Dieter Pastula
Besatzungskind
Kinder- und Jugendjahre – Erinnerungen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Besatzungskind
Umfeld
Haustiere
Spiel und Freizeit
Familie
Hobbys
Schulerlebnisse
Ausbildung
Teenagerzeit
Mädels
Entwicklungen
Dunkle Wolken
Epilog
Schlussbetrachtung
Anhänge:
Impressum neobooks
Mein Sohn Werner ermunterte mich im Spätsommer 2007 Erinnerungen aus meiner Kinder- und Jugendzeit aufzuschreiben. Hintergrund war die Erwartung seiner ersten eigenen Vaterschaft, der Rückblick auf seinen Lebenslauf und das Interesse wie ich als Kind der ersten Nachkriegsgeneration aufgewachsen bin. Meine Berichte sollen Empfindungen erkennen lassen und den Zeitgeist spiegeln.
So sitze ich vor einer leeren Seite, lasse meine Gedanken schweifen und bin gespannt, mit welchen wach gewordenen Erinnerungen sich die Blätter füllen werden.
Unehelich geboren bin ich, nach anfänglichen Verwirrungen um meinen kindlichen Verbleib, bei meinen Großeltern, mütterlicherseits aufgewachsen. Großvater war bei meiner Geburt bereits Rentner und Großmutter betrieb damals im Hinterhof unseres Wohngebäudes eine Wäscherei.
Meine Mutter war während des zweiten Weltkriegs als Kindergärtnerin in Landgemeinden tätig. Als das Kriegsgeschehen Deutschland selbst erfasste, wurden die Einrichtungen geschlossen. Von da an arbeitete sie in der elterlichen Wäscherei.
In meinen Aufzeichnungen nehme ich zeitweise Bezug auf eine christliche, damals sehr dogmatische Religionsgemeinschaft, mit derer Verkündung ich aufgewachsen bin. In einer separaten Betrachtung gehe ich am Ende des Buches darauf etwas näher ein, ebenso auf die Historie unserer nächsten Vorfahren.
Um den Schutz von Persönlichkeitsrechten zu wahren, habe ich einige Namen der in den Berichten vorkommenden Personen geändert.
Dieter Pastula
Während der Sommerferien 1958 fuhr ich eines Tages, bereits am Vormittag, mit dem Linienbus in unser Freibad „Schenkensee“, das von der Innenstadt aus, einige km entfernt, straff bergauf in einem Höhenzug angelegt ist.
Im großen Schwimmbecken wollte ich in Ruhe für die bevorstehende Prüfung zum Jugendschwimmabzeichen trainieren. Bei meiner Ankunft gegen 10.00 Uhr war die Besucherzahl noch übersichtlich. Auf den Wiesen im Gelände gab es ausreichend freie Liegeplätze. Um schnell im Wasser zu sein, entschied ich mich für einen Platz unweit des Sportbeckens. Wiederholt wechselte ich zwischen dem Wasser und meinem Liegeplatz. Es war ein heißer Sommertag und das Freibad füllte sich zunehmend. Die Sonne ließ die Lufttemperatur auf über 30° ansteigen.
Als ich gegen Mittag vom Becken zu meinem Platz kam, gab es im Liegebereich immer weniger Lücken. Neben mir hatte sich unterdessen eine Familie niedergelassen, die ich flüchtig kannte. Der Mann war Schneider in der US Kaserne und brachte zuweilen Kleidung der Soldaten zum Waschen in Großmutters Wäscherei. Seiner Frau ging ich gern aus dem Weg. Mit ihrer schrillen lauten Stimme tratschte sie bekannter Weise gern allseitig herum und fragte neugierig Leute aus.
Schweigend setzte ich mich auf meine Decke, packte mein mitgebrachtes Vesper aus und spähte rundum blickend nach einem anderen Platz. Die neuen Nachbarn hatten mich anscheinend noch nicht bemerkt. Die Frau war mit der Ausgabe von belegten Broten, Obst und Getränken an ihre Familie beschäftigt. Zuerst entdeckte mich der Schneider, er nickte mir freundlich zu. Dann geriet ich ins Visier seiner Frau, die mich sofort in ein Frage- und Antwortspiel verwickelte:
„Wohnst du noch bei deinen Großeltern? In welche Schule gehst du? Alleine hier? Was macht deine Mutter, die hat doch noch zwei Kinder...?“ und so weiter.
Mehr, eher weniger begeistert beantwortete ich artig ihre neugierigen Fragen, so gut es ging. Dann stellte sie eine Frage bei der mir fast der Bissen im Hals stecken blieb:
„Besuchst du auch manchmal deine Mutter und deinen „Stiefvater“
Sie musste meine Irritation bemerkt haben und setzte nach:
„Du weißt doch, dass der Pastula „nicht dein Vater“ ist. Deshalb wohnst du bei der Oma und hast einen anderen Namen“.
Nein, verdammt! Das wusste ich nicht! Das hörte ich zum ersten Mal. Und einen anderen Namen hatte ich nicht. Ich heiße Pastula, so wie mein Vater! Was soll das Gerede? Meine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Trotzdem antwortete ich spontan:
„Selbstverständlich weiß ich das, allerdings hab ich denselben Namen und verbringe die Wochenenden oft bei meinen Eltern.“
Jetzt wollte ich nur noch nach Hause zu Opa und Oma. Es gab viele Fragen. War an dem, was die tratschende Frau von sich gab etwas dran oder nur dummes Geschwätz? Ich packte eilig meine Sachen und rannte zur Bushaltestelle. Gegen 14.00 Uhr kam ich in unserer Wohnung an und konfrontierte umgehend die Großeltern mit dem Gehörten. Oma bekam feuchte Augen und Opa schwieg. Schließlich sagte Oma:
„Wenn du was Genaueres wissen willst, frag deine Mutter.“
Ich wollte nicht nur Genaueres wissen, sondern Alles. Lebte ich deswegen bei den Großeltern? Behandelte mich mein vermeintlicher Vater darum anders als meine Brüder? Musste aus diesem Grund meine Mutter von ihrem Haushaltsgeld meine Schuhe bezahlen, obwohl „Papa“ einen eigenen Schuhladen hatte? Hörte ich deswegen bei den häufigen Ehe Streitereien, während meiner Besuche, immer mal wieder die Worte „Bastard“ und „Hurensohn“? Worte, mit denen ich im Grund nichts anfangen konnte, auch nicht ahnte, wer damit gemeint war. Wer bin ich? Wo komme ich her? Mit 12 Jahren wusste auch ich, dass nicht der Storch die Kinder bringt! Hilfe! Was ist da eigentlich los? Oma hüllte sich in verlegenes Schweigen. Opa schlug vor:
„Geh zu deiner Mutter, und frag sie selbst“.
