Brené Brown
Verletzlichkeit
macht
stark
Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden
Aus dem Amerikanischen von
Margarethe Randow-Tesch
Brené Brown
Verletzlichkeit
macht
stark
Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden
Aus dem Amerikanischen von
Margarethe Randow-Tesch
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Daring Greatly« bei Gotham Books, einem Imprint der Penguin Group USA, Inc., New York.
Deutsche Erstausgabe
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe
Kailash Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2012 Brené Brown
Lektorat: Ralf Lay
Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, Daniela Hofner, unter Verwendung eines Motivs von plainpicture
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-10678-2
V004
www.kailash-verlag.de
Inhalt
Was es heißt, etwas Großes zu wagen
Einleitung Meine Abenteuer in der Arena
1Mangel – Unsere Kultur des »Nicht-genug-Seins«
Narzissmus und Verletzlichkeit
Das Empfinden, unzulänglich zu sein
Die Quelle des Mangels
2Mythen zur Verletzlichkeit
Mythos 1: »Verletzlichkeit ist Schwäche«
Mythos 2: »Verletzlichkeit ist mir fremd«
Mythos 3: »Verletzlichkeit ist, Privates zur Schau zu stellen«
Mythos 4: »Das schaffe ich allein«
3Scham verstehen und überwinden
Wie man sich gegen die dunklen Künste verteidigt
Scham und die Schwierigkeit, darüber zu reden
Scham, Schuld, Erniedrigung und Verlegenheit
Okay, Scham ist etwas Schädliches – doch was nun?
Wie Frauen und Männer Scham erleben
Frauen und das Spinnennetz der Scham – Wie Männer Scham erleben – Der Mann hinter dem Wandschirm – Stinksauer oder dicht – Ich bin zu anderen nur so hart wie zu mir selbst – Männer, Frauen, Sex und das Körperbild
Die Worte, die wir nie mehr zurücknehmen können
Wirklich werden
4Das Arsenal zur Unterdrückung der Verletzlichkeit
Das Mandat des Genugseins
Schutzschilde gegen Verletzlichkeit
Standardschutz Nr. 1: Seiner Freude nicht trauen – Großes wagen: Dankbarkeit üben – Standardschutz Nr. 2: Perfektionismus – Großes wagen: Die Schönheit von Kratzern und Rissen – Standardschutz Nr. 3: Emotionale Betäubung – Großes wagen: Grenzen setzen, wahre Zufriedenheit und Spiritualität kultivieren – Für unsere Spiritualität sorgen und sie nähren
Die seltener eingesetzten Schutzschilde
Der Selbstschutz: Täter oder Opfer – Großes wagen: Erfolg neu definieren, Verletzlichkeit wieder zulassen und um Unterstützung bitten – Traumata und der Versuch, etwas Großes zu wagen – Der Selbstschutz: Übermäßige Offenheit und die Flutlichtstrategie – Großes wagen: Absichten klären, Grenzen setzen und Verbundenheit kultivieren – Der Selbstschutz: Blitzüberfall – Großes wagen: Die Absichten hinterfragen – Der Selbstschutz: Im Zickzack laufen – Großes wagen: Präsent sein, aufmerksam sein, vorwärtsgehen – Der Selbstschutz: Zynismus, Kritik, Coolness und Grausamkeit – Großes wagen: Auf dem Drahtseil balancieren, Schamresilienz üben und den Realitätstest machen
5»Mind the Gap!« – Die Kluft des Disengagements schließen
Strategie versus Kultur
Die Kluft des Disengagements
6Bildung und Arbeitswelt wieder menschlicher machen
Die Führungsrolle in einer Kultur des »Nie-genug-Seins«
Scham erkennen und überwinden
Anzeichen für Scham in einer Kultur – Das Spiel mit der Schuldzuweisung – Die Vertuschungskultur
Anspruch und Wirklichkeit beim Feedback
Auf derselben Seite des Tischs
Der Mut, verletzlich zu sein
7So sein, wie unsere Kinder einmal werden sollen
Erziehung in einer Kultur des »Nie-genug-Seins«
Scham verstehen und überwinden
Mütter und Väter unterstützen sich gegenseitig
Anspruch und Wirklichkeit bei der Zugehörigkeit
Der Mut, verletzlich zu sein
Abschließende Gedanken
Dank
Anhang
Vertrauen in die Emergenz: Die Grounded Theory und mein Forschungsprozess
Die Forschungsreise – Design – Datenerhebung und -auswahl – Kodieren – Literaturanalyse – Die Evaluation einer datengestützten Theorie
Anmerkungen
Für Steve.
Du machst die Welt zu einem besseren Ort und mich zu einem besseren Menschen.
Was es heißt, etwas Großes zu wagen
Die Formulierung »etwas Großes wagen« stammt aus einer Rede Theodore Roosevelts mit dem Titel »Citizenship in a Republic«. Diese Ansprache, die auch unter dem Namen »Der Mann in der Arena« bekannt ist, hielt er im Frühling 1910 an der Sorbonne. Die folgende Stelle macht sie so herausragend:
Es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist oder wo der, der Taten gesetzt hat, sie hätte besser machen können. Die Anerkennung gehört dem, der wirklich in der Arena ist; dessen Gesicht verschmiert ist von Staub und Schweiß und Blut; der sich tapfer bemüht; der irrt und wieder und wieder scheitert; der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe, und sich an einer würdigen Sache verausgabt; der, im besten Fall, am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt; und der, im schlechtesten Fall des Scheiterns, zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat …1
Als ich das Zitat zum ersten Mal las, wurde mir klar: Das ist Verletzlichkeit. Diese Worte beschreiben genau das, was ich auch in meiner langjährigen Forschungsarbeit über Verletzlichkeit herausgefunden habe. Es geht nicht darum, nur Sieg oder Niederlage zu kennen. Verletzlichkeit zuzulassen bedeutet, die Notwendigkeit beider zu verstehen, und es geht vor allem darum, sich für eine Sache, die es wert ist, zu engagieren, sich rückhaltlos einzusetzen.
