O. Trilling
Wo sind die Engel geblieben?
Kira
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Epilog
Impressum neobooks
Der Bundespräsident unseres Landes Herr J. Gauck hat an die Regierung Russlands appeliert, sie sollte sich wie die Deutschen für die Verbrechen, die die Sowjetunion seinem Volk gegenüber begangen hat, entschuldigen.
Die Antwort lautete: die Sowjetunion hat in all’ den Jahren ihrer Existens keine Verbrechen gegen wen es auch sei begangen und hat keinen Grund sich vor irgendjemanden zu entschuldigen.
Ich möchte gerne, dass diese Beamten in die Augen dieser Menschen sehen, von denen in meinem Buch die Rede ist.
Das sind (vielleicht heute schon „waren“) real existierende Personen, dessen Schicksal verstümmelt und ruiniert wurde und sie schuldlos in Verbannung gingen, wo große Massen von ihnen auch ihr Leben gelassen haben
Ich hatte meine „Engel“ bereits aufgegeben.
Wozu die Vergangenheit wieder aufrühren?
Aber die Ereignisse der letzten Tage machten mich nachdenklich...
Ich hatte die ersten Kapitel meines Manuskripts über die verlorene junge Generation in der Sowjetunion, die ihre Freiheit, ihr Leben ganz am Anfang ihrer Karriere auf so schreckliche Weise hatte abgeben müssen, geschrieben als das unentwirrbare Durcheinander in der ehemaligen UdSSR der dreißiger Jahre noch in aller Erinnerungen war, uns noch immer in Schrecken hielt und es war keine Klarheit in der politischen Strategie, was aus den Ruinen dieses ehemaligen riesigen sozialistischen Lagers entstehen würde.
Wieder ein Diktatoren Staat mit allen daraus entstehenden Folgen, oder…?
Und dieses „oder“ war so unbestimmt, so ungewiss, wie auch unser ganzes gekentertes Leben.
Gerade in dieser Zeit hatte ich das Verlangen meine Geschichte darzulegen über diese ungewöhnliche mutige junge Frau, die ich das Glück hatte kennen zu lernen, dessen Schicksal, wie auch das Schicksal vieler Intellektueller in der Sowjetunion von dem grausamen Politsystem gebrochen und verkrüppelt war. Das System, dass von einem Individuum nur Gehorsam und Unterwerfung verlangte.
Ein Mensch mit einer anderen Meinung wurde sofort als Regimegegner mit allen daraus folgenden Ergebnissen abgestempelt.
Ich hoffte und freute mich, dass wir endlich diese unberechenbare grausame Periode unseres Lebens überstanden und hinter uns gelassen hatten. Ich dachte, dass endlich die Zeit gekommen ist, wo man ohne Angst seine Meinung laut aussprechen darf.
Die Zeit der Dialoge zwischen dem Volk und den Machthabenden sei endlich da.
Deshalb sollte man nun die ehemaligen Ängste und Leiden der schuldlos Verhafteten, Verbannten und für immer Verschollenen vergessen.
Vergessen… Die ganze schreckliche Vergangenheit vergessen und hinter uns lassen…
Ich legte mein Manuskript zur Seite und bestattete diese ganze Geschichte, die mich einst sogefesselt und erregt hatte.
Die Ereignisse der letzten Tage in Russland erweckten meine Erinnerungen...
Vielleicht wäre es doch besser inne zu halten…? Stehen zu bleiben, um zurück zu blicken…
November 2012
Wo sind die Engel geblieben?
Der Zug eilte von Moskau fort in die Dunkelheit der Nacht. Die Lichter der weit voneinander gelegenen Zwischenstationen loderten unerwartet, wie ein fliegender Komet und beleuchteten für einen Augenblick die Abteile, die Gesichter der Fahrgäste, die friedlich auf ihren Ruheliegen schliefen.
Kira lag auf dem oberen Platz und hatte ihr Gesicht im Kissen vergraben. Ihr Kummer war untröstlich, aber weinen konnte sie nicht, jetzt nicht mehr. Die Erinnerungen an all’ die Ereignisse der vergangenen Wochen zerrten an ihrem Herzen. Sie wusste jetzt, dass ihre Lage ausweglos war, und wie viele Menschen in ähnlichen Situationen stellte auch sie sich immer wieder die verzweifelte Frage:
„Warum, aber warum musste das alles mir passieren? Warum mir?“
Sie fand keine Antwort, hätte sich gerne entspannt, hoffte auf ein Wunder, das ganz plötzlich alles zum Besten ändern würde…
Unter ihr auf ihrem Bett saß ein vierjähriges Mädelchen, das mit ihrer Großmutter irgendwohin in den Fernen Osten Russlands fuhr. Die Großmutter war sehr zurückhaltend, sah misstrauisch zu Kira hoch und unterband jeden Versuch des aufgeweckten Enkelkindes Kira etwas von sich zu erzählen.
Die Kleine konnte nicht einschlafen und belästigte ihre Großmutter mit allerlei Fragen.
„Omilein, Omi, habe ich einen Schutzengel?“
„Aber, ja doch, alle haben einen Engel und auch du.“
„Und beschützt er mich auch?“
„Und wie! Er beschützt dich vor jeder Gefahr.“
„Und die anderen Menschen da draußen, haben die auch ihre Engel?“ drängte das Kind weiter.