Inzwischen war es etwa 15.00 Uhr. Mit einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Neugier entschloss ich mich umgehend meine Mutter in der außerhalb gelegener Siedlung, die gut 5 km bergauf von unserer Wohnung entfernt war, aufzusuchen. Kurz überlegte ich, ob ich mein Fahrrad nehme, oder wegen der brütenden Hitze den Weg lieber „per pedes“ gehe, zumal ich das Rad bergauf nur schieben konnte.
Wie ich es schaffte, bereits nach 20 Minuten zu Fuß in der Siedlung anzukommen, ist mir noch heute ein Rätsel, mich mussten fast Flügel getragen haben. Das Haus betrat ich durch den Hintereingang, dem Zugang zur Werkstatt und dem kleinen Schuhladen. Mutter bediente eine Kundin und wunderte sich über meinen Besuch. Papa war nicht zu sehen. Das Herz klopfte mir bis zu den Schläfen. Nachdem wir alleine waren, fragte ich forsch:
„Ist Josef mein Vater?“
Stockend erklärte ich den Grund meines Besuchs mit dem Gehörten im Freibad. Mutter war den Tränen nah, vor allem wurde sie unruhig, denn „Papa“ konnte jeden Moment die Werkstatt betreten. Der hatte mal wieder bis zum frühen Morgen mit seinen Freunden Karten gespielt, viel getrunken und schlief sich aus.
Nach kurzem Schweigen sagte Mutter, ich solle kurz warten und mir nichts anmerken lassen, falls der Hausherr inzwischen kommt. Sie ging nach oben, in die Wohnung, kam nach ein paar Minuten zurück, hielt ein altes Schulheft in den Händen und sagte:
„Es stimmt, Josef ist nicht dein leiblicher Vater, er hat dir zwar seinen Namen gegeben, aber dich nicht adoptiert. Nimm das Heft, es ist das einzige was ich von deinem leiblichen Vater besitze. Über alles andere sprechen wir in den nächsten Tagen.“
Josef nicht mein Vater! Das empfand ich nach dem ersten Schock fast wie eine Befreiung. Der Mann zu dem ich seit meiner denkbaren Kindheit betont „Papa“ sagen musste, mit dem ich nie richtig warm wurde, den ich nur zögernd, wenn es unbedingt sein musste, umarmen oder gar auf die Wange küssen konnte. Der von den Großeltern stets abfällig redete und meine Mutter, besonders wenn sie sonntags aus der Kirche kam ein „Kirchenschwein“ nannte. Auf wen bei den Streitigkeiten Hurensohn und Bastard abzielte, war nun klar. Kurz nach dem mir Mutter das alte Schulheft reichte, stand der Mann im Türrahmen, der den Laden von der Werkstatt trennte, wunderte sich über meine Anwesenheit und fragte, was hier los wäre. Ich hob das Schulheft etwas empor und sagte schnippisch:
„Grüß Gott Herr Pastula.“
Mutter klärte ihn kurz auf:
„Dieter hat erfahren, dass du nicht sein Vater bist.“
Da schubste er meine Mutter zur Seite, ging auf mich zu und haute mir mit seiner großen Schusterhand eine gewaltige links und rechts auf die Wangen mit den Worten:
„Das war für den Herrn Pastula.“
Heulen konnte und wollte ich nicht. Ich drückte das Schulheft, in das ich noch nicht reingeschaut hatte, fest an mich, verließ auf dem Absatz das Haus und rannte, trotz den Backpfeifen und der sich bildenden Röte des Handabdrucks, wesentlich erleichtert zur Wohnung der Großeltern zurück. Dort konnte ich mich erst einmal mit dem alten Schulheft beschäftigen und von meinem Umfeld nach und nach dem Geheimnis meiner Abstammung näher kommen.
Schwäbisch Hall war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Garnisonsstadt mit Kaserne und Militärflugplatz im Teilort Hessental. Das Gelände konfiszierte nach dem Krieg die amerikanische Besatzung und hieß fortan „Dolan Baracks“. Die meisten Soldaten, vorwiegend junge Männer, hatten am Krieg selbst nicht teilgenommen. Ihre Aufgabe war es, in Deutschland wieder die Infrastruktur und Demokratie herzustellen und für die Entnazifizierung zu sorgen.
In der Kaserne arbeitete jener Deutsche Schneider, welchen ich bereits erwähnte, der ab und zu Wäsche von US Soldaten in Omas Wäscherei brachte. Das sprach sich herum. Etliche der Uniformierten kamen im Laufe der Zeit selbst vorbei. Als kleine Aufmerksamkeit spendierten sie Schokolade, Kaugummi, Kaffee und andere Genussmittel, die im Land noch knapp waren.
Zu diesen Soldaten gehörte ein gewisser John, genannt „Johnny“. Meine Mutter und der junge Mann empfanden Zuneigung und verliebten sich. Sehr zum Leidwesen der Großeltern, denn deutsche Frauen, die sich mit amerikanischen Soldaten einließen, wurden sehr schnell zur „Aminutte“ deklariert. Trotzdem trafen sich beide weiterhin.
Johnny wurde eines Tages in eine andere Stadt versetzt, gut 150 km entfernt. Dies tat der Liebe keinen Abbruch. Jedes freie Wochenende kam der Soldat mit dem Jeep zum Besuch angefahren. Meistens zusammen mit einem Kollegen, der in unserer Stadt auch eine deutsche Freundin hatte.