Verletzlichkeit darf man nicht mit Schwäche verwechseln. Und die Ungewissheit, das Risiko und die emotionale Blöße, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind, stehen nicht grundsätzlich zur Disposition. Wir haben lediglich die Wahl, inwieweit wir uns auf sie einlassen. Unsere Bereitwilligkeit, zu unserer Verletzlichkeit zu stehen und sie zuzulassen, bestimmt das Ausmaß unseres Muts und der Klarheit, mit der wir unser Ziel sehen. Der Grad, in dem wir uns gegen die Verletzlichkeit zu schützen versuchen, ist ein Maß für unsere Angst und unsere Unverbundenheit.
Wenn wir in unserem Leben darauf warten, irgendwann einmal perfekt oder unverwundbar zu sein, bevor wir in die Arena treten, opfern wir letztlich Beziehungen und Gelegenheiten, die vielleicht nie wiederkehren. Wir verschwenden unsere wertvolle Zeit im Jetzt und missachten unsere Gaben, jene einzigartigen Beiträge, die nur wir leisten können.
Perfektion und Unverwundbarkeit zu erlangen ist ein verführerisches Ziel, aber im menschlichen Leben unrealistisch. Wir müssen in die Arena treten, wie und wo immer sie sich uns auch darbieten mag – als eine neue Beziehung, eine wichtige Konferenz, ein schöpferischer Prozess oder ein schwieriges Gespräch in der Familie. Und wir müssen uns mutig und bereitwillig darauf einlassen. Statt am Rand sitzen zu bleiben und mit Urteilen und klugen Sprüchen zu blenden, müssen wir es wagen, mitzumachen und uns einzubringen. Das ist gemeint, wenn wir davon sprechen, Verletzlichkeit zuzulassen. Das heißt es, etwas Großes zu wagen.
Lassen Sie uns in diesem Buch nun also gemeinsam die Fragen untersuchen, die uns auf dem Weg dorthin begleiten:
−Was steckt hinter der Angst, sich verletzlich zu zeigen?
−Wie schützen wir uns selbst vor der Verletzlichkeit?
−Welchen Preis zahlen wir, wenn wir uns abschotten und zurückziehen?
−Wie können wir zu unserer Verletzlichkeit stehen und sie zulassen, damit sich ein allmählicher Wandel in der Art und Weise vollzieht, wie wir leben, lieben, erziehen und in Führungspositionen auftreten?
Einleitung –
Meine Abenteuer in der Arena
Ich schaue ihr geradewegs ins Gesicht und sage: »Ich hasse Verletzlichkeit, verdammt noch mal.« Ich denke mir: Sie ist Therapeutin, sie hat bestimmt schon schwierigere Fälle gehabt. Und je eher sie im Übrigen weiß, worum es mir geht, desto schneller können wir diesen ganzen Therapiekram hier hinter uns lassen. »Ich hasse Ungewissheit. Ich kann es nicht ab, wenn ich etwas nicht weiß. Für Verletzung oder Enttäuschung offen zu sein ist mir ein Gräuel. Es ist entsetzlich. Verletzlichkeit ist etwas Kompliziertes. Und sie ist fürchterlich. Verstehen Sie, was ich meine?«
Diana nickt. »Ja, ich weiß, was Verletzlichkeit ist. Ich kenne das sogar sehr gut. Es ist eine ganz erlesene Emotion.« Dann schaut sie auf und lächelt, als sähe sie etwas besonders Schönes vor ihrem geistigen Auge. Vermutlich wirke ich verwirrt, denn ich kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte. Plötzlich mache ich mir Sorgen um ihr Wohl und auch um mein eigenes.
»Ich sagte ›entsetzlich‹, nicht ›erlesen‹«, will ich klarstellen. »Und lassen Sie mich der Vollständigkeit halber noch hinzufügen: Wenn meine Forschungsergebnisse nicht einen Zusammenhang zwischen Verletzlichkeit und einem Leben aus vollem Herzen aufgezeigt hätten, säße ich gar nicht hier. Mir sind die Gefühle zuwider, die Verletzlichkeit in mir auslöst.«
»Was sind das denn für Gefühle?«
»Ich werde ungeduldig und gereizt. Als müsste ich in das, was da gerade vor sich geht, Ordnung bringen und es korrigieren.«
»Und wenn Sie das nicht können?«
»Dann würde ich am liebsten jemandem an die Gurgel gehen.«
»Und – machen Sie so was?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Was tun Sie dann?«
»Putzen. Erdnussbutter essen. Anderen die Schuld geben. Alles ringsumher perfekt arrangieren. Möglichst alles kontrollieren – alles, was nicht niet- und nagelfest ist.«
»Wann fühlen Sie sich denn am ehesten verletzlich?«
»Wenn ich Angst habe.« Ich schaue auf, während Diana mit der stereotyp nervigen Pause und dem Kopfnicken reagiert, mit denen Therapeuten ihre Klienten aus der Reserve zu locken pflegen. »Wenn ich besorgt und unsicher bin, wie die Dinge laufen werden, wenn ich mitten in einem schwierigen Gespräch stecke, wenn ich etwas Neues ausprobiere oder etwas tue, womit ich mich unbehaglich fühle oder mich der Kritik und den Urteilen anderer aussetze.« Eine weitere Pause und wieder ein mitfühlendes Nicken. »Wenn ich daran denke, wie sehr ich meine Kinder und Steve liebe und dass ich nicht mehr weiterwüsste, wenn ihnen etwas zustieße. Wenn ich mit ansehen muss, dass die Menschen, die mir am Herzen liegen, mit Schwierigkeiten kämpfen und ich nichts für sie tun oder ihre Lage verbessern kann. Ich kann nur an ihrer Seite sein.«
»Ich verstehe.«
»Ich fühle mich verletzlich, wenn ich Angst habe, weil alles zu glatt läuft. Oder zu schlecht. Ich fände es wirklich gut, wenn ich Verletzlichkeit ›erlesen‹ finden könnte, aber im Augenblick ist sie einfach nur entsetzlich. Kann man daran irgendetwas ändern?«
»Ja, ich glaube, schon.«
»Wie denn? Geben Sie mir nun irgendeine Hausaufgabe oder so was? Oder sollte ich noch einmal meine Daten überprüfen?«
»Nein, nein, keine Daten und keine Hausaufgaben. Bei mir gibt es weder Aufgaben noch Fleißkärtchen. ›Weniger denken, mehr fühlen‹, lautet die Devise.«
»Kann ich denn das, was Sie ›erlesen‹ nennen, erreichen, ohne mich während des Prozesses wirklich verletzlich zu fühlen?«
»Das sicher nicht«, lautet ihre Antwort.