„Klar doch. Alle, alle haben einen Engel der sie beschützt“, tröstete die Großmutter das Kind. „Und wo bleiben die Engel, wenn den Menschen etwas Böses passiert?“ fragte die Kleine ganz unerwartet nach einer Pause.“ Wo war Mamis Engel geblieben, als…“
Die Großmutter unterbrach das Kind mit ihrer heiseren Stimme:
“Jetzt ist aber Schluss! Lass diese unnötige Fragerei! Schlaf endlich!“
Kira sah zärtlich hinunter auf das zerzauste Köpfchen der Kleinen…
Das Abschiedsfest hatte nicht stattgefunden.
Die Absolventen der Architekten-Universität in Leningrad, die sich während der Vorbereitung zur Diplomarbeit befreundet hatten, waren jetzt in Rims Zimmer zusammengekommen um endlich den Abschluss des Studiums zu feiern.
Nachdem man ihnen ihre Diplome ausgehändigt hatte, konnten sie sich noch lange nicht beruhigen, nach den Gratulationen und Geleitworten und dem danach folgenden Meeting, wo selbst der legendäre Genosse Kirow ihnen die Botschaft der Sowjetregierung vorgelesen hatte. Es war kaum zu glauben: Genosse Stalin hatte sich in dieser Botschaft an die jungen Architekten gewandt. Er hatte sie eigenhändig unterschrieben! Alle Anwesenden applaudierten einmütig im Stehen, vom Gefühl der Einmaligkeit und der Besonderheit dieser Begebenheit ergriffen- weil selbst der Führer aller Sowjetbürger der Große Stalin von ihnen wusste und an sie gedacht hatte! Er hatte die Hoffnung geäußert, dass die jungen Architekten ihren Beitrag zum Aufbau des Kommunismus, zur Errichtung einer neuen sozialistischen Architektur liefern würden.
Kira und Rim standen in der zweiten Reihe, unmittelbar vor ihnen waren auf dem Podium die Rednerbühne und dahinter der allen Leningrader unendlich vertraute Genosse Kirow.
Er applaudierte ebenfalls, hob von Zeit zu Zeit beschwichtigend seine Hände, rief damit aber eine noch größere Begeisterung der jungen Architekten hervor, die immer weiter in ihre bereits angeschwollene Hände klatschten…
Der Spaßvogel und Artjom Lada, der Liebling aller Studenten stand neben Kira und rief in den dröhnenden Beifall hinein:
„Klatsche Beifall, lauter klatsche.
Das hilft dir aus jeder Patsche!“
Kira musste zuerst lachen, erschrak aber, als ihr die Zweideutigkeit seiner Verse bewusst wurde. Sie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, ob nicht noch jemand diesen rebellischen Ausruf gehört hatte. Aber die Blicke aller jungen Leute waren auf die Bühne gerich-tet, wo die Stadtregierung mit dem Grossen Kirow an der Spitze stand.
Kira sah Artjom vorwurfsvoll an. Seine Augen sprühten ein verwegenes, teuflisches Funkeln aus, das von Natur aus außergewöhnliche Menschen kennzeichnet. Er war tatsächlich ein besonderer Mensch, dieser Artjom Lada. Seine Aquarellgemälde sprühten voller Sonne und Licht. Seine vielseitige Begabung als Maler, als Poet, als Architekt erregte Staunen in den Gemütern. Aber eins war Artjom fremd. Ihm fehlte die Vorsicht eines Diplomaten. Er war aufrichtig, ohne Heuchelei und bewegte sich deshalb stets auf Messersschneide mit seiner Schlagfertigkeit, seinen wie Pfeile fliegenden spitzen Witzen und Aphorismen.
Artjom war beliebt, um Artjom machte man sich Sorgen.
Und auch jetzt konnte Kira ihrer Unruhe nicht mächtig werden. Artjoms witziger Ausfall war nicht ganz harmlos. Er konnte dafür teuer bezahlen.
Kira erinnerte sich plötzlich an die Eröffnung noch eines Denkmals, das Genosse Stalin gewidmet war. Die Studenten waren zu dieser Feier „eingeladen“. Artjom äußerte sich dazu „wir dürfen doch nicht noch diesen Sonnenaufgang verpassen!“
Der politische Pathos, der mit den Namen der kommunistischen Führer verbunden war, nahm er mit großer Skepsis an und sagte im Vertrauen zu Kira:
„Das Schlimmste ist das Entstehen des Abgotts in der Politik. Dafür hat die Menschheit noch immer teuer bezahlen müssen.“
Und auf diesen Jüngling warteten nun die frischgebackenen Architekten.
Er verspätete sich gewöhnlich, aber länger als fünfzehn Minuten ließ er nie auf sich warten. Rims Finger glitten gewandt über die Saiten der Gitarre und lockten eine sanfte Melodie hervor. Schließlich erhob er sich entschieden von seinem Platz und sagte:
„Ich rufe ihn jetzt an. Ich hätte ja noch Geduld, aber der gedeckte Tisch kann nicht mehr warten.“
Die Freunde, welche sich bisher lebhaft unterhalten hatten, mussten lachen.
Sie hatten sich verabredet ihren Abschluss in Rims Zimmer der Kommunalwohnung zu feiern. Diese Kommunalwohnung bestand aus sechs Zimmern, die von verschiedenen Familien bewohnt waren. Vor der Revolution gehörte die ganze Wohnung einem Zahnarzt, der hier erfolgreich praktiziert hatte. Später, als der Zahnarzt enteignet wurde, waren hier Angestellte der Sowjetbehörden einquartiert. Auch Rim, der zu dieser Zeit im Hafen von Leningrad Lastträger war, bekam ein Zimmer zugewiesen.
So lebten (und leben noch heute in den Großstädten der ehemaligen Sowjetunion) ganz verschiedene Familien in solchen überbevölkerten Wohnungen, teilen sich eine Küche, ein Bad (falls es vorhanden ist) und eine Toilette und genießen den neun sozialistischen Realismus.