Die Großeltern duldeten die Besuche mit Unbehagen. Bei allem Respekt vor dem amerikanischen Soldaten erlaubten sie keine Übernachtungen in der elterlichen Wohnung. Deshalb schlief Johnny bei seinen Wochenendbesuchen in der US Kaserne bei Kameraden.
Drei Monate später bekam er den Einsatzbefehl nach Japan, das unterdessen kapituliert hatte. Eine schmerzhafte Botschaft für meine Mutter, zumal sie inzwischen von ihrem amerikanischen Freund schwanger war. Der Abschied war tränenreich. Johnny blieb verschollen, fünfzig Jahre lang.*)
Die Schwangerschaft war nicht lange zu verbergen. Mutter offenbarte sich ihren Eltern. Das war eine Schande für die gut bürgerliche Familie und musste geheim bleiben, noch besser verhindert werden. Was tun? Eine Schwester der Großmutter wurde eingeweiht und hatte eine Idee.
Um eine Abtreibung zu ermöglichen sollte die Schwangere bei den Behörden eine Vergewaltigung angeben. Wohl war es meiner Mutter dabei nicht. Die Geschichte wurde erfolglos inszeniert, den Behörden erschien der Fall nicht glaubhaft. Auf Anraten des Amtes zog sie den Antrag alsbald wieder zurück.
Mutters im Krieg gefallener Bruder hinterließ ein paar Jahre zuvor seine schwangere Freundin Emma. Sie hatte in einem Heim für ledige Mütter ihre Schwangerschaft verbracht, dort entbunden und mit ihrem Sohn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in der Anstalt gelebt. Die Familie drängte meine Mutter nun auch diesen Weg zu gehen. Das Heim war gut 100 km entfernt am Rande der Schwäbischen Alb.
Die Frauen konnten dort ihre Schwangerschaft austragen und versorgten unterdessen den bereits geborenen Nachwuchs der Mütter, die ihre Kinder zur Adoption zurückgelassen hatten.
Bereits kurz nach der Geburt konnten die Babys adoptiert werden. Bis zum Schulalter der Kinder war der Aufenthalt in der Einrichtung möglich. Wurden bis dahin keine Adoptionsfamilien gefunden oder die Mütter konnten sich ihrer Kinder nicht selbst annehmen, kamen die Kleinen ins Waisenhaus.
Mutter ging den Weg ins Heim und die Angehörigen waren erleichtert. In den kommenden Monaten bestand der Kontakt zum Elternhaus nur durch Briefe. Besuche gab es keine.
So kam ich als uneheliches Kind am 07. April 1946 in Kirchheim unter Teck auf die Welt. Mir wurde berichtet, es war ein sonniger Sonntag um die Mittagszeit. Nachdem sich das ganze Leben meiner Mutter und ihrer Eltern in Schwäbisch Hall abgespielt hat, ist somit erklärt, warum ich in einer anderen Stadt geboren bin.
Entgegen ihrem ursprünglichen Vorhaben entschloss sich meine Großmutter, bevor der Junge, wie bereits verfügt, zu Adoptiveltern kommt, Tochter und den Nachwuchs im Heim zu besuchen. Als sie den süßen, blauäugigen Knirps mit den tiefschwarzen Haaren sah, kam die große Wende, vielleicht auch das Gewissen. Der Tochter wurde alles verziehen und Oma entschied, dass der Knabe bei der eigenen Familie aufwächst. Die entscheidenden Worte, die meine Mutter nie vergessen hat:
„Ihr kommt beide mit nach Hause, mit den Heimlichkeiten ist jetzt Schluss, wir werden zu dem Kind stehen und gemeinsam für den Jungen sorgen.“
Die bereits erfolgte Adoptionsfreigabe wurde rückgängig gemacht. Irgendwie konnte das noch geregelt werden. Das war der Beginn meiner unbeschwerten Kindheit mit zwei für mich sorgenden Müttern.
Schwester Babette, ehemals Diakonisse in Omas Alter, wurde von ihrem Verband einem Altersheim als Pflegerin zugeteilt. Diese Arbeit gefiel ihr nicht besonders. Eines Tages riss sie sich aus Wut über ein Ärgernis die Schwesternhaube vom Kopf und warf sie auf den Boden. Damit war sie als Diakonisse disqualifiziert. Kleid und Schürze durfte sie weiterhin tragen, die symbolische Diakonissenhaube fortan nicht mehr.
Babette fand Anfang 1940 in unserem Haus eine neue Bleibe. Sie bezog die zwei Zimmer im Zwischengeschoss, direkt über der Wäscherei unterhalb einer Veranda.
Diakonissen leben ähnlich wie katholische Ordensschwestern ledig, karg und keusch. Nach der aktiven Arbeitszeit wechselten die Schwestern ins „Feierabendheim“. Wenn es ihre Kräfte erlaubten, konnten sie sich von dort aus weiterhin in Diakonischen Einrichtungen nützlich machen.
Die einheitliche Kleidung, die Schwesterntracht wurde bei der Arbeit, Freizeit und nach dem aktiven Dienst getragen. An der Faltung und Schleife der Schwesternhaube war schon damals der Dienstgrad zu erkennen.
Babette kam eines Tages in Großmutters Wäscherei und bewunderte Oma, wie sie fleißig arbeitend an der Wäscheschleuder stand. Sie fragte, ob sie sich ein wenig nützlich machen könnte. Sie konnte und stand von nun an selbst an der Schleuder. Aus der Mitarbeit entwickelte sich Freundschaft, mit erweitertem Familienanschluss.
Babette hatte mitunter starke Stimmungsschwankungen. Mal wirkte sie himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Je nach ihrem Zustand bezeichneten wir das innerhalb der Familie als ihren „Guten“- oder „Schlechten“ Tag.
Einfluss auf die Depressionen hatte sicher ihr gelebtes Leben, das seine Spuren hinterlassen hatte: Als junges Mädchen, zur Diakonisse geweiht, verließ sie das Elternhaus, verzichtete auf alle Freuden des Lebens und widmete sich dem Dienst an Menschen. Als Lohn gab es Unterkunft, Verpflegung sowie ein kleines Taschengeld. Im Alter brach alles zusammen. Geblieben war ihr letztlich nur die Kleidung.