»So ein Mist. Da kriegt man es ja mit der Angst zu tun.«
Ich habe mein ganzes Leben versucht, vor der Verletzlichkeit zu fliehen und sie zu überlisten. Ich bin Texanerin der fünften Generation, deren Familienmotto »Nie ohne meine Waffe« lautet, und insofern habe ich mir meine Abneigung gegen Ungewissheit und emotionale Blöße ehrlich – und genetisch – erworben.
In der Pubertät, der Phase, in der die meisten Menschen mit Verletzlichkeit zu kämpfen haben, begann ich, meine Vermeidungsstrategien gegen Verletzlichkeit zu entwickeln und zu verfeinern.
Im Lauf der Zeit habe ich alles ausprobiert – vom »lieben Mädchen«, das sein Programm von »leisten, perfekt sein und gefallen wollen« abspulte, über die Nelkenzigaretten rauchende Dichterin, die zornige Aktivistin und Karrierefrau bis hin zum aus der Kontrolle geratenen Partygirl. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um normale, wenn nicht gar vorhersagbare Entwicklungsstadien zu handeln, aber für mich waren sie mehr als das. All die Stadien, die ich durchlief, waren verschiedene emotionale Panzer, die mich davor bewahrten, mich zu sehr einzulassen und allzu verletzlich zu werden. Jede Strategie baute auf derselben Prämisse auf: »Halt alle auf sicherer Distanz und hab immer eine Strategie parat, um dich notfalls entziehen zu können.«
Zusammen mit meiner Angst vor der Verletzlichkeit erbte ich auch ein großes Herz und ein schnell entflammbares Mitgefühl. Mit Ende zwanzig gab ich daher meinen Managementposten bei der Telefongesellschaft AT&T auf, jobbte als Kellnerin und Barkeeperin und studierte noch einmal, um Sozialarbeiterin zu werden. Nie werde ich die Reaktion meiner Chefin bei AT&T vergessen, als ich ihr die Kündigung überreichte: »Lassen Sie mich raten. Sie hören auf, weil Sie Sozialarbeiterin oder Moderatorin vom ›Headbangers Ball‹ auf MTV werden wollen.«
Wie viele andere, die sich von Social Work angezogen fühlten, fand auch ich den Gedanken attraktiv, Ordnung in die Köpfe der Leute und in die sozialen Systeme zu bringen. Als ich meinen Bachelor in der Tasche hatte und meinen Master machte, hatte ich allerdings längst begriffen, dass es bei der Sozialarbeit nicht ums »Reparieren« ging. Es ging darum, Zusammenhänge herzustellen und sich in sie »einzufühlen«. Bei der Sozialarbeit muss man das Unbehagen der Vieldeutigkeit und Ungewissheit zulassen und sich ein offenes Ohr bewahren, damit Menschen ihren eigenen Weg finden können. Mit anderen Worten – sie ist chaotisch.
Als ich krampfhaft darüber nachdachte, wie es mir gelingen könnte, einen für mich ausführbaren Beruf in der Sozialarbeit zu finden, zog mich eine Aussage eines meiner Forschungsprofessoren in den Bann: »Wenn man es nicht messen kann, existiert es nicht.« Er erläuterte, dass es beim Forschen anders als bei den im Studium angebotenen Praxisseminaren um Vorhersage und Kontrolle ging. Ich war regelrecht hingerissen. Hieß das nun, dass ich in meinem Beruf Vorhersagen treffen und verlässlich kontrollieren konnte, statt mich immer nur einfühlen und ein offenes Ohr haben zu müssen? Ich hatte meine Berufung gefunden.
Die sicherste Erkenntnis, die ich aus meinem Bachelor, meinem Master und meiner Promotion in Sozialarbeit mitgenommen habe, ist diese: Verbundenheit ist der Grund, aus dem wir hier sind. Wir sind Beziehungswesen; Beziehung gibt unserem Leben Sinn und Bedeutung, und ohne sie leiden wir. Ich wollte über die Anatomie der Verbundenheit forschen.
Die Untersuchung des Verbundenheitsgedankens war eine simple Idee, doch bevor ich es überhaupt merkte, wurde ich von meinen Studienteilnehmern auf ein anderes Terrain entführt, denn als ich sie bat, über ihre wichtigsten Beziehungen und Beziehungserfahrungen zu reden, sprachen sie ständig von einem gebrochenen Herzen, Betrug und Scham – von der Angst, keine wirkliche Verbundenheit zu verdienen. Wir haben offenbar die Tendenz, bestimmte Dinge durch das zu definieren, was sie nicht sind. Das gilt insbesondere für unsere emotionalen Erfahrungen.