Das Telefon war ganz am Ende des langen dunklen Korridors angebracht. An den Wänden hingen Fahrräder, Waschtröge und sonstiger Kram. Kinder spielten hier, Frauen eilten mit ihren Kochtöpfen aus der Küche in ihre Einzelzimmer und hinterließen einen langen Appetit erregenden aromatischen Schleif.
Rim wählte die Nummer von Artjoms Wohnung, musste lange warten, bis endlich jemand den Hörer abhob.
„Hallo! Hier ist Rim. Guten Tag. Ich möchte gerne mit Artjom sprechen.“
Ein langes Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung.
„Hallo! Sind Sie noch da? Hallo!“ wiederholte Rim.
„Ja“, antwortete endlich eine gepresste Frauenstimme.“ Artjom wurde heute am frühen Morgen abgeholt. Oh, mein Junge…“ Die Frau weinte plötzlich laut.
„Was heißt „abgeholt“? Weshalb? Wohin“? stammelte Rim unbewusst. „Warum?“
„Niemand weiß, warum…“
„Ich komme sofort zu Ihnen.“
Artjoms Mutter geriet in Erregung:
„Nein, nein, nur nicht jetzt. Nur nicht heute. Heute in keinem Fall! Vielleicht später einmal. Rufen Sie in zwei - drei Tagen an…“
Rim stand eine Weile fassungslos da, bevor er sich entsann ins Zimmer zurückzukehren.
Er konnte nicht begreifen, was er soeben gehört hatte, rieb sich verwirrt die Stirn.
„Artjom! Weshalb denn Artjom? Was hat das zu bedeuten?“ Vor drei Tagen noch rannte auf dem Hof verwirrt eine Frau umher und jammerte laut, dass ein Schauder über den Rücken lief. Sie schrie laut:
„…nehmt auch mich, auch mich! Auch die Kinder! Nehmt alle! Alle!...“
Weit öffnete sich die Tür. Kira sah Rim erwartungsvoll an.
„Also, was ist nun, kommt er endlich?“
Rim umarmte sie und drückte sie fest an sich:
„Kira!“
„Was ist passiert?“ fragte Kira erregt. Ihr wa klar, dass sich etwas Schreckliches ereignet hat. Im Zimmer herrschte eine drückende Stille.
„Kameraden“, sagte Rim. „Kameraden, heute am frühen Morgen wurde Artjom verhaftet.“
Ein unterdrücktes Weinen durchbrach die Stille…
Hinter dem Rücken der Kommilitonen, den Kopf auf den Tisch fallen gelassen, weinte die „Schöne Jelena“.
Vom ersten Semester an war dieses bildhübsche Mädchen mit den großen grünen Augen in Artjom verliebt. Sie war eine bezaubernde Erscheinung. Die Natur hatte es sehr gut mit ihr gemeint. Ihr ganzes Wesen sprühte einen besonderen Scharm aus. Außer ihrer unwiderstehlichen Schönheit, besaß sie dazu noch die Begabung einer Malerin.
Das Talent der Porträtmalerin zeigte sich bereits im ersten Semester. Sie entwarf eines Tages mit einem Bleistift Kiras Profilbild und brachte damit ihre Kommilitonen ins Staunen. Mit zwei-drei Strichen hatte sie es geschafft die Eigenartigkeit von Kiras Charakterzügen wiederzugeben.
„Du bist eine Lyrikerin“, hatte Artjom damals gesagt. „Es ist entzückend, was du da vollbracht hast. Dieser Fetzen Papier strahlt solche Wärme aus, als wäre Leben in ihm.“
Niemand konnte auch nur ahnen, welche Bedeutung diese Worte für Jelena hatten. Sie fühlte sich ermutigt, beflügelt… Sie war glücklich. Jelena verbrachte seit dieser Zeit jede freie Minute an der Staffelei. Sie entschloss sich eine Gemäldegalerie der Helden der Revolution zu schaffen. Die Niederschlagung der Weißgardistenaufruhr in dieser Stadt der Wiege der Revolution hatte eine Zahl von Kommissaren als Helden hervorgehoben.
Und diese Helden malte Jelena nun in ihrer Freizeit. Die patriotischen Neigungen der jungen Studentin wurden mit einer Ausstellung ihrer Gemälde in den Räumen der Universität belohnt und diese Ausstellung hatte Erfolg.
Artjom sah sich die Gemälde ebenfalls an. Schweigend ging er an jeden Porträt vorbei. Vor den Einigen hielt er sich länger auf und je weiter er kam, desto düsterer wurden seine Züge. Jelena folgte ihm auf Schritt und Tritt, sah seine Launenwandlungen und fragte endlich beunruhigt:
„Was, Artjomuschka? Sag doch was. Was hältst du von meiner Pinselei? Ist es mir gelungen den Mut, die Zielsicherheit auf meine Bilder zu übertragen? Die Gesichter dieser Helden sprühen ein besonderes Licht aus. Es ist unmöglich sie nicht zu bewundern.“
Artjom sah Jelena an, als wollte er prüfen, ob sie es wirklich ernst meinte.
„Ein besonderes Licht, meinst du? Vielleicht so was, wie ein Funke Gottes?“
„Was redest du da, Artjom?“ die Atheistin in ihr war empört. “Was für ein Funke Gottes? Ich habe ja keine Apostel gemalt!...“
„Ach ja, was rede ich denn von Apostel? Es wäre wohl angebrachter von Dämonen zu sprehen…„
„Ich verstehe nicht, was du meinst, Artjom. Aber warum eigentlich auch nicht?. Der Dämone erhob sich gegen Gott. Er ist ein rebellierender Geist und mir deshalb näher, als die Gebote Gottes - du sollst nicht begehren, du sollst nicht…“
„töten“, fiel Artjom ihr ins Wort.