Da Schwester Babette ihre weiterhin zustehende Versorgung im Feierabendheim nicht in Anspruch nahm, setzten sich meine Großmutter und unsere Vermieterin beim zuständigen Pfarramt dafür ein, dass sie ersatzweise eine kleine Rente bekommt. Anfangs abgelehnt, wurde dies schließlich nach mehrmaligen Interventionen bewilligt.
Wann immer es möglich war, kümmerte sich Babette um mich. Anfangs fuhr sie mich im Kinderwagen spazieren, später bummelten wir durch die Stadt und die Parks. Hatte sie ihren „Guten Tag“ sprang immer eine Kleinigkeit für mich heraus, mal etwas aus dem Spielwarengeschäft, mal eine Nascherei beim Kaufmann oder Bäcker, meistens beides.
Mitte der 1950er Jahre entschloss sich Babette ihren Lebensabend in einem Altersheim zu verbringen. Zunächst bezog sie ein Heim in einer kleinen Nachbarstadt. In dem umgebauten mittelalterlichen Schloss fühlte sie sich auf Dauer nicht wohl und wechselte in ein neuerbautes Seniorenheim des Roten Kreuzes, ein paar Kilometer von unserer Stadt entfernt.
Nach dem Umzug besuchte uns Babette hin und wieder mit dem Linienbus, der fast vor unserer Haustüre hielt. Dann wurde sie kränklich und ihre Visiten seltener. Kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember 1956 starb Schwester Babette. Noch am selben Tag erhielten wir die Nachricht von ihrem Tod.
Das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel wollten wir in diesem Jahr beim ältesten Sohn der Großeltern in Heilbronn verbringen. Warum auch immer, war das meiner Oma sehr wichtig und so saßen wir am Heiligen Abend schweigend im Zug. Ich war sehr traurig, dass Babette nicht mehr lebte und sehr enttäuscht, dass wir nicht einmal an ihrer Beerdigung am 27. Dezember teilnehmen würden. Für Oma war der Besuch in Heilbronn ausgerechnet auch an diesem Tag wichtiger.
Als ich später, erst mit dem Moped, dann mit einem Auto unabhängig mobil war, fuhr ich immer mal wieder zum örtlichen Friedhof um an Babettes Grab zu verweilen. Einmal mit Oma, die dann auffallend nachdenklich an Babettes letzter Ruhestätte stand. Vermutlich bedauerte sie im Nachhinein ihr damaliges Handeln.
Im März 1949 heiratete meine Mutter den Schuhmacher Josef Pastula. Er begegnete ihr als Kunde in Omas Wäscherei, warb um sie und meinte das Kind brauche einen Vater. Ich war knapp drei Jahre alt und meine Geburtsurkunde erhielt den Zusatz:
„… mit Erklärung vom 17. März 1949 hat als Ehemann der Kindsmutter der Schuhmachermeister Josef Pastula dem Kind seinen Familiennamen Pastula erteilt ...“ Durch früheres Annektieren gehörte seine Heimatstadt Czernowitz in der Bukowina eine Zeitlang zur Österreich-Ungarischen Monarchie. Die ehemals dort angesiedelten Immigranten wurden durch den Anschluss Österreichs an Deutschland nun Volksdeutsche.
Josef folgte während dem zweiten Weltkrieg dem Ruf des Dritten Reiches „Heim ins Reich“ und schloss sich der Deutschen Wehrmacht an. Da er durch die multikulturelle Bevölkerung in seiner Geburtsstadt mehrere Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, setzte ihn das Heer als Dolmetscher ein. Nach dem Krieg verschlug es ihn zunächst nach Österreich, wo er kurz verheiratet war.
Nach einigen Umwegen und Lagerleben kam Josef schließlich in unserer Stadt. In einem örtlichen Schuhladen mit Reparaturwerkstatt fand er bald eine Anstellung als Schuhmacher. Nach der Heirat bewohnte die neu gegründete Familie zunächst ein Zimmer in der Wohnung meiner Großeltern.
Nahe einem Teilort wurde 1949 ein neues Bauland erschlossen. Dort entstanden zweckmäßige Einfamilienhäuser mit ausgebautem Dachgeschoss. Drei voll unterkellerte Kellerräume waren sowohl vom Haus, als auch über einen Hintereingang zugänglich. Der Außenbereich konnte je nach Lage unterschiedlich gestaltet werden. Einen Nutzgarten hatte jedes Haus, einzelne darüber hinaus Vorgärten oder Abstellplätze. Andere obendrein ein massiv gebautes Nebengebäude, das innen individuell ausgebaut werden konnte.
Vor allem die vielen Heimkehrer, Vertriebenen und Flüchtlinge sollten in den Bauten eine neue Bleibe finden. Viele dieser Menschen lebten bis dahin in Notunterkünften oder bei Verwandten. Dies war für Mutters neue Familie, bei der sich inzwischen eigener Nachwuchs ankündigte, die Chance fürs Eigenheim.
Für Bauwillige gab es so genannte LAKRA Gelder, günstige und langfristige Kredite der Landeskreditanstalt Baden-Württemberg, im Rahmen eines Wiederaufbauprogramms. Als Auflage mussten Eigenleistungen in Form von 600 Arbeitsstunden am Bau der Häuser erbracht werden.
Die Entscheidung fiel für ein Grundstück am Straßenanfang, mit großem Nutzgarten, Vorgarten und dem Anbau. Die erforderlichen Arbeitsstunden leistete vorwiegend mein Großvater. Bereits im April 1950 konnte die Familie ins neuerbaute eigene Heim einziehen. Bald darauf machte sich mein Stiefvater selbstständig und richtete in den vorderen Kellerräumen seine eigene Schuhmacher Werkstatt ein.
Das bedeutete eine bittere Veränderung in meinem jungen Leben. Seither umsorgt und verwöhnt von Mutter, Oma und Schwester Babette, war der neue Vater, den ich erst Onkel Josef und nun Papa nennen sollte, für mich eher ein Fremder, der sich in die Familie drängte.
