Fabio Volo
Einfach losfahren
Roman
Aus dem Italienischen von
Peter Klöss
Titel der 2006
bei Arnoldo Mondadori Editore, Mailand,
erschienenen Originalausgabe: ›Un posto nel mondo‹
Copyright © 2006 by
Arnoldo Mondadori Editore S.p.A., Mailand
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2009 im Diogenes Verlag
Die vorliegende Übersetzung
wurde durch ein Arbeitsstipendium
des Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert
Das Motto von Boris Pasternak stammt aus dem Band:
Initialen der Leidenschaft, Volk und Welt 1984
Zweisprachige Ausgabe mit Nachdichtungen
von Günther Deicke
Umschlagillustration nach Motiven von
iStockphoto.com
Für Greta
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24081 8 (2. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60370 5
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
Intro [9]
Gieß bitte die Alpenveilchen [14]
Das musste ich erst lernen [31]
Hatten sie nun miteinander geschlafen oder nicht? [45]
Wir verstanden uns immer noch gut [61]
Sie blieben noch eine Weile vorm Haus im Auto sitzen [72]
Grüß schön von mir [85]
Es hätte keinen Sinn gehabt [95]
Er hat mich nie verlassen [117]
Die Kette für Sophie [129]
Alles deutete in die gleiche Richtung [143]
Die Suche nach mir selbst [148]
Unentbehrlich für ihn [153]
Schon wieder alles umgeworfen [164]
Mulher do abraço [170]
Wie Federico vorhergesagt hatte [181]
Ein neues Leben – beziehungsweise zwei [186]
Und jeder Tag war anders [190]
Lieber Papa [196]
Ihm kann das nicht passieren [206]
Ein guter Grund, nicht arbeiten zu gehen [213]
[6] Und wie [228]
Auch wenn sie mal nicht da ist [236]
Sie meinte, Federico habe recht gehabt [247]
Ich hoffe, ich hab’s verdient [256]
Hinaufgefallen [261]
Dann lass lieber mal das Kiffen sein [273]
Ein phantastisches Abenteuer [278]
[7] In allem aber möchte ich
zum Wesen dringen.
Beim Werk, beim Suchen eines Wegs,
In Herzens Ringen.
Zum Wesen der Vergangenheit,
Es aufzufinden,
Bis zu den Wurzeln, bis zum Kern,
Bis zu den Gründen.
Und will die Schicksalsfäden klug
Zusammenstecken,
Will denken, fühlen, lieben und
Stets neu entdecken.
Boris Pasternak
[9] Intro
Ich bin im Krankenhaus. Sitze auf einem unbequemen Stuhl in einem Warteraum, der auf den Innenhof hinausgeht. Alles ist ruhig. Still und sauber.
Francesca liegt nebenan. Sie bringt gerade unsere Tochter zur Welt. Alice. Ich bin aufgeregt, besorgt. Denke an die beiden, denke an mich. Ich liebe Francesca. Sie ist ein Archipel. Eine Ansammlung wunderbarer Inseln, und ich schippere hindurch und erkunde die Vielfalt ihrer sanften Formen. Ich kenne all ihre Schattierungen, jedes winzige Detail. Ich kenne ihr Schweigen, ihre Freude. Ihre tausend Düfte, den Hauch ihrer Küsse, ihren liebevollen Blick auf meiner Haut. Ich liebe die Schnörkel ihrer Handschrift. Das Leuchten ihrer nackten Schultern und ihre Halsbeuge, der ich meine geheimsten Gedanken anvertraut habe. Ihre Hände, die Augenblicke der Ewigkeit in mir erschaffen können. Ich bin verzaubert von den Landschaften, in die sie mich führt, wenn sie mich umarmt. Landschaften, die ich kenne, ohne je dort gewesen zu sein. Und obwohl mir all das vertraut ist, bin ich immer wieder aufgeregt und muss immer wieder staunen. Ich rede wie ein alter Süßholzraspler, ich weiß, langweilig und pathetisch bin ich. Aber ich glaube, das ist ganz normal, wenn man zu dem Schuh, den man seit Jahren in der Hand hält, endlich den passenden Fuß gefunden hat.