„Worüber streitet ihr?“ unterbrach die Beiden der unbemerkt herangeschlichene Jakow Telegin. „Über Gott?“
„Wohl eher über den Teufel!“ sagte Jelena, erhob ihr hübsches Köpfchen und verließ die Beiden.
„Was hat sie?“ fragte Jakow und sah Artjom ins Gesicht.
„Nichts Besonderes. Sie debattiert nun mal gerne.“
„Dir aber würde ich raten weniger zu philosophieren“, belehrte ihn Jakow.
Er war allgegenwärtig, dieser Jakow. Ganz unerwartet tauchte er gewöhnlich auf, wenn die Diskussion der Studenten ihren Höhepunkt erreicht hatte. Alle nahmen sich vor ihm in Acht. Er wurde heimlich „Ucho“ (russisch „Ohr“) genannt. Jakows Bruder war ein hohes Licht im Sicherheitsdienst. Ucho hatte das nie erwähnt, aber seine Kommilitonen wussten es und waren auf der Hut. Jakow trat in den Versammlungen stets mit großem Pathos auf. Er brandmarkte mit allerlei bourgeoisen Ränken die Jugend, die sich pflegte nach der Mode zu kleiden. Er selbst hatte stets ein schlichtes russisches Hemd mit einem schmalen Gürtel über der Hose an. An den Füssen grobe Arbeitsschuhe. Im Winter hatte er eine Tuchjacke an, welche die Matrosen trugen. Eine besondere Einzelheit seiner Kleidung war eine Schirmmütze, wie sie Lenin getragen hatte. Einen Hut auf dem Kopf eines Mannes betrachtete er als Protest gegen die kommunistische Moral. In Gesprächen mit seinen Kommilitonen unterstrich er stets mit Stolz seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie. Im Studium war er nicht besonders erfolgreich. Die Wissenschaft war ja auch nicht das wichtigste für einen Komsomolzen (Mitglied des kommunistischen Jugendbundes), einem Kämpfer für die kommunistische Zukunft der jungen sozialistischen Heimat, die die Fesseln der Unterdrücker abgeworfen hatte.
Plötzlich fragte ihn Artjom so ganz nebenbei:
„Jascha, was hältst du von Ludwig van Beethoven?“
Entrüstet sah Jakow Artjom an, überlegte kurz und sagte empört:
„Alles, was aus dem Ausland kommt, mag ich nicht. Ich hasse Helfershelfer und Spießgesellen!“
„Oh, das tut mir aber leid für dich“, bedauerte Artjom, “ Beethoven war nämlich einer der beliebtesten Komponisten von Genosse Lenin,“ sprach es und verließ die Halle.
Am nächsten Tag rief die Nachbarin Rim am frühen Morgen ans Telefon. Er zog sich ganz schnell ein Hemd über, rannte aus seinem Zimmer zum Telefon am anderen Ende des dunklen Korridors.
„Guten Morgen“, Rim erkannte sofort die Stimme von Artjoms Mutter und atmete erleichtert auf.
„Ich möchte Dich sehen“, sagte Frau Lada.“ Ich komme um zwölf Uhr zu der Peter und Paul-Festung. Da ist immer viel Volk. Ich werde dort auf Dich warten.“
Beide nannten keine Namen. Alle Telefongespräche wurden von der Staatssicherheit abgehört, das wussten beide. Artjoms Mutter rief Rim deshalb aus einer Telefonzelle an.
Zu der Vassilyevski-Insel musste Rim mit der Straßenbahn fahren und zweimal umsteigen. Der Juli in Leningrad war in diesem Sommer ausnahmsweise wunderschön. Der Dauerregen, der in dieser Stadt am Meer etwas Selbstverständliches war, hatte der Sonne den Platz überlassen. Und diese schenkte ihre Wärme allem, als wollte sie die ewig nassen Brücken und Strände vor dem vom Regendurchtränkten Herbst gründlich trocknen. Alles in der Natur genoss diese unvorhergesehene Sonne.
Die Straßenbahn glitt den Nevsky-Prospekt entlang. Das grelle Sonnenlicht blendete Rim. Er beobachtete die Fahrgäste. Dieses hübsche Mädchen, das ihm gegenüber saß, lächelte geheimnisvoll. Was macht sie wohl so glücklich? Und dieser Jüngling, der in ein Buch vertieft war, ist er vielleicht ein Student?
Ohne jegliche Hast stiegen die Fahrgäste in die Straßenbahn ein und aus. Plötzlich empfand Rim ein unerklärliches Glücksgefühl. Wie schön es doch war in dieser einmalig wunderbaren Stadt mit ihren freundlichen, zuvorkommenden Bewohnern zu leben. Sie haben durch ihren Fleiß und Talent die Pracht der Isaak-Kathedrale, die Erlöserkirche, mit ihren fünf gegen den Himmel strebenden Türmen errichtet. Die erstaunlichen Fresken an den Wänden, die sich so übereinstimmend der Architektur der Kirche anpassen. Diese ergreifende mit der Natur verbundene Farbenskala verleiht dem riesigen Bauwerk eine Leichtigkeit und Eleganz. Luft und Wasser waren die grundsätzliche Basis dieser Projekte der ersten Architekten, die die steinernen Ornamente der Brücken und Bauten schufen.