Es war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich ohne Vater aufzuwachsen. Der Krieg raffte viele Ernährer weg und produzierte andererseits manch uneheliches Kind.
Durch die Heirat meiner Mutter hatte ich plötzlich zum ersten Mal einen Vater. Die Zusammenhänge begriff ich im kindlichen Alter nicht. Josef Pastula wurde wegen seiner häufig auftretenden Unbeherrschtheit, Rechthaberei, auch Streitsucht, ein gefürchtetes Mitglied der ganzen Familie.
Seine anfängliche Begeisterung für den kleinen Dieter ließ nach der Hochzeit spürbar nach. Erst Recht nach der Geburt des eigenen Sohns. Meine Anwesenheit, vielleicht auch mein reserviertes Verhalten zu ihm, gaben immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen und Streitigkeiten.
Bis zur Aufgabe der Wäscherei 1955, ging meine Mutter, weiterhin tageweise ihrer Tätigkeit in Omas Betrieb nach. Von Dienstagnachmittag bis Freitag wohnte sie mit mir und später mit meinen Brüdern bei den Eltern. Der zusätzliche Verdienst war überdies meinem Stiefvater willkommen und seine Versorgung war gesichert. Für Mittwoch hatte meine Mutter bereits gekocht und am Donnerstag brachte ihm mein Großvater Omas bekannt schmackhaftes Essen für die nächsten zwei Tage.
Morgens und nachmittags besuchte ich den Kindergarten, ansonsten hielt ich mich mit Mutter, später mit den hinzugekommenen Brüdern, in Großeltern´s Wohnung auf. Gegen 11.00 Uhr kam Oma zum Kochen nach oben, danach konnten wir gemeinsam Mittagessen.
Tränen und Widerwillen entstand, wenn ich freitags, nur zum Schlafen und zwecks Anwesenheit mit in die Siedlung musste. Der Fußmarsch von der Stadt, stramm bergauf zum neuen Haus, dauerte mit Kind und später mit Kinderwagen fast eine dreiviertel Stunde. Eine Buslinie in die Siedlung gab es noch nicht und eigene Autos waren für Normal Verdiener kaum erschwinglich. Erst recht nicht wenn das eigenes Heim finanziert werden musste.
Aus den gesamten Umständen ergab sich für mich eine praktikable und erfreuliche Lösung: ich konnte dauerhaft bei den Großeltern bleiben. Im Siedlungshaus verbrachte ich fortan nur noch manche Wochenenden. Als ich zur Schule kam, wurde auch das seltener. Ich blieb bei den Großeltern bis ich mit zwanzig Jahren meinen eigenen Hausstand gründete.
Reparierte Schuhe für Groß und Klein wurden oft nicht abgeholt und stapelten sich in der Werkstatt. Andere boten gut erhaltenes Schuhwerk, vor allem Kinderschuhe, die nicht mehr passten, zum Weiterverkauf an. Daraus entwickelte sich erst ein Gebrauchtschuhhandel, dann die Idee neue Schuhe anzubieten. Zwei Jahre später zog die Werkstatt in den zweiten Kellerraum und im vorderen Teil entstand das erste Schuhfachgeschäft Josef Pastula.
In den Häusern der Siedlung entwickelte sich eifriges Leben mit Handel und Dienstleistungen aller Art: Lebensmittel, Getränkehandlung, Schreib- und Kurzwaren, das Schuhgeschäft mit Reparaturwerkstatt des Stiefvaters, eine Gastwirtschaft, der eigene Fußballverein mit Vereinshaus und als Krönung entstand, für die meist katholischen Zuwanderer, eine ansehnliche Kirche.
Die Anbauten wurden unterschiedlich verwendet. Es gackerten Hühner, ertönte das Meckern von Ziegen oder die Laute anderer kleiner Nutztiere. Verwendung fand der Anbau ebenso als Abstellraum für Gartengeräte oder zusätzlichen Wohnraum.
Was zum täglichen Leben in der Siedlung fehlte, war eine Metzgerei. Dafür warb mein Stiefvater. Er fand einen Metzger, der am Betrieb einer Filiale interessiert war. Die entstand alsbald im Anbau des Hauses, mit Kacheln gefliesten Wänden, integriertem Kühlhaus und einem großen Schaufenster.
Mitten im Zentrum der historischen Altstadt bin ich bei meinen Großeltern in einem alten Fachwerkhaus aufgewachsen. Wir bewohnten dort eine geräumige Fünfzimmerwohnung. Zwei Räume hatten, anstatt zu öffnete Fenster, nur schmale „Oberlichter“ und ein Raum war ein sogenanntes „Blindzimmer“, gänzlich ohne Fenster. Weil dort ausgediente Schränke standen, die wir als Kästen bezeichneten, nannten wir diesen Raum in schwäbischer Verniedlichung: „Kastenkämmerle“.
In der Küche, oberhalb des steinernen Ausgusses, befand sich ein großes zweiflügeliges Fenster, allerdings nicht ins Freie, sondern zum Flur in Richtung des Wohnungseingangs. Musste in der Küche ordentlich gelüftet werden, war das nur über die geöffnete Eingangstür möglich, wobei sich die Düfte über das Treppenhaus in alle drei Stockwerke verteilten.
Lange Zeit hatten wir keinen Kühlschrank. Diese Funktion übernahm der tiefe Gewölbekeller, der nur durch einen schmalen Gang im Freien, zwischen zwei Nachbarhäusern, betreten werden konnte. Dort lagerte der Großvater in alten Holzfässern sein Lieblingsgetränk: Most.
Jedes Jahr ließ Opa vor dem Haus mosten. Zuvor hatte er die alten Holzfässer gründlich gereinigt, geschwefelt und poröse Stellen mit Fassdichte versiegelt. Der bestellte „Hausmoster“ fuhr mit seinem Traktor bis vor das Haus. Fest montiert waren auf seinem Anhänger die erforderlichen Arbeitsgeräte: Mahlwerk, Presse und der Auffangbehälter für den Saft.