Mehr durch Zufall landete ich also auf dem Gebiet der Scham- und Empathieforschung und entwickelte im Laufe von sechs Jahren eine Theorie, die erklärt, was Scham ist, wie sie wirkt und wie wir seelische Widerstandskraft (Resilienz) gegenüber der Überzeugung entwickeln können, dass wir unzulänglich, nicht gut genug wären – dass wir keine Liebe und Zugehörigkeit verdienten.2 Im Jahr 2006 erkannte ich, dass ich mich über das Verständnis von Scham hinaus auch mit der Kehrseite befassen musste: »Was haben Menschen gemeinsam, die aus vollem Herzen leben, schamresilient sind und an ihren eigenen Wert glauben?«
Ich hoffte insgeheim, dass die Antwort auf diese Frage etwa klänge wie: »Sie sind Schamforscher. Um aus vollem Herzen leben zu können, muss man viel über Scham wissen.« Aber das war natürlich eine Illusion. Das Verständnis für die Scham ist nur eine der Variablen, die zu einem vollumfänglichen und rückhaltlosen Leben beitragen: zu einer Haltung, bei der man sich mit einem gesunden Selbstwertgefühl auf die Welt einlässt. In meinem Buch Die Gaben der Unvollkommenheit habe ich zehn »Wegweiser« für ein Leben aus tiefstem Herzen definiert, die anzeigen, worum authentische Menschen sich bemühen und was sie loszulassen bestrebt sind:
1.Kultiviere Authentizität: Befreie dich davon, was andere über dich denken könnten.
2.Kultiviere Selbstmitgefühl: Befreie dich von Perfektionismus.
3.Kultiviere seelische Widerstandskraft (Resilienz): Befreie dich von emotionaler Erstarrung und Ohnmacht.
4.Kultiviere Dankbarkeit und Freude: Befreie dich von Mangel und der Angst vor der Dunkelheit.
5.Kultiviere Intuition und Vertrauen: Befreie dich vom Bedürfnis nach Sicherheit.
6.Kultiviere deine Kreativität: Befreie dich von Vergleichen.
7.Kultiviere Spiel und Entspannung: Befreie dich von Erschöpfung als Statussymbol und Leistung als Ausdruck von Selbstwert.
8.Kultiviere Ruhe und Stille: Befreie dich von Angst und Sorge als Lebenshaltung.
9.Kultiviere sinnvolle Arbeit: Befreie dich von Selbstzweifeln und Vorgaben.
10.Kultiviere Lachen, Singen und Tanzen: Befreie dich von Coolsein und Kontrolle.3
Als ich die Daten analysierte, stellte ich fest, dass ich nur auf zwei von zehn Punkten kam, was ein Leben aus tiefstem Herzen anging. Das fand ich persönlich niederschmetternd. Es war ein paar Wochen vor meinem 41. Geburtstag und löste meine Midlife-Crisis aus. Selbstverständlich ist es nicht dasselbe, ob man Dinge intellektuell erfasst oder ob man von ganzem Herzen lebt und liebt.
In den Gaben der Unvollkommenheit habe ich die Bedeutung eines Lebens aus vollem Herzen sowie meinen Zusammenbruch respektive das spirituelle Erwachen geschildert, die aus dieser Einsicht folgten. An dieser Stelle möchte ich noch mal eine Definition von einem Leben aus vollem Herzen geben und auf die fünf wichtigsten Themen eingehen, die sich aus den Daten herausschälten und die für mich die durchschlagenden, im vorliegenden Buch geschilderten Erkenntnisse zur Folge hatten. Ich will Ihnen einen Vorgeschmack von dem geben, was Sie erwartet:
Aus vollem und tiefstem Herzen zu leben bedeutet, sich selbst etwas wert zu sein und sich mit dieser Haltung auf das Leben einzulassen. Es bedeutet, Mut, Mitgefühl und Verbundenheit zu pflegen und morgens mit dem Gedanken aufzuwachen: Egal, was ich heute schaffe und was unerledigt bleibt, ich bin genug. Es bedeutet, abends ins Bett zu gehen mit dem Gefühl: Ja, ich bin unvollkommen und verletzlich und bisweilen auch ängstlich, aber das ändert rein gar nichts daran, dass ich auch mutig bin und liebenswert und dass ich dazugehöre.4
Diese Definition beruht auf folgenden fundamentalen Wertvorstellungen:
1.Liebe und das Gefühl der Zugehörigkeit sind unverzichtbare Bedürfnisse aller Menschen. Wir sind von Natur aus Beziehungswesen. Das ist es, was unserem Leben Sinn und Bedeutung verleiht. Wenn Liebe, Zugehörigkeitsgefühl und Beziehungen in unserem Leben fehlen, hat das immer Leiden zur Folge.
2.Wenn man die Männer und Frauen, die ich befragt habe, grob in zwei Gruppen unterteilt – diejenigen, die ein tiefes Gefühl von Liebe und Zugehörigkeit empfinden, und diejenigen, die damit zu kämpfen haben –, gibt es nur eine Variable, die die beiden Gruppen voneinander trennt: Wer sich als liebenswert empfindet, liebt und ein Gefühl der Zugehörigkeit empfindet, glaubt einfach, dass er Liebe und die Zugehörigkeit verdient. Diese Leute haben kein besseres oder leichteres Leben, sie haben nicht weniger mit Süchten oder Depressionen zu kämpfen, und sie mussten auch nicht weniger Traumata, Insolvenzen oder Scheidungen verkraften. Aber inmitten all dieser Turbulenzen haben sie Methoden entwickelt, die ihnen helfen, an der Überzeugung festzuhalten, dass sie Liebe, Zugehörigkeit und sogar Freude verdienen.