Rim erinnerte sich an die Spaziergänge durch Sankt Petersburg gemeinsam mit seinem Vater. Fast jeden Tag wanderten sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt. Von Zeit zu Zeit blieben sie schweigend vor den einmaligen Gebäuden oder Tempeln stehen. An manchen Tagen kamen sie bis zur Spitze der Vassilevsky-Insel und bewunderten die Erhabenheit der Rostralsäulen, die aus dem Granit der Kaie hervorragten, als wollten sie den von Wolken verschleierten Himmel stützen.
Oh, Vater Rim schweifte in Gedanken in seine ferne Kindheit zurück, an die er sich stets mit einer außergewöhnlichen Zärtlichkeit erinnerte. Arkadi Granovsky war ein Mann von Format. Professor an der Universität, ein hervorragenden Linguist, der Liebling aller Studenten. Er hatte einen lyrischen Bariton, sang gerne russische Romanze, spielte Klavier und war ein vortrefflicher Gesprächspartner. Der Revolution war er wohlwollend entgegengetreten, obwohl er für Plechanov schwärmte und die Ideen für die Notwendigkeit der allgemeinen Grundschulbildung für alle Arbeiter und Bauern unterstützte.
„Nein, mein Bester,“ sagte er zu seinem Freund Dmitri Raspopov, „man darf keine Revolution entfesseln indem man die Analphabeten bewaffnet, sonst verwandelt sich der Aufstand in eine böswillige Massenvernichtung der wohlhabenden Klassen und keine Macht der Welt kann sie jemals wieder bändigen.“
Später, als die Revolution wie ein Wirbelsturm über Russland fegte und ihre blutigen Spuren hinterließ, verfiel Professor Granovsky in eine tiefe Depression. Er saß tagelang in seinem Arbeitszimmer, nahm kein Buch in die Hand, keinen Bissen zu sich. Aber als ihn einst sein Freund Dmitri besuchte, der vor freudiger Aufregung strahlte, schien es als wäre der Vater endlich wieder erwacht.
Dmitri Raspopov leitete nun eine Kommission für die Bekämpfung der Konterrevolution.
Die Freunde tranken gemeinsam eine Tasse Tee, während Rims Vater seinem Freund zuhörte, aber das Geschenk, die Kommissaren Verpflegungsrate, die aus einem Laib Brot, einem Päckchen Zucker und Tee bestand, ablehnte. Als Raspopov das Haus verlassen hatte, ging der Vater noch lange in seinem Zimmer auf und ab, so als debattierte er noch weiter mit einem vermeintlichen Opponenten.
Rim erinnerte sich, dass Wochen später, als der Vater wieder seinen Dienst in der Universität übernommen hatte und deshalb an Versammlungen teilnehmen musste, er einst sehr aufgeregt nach Hause gekommen war.
„Du fragst, was mit mir los ist?“ sagte er zu seiner Frau, als sie am Abend beieinander saßen. „Ich versuche mir unsere Zukunft vorzustellen und das, was ich da sehe, zerreißt mir das Herz. Wir züchten ganz bewusst ein Monstrum auf, das einen jeden vernichten wird, der es wagt frei zu denken. Nur ein bestimmtes Modell von Menschen mit einem vorbestimmten Handlungsprogramm wird ein Recht haben zu überleben. Kannst du dir vorstellen, Maschenka, ich werde nur das tun dürfen, was mir dieses Monstrum genehmigt. Ich werde in diesen Schranken leben müssen, welche meiner Stellung zugewiesen sind. Ich und alle meinesgleichen werden die eigenen Gedanken nicht mehr äußern dürfen. Wir werden Herolde unseres Herrschers sein…“
Der Vater schwieg eine ganze Weile. Seine Frau streichelte ihm sanft den Rücken, wie man kleine Kinder vor dem Schlaf streichelt, damit sie sich beruhigen.
„Ach, was soll’s. Lass uns schlafen gehen“, winkte der Vater verzweifelt ab.
In derselben Nacht erlitt er einen Herzanfall und am frühen Morgen war er gestorben. Der Vater war so plötzlich gegangen, dass Rim zuerst nicht einmal den Verlust begreifen konnte. Erst Jahre später, als er schon erwachsen war, wurde ihm bewusst, wie sehr ihm sein Vater fehlte.
Die Erinnerungen hatten Rim vom Ziel seiner Fahrt durch die Stadt abgelenkt. Als die Schaffnerin seine Haltestelle verkündigte, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Eine unerklärliche Unruhe überkam ihn plötzlich.
“Was ist mit mir los?“ dachte Rim. “Die Angst raubt mir meine Selbstbeherrschung, die Möglichkeit sachlich zu handeln. Ich muss mich beruhigen. Vielleicht ist ja noch nichts passiert. Ach, Artjom, was hast du nur falsch gemacht?“
Auf dem Geländer der Festung herrschte große Belebtheit. Mütter spazierten hier mit ihren Kindern, Bürger aus den entfernten Gegenden des großen Landes drängten sich durch die Menschenmenge. Besonders viel Besucher waren aus Zentralasien. Sie fielen auf durch ihre bunten viereckigen Käppchen (Tjubetjejka) und den gestreiften orientalischen Mänteln, den funkelnden asiatischen Onyxaugen. Die langen Zöpfe der Mädchen schlängelten sich wie im Zaubertanz bei ihren Bewegungen.
Die bunte Menschenmenge hatte Rim aufgefangen. Er musste sich große Mühe geben, um den Platz zu erreichen, wo er mit Artjoms Mutter verabredet war.