Die Äpfel wurden nach dem mahlen fast trocken gepresst. Bevor der gewonnene Saft zum Vergären in die Fässer kam, zweigte Opa eine kleine Menge für mich ab und füllte den noch süßen, herrlich fruchtig schmeckenden, Apfelsaft in einen Glaskolben. Leider konnte das Getränk nicht lange aufgehoben werden, weil die Gärung in dem Gefäß bereits nach wenigen Tagen einsetzte.
Die besondere Attraktion unserer Wohnung war die Toilette, von uns „Abort“ genannt. Der Sitz sah aus wie eine große Holzkiste. In der Mitte befand sich ein rundes Loch, darauf lag ein loser Holzdeckel. Nach dem Abheben des Deckels konnte die entsprechende Notdurft verrichtet werden. Solche Entsorgungseinrichtungen wurden volkstümlich als „Plumpsklo“ bezeichnet.
Gleich unter dem Deckel, abwärts des Ablaufrohrs, hingen wie Trauben, gefühlsmäßig tausende summender Fliegen, die den Benutzer beim Aufsitzen unangenehm belästigen konnten. Demzufolge verrichtete ich als Kind die größere Notdurft lieber auf dem Topf, in einer stillen Kammer und entsorgte den Inhalt nach der „Sitzung“ mit angehaltenem Atem ins „Plumpsklo“. Einmal wöchentlich versuchte Oma die Fliegen mit einem Eimer siedend heißem Wasser, den sie kreisend in die Öffnung leerte, zu vermindern. Allerdings ohne großen Erfolg. Die Ansicht hat sich nicht wirklich verändert. Dazu war das Aufkommen dieser Spezies zu groß.
Wasserspülung gab es nicht, dafür stand eine gefüllte Kanne bereit. Als Toilettenpapier dienten von Opa fein säuberlich zugeschnittene alte Tageszeitungen, aufgespießt an einem, an der Wand hängendem, Metzgerhaken.
Gesammelt wurden die Fäkalien in der „Latrine“, einer Grube im Innenhof. Hatte der Inhalt die unterste Toilette im Haus erreicht und kam dort ins Sichtfeld, wobei es im gesamten Haus zunehmend penetrant stank, wurde der „Abortleerer“ mit dem Leeren der Grube beauftragt.
Der Latrinen LKW sah wie ein Tankwagen aus. Auf der Pritsche waren ein großer Stahltank mit mehreren Schaugläsern und das Pumpwerk befestigt. Ehrfürchtig betrachteten wir Kinder das Hantieren des Fahrers, er hatte nur eine Hand. Aus dem zweiten Ärmel seines Arbeitskittels ragte ein Haken, mit dem er gekonnt die einzelnen Schlauchelemente aus der Halterung neben dem Tank zog, die Bajonettverschlüsse der Schläuche mit Hilfe seiner Oberschenkel zusammenfügte und den Schlauchanfang in die Grube einließ. Dazu waren etwa 20 Meter Schlauch erforderlich. Unter lautem Geräusch der Pumpen im Fahrzeug konnte nun der Grubeninhalt abgesaugt werden.
Trotz dem Gestank war das stets ein besonderes Erlebnis. Mit zugehaltenen Nasen schauten wir Kinder dann gespannt auf die Schläuche und Verbindungen und überwachten ob sie halten. Wenn Schläuche rissen oder an den Bajonettverbindungen auseinander sprangen, erforderte das eilig einen Sprung zurück, damit uns kein austretender Strahl traf.
Alle Nachbarhäuser hatten bereits sanierte Toiletten, mit Wasserspülung, richtigen Sitzen und waren an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Unser Hausbesitzer war leider nicht bereit die Sanierung auch in seinem Haus ausführen zu lassen. Er wohnte inzwischen mit seiner Familie in einem neu erbauten Heim, in vornehmer Lage am Stadtrand. Die Nachbarschaft munkelte, er wollte aus Geiz die damit verbundenen Kosten nicht aufbringen.
Den Zugang zu den Wohnungen kannten nur Eingeweihte. Das Haus gehörte zur Straße „Am Spitalbach“, von den Einwohnern kurz „Spitalstraße“ genannt. Der Eingang war allerdings einmal um die Ecke, zwei Häuser weiter in der Kornhausstraße.
Unter unserem Wohnzimmer betrieb der Vermieter einen Tabakwarenladen. Der Ladeneingang war ersichtlich früher der offizielle Hauseingang, der Laden selbst die Diele. Von dort gab es einen Durchgang zu unserem Treppenhaus, in dem sich, in Höhe des ersten Treppenabsatzes, die Küche der Herrschaften befand. Ein Treppenabsatz hatte zehn bis fünfzehn Stufen. Entsprechend war die Raumhöhe in den Zimmern fast drei Meter hoch.
Eine funktionierende Wohnungsklingel gab´s nicht. An der Hauswand vor dem Eingang zum Tabakladen waren zwar drei Klingelknöpfe angebracht, allerdings, so lange ich mir denken kann, haben die nie funktioniert.
Unser Hauszugang im Hofdurchgang eines Nachbarn wurde um 20.00 Uhr geschlossen. Auch dort gab es keine Klingel. Angekündigten Besuch erwarteten wir zur vereinbarten Zeit vor dem Haus oder wir spähten, ihn erwartend, aus dem Fenster. Unerwartete Besucher machten sich durch ans Fenster geworfene Steinchen bemerkbar. Andere versuchten es mit Pfiffen oder Rufen unserer Namen.
Geheizt wurde die gesamte Wohnung mit einem Holz- Kohleofen der im Wohnzimmer stand. Die Decke des Wohnzimmers war in der Mitte mit einer dekorativen rund umlaufenden Stuckarbeit verziert.
Bad oder Dusche gab es nicht. Samstagabends stellte die Großmutter eine kleine Blechwanne auf den Tisch. Auf dem Gasherd in der Küche dampfte derweil ein großer Topf mit heißem Wasser. Zum Temperaturausgleich stand ein Eimer mit kaltem Wasser bereit. Seife, Waschlappen und ein Handtuch lagen neben der Wanne. Als Kind wurde ich dann von der Oma, auf dem Tisch sitzend, von Kopf bis Fuß gewaschen. Hin und wieder konnte ich in der Wäscherei, in einem Waschzuber aus Holz, richtig baden.