[10] Francesca hat gesagt, dass sie mich liebt, und ich glaube ihr. Nicht nur, weil sie es sagt, sondern weil ich es in vielem spüre, in kleinen Gesten, unbewussten Aufmerksamkeiten. Es dringt gar nicht in ihr Bewusstsein, so wie das Meer nicht weiß, dass es das Meer ist. Wenn ich mit ihr zusammen bin, habe ich oft Lust, zu pfeifen oder ein Liedchen zu trällern, und auch daran merke ich, dass sie mich liebt. Vor ein paar Stunden haben wir noch einen Spaziergang durch unser Viertel gemacht. Solche Momente schenken wir uns oft. Es tut uns gut, nachts zusammen spazieren zu gehen. Wir reden dann über uns und darüber, wie wir diesen wichtigen Abschnitt in unserem Leben gestalten wollen. Wir teilen unsere Empfindungen. Wenn wir etwas erleben, das uns bewegt, tauschen wir uns darüber aus, damit es sich uns besser einprägt. Manchmal schweigen wir auch beim Gehen, sagen kein Wort.
Da wir uns lieben, haben wir häufig gute Gründe zu schweigen. Diese Spaziergänge unternehmen wir nicht erst, seit Francesca schwanger ist, das haben wir schon immer getan. Besonders im Sommer, weil wir gern die Fernsehgeräusche durch die geöffneten Fenster hören. Manchmal bleiben wir eine Weile stehen, um den Sendungen zu lauschen und dem Widerschein des Lichts zuzuschauen, das von den Fernsehern an die Wände geworfen wird. Heute Nacht blieben wir vor der Bäckerei bei uns um die Ecke stehen. Es ist erst Mai, und die Geräusche der Fernseher dringen noch nicht nach draußen. Neben der Bäckerei liegt die Backstube. Auf der anderen Straßenseite steht immer ein Stuhl. Damit der Parkplatz für den Lieferanten freigehalten wird. Ich setzte mich, Francesca im Arm. Alles war [11] eine einzige Liebkosung: das Licht des nahenden Morgens, der Wind, der Duft des Brotes, die Geräusche der Bäcker. Ich sah ihr in die Augen, jene Augen, durch die auch ich seit einiger Zeit die Welt sehe. Ich schnupperte an ihrem Hals wie ein Matrose, der morgens den Geruch des Meeres einsaugt. In ihrem Bauch bewegte sich etwas. Auf dem Heimweg merkte Francesca, dass es nun vielleicht so weit war, und wir fuhren hierher. In diesem Warteraum denke ich über mein Leben nach, wie es sich verändern wird, und versuche zu begreifen, was es bedeutet, ein Kind zu haben. Für immer.
Vieles aus meinem früheren Leben fällt mir ein. Zum Beispiel die Leichtigkeit, mit der ich mir früher einen Rucksack schnappen und losfahren konnte.
Francesca und ich haben dieses Kind gewollt, doch als sie mir sagte, sie sei schwanger, dachte ich im ersten Moment: Hilfe! Nein-verdammt-warte-noch-einen-Augenblick-ich-weiß-nicht-ob-ich-schon-so-weit-bin-das-heißt-ich-will-es-aber-schaffe-ich-das? Kriege-ich-achtundvierzig-Stunden-Bedenkzeit?
Tausend Ängste, die auf mich niederstürzten wie Kartons in einem Warenlager. Gleich darauf war ich so überwältigt, dass ich mich ins Auto setzen musste. Wir hatten auf dem Parkplatz eines Restaurants getanzt, als sie mir die Neuigkeit mitteilte. Ich war so glücklich, glücklicher hätte ich nur sein können, wenn ich mich verdoppelt hätte. Seit der Verkündigung ist Francesca mit jedem Tag schöner geworden. Noch heute bin ich oft wie verzaubert, wenn ich das Licht sehe, das sie ausstrahlt.
Es gab einen Tag im siebten Schwangerschaftsmonat, als [12] wir uns liebten und ich ihr Gesicht plötzlich ganz anders sah. Sie erschien mir wie ein Kind. Sie sprühte. Wie das Meer.
Wenn ich daran denke, dass der Körper einer Frau ein anderes menschliches Wesen zu schaffen vermag, komme ich mir unendlich klein vor. Sie isst, und ihr Körper erschafft einen Menschen, wie ein Laboratorium. Wie heißt dieses Wunder noch mal? Ah… Frauen. Gibt es etwas Schönes auf der Welt, das nicht bereits im Blick einer Frau enthalten wäre? Und wie eigenartig, mit einer schwangeren Frau zu schlafen. Abgesehen von den riesigen Brüsten, die aussehen, als ob sie platzen wollten, ist das Ungewohnteste dieser harte Bauch zwischen unseren Körpern. Ich hatte immer Angst, sie zu zerquetschen, meine beiden Frauen. Ganz behutsam schlief ich mit Francesca. Wenn sie oben war, konnte ich sie in all ihrem Glanz betrachten. Welch ein Anblick! Obwohl, am liebsten schliefen wir auf der Seite liegend miteinander, und ich schlang von hinten die Arme um sie. In diesen Augenblicken habe ich ihrer Halsbeuge die geheimsten Dinge anvertraut. Ich hielt sie in den Armen, meine Hand auf ihrem Bauch. Manchmal spürte ich, wie Alice sich bewegte. In den ersten Monaten, als der Bauch sich abzuzeichnen begann, brachten wir es kaum über uns, uns zu lieben. Fast so, als täten wir etwas Heiligem Gewalt an. Dann aber packte uns eine unbändige Lust, und alles war noch intensiver als vorher. Die Haut lächelte bei jeder kleinen Berührung.
