieur. Das haben wir uns von den Arkoniden abgeschaut, nicht wahr? Du kannst dir ruhig noch ein paar Minuten freinehmen.«
Der schwarze Schwan sah ihn ratlos an.
»Ich verpfeife dich schon nicht an die Schiffsleitung.« Tekener grinste, beugte sich vor und zeigte auf die Kamera. »Antik, nicht wahr?«
Schwan schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Eine EOS 5D Mark III Spiegelreflexkamera. Aber ein Nachbau, eigens für einen begrenzten Sammlermarkt hergestellt. Nicht ganz billig. Ein Original findet man nur noch in einigen darauf spezialisierten Museen.«
»Aber mit dem typischen Klicken, das die alten Fotoapparate von sich gaben. Sonst keine technischen Spielereien?«
»Nun ja ...« Der schwarze Schwan zögerte kurz. »Sie verfügt über eine Positronik-Schnittstelle.«
»Damit du die Fotos problemlos nachbearbeiten kannst?«
Der Bordingenieur sah Tekener entrüstet an. »Damit ich mit der Positronik auf sie zugreifen kann. Nachbearbeiten würde ich sie niemals. Das verstößt gegen alles, was wir uns auf die Fahne geschrieben haben. Wir machen echte Fotos, entwickeln sie selbst ...«
Mit wir meinte Schwan offensichtlich die Gleichgesinnten, mit denen zusammen er dieses seltsame Hobby betrieb. Aber er sprach nicht viel darüber. Er frönte seinen exotischen Interessen, langweilte seine Mitmenschen aber nicht mit ausschweifenden Ausführungen dazu.
Tekener hätte gern etwas mehr über das Hobby des Bordingenieurs erfahren, doch die Zeit wurde nun wirklich knapp. Noch fünf Minuten bis zum Linearraumaustritt.
Der Admiral warf noch einen Blick auf das Holo. Der Lagunennebel war etwa 5100 Lichtjahre von Sol entfernt, und Bordingenieur Siegfried Schwan hatte mit seiner altertümlichen Kamera die Echtzeit-Holos des Nebels von außen fotografiert. Er hatte zuletzt Bilder vom hellsten Teil des Nebels gemacht, der sich in der Region befand, die wegen ihres Aussehens eben auch »Sanduhrnebel« genannt wurde.
»Er sieht wirklich aus wie ein Stundenglas, nicht wahr?«, fragte Tekener, um einen versöhnlichen Abschluss des Gesprächs herbeizuführen.
Der leidenschaftliche Fotograf sah ihn fragend an.
»Er sieht aus wie eine Sanduhr. Wie ein Stundenglas?«, half Tekener nach.
Schwan schüttelte den Kopf.
Natürlich! Tekener fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Namensgeber für den Nebel, Stundenglas, war ein Wort, das ein Mensch des Jahres 1514 NGZ normalerweise nicht mehr automatisch einem Gegenstand zuordnen konnte, auch wenn er sich als Begriff gehalten hatte. Tekener fielen auf Anhieb weitere solche Namen ein: Backfisch, Lichtspielhaus, Gänsewein und Käseigel.
»Eine Sanduhr, auch Stundenglas genannt«, erklärte er Schwan, »ist ein einfaches, seit Anfang des 14. Jahrhunderts alter Zeitrechnung bekanntes Zeitmessgerät.«
»Zeitmessgerät?«, wiederholte der Bordingenieur. »Daher also die Stunden. Aber das Glas?«
»Die ersten Sanduhren bestanden aus zwei einzelnen Glaskolben, die an ihrem Hals miteinander verbunden waren. In einen Teil füllte man Sand und drehte das Ding dann um. Man musste die Menge so bemessen, dass der Durchfluss des Sandes eine bestimmte Zeit benötigte. Aber die Verbindungsstelle nutzte sich durch den Gebrauch der Uhr langsam ab. Schließlich rieselte der Sand schneller durch die Blende, und die Laufdauer der Sanduhr verringerte sich.«
»Ich verstehe. Also war das Zeitmessgerät ziemlich unzuverlässig.«
»Später wurden die Sanduhren aus einem Stück gefertigt, und man füllte den Sand über eine kleine Öffnung im Glasboden ein, die mit Wachs oder einem Korken verschlossen wurde. Irgendwann wurden sie dann durch nachträgliches Verschmelzen der Einfüllöffnung vollständig versiegelt.«
»Das Prinzip ist mir klar«, sagte der schwarze Schwan.
Tekener hatte den Eindruck, dass er den Bordingenieur langweilte. Dass er ihm Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählte, an denen der technisch orientierte Mann wirklich nicht interessiert war. Plötzlich bereitete es ihm ein kindisches Vergnügen, sich für das permanente Klickgeräusch der Kamera zu rächen, mit dem Schwan seine besinnliche Stimmung zerstört hatte.
»Noch später wurde dem Stundenglas dann eine metaphysische Bedeutung zugeordnet. Es wurde zum Bild für das Leben. Das Glas, durch das der Sand der Zeit unerbittlich verrinnt. Oder auch der Sand des Lebens. Anfangs ist das obere Glas scheinbar bis zum Rand gefüllt, während das untere völlig leer ist. Dann beginnt der Sand zu rieseln. Irgendwann ist der Gleichstand zwischen den beiden Gläsern erreicht, und dann kehrt der Prozess sich um. Und wenn das obere Glas dann endgültig leer ist ... Finis. Ende. Aus und vorbei.«
Tekener fragte sich, mit wie viel Sand sein persönliches Stundenglas gefüllt war. Und wie viel sich noch darin befand. Als Träger eines Zellaktivatorchips war er potenziell unsterblich. Aber eben nur potenziell. Ein riskanter Einsatz zu viel, und das obere Glas war mit einem Schlag leer und das untere bis zum Rand gefüllt ...