Die über uns liegende Wohnung wurde nach dem Auszug der letzten Bewohner nicht mehr vermietet. Inzwischen starb Opa. Als Oma ein paar Jahre später in ein Altersheim wechselte, lebte ich noch einige Monate alleine in dem Haus, dann fand ich, 21 jährig, eine kleine eigene Wohnung. Zufällig im selben Gebäude, in das unsere Mitbewohner vom alten Fachwerkhaus inzwischen gezogen waren.
Das Fachwerkhaus stand bis in die 1970er Jahre leer, dann wurde der gesamte Block neu gestaltet. Etliche Häuser abgerissen, andere umgebaut. Im von uns bewohnten Teil blieb die Fachwerkfront erhalten. Durch die Neugestaltung entstand ein gelungenes Meisterwerk des Architekten.
Im kindlichen Alter hielt ich eine possierliche Ratte, die in unserem Treppenhaus herumturnte, für ein liebenswertes Geschöpf, das ich dressieren könnte. Ich lockte das Tier, welches direkt vor mir „Männchen“ machte und gerade, als ich die Ratte streicheln wollte, kam die über uns wohnende Nachbarin die Treppe herunter und beendete das Szenario mit Entsetzen. Abgesehen davon hatten wir in unserer Wohnung immer wieder ungebetenen Besuch von Mäusen.
Die Böden und Decken des Hauses bestanden aus, auf Balken befestigten Holzdielen, die von den Räumen aus gesehen mit einer etwa 2 cm dicken Gipsschicht überzogen waren. Die gut 20 cm hohen Zwischenräume waren zur Dämmung, wie bei alten Häusern früher so üblich, vor allem mit Getreidespreu gefüllt.
Vorteil der Decken war, dass daran gut und einfach Lampen befestigt werden konnten, vor allem wenn die Schrauben nach dem Gips auf Balken trafen. Nachteil war der lockere Zwischenraum, der diente Mäusen, wie immer sie dort reinkamen als ideales Wohn- und Verbreitungsgebiet. Für ihre Erkundungszügen in die Wohnungen, um dort nach Nahrung zu suchen, nagten sie sich durch die Dielen und den darüber liegenden Bodenbelag, der vornehmlich aus kostengünstigem mit Stragula, als Ersatz für Linoleum, ausgelegt war.
Im Durchschnitt produzieren Hausmäuse, bei einer Tragezeit von ca. 25 Tagen, jährlich bis zu acht Mal Nachwuchs. Je Wurf zwischen vier bis acht Babys. Nach etwa sechs Wochen sind die jungen Mäuse bereits schon wieder geschlechtsreif. Da wird so ein Zwischenraum sehr schnell zur Kolonie, möglicherweise auch zum Platzproblem, dem sich die Tiere durch Streifzüge in die menschliche Behausung entziehen.
Die Mäuse kündigten sich zunächst durch gut hörbare Kratz- und Nagegeräusche an den Dielen an. Nun war Vorsicht geboten an welcher Stelle der Austritt erfolgte. Das war hin und wieder auch eine Wand, die mit Stroh und ähnlichem Material wie die Fußböden gefüllt waren. Vorsichtshalber stellten wir an markanten Stellen mit Käse oder Speck gefüllte Fallen auf, von denen wir stets einen Vorrat im Haus hatten.
Beim Spannen und Aufstellen der mit dem Köder gefüllten Fallen war äußerste Vorsicht geboten, damit sich diese nicht auslösten und unsere Finger trafen. Bevorzugt trafen die Nager zuerst im Flur, der Küche oder im fensterlosen „Kastenkämmerle“ ein, in dem die Kästen mit Vorräten gefüllt waren. Die Mäuse schafften es selbst Löcher in die Hinterwände der Schränke zu nagen um dadurch einzudringen.
Samstagabends bekam ich von Oma als Betthupferl immer ein paar Rippchen Schokolade und zwar den Besonderen, schon damals in der lila Packung, noch nicht als Milka, sondern schlicht als Suchard bezeichnet. Diese Tafeln hatten nicht durchgängig dieselbe Rippchen Größe, sondern in der Mitte vier Stücke in doppelter Länge und Breite. Davon zwei waren die Ration vor dem Schlafen.
Um gleich vor Ort meine Schokoladenstücke zu erhalten begleitete ich Großmutter an so einem Abend ins „Kastenkämmerle“ in dem die Süßigkeit lagerte. Just in dem Moment als Oma die zweiflügelige Schranktür öffnete, saß vorne am Regalboden eine Maus, erschrak vermutlich so wie wir, nur ohne Aufschrei und anstatt sich im Schrank zu verkriechen sprang sie Oma genau zwischen die Brust und verschwand im Ausschnitt ihrer Kleiderschürze, die sie sich sofort vom Leib riss. Ich eilte zu Opa um ihm aufgeregt vom Geschehen zu berichten. Unterdessen musste sich Oma sogar ihres Büstenhalters entledigen, in dem sich die Maus verfangen hatte, erst dann flutschte das Tier auf den Boden und verschwand zwischen den Möbeln.
Opa tat das, was immer zu tun war, wenn wir Mäuse in der Wohnung hatten. Er suchte nach der Bruchstelle, füllte diese mit Glasscherben und vergipste das Loch mit schnell bindendem Material.
Die Nager, denen die Flucht in ihre Behausungen nicht mehr gelang und die bald in allen Zimmern der Wohnung umher rannten, verfolgten wir mit einem abgenutzten Stubenbesen, der zu dem Zweck in der Toilette platziert war. Damit versuchten wir die Mäuse zu erschlagen oder zu erdrücken.
Jahre später, Opa war inzwischen gestorben und Oma im Altersheim, wohnte ich als Jugendlicher noch einige Zeit alleine in dem Haus. Eines Abends besuchte mich eine Freundin. Wir gingen in mein Zimmer, kuschelten auf der Couch und hörten Musik. Plötzlich waren die mir bekannten Kratzgeräusche zu hören, und zwar sehr nahe der Couch. Meine Besucherin fragte erschrocken nach der Ursache. Ich spielte die Geräusche als normal übliches Knacken im Gebälk alter Häusern herunter. Die gab es in dem Haus tatsächlich auch, jedoch war das eben hörbare Rascheln ein anderes und ich ahnte Schlimmes.