3.Die unumstößliche Überzeugung, dass wir es wert sind, ein ausgefülltes Leben zu führen, entsteht nicht einfach von selbst – wir nähren sie, indem wir all die »Wegweiser« in unserem Alltag als Anregung für wichtige Entscheidungen und als tägliche Übungspraxis erkennen und verstehen.
4.Das Hauptanliegen aus ganzem Herzen lebender Männer und Frauen besteht darin, ein Leben zu führen, das von Courage, Empathie und Verbundenheit geprägt ist.
5.Aus ganzem Herzen lebende Menschen betrachten Verletzlichkeit als Katalysator für Mut, Mitgefühl und Verbundenheit. Tatsächlich schälte sich die Bereitwilligkeit, sich verletzlich zu zeigen, als eindeutigster, von all den Frauen und Männern geteilter Wert heraus, die ich als »rückhaltlos« beschreiben würde. Sie führen alles auf ihre Fähigkeit zurück, verletzlich zu sein – von ihrem beruflichen Erfolg über ihre Ehe bis hin zu den glücklichsten Augenblicken in der Kindererziehung.
»Verletzlichkeit« war bereits ein Thema in meinen bisherigen Büchern; tatsächlich gibt es sogar in meiner Dissertation ein Kapitel darüber.5 Von Anbeginn an schälte sich die bereitwillige Akzeptanz von Verletzlichkeit als wichtige Kategorie in meinen Untersuchungen heraus. Ich verstand auch, dass eine Beziehung zwischen Verletzlichkeit und den anderen Emotionen bestand, die ich untersucht hatte. Aber in meinen früheren Publikationen ging ich davon aus, dass die Beziehung zwischen Verletzlichkeit und so unterschiedlichen Themen wie »Scham«, »Zugehörigkeit« und »Selbstwert« auf Zufall beruhte. Erst nachdem ich im Laufe von zwölf Jahren immer tiefer in die Materie eingedrungen war, begriff ich schließlich die Rolle, die sie in unserem Leben spielt. Verletzlichkeit ist der Kern, das Herzstück und das Zentrum bedeutsamer menschlicher Erfahrungen.
Diese neue Erkenntnis brachte mich persönlich in ein beträchtliches Dilemma. Wie kann man einerseits ehrlich und sinnvoll über die Bedeutung der Verletzlichkeit sprechen, ohne die eigene Verletzlichkeit zu zeigen? Wie kann man andererseits verletzlich sein, ohne die eigene wissenschaftliche Legitimation zu opfern? Ehrlich gesagt glaube ich, dass emotionale Zugänglichkeit bei Wissenschaftlern und Akademikern Scham auslöst. Wir werden schon sehr früh in unserer Ausbildung gelehrt, dass kühle Distanz und eine gewisse Unzugänglichkeit zum Prestige beitragen und wir das Vertrauen in unsere Kompetenz untergraben, wenn wir zu vertraulich wirken. Während es fast überall sonst als Beleidigung gilt, jemanden als pedantisch zu bezeichnen, bringt man uns im wissenschaftlichen Elfenbeinturm bei, das Etikett der Pedanterie wie einen Schutzschild vor uns her zu tragen.
Wie könnte ich es riskieren, wirklich verletzlich zu sein und Geschichten aus meiner eigenen chaotischen Reise durch diese Forschung zu erzählen, ohne wie ein dilettierender Loser auszusehen? Was sollte mit meinem professionellen Panzer geschehen?
Der Augenblick, etwas Großes zu wagen, wie Theodore Roosevelt die Bürger einst aufforderte, kam für mich im Juni 2010, als ich eingeladen wurde, einen Vortrag bei TEDxHouston zu halten. TEDxHouston ist eine von vielen weltweit unabhängig organisierten Veranstaltungsreihen nach dem Vorbild von TED (Technologie, Entertainment, Design) – einer gemeinnützigen Organisation, die sich für »verbreitungswürdige Ideen« einsetzt. Die Organisatoren von TED und TEDx bringen die »faszinierendsten Denker und Macher der Welt« zusammen und bitten sie, innerhalb von achtzehn Minuten oder weniger einen Vortrag über ihr Leben zu halten.
Die Kuratoren von TEDxHouston waren anders als alle Veranstalter, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Eine Wissenschaftlerin vorzustellen, die über Scham und Verletzlichkeit forscht, sorgt bei den meisten Verantwortlichen für leichte Nervosität und veranlasst einige dazu, die Inhalte des Vortrags vorher genau abzusprechen. Als ich jedoch die Leute von TEDx nach ihren Wünschen fragte, antworteten sie: »Ihre Arbeit gefällt uns. Reden Sie über das, was Ihnen am Herzen liegt – Sie haben bei Ihrem Anliegen freie Hand. Wir sind dankbar, dass Sie zugesagt haben.« Übrigens ist mir nicht klar, wie sie auf die Idee kamen, mir bei meinem Anliegen freie Hand zu lassen, denn vor dem Vortrag wusste ich nicht einmal, dass ich »ein Anliegen« hatte.
Ich fand es wunderbar, dass die Einladung an keine Bedingungen geknüpft war, und gleichzeitig fand ich es schrecklich. Ich war wieder hin- und hergerissen zwischen der Spannung, mein Unbehagen zuzulassen, oder Zuflucht bei meinen alten »Freunden« zu suchen: der Vorhersage und der Kontrolle. Ich beschloss schließlich, mich zu trauen. Doch ehrlich gestanden ahnte ich nicht, in was ich da hineingeraten würde.