Ich kenne Leute, die schon in ihrer Jugend davon geträumt haben, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Francesca und ich, wir sind nicht verheiratet, und bis vor [13] wenigen Jahren hätte ich nie daran gedacht, diesen Schritt zu tun; es wäre mir fremd vorgekommen, unpassend. Doch in letzter Zeit hat sich mein Leben radikal verändert. Es hat eine neue Richtung genommen. Ich habe mich verändert. Ich habe fast nichts mehr mit dem Menschen gemein, der ich bis vor wenigen Jahren war. Würde ich mir heute begegnen, wir würden uns wohl kaum anfreunden. Vielleicht fände ich mich nicht mal sympathisch.
Francesca liegt jetzt nebenan. Ich bin bei der Geburt nicht dabei. »Auch das Warten kann schön sein, wenn man auf einen geliebten Menschen wartet«, habe ich ihr zugeflüstert, als ich den Kreißsaal verließ. Doch eigentlich bin ich nur kurz weggegangen, weil ich etwas aufschreiben muss.
[14] Gieß bitte die Alpenveilchen
Ich heiße Michele, bin fünfunddreißig Jahre alt und kann gar nicht genau sagen, was für eine Art Arbeit ich mache. Vor ungefähr einem Jahr habe ich ein Buch geschrieben, das zwar kein Erfolg wurde, aber auch nicht schlecht lief und mir immerhin einen Vertrag über ein zweites einbrachte. Bevor ich das Buch schrieb, habe ich als Journalist in der Redaktion einer Wochenzeitschrift gearbeitet. Dort bin ich zwar nicht mehr fest, schreibe aber noch immer ab und zu einen Artikel, vor allem Interviews. Ich bin das, was man einen freien Autor nennt. Zumindest im Hauptberuf, denn nebenbei mache ich auch noch andere Jobs. Das bringt Abwechslung, und das Geld kann ich auch gebrauchen. Bei den Interviews mache ich alles selbst. Ich rufe die Leute an, die ich interviewen will, mache einen Termin aus und so weiter. Dann liefere ich den Beitrag ab. Satzfertig.
Seit ich hin und wieder Menschen meiner Wahl interviewe, in meinem Rhythmus, und daraus Artikel mache, ist meine Arbeitssituation deutlich angenehmer als damals, als ich noch den ganzen Tag in der Redaktion sitzen und mich an feste Regeln und Zeiten halten musste. Eins habe ich nie begriffen: Ich hätte die Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen können, aber wenn ich das gemacht hätte, dann hätte man mir auch das Gehalt halbiert. Also tat ich so als [15] ob. Jahrelang war ich der Solitaire-King auf dem Firmencomputer. Oder ich surfte im Internet und besuchte die Seiten mit den Mietangeboten der internationalen Immobilienfirmen. Meine Lieblingsstadt war New York. Wenn die Langeweile übermächtig wurde, suchte ich mir eine Wohnung in Manhattan, und wenn ich sie gefunden hatte, sponn ich ein bisschen herum und tat so, als würde ich dort wohnen. In den Jahren der Festanstellung habe ich in der halben Welt gewohnt.
»Entschuldigung, Schwester, können Sie schon etwas sagen?«
»Wir stehen noch am Anfang, seien Sie unbesorgt, sobald sich etwas tut, sage ich Ihnen Bescheid.«
Francesca und ich, wir hätten uns beinahe verloren. Zwischen unserer ersten Begegnung und dem heutigen Tag, an dem wir Eltern werden, liegt eine Trennung.
Man könnte sagen, ich bekomme eine Tochter mit meiner Ex.
Zu seiner Ex zurückzukehren, heißt es, ist, wie eine Suppe aufzuwärmen… Na, wer das sagt, der hat noch nie Francesca probiert. Abgesehen davon, dass ich für aufgewärmtes Essen sterben könnte. Nudelauflauf, Polenta, Minestrone, sogar Pizza… ist wohl Geschmackssache.
Damals, als wir frisch zusammen waren, konnten wir uns gar nicht lieben. Wir waren wie zwei Menschen, die ihr Lieblingsinstrument in Händen halten und nicht wissen, wie man es spielt. Aber wir haben dazugelernt.