„Rim, mein Junge. Guten Tag,“ Rim erkannte sofort ihre Stimme. Sie stand plötzlich hinter ihm.
„Oh, mein Gott!“ Rim hatte sie kaum erkannt. Diese stets gutgelaunte zierliche Frau schien noch kleiner geworden zu sein. Ein Ausdruck der Verzweiflung in ihren Augen, zwei tiefe Furchen hatten sich in den Mundwinkeln eingeprägt.
Sie hielt vor ihren Lippen ein kleines weißes Batisttüchlein mit feinen Spitzen an den Ecken. Wie gefesselt sah Rim auf dieses kleine Schmuckstück, dass so gar nicht in diese Situation passte .Noch Tage später erinnerte er sich an dieses Randezvous mit Anna Matweevna und ihm wurde bewusst, weshalb an diesem Tag dieser kleine Stofffetzen ihn so verwirrt und stutzig gemacht hatte - das war das letzte Zeichen des für immer vergangenen ruhigen Lebens mit dem aufregenden Duft des teueren Parfüms der schönen Frauen, dem Klang der reizenden Mazurka an Weihnachtsballen, mit den bezaubernden Märchen von Puschkin, die die Phantasie der Kinder erregten. Unbewusst ganz instinktiv fühlte Rim: die Zeit der anderen Accessoire ist gekommen. Jetzt müssen große Taschentücher her, die das Meer der Tränen der Mütter und Frauen auffangen könnten.
Nach einem kurzen Schweigen fuhr Anna Matweevna fort:
„Ich muss dich bitten, Rim, mich nicht zu besuchen. Und sag’ es auch den anderen Kameraden Artjoms. Niemand darf mein Haus betreten. Der Ehemann meiner Bekannten wurde verhaftet und später hat man alle abgeholt, die die Frau besucht haben. Hast du mich verstanden, Rim?“
Es schien, als hätte sie sich plötzlich beruhigt.
„Und Rim, bitte rufe mich auch nicht an“, fügte sie noch hinzu. “Ich werde dich selbst anrufen aus einer Telefonzelle.“
„Anna Matweevna, ich wollte sagen, wir müssen doch etwas unternehmen. Wir wollen einen Brief…“
„An wen? Wohin? Ach, Rim, das ist doch wie ein Schneeball: nach jeder Verhaftung folgen noch viele anderen. Man hat mir versprochen zu helfen. Ich warte auf einen Anruf… Ich hoffe… ich weiß nicht…“
Rim sah die zierliche Frau an, die vergebens versuchte ihre Verzweiflung zu verbergen.
Er wusste nicht was er sagen, wie er sie trösten sollte. Seine Unbeholfenheit quälte und ärgerte ihn.
„Rim“, Anna Matweevna umarmte plötzlich den hoch gewachsenen Jüngling, wie ein kleines Kind und drückte ihn an sich.
“Lebe wohl! Pass auf dich auf!“ und sie verschwand genau so unbemerkt in der Menschenmenge, wie sie zuvor gekommen war.
Jelena eilte den Nevsky-Prospekt entlang. Ihre Füße berührten kaum das Pflaster. Ihr ganzes Wesen sprühte eine ungeheuere Energie aus. Die Passanten räumten dieser glanzvollen und entschlossenen Erscheinung wortlos den Weg.
„Ich muss Rim sehen. Sehen muss ich ihn. Er hat bestimmt mit Artjoms Mutter gesprochen und alles erfahren.“ Jelena hatte sich nach der schrecklichen Nachricht bald gefasst und ihre Strategie ausgearbeitet. Nach Artjoms Verhaftung hatte sie sofort alle ihre einflußreichen Bekannten angerufen, auch die Helden aus ihrer Galerie hatte sie aufgesucht, ihnen kurz die Ereignisse geschildert und verlangt sich einzumischen um die Gerechtigkeit wiederherustellen. Wassily Streschnev, ein ehemaliger Kommissar, Held der Revolution, dem seinerzeit besondere Ehrenauszeichnungen verliehen wurden, den Lenin persönlich kannte, saß tief in seinem Sessel, den er von einem von ihm persönlich erschossenen Marineadmiral übernommen hatte.
Er sah Jelena schlau an und fragte gutgelaunt:
„Na, mein Mädchen, mir kannst du es doch gestehen. Du bist doch verliebt in diesen…wie heißt er doch nun? Jeremej?“
„Artjom, “ sagte Jelena deutlich und schroff.“ Er ist ein sehr begabter Architekt…“
„Kann ja sein, dass er so begabt ist, wie du es sagst. Aber hat er da nicht irgendetwas angerichtet…?“
„Was?!“ brauste Jelena auf. “Solche Sowjetbürger, wie Artjom verschönern unsere Heimat mit ihren Talenten. Wassili Andreevitch, sie müssen alles tun, was in ihrer Macht steht.“ Sie beugte sich vor dem Sessel nieder, legte ihre Hand auf sein Knie, sah dem Kommissaren flehend in die Augen und wiederholte:
„Bitte, bitte, mein lieber Wassili Andreevitch. Sie können doch mir meine Bitte nicht abschlagen. Sie besitzen doch so eine große Macht.“
„Ach du Kommissarin“, dachte Streschnev, als Jelena sein Zimmer verlassen hatte. “Du müsstest Armeen in den Kampf führen.“
Er hob den Hörer ab um seinen alten Frontkameraden anzurufen.
Jelena drückte so lange auf den Knopf, bis Kira endlich die Tür öffnete.
„Kiiiirrraaa,” heulte Jelena plötzlich, wie ein kleines Kind. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Ihre Energie reichte nur bis zu dieser vertrauten Tür ihrer Freunde.