Das Mädchen konnte ich kurzfristig beruhigen, jedoch war die Stimmung gestört. Es dauerte nicht lange bis dem Kratzen mehrfaches Tippeln folgte und die erste Maus sichtbar den Boden entlang rannte und hinter meinem Schreibtisch verschwand. Das hatte auch die junge Frau gesehen, sie schrie
„eine Maus“,
und sprang ängstlich zitternd auf die Liege.
Ich eilte zur Toilette, holte besagten Besen, der zu diesem Zweck noch immer im Örtchen deponiert war und begann die Jagd. Der Leitmaus rannten weitere kleine Exemplare munter nach. Zum Aufspüren rückte ich Schreibtisch und Couch zur Seite, wodurch die Freundin ins Wanken geriet und beinahe abstürzte. Sie harrte noch immer ängstlich auf dem Sofa. Schließlich ergriff sie die Flucht mit den Abschiedsworten:
„Ade, mir reicht’s“,
was ich einsehen musste.
Meine Jagd war erst beendet als ich eine große und fünf kleine Mäuse mit dem Besen erlegt hatte. Die Beute kehrte ich mit dem Handfeger auf die Kutterschaufel und warf sie ins Loch des Plumpsklos. An diesem Abend fasste ich den Entschluss mir eine eigene, kleinere und später gebaute Wohnung zu suchen, auf alle Fälle in keinen Altbau zu ziehen, dessen Fundament schon achthundert Jahre auf dem Buckel, besser den Grundmauern hat.
Unser wirkliches Haustier, über viele Jahre hinweg, war ein grüner Wellensittich, den wir „Peterle“ nannten. Der muntere Vogel erhielt die Aufmerksamkeit der gesamten Familie. Jeder trat an seinen Käfig, sprach ihn namentlich an, beobachtete die Hopserei auf den Stangen, ins Vogel Bad und seine Kletterkünste im Käfig. Vor allem faszinierte uns sein ständiges vor sich hin welschen, zunehmendem Imitieren des Vogelgezwitschers von draußen und den Umgebungsgeräuschen der Wohnung und Straße. Irgendwann fing der kleine Kerl tatsächlich vernehmlich zu sprechen an und zwar immer dieselben Worte, die er vom Zureden und hören aufschnappte:
„Peterle ja Peterle, Papa, Opa, raus“.
Meistens in der Reihenfolge und mehrmals hintereinander.
Peterle war nicht nur im Käfig gefangen, sondern durfte sein Domizil, bei geschlossenen Fenstern fast täglich zu einem Ausflug ins Wohnzimmer verlassen. Erst drehte er mehrere Runden im Raum, dann steuerte er seine Lieblingsplätze an: die Gardinenstange über den Fenstern, der vorstehende Rahmen eines großen Bildes oder das Dach des Wohnzimmer Buffets auf dem allerlei drapiert war.
Der Vogel wurde so handzahm, dass er während dem Freigang immer wieder Personen ansteuerte, um sich auf deren Schultern niederzulassen oder auf Tischen zu spazieren, bevorzugt während ich meine Hausaufgaben machte. Er flog auf ihm zugehaltene Arme, Finger oder Handrücken und ließ sich notwendigerweise genau so wieder in den Käfig zurück befördern, in den er ansonsten freiwillig zurückkehrte.
Unser Vogel gab abends erst wirklich Ruhe, nachdem wir seinen Käfig mit einem Tuch abdeckten. Dann hakte er sich in die vordere rechte Ecke, verstummte, schloss seine Augen und schlief bis zu den ersten morgendlichen Geräuschen.
Nahmen wir Mahlzeiten ein, suchte auch Peterle seine Fressplätze auf und begann zu speisen. Der Wellensittich ernährte sich von Körnerfutter und frischem Wasser aus den Näpfen, und als Leckerli hing eine Hirsestange am Käfig, sowie getrocknetes Fischbein (Schulpe) für den Kalkbedarf und zum Wetzen des Schnabels.
Im Käfig konnte sich Peterle mit allerlei Vogelspiel-zeug beschäftigen, das in den Stangen zum herum wirbeln steckte. Eine Zeitlang saß auf einer Stange ein Artgenosse aus Hartplastik. Mit dem verstand er sich allerdings weniger, kreischte ihn laut an und hackte nach ihm. Bevor er den Plastikvogel gar aufpickte und ihm davon Splitter in den Magen gelangen könnten, haben wir den Kameraden bald wieder entfernt.
Bei geöffneten Fenstern musste unser Liebling natürlich im Käfig bleiben. Da half kein übliches Betteln durch Kratzen und Picken an der Käfigtüre. Ebenso in der Weihnachtszeit, wenn der Tannenbaum aufgestellt war. Und so ein Baum wurde ihm nach vielen Jahren zum Verhängnis. Hatte es der Vogel selbst geschafft die Verschlussklappe der Türe aufzudrücken, oder vergaßen wir diese zu schließen?
Wir hatten an diesem Heiligen Abend eben die Wachskerzen am Tannenbaum angezündet, die Zimmerbeleuchtung ausgeschaltet und versammelten uns davor, um traditionell Weihnachtslieder zu singen. Plötzlich hörten wir den Flügelschlag unseres Vogels. Er flog nach dem vergeblichen Suchen eines geeigneten Landeplatzes im dunklen Zimmer den Baum an, pikte sich an den Nadeln, erschrak und stürzte zu Boden.
Als ihn Opa vorsichtig aufhob kippte Peterles Kopf nach hinten. Er hatte sich das Genick gebrochen und war sofort tot. Weihnachten fiel durch die Trauer in jenem Jahr fast aus. Nach den Feiertagen bestatte ich ihn im Garten meiner Mutter, in einer stabilen roten Pappschachtel, die ihm bis dahin zur Aufbewahrung diente.
Da Peterle füä