Mein Entschluss, »etwas Großes zu wagen«, war weniger meinem Selbstvertrauen zuzuschreiben als dem Vertrauen in meine Forschung. Ich weiß, dass ich eine gute Wissenschaftlerin bin, und vertraute darauf, dass die Schlussfolgerungen, die ich aus den Daten gezogen hatte, valide und verlässlich waren. Verletzlich zu sein würde mich dorthin bringen, wo ich hinwollte oder vielleicht -musste. Ich redete mir auch ein, dass es ja keine große Sache wäre. Ich sagte mir: »Es ist Houston, ein Heimspiel. Schlimmstenfalls werden fünfhundert Zuhörer plus ein paar Leute, die den Livestream im Internet mitverfolgen, denken, dass ich spinne.«
Am Morgen nach dem Vortrag wachte ich dann mit einem der übelsten »Katzenjammer« meines Lebens auf. Kennen Sie das Gefühl aufzuwachen, und alles ist in bester Ordnung, bis Ihnen schwant, dass Sie sich am Tag zuvor schrecklich blamiert haben, und Sie sich auf der Stelle unter der Bettdecke verkriechen möchten? »Was hab ich da nur gemacht? Fünfhundert Leute denken jetzt allen Ernstes, ich sei verrückt. Das ist der reinste Horror. Ich habe ganz vergessen, zwei wichtige Dinge zu erwähnen. Hatte ich übrigens bei dem Wort ›Zusammenbruch‹ einen Ausrutscher, als ich auf der Geschichte rumgeritten bin, die ich erst gar nicht hätte erzählen sollen? – Ich muss die Stadt verlassen …«
Aber ich konnte nirgendwohin.
Sechs Monate nach dem Vortrag erhielt ich dann eine E-Mail von den Kuratoren von TEDxHouston, in der sie mir dazu gratulierten, dass mein Vortrag auf die zentrale Webseite von TED gestellt werden sollte. Ich wusste, dass das an sich etwas Positives, um nicht zu sagen eine Ehre war, aber es machte mir furchtbare Angst. Erstens, weil ich mich gerade irgendwie an den Gedanken gewöhnt hatte, dass mich »nur« fünfhundert Zeitgenossen für meschugge hielten. Zweitens, weil ich mich in einem Umfeld voller Kritiker und Zyniker in meiner beruflichen Laufbahn stets sicherer damit gefühlt hatte, unterhalb des Radarschirms zu fliegen. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, wie ich auf die E-Mail reagiert hätte, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass sich das Video viral verbreiten würde – und dass dieses Video über die Bedeutung der Verletzlichkeit und der Bereitschaft, sich zu zeigen, ironischerweise eben genau dazu führen würde, dass ich mich so unangenehm verletzlich und bloßgestellt fühlte …!
Inzwischen gehört jener Vortrag mit über fünf Millionen Aufrufen und Übersetzungen in 38 Sprachen zu den am häufigsten angeklickten auf TED.com. Ich habe ihn mir nie angeschaut. Ich bin mittlerweile froh, dass ich ihn gehalten habe, aber immer noch löst er ein gewisses Unbehagen bei mir aus.
In meinen Augen war 2010 das Jahr des TEDxHouston-Vortrags, und 2011 war das Jahr, den Worten Taten folgen zu lassen. Ich reiste quer durchs Land und hielt Vorträge vor Mitarbeitern in großen börsennotierten Unternehmen, Coachs von Führungskräften, dem Militär und Rechtsanwälten bis hin zu Erziehern und Schulaufsichtsbehörden. Im Jahr 2012 wurde ich schließlich eingeladen, einen weiteren Vortrag bei der TED-Hauptkonferenz im kalifornischen Long Beach zu halten. Diese Veranstaltung bot mir die Chance, über die Arbeit zu sprechen, die buchstäblich die Grundlage und den Ausgangspunkt meiner gesamten Forschung bildete: Ich hielt einen Vortrag über Scham und darüber, dass wir sie verstehen und bewältigen müssen, wenn wir wirklich Großes wagen wollen.
Die Erfahrung, über meine Forschung zu berichten, hatte dieses Buch zur Folge. Nach Gesprächen mit meinem Verlag über ein mögliches Managementbuch und/oder einen Erziehungsratgeber sowie eine Ausgabe für Lehrer kristallisierte sich heraus, dass nur ein einziges Buch erforderlich war. Denn ganz gleich, wohin ich ging oder mit wem ich über das Thema sprach, die grundsätzlichen Probleme waren stets die gleichen: Angst, innerer Rückzug (Disengagement) und der Wunsch, mehr Courage zu haben.
Meine Vorträge in Firmen konzentrieren sich fast immer auf inspirierte Mitarbeiterführung oder Kreativität und Innovation. Die wichtigsten Probleme, von denen mir alle berichten – von Topmanagern bis hin zu den unteren Führungsebenen –, haben mit innerer Kündigung zu tun, mit ausbleibendem Feedback, der Furcht, mit der Schnelllebigkeit nicht mithalten zu können, und der mangelnden Einsicht in Sinn und Zweck des Ganzen. Wenn wir Innovationskraft und Leidenschaft wieder ankurbeln wollen, müssen wir die Arbeitswelt wieder menschlicher machen. Wo Scham zum Managementstil wird, stirbt das Engagement. Wenn ein potenzielles Versagen nicht geduldet wird, können wir Lernfähigkeit, Kreativität und Innovationsbereitschaft vergessen.