„Lenotschka, bitte, beruhige dich. Komm doch herein. Grischa ist da. Erinnerst du dich an ihn?“
Selbstverständlich erinnerte sich Jelena noch an Grigori Pomeranzev. Er hatte auch an der Uni studiert und ging ganz unerwartet nach dem dritten Semester in die Militärschule, aber seine ehemaligen Kommilitonen hatten ihn nicht vergessen.
Er blieb in ihrer Erinnerung als gut erzogener, strammer, stets sorgfältig gekleideter Jüngling. Von Anfang an hatte er sich mit Rim befreundet und besuchte ihn gelegentlich.
Im Zimmer mit dem großen Fenster feierte die Sonne ihr Jubelfest. Ihre Strahlen durchdrangen alle Gegenstände aus Glas, vermehrten sich darin und widerspiegelten an den Wänden.
Jelena blieb einen kurzen Augenblick im Türrahmen stehen. Sie musste ihre Augen schließen, weil das grelle Sonnenlicht nach dem dunklen Korridor sie geblendet hatte.
Die jungen Männer erhoben sich, um Jelena zu begrüßen.
„Bitte, Jelena, nimm Platz“, bot Rim ihr einen Stuhl an.
„Rim, du hast schlechte Nachrichten“, sie fragte nicht, sie bestätigte.
„Was hast du erfahren? Erzähle! Was hat Anna Matweevna gesagt? Ich weiß nur, dass man Artjom nachts abgeholt hat, aber keine Einzelheiten.“
„Ich schlage vor, wir müssen alle zum Rektor gehen, oder gemeinsam einen Brief an Genosse Kirow schreiben. Ich weiß einfach nicht… Grigori hat versprochen…“
„Ja“, Grigori ging im Zimmer auf und ab. “Das ist alles so kompliziert, so verwickelt... Ich muss mich morgen bei General Nikitin melden, bei dem Divisionskommandeur. Vielleicht kann ich durch seinen Dienstbereich etwas erfahren. Auf jeden Fall werde ich es versuchen. Aber, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass es euch gelingen wird etwas vor dem Gericht zu erfahren.“
„Wovon redest du?!“ brauste Jelena auf. „Was für ein Gericht? Du glaubst doch nicht etwa, dass Artjom…“
Grigori war vor Jelena stehen geblieben und sagte schroff:
„Ich bin ein Soldat und mir absolut sicher, dass man bei uns ohne einen Grund keinen Menschen verhaftet.“
Jedes Wort, dass Grigori sprach, saß wie der schwere Hieb eines Boxers.
Jelena presste ihre Hand so gegen die Stuhllehne, dass ihre Finger erstarrten. Irgendwo aus ihrem tiefsten Inneren erhob sich ein Ekel erregendes Angstgefühl vor diesem plötzlich so fremden Mann. Aber nein, sie kannte doch Grigori! In ihren Erinnerungen sah sie noch sein sanftes Lächeln, seinen behutsamen Umgang mit seinen Freunden. Seine Urteile über seine Mitmenschen waren stets sehr schonend. Was ist bloß jetzt in ihn gefahren?!
Vor ihr stand nun ein ganz anderer Mann. Er wirkte kaltblütig und berechenbar. Das war längst nicht mehr der sanfte Grischa, den Jelena einst gekannt hatte.
Sie sah hinüber zu Rim, der verzweifelt und fassungslos sein Kinn rieb.
„Grigorie“, sagte Jelena ganz leise, “was ist mit dir passiert? Artjom war doch dein Freund. Hast du denn vergessen, wie er ist?“
„Nein, ich habe nicht vergessen. Ich weiß noch gut, wie er war, aber ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.“
Und um das Gespräch zu beenden, wiederholte er noch einmal:
„Also, wie gesagt, ich werde versuchen etwas zu erfahren, aber auch nicht mehr.“
Er verabschiedete sich ganz plötzlich und verließ das Zimmer.
Jelena, Kira und Rim saßen wie erstarrt da. Dann unterbrach Jelena das Schweigen:
„So, meine Lieben, ich weiß jetzt ganz genau, was ich zu tun habe.“
Kira und Rim sahen Jelena fragend an, die hastig nach ihrer Handtasche griff.
„Was hast du vor?“ fragte Rim besorgt.
„Rim du weißt doch, dass unter den liegenden Stein kein Wasser fließt (russisches Sprichwort).
Niemand, weder Grigori, noch meine „Helden“ werden je einen Finger krümmen um uns und Artjom zu helfen. Das ist mir nun klar geworden. Sie alle stammen doch aus einem Nest. Ach Rim, alle sind so fremd, so anders geworden. Gefühllos, wie Roboter, die vorprogrammiert sind und nicht von ihrem Programm abweichen können oder nicht wollen. Sie lachen und lieben bestimmt auch nach Vorschrift. Aber nein, lieben können sie ja auch nicht. Sie müssen immer auf der Hut sein, damit sie in ihrer Umgebung keinen Feind verpassen“.
„Lena, bitte beruhige dich“, Kira sah Jelena flehend an. Sie hatte den leidenschaftlichen Monolog unterbrochen und fragte nach einer kleinen Pause:
„Bitte, erkläre uns jetzt in aller Ruhe, was du vorhast?“
„Unser Jakow hat doch einen Bruder, der in der NKWD einen hohen Posten hat.“
„Und?“ drängte Kira, “sprich weiter, was hast du vor?“
„Ich gehe jetzt zu Jakow um mit seinem Bruder zu sprechen.“
Alles, was sich in Artjoms Zimmer ereignet hatte, nachdem diese Leute eingedrungen waren, war wie ein Alptraum. Fremde Hände kramten in seinen Sachen herum, suchte nach irgendetwas, stellten alles auf den Kopf, legten dieses oder jenes Buch zur Seite, die anderen Bücher wurden einfach auf den Fußboden geworfen, wo auch so schon alles durcheinander lag: Hefte, Skizzen, Bücher, Pinsel, Farben. Artjom saß da, als wäre er ein Fremder, als passiere das alles nicht mit ihm und er hier nur als Zuschauer dabei sei. Seine ständige Bereitschaft jemandem beizustehen hatte nun einer seltsamen Beklemmung nachgegeben. Es war wie in einem schrecklichen Traum, wo man versucht wegzulaufen, die Beine aber wie gelähmt sind und man keinen Schritt machen kann…
Noch und noch mehr Bücher und Papierblätter fliegen auf den Fußboden. Was ist denn das? Ach, die Verse von Marina Zwetajeva, die er irgendwo gehört und sich aufgeschrieben hat. Einer der düsteren Gestalten hebt das Blatt auf und liest, dann winkt er den anderen herbei, der allem Anschein nach der Intellektuelle ist, Er soll testen ob die Zeilen Aufruhr erregend sind. Nachdem dieser die Verse gelesen hat lächelt er höhnisch:
„Und wie soll man das verstehen?
„ Man dachte er sei ein Mensch
Und trieb ihn in die Enge.
Jetzt ist er für immer tot.
Trauert nun um den Engel…“
Artjom zuckte mit den Achseln:
„Das sind Verse.“
„Das habe ich begriffen. Und wessen Verse sind es?“
„Ob er die Dichterin kennt, die diese Verse geschrieben hat?“ dachte Artjom und sagte
gelassen:
„Na gut, “ das Blatt wandert in die Mappe,“ Du wirst dich schon noch erinnern,“ droht der „Intellektuelle.“
Plötzlich stoppt das Auto und Artjom sah, dass sie an einem Tor angehalten hatten, dass sich langsam öffnete und eine schmale Einfahrt offenbarte sich, die von beiden Seiten von grauen, düsteren Gebäuden eingeengt war.
„Und es öffnete sich das Tor der Hölle“, dachte Artjom. Er ahnte nicht, wie nah er an der Wirklichkeit in diesem Augenblick war.
Im langen düsteren Korridor hallten die Schritte von Artjoms Begleitern wider (seine eigenen Schritte hörte er nicht) und im Takt dieser Schritte kamen von selbst die Reime:
„Nach Golgatha gehst du nicht alleine,
Dich trägt man voraus mit den Beinen...“
Artom wurde in ein Zimmer geführt, wo hinter einem riesigen Schreibtisch ein Mann mit einer komischen Glatze saß. Seine rosafarbenen Ohren standen weit vom Kopf ab. Das ganze Aussehen des eifrig schreibenden kleinen Mannes flößte den Eindruck einer friedlichen Häuslichkeit ein. Für einen Augenblick erhob er sein Haupt, schaute auf Artjom kurz durch seine auf der Nasenspitze sitzende Brille, wies mit der Hand auf einen Stuhl und knirschte weiter mit seiner Stahlfeder auf dem Blatt, dass vor ihm auf dem Tisch lag.
Artjom sah sich im Zimmer um. Hinter dem Rücken des Mannes hing an der Wand, wie es sich so in allen Sowjetbehörden gehörte ein großes Bild von Stalin. In der Ecke am Fenster, vom sanften Licht einer Lampe beleuchtet eine Skulptur aus Gips von Genosse Lenin.
„Eine gute Arbeit“, dachte Artjom. “Ein ungewöhnlich sanfter Ausdruck des steinernen Gesichts.“
Irgendwo im Zimmer murmelte ein Radio. Artjom entspannte sich für einen Augenblick.
Die Frage kam ganz unerwartet. Artjom wurde nun bewusst, dass man seine Wachsamkeit versucht hat einzuschläfern. Ein Mensch der nicht auf der Hut ist, ist verletzbar.
Artjom zögerte mit der Antwort.
„Aha, du hast also ein schlechtes Gewissen?» Plötzlich wirkte der kleine Mann nicht mehr so harmlos, jetzt nicht mehr. Seine Glatze sah aus wie die Tonsur eines Jesuiten. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
„Weshalb sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Ich habe keinen Mord begangen, niemanden betrogen, oder beleidigt. Ich habe auch nichts zu verbergen.“
Der Zwerg sah lange in Artjoms Gesicht.
„Erinnerst du dich noch an deinen Vater?“
Der Vater. Artjom vermisste ihn mit den Jahren immer mehr. Oft führte er in seinen schlaflosen Nächten mit seinem Vater in Gedanken Gespräche. Alle Ereignisse in seinem Leben alle Handlungen und Absichten beriet er mit ihm.
Und ob er sich an seinen Vater erinnerte! Jener verhängnisvolle Schuss hatte Artjoms Leben völlig verändert. Immer wieder fragte er sich, weshalb sein Vater sich das Leben genommen hatte. Sein Vater, der das Leben unendlich geliebt hat, der sich aufrichtig zu jedem Lebewesen freuen konnte, hatte eines Tages die Pistole an die Schläfe gesetzt und abgedrückt...
„Warum fragt er nach meinem Vater? Woher nimmt er sich das Recht die Erinnerungen zu schüren?“
„Ja, ich erinnere mich an meinen Vater“, sagte Artjom.
Der kleine Sicherheitsbeamte schwieg eine Weile
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