Bei der Kindererziehung ist die gängige Praxis, Eltern nach vordergründigen Kriterien als gut oder schlecht zu kategorisieren, ebenso weit verbreitet wie kontraproduktiv: Damit wird die Pädagogik in ein Minenfeld der kleineren und größeren Fettnäpfchen verwandelt. Die wirklich entscheidende Frage an Eltern sollte vielmehr lauten: »Lassen Sie sich auch wirklich auf Ihre Kinder ein? Und schenken Sie ihnen die gebührende Aufmerksamkeit?« Wenn ja, können Sie sicher davon ausgehen, dass Sie viele Fehler machen und nicht immer die richtigen Entscheidungen treffen werden. Augenblicke »unvollkommener« Erziehung können sich allerdings in regelrechte Geschenke verwandeln, wenn unsere Kinder merken, dass wir darüber nachdenken, was falsch gelaufen ist und was wir das nächste Mal besser machen könnten. Der Erziehungsauftrag lautet nicht, stets perfekt zu sein und um jeden Preis »glückliche« Kinder aufzuziehen. Perfektion ist auch hier eine Utopie, und das, was Kinder vermeintlich glücklich macht, bereitet sie nicht zwangsläufig darauf vor, mutige, engagierte und lebenstüchtige Erwachsene zu werden.
Gleiches gilt für die Schulen. Mir ist kein einziges Problem begegnet, das nicht auf irgendeine Kombination von innerem Rückzug seitens der Eltern, Lehrer, der Schulleitung oder der Schüler und dem Aufeinanderprallen von konkurrierenden Interessenvertretern zurückzuführen war, die darum wetteifern, den einen, einzig richtigen Sinn und Zweck zu definieren.
Ich finde, dass die größte und lohnendste Herausforderung meiner Arbeit darin besteht, Kartografin und Reisende in Personalunion zu sein. Meine Landkarten – oder Theorien – über die Resilienz gegenüber Schamgefühlen sowie über rückhaltloses Engagement und das Zulassen von Verletzlichkeit sind nicht das Resümee meiner eigenen Eindrücke als Reisende, sondern der Daten, die ich in den vergangenen zwölf Jahren gesammelt habe – der Erfahrungen Tausender Männer und Frauen, die sich Wege bahnen in die Richtung, die ich und viele andere Menschen in ihrem Leben einschlagen möchten.
Mit den Jahren habe ich allerdings auch gelernt, dass eine versierte und routinierte Kartografin noch lange keine souveräne Reisende ist. Ich stolpere und falle immer wieder und muss auch konstant den Kurs ändern. Und obwohl ich versuche, einer Route zu folgen, die ich selbst eingezeichnet habe, werde ich des Öfteren von Frustrationen und Selbstzweifeln heimgesucht, und dann knülle ich die Landkarte zusammen und stecke sie für eine Weile in die Küchenschublade, in der all der andere Krimskrams landet. Die Reise von »entsetzlich« nach »erlesen« ist nun mal keine Butterfahrt, aber für mich war sie bis jetzt jeden einzelnen Schritt wert.
Was wir alle gemein haben – und davon handelten meine Vorträge der letzten Jahre –, ist eine Wahrheit, die den eigentlichen Kern dieses Buches ausmacht: Was wir wissen, ist wichtig, doch wer wir sind, ist wesentlich wichtiger. Mehr zu sein, als zu wissen, setzt voraus, dass wir uns einbringen und uns auch sichtbar dazu bekennen. Es setzt voraus, dass wir uns nicht scheuen, etwas Großes zu wagen, und dabei zulassen, dass wir auch verletzlich sind. Einer der ersten Schritte auf dieser Reise besteht darin, zu begreifen, wo wir stehen, mit welchen Schwierigkeiten wir es zu tun haben, und auszumachen, wohin die Reise gehen soll. Meiner Auffassung nach gelingt uns dies am besten, wenn wir zunächst einmal unser alles durchdringendes Credo untersuchen, wir wären »nie gut genug«.
Kapitel 1 –
Mangel – Unsere Kultur des »Nicht-genug-Seins«
Nachdem ich bei meiner Arbeit im Laufe der letzten zwölf Jahre beobachtet habe, was das stete Empfinden des Mangels und der eigenen Unzulänglichkeit in unseren Familien, Organisationen und Gemeinden anrichtet, denke ich, dass wir es langsam überdrüssig sind, Angst zu haben. Wir wollen stattdessen lieber etwas Großes wagen. Wir sind die allenthalben stattfindenden Diskussionen leid, die sich darum drehen, wovor wir uns fürchten sollten und wer die Schuld an was auch immer haben könnte. Wir alle wollen lieber unerschrocken in die Zukunft blicken.
»Man kann keine Katze schwingen, ohne einen Narzissten zu treffen«: Zugegeben, es war rhetorisch nicht mein glänzendster Moment auf dem Podium. Es war aber auch nicht meine Absicht, irgendjemanden zu kränken. Doch wenn ich mich richtig aufrege oder frustriert bin, neige ich dazu, in die Sprache zurückzufallen, die mir von Generationen texanischer Vorfahren eingeimpft worden ist. Ich »schwinge Katzen«, irgendetwas »stinkt mir«, und häufig versuche ich »bis zum Erbrechen«, etwas hinzubiegen. Solche verbalen Ausrutscher unterlaufen mir normalerweise daheim oder wenn ich mit meiner Familie und Freunden zusammen bin, aber wenn ich streitlustig werde, entschlüpfen sie mir gelegentlich auch in der Öffentlichkeit vor einem größeren Publikum.
Ich kenne das im angelsächsischen Sprachraum durchaus geläufige Idiom von »der Katze, die man schwingt«, mein Leben lang, und mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dass sich eine nicht unbeträchtliche Anzahl der tausend Zuhörer im Saal vorstellen könnte, wie ich selbstgefälligen Mitmenschen tatsächlich eine lebendige Katze um die Ohren schlug. Als ich anschließend auf die zahlreichen E-Mails meines Publikums reagieren musste, deren Verfasser Grausamkeit gegenüber Tieren für unvereinbar mit meiner Botschaft von Verletzlichkeit und Verbundenheit hielten, konnte ich zu meiner Entlastung eruieren, dass es sich bei der »Katze« in diesem geflügelten Wort der British Navy nicht um ein Tier handelt, sondern um ein Synonym für die neunschwänzige Peitsche, die man in den beengten räumlichen Verhältnissen eines Schiffes nur unter Schwierigkeiten schwingen kann: »No room to swing the cat« bedeutet heutzutage nicht mehr, als dass man nicht genug Platz hat. Ich weiß, auch dieses sprachliche Bild ist, wörtlich verstanden, nicht gerade »gewaltfrei«.
In meinem speziellen Fall kam es zu seiner Anwendung, als eine Frau im Publikum rief: »Die Kinder heutzutage halten sich alle für so ungemein besonders. Wieso mutieren mittlerweile derart viele Menschen zu regelrechten Narzissten?« Sicher, meine wenig brillante Antwort grenzte an Neunmalklugheit. Aber sie war die Konsequenz aus einer Frustration, die ich immer empfinde, wenn ich an den inflationären Gebrauch des Begriffs »Narzissmus« denke: »Facebook ist so narzisstisch«, »Warum halten Menschen das, was sie tun, für derart wichtig?«, »Die Kinder heutzutage sind alle Narzissten«, »Es geht immer nur um ›ich, ich, ich‹«, »Meine Chefin ist eine solche Narzisstin; sie hält sich für besser als alle anderen und wertet jeden ab« …
Und während man »Narzissmus« im Alltag mittlerweile als Allerweltsdiagnose für jedwedes unerwünschte Verhalten benutzt, angefangen von Arroganz bis hin zur Grobheit, testen Wissenschaftler und in therapeutischen Berufen Tätige die Dehnbarkeit des Konzepts auf jede nur erdenkliche Weise. Und eine Gruppe von Akademikern analysierte vor nicht allzu langer Zeit sogar mit Hilfe des Computers beliebte amerikanische Hits der letzten dreißig Jahre.6 Die Wissenschaftler stellten einen statistisch signifikanten Trend zu Narzissmus und Feindseligkeit in der Popmusik fest. Passend zu ihrer Hypothese entdeckten sie eine Abnahme des Gebrauchs der Personalpronomen »wir« und »uns« zugunsten einer Zunahme von »ich« und »mich«.
Sie fanden auch heraus, dass Wörter, die soziale Verbundenheit und positive Emotionen ausdrückten, abgenommen und Wörter wie »Hass« oder »töten«, die mit Wut und antisozialem Verhalten in Verbundenheit stehen, zugenommen hatten. Zwei an dieser Studie beteiligte Wissenschaftler, Jean Twenge und Keith Campbell, Autoren des Buchs The Narcissism Epidemic, sind der Auffassung, dass sich das Auftreten der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in den Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat.7
Um noch ein weiteres geflügeltes Wort meiner Großmutter zu zitieren: Es scheint, als würde die Welt den Bach runtergehen.
Doch ist das wirklich der Fall? Sind wir tatsächlich umgeben von Narzissten und haben wir uns in eine Kultur von um sich selbst kreisenden, größenwahnsinnigen Menschen verwandelt, die nur an Macht, Erfolg, Schönheit und Besonderheit interessiert sind? Haben wir solch ein Anspruchsdenken, dass wir tatsächlich glauben, wir seien von vornherein überlegen, selbst wenn wir nicht wirklich einen Beitrag leisten oder irgendetwas von Wert hervorbringen? Ist es wahr, dass es uns an der erforderlichen Empathie fehlt, um mitfühlende, verbindliche Menschen zu sein?
Wenn Sie wie ich gestrickt sind, zucken Sie vermutlich ein bisschen zusammen und denken etwas wie: »Ja, das ist genau das Problem. Nicht bei mir natürlich. Aber im Großen und Ganzen … das klingt schon irgendwie wahr!«
Es kommt uns immer gelegen, eine Erklärung für etwas zu haben, besonders eine, die uns das Gefühl gibt, selbst gut zu sein, und die Schuld den anderen zuweist. Menschen, die das Narzissmus-Argument vorbringen, servieren es gewöhnlich mit einer Portion Verachtung, Ärger und Verurteilung. Um ehrlich zu sein, hatte auch ich solcherart Emotionen, während ich diesen Absatz zu schreiben begann.
Unser erster Impuls ist, die »Narzissten« kurieren zu wollen, indem wir sie auf Normalmaß zurechtzustutzen versuchen. Ob ich mit Lehrern, Eltern, Firmenchefs oder meinen Nachbarn spreche, die Reaktion ist immer die gleiche: »Diese Egomanen müssen begreifen, dass sie nichts Besonderes sind, sie sind nicht so großartig, wie sie sich aufführen; sie haben auf rein gar nichts Anspruch, und sie müssen sich selbst überwinden. Niemand interessiert sich auch nur einen Deut für sie.« (Und das war jetzt nur die jugendfreie Version.)
Hier wird es kompliziert. Frustrierend. Und vielleicht sogar ein wenig herzzerreißend. Das Thema »Narzissmus« hat das gesellschaftliche Bewusstsein mittlerweile so weit durchdrungen, dass die meisten Menschen dieses Verhaltensmuster konsequenterweise mit Größenwahn, einem permanenten Bedürfnis nach Bewunderung sowie einem Mangel an Empathie und dergleichen in Verbindung bringen. Was fast niemand sieht, ist allerdings, dass dem Narzissmus – welchen Schweregrads auch immer – in Wirklichkeit Scham zugrunde liegt. Wir können ihn also nicht dadurch »korrigieren«, dass wir Menschen »auf Normalmaß zurechtstutzen« wollen und ihnen ihre Unzulänglichkeit und Kleinheit vor Augen führen. Scham ist nicht die Therapie, sondern die Ursache solcher Verhaltensmuster.