Das eigentliche Problem lag darin, dass wir im Grunde [16] beide nicht sehr viel zu geben hatten. Unsere Beziehungen waren für uns nur dazu da gewesen, dass wir uns weniger allein fühlten, ein Schutz vor der Traurigkeit. Ich zum Beispiel suchte nach der Frau meines Lebens, weil ich im Grunde genommen gar kein Leben hatte. Oder, wie Federico es einmal ausdrückte: »Du musst nicht die Frau deines Lebens suchen, sondern ein Leben für deine Frau, was hättest du ihr sonst zu bieten? Was legst du auf den Tisch?«
Fede, also Federico, ist einer der Menschen, denen ich diese Vaterschaft verdanke. Ich verdanke ihm meine Wiedergeburt. Auch Francesca verdankt ihm das Leben. Ich weiß nicht, ob wir uns ohne ihn wiedergefunden hätten, und vor allem, ob ich je wieder zu mir gefunden hätte. Vielleicht hätte ich mich weiter treiben lassen und es noch nicht einmal gemerkt. Federico hat mich gerettet.
Wir haben uns in der Mittelschule kennengelernt. In jener Phase des Lebens, in der man die Schule und damit die Freunde wechselt und sich davor fürchtet. Man hätte gern noch die Freunde aus der Grundschule. Am ersten Tag kommen einem die Gesichter der neuen Kameraden noch fremdartig vor. Immer.
»Wer sind denn die? Wo kommen die her? Mit denen werde ich nie so eng befreundet sein wie mit meinen Freunden von früher, so wie die aussehen.«
Aber schon einen Monat später hat man die Freunde aus der Grundschule vergessen. Federico war einer, mit dem ich mich auf den ersten Blick nie angefreundet hätte. Er war mir nicht mal sympathisch. Aber wie es die Regel will: Da er mir nicht gleich gefiel und ich ihm auch nicht, wurden wir unzertrennlich. Er war Einzelkind, ich hatte eine [17] Schwester, mit der ich kaum redete; also waren wir praktisch wie Brüder.
Oft ging ich abends nicht zu meinen Großeltern nach Hause, sondern schlief bei ihm. Mit dreizehn legten wir unsere Hände auf den geteerten Vorsprung des baufälligen Hauses und schworen uns ewige Freundschaft.
Dieses Haus war unbewohnt und völlig verfallen. Am Fassadengiebel besaß es einen geteerten Vorsprung. Es erforderte eine gehörige Portion Mut, hinaufzusteigen und dort den Schwur zu leisten, und dass es so gefährlich war, bewies, wie viel uns unsere Freundschaft bedeutete.
Beim Abstieg rutschte ich ab und zog mir eine Schnittwunde unter dem linken Knie zu. Die Narbe, die zurückblieb, sieht aus wie die Unterschrift unter unseren Freundschaftspakt.
Mit sechzehn machten Federico und ich das erste Mal Urlaub ohne die Eltern, und zwar in Riccione. Riccione deshalb, weil es damals hieß, in Rimini und Riccione finde man immer was fürs Bett. Nach einer Woche hatten wir nichts vorzuweisen außer einem Abend, an dem Fede in der Disco eine aus Padua angebaggert und ihr die Hand in den Slip gesteckt hatte. Draußen durfte ich dann an seinen Fingern schnüffeln, im Tausch gegen einen Cappuccino und einen Bombolone.
In diesen Ferien hatten wir kaum Geld, und mehr als einmal verschwanden wir aus einer Pizzeria, ohne zu bezahlen. Wir stellten es ziemlich schlau an. Wir nahmen Sachen mit ins Lokal, die wir nicht mehr brauchten, eine Brieftasche zum Beispiel oder einen Schlüsselbund, eine Gürteltasche oder eine Jacke. Nach der Pizza ließen wir die Sachen auf [18] dem Tisch liegen und verkrümelten uns, erst der eine, dann der andere. Der Kellner sah unsere Sachen noch daliegen und schöpfte keinen Verdacht, als wäre der eine auf Toilette und der andere kurz ans Auto gegangen oder so. Es funktionierte immer, auch als wir älter waren. Besonders in den Lokalen, wo man nicht rauchen durfte.
Mit achtzehn machten wir unseren ersten Autourlaub, den nagelneuen Führerschein in der Tasche. Mit Fedes knallrotem Polo, Ziel Dänemark.
Noch ehe wir die italienische Grenze erreicht hatten, war das Auto eine Müllhalde. Überall Schachteln, Dosen, Tabakkrümel. Damals gab es noch keine CD-Player, deshalb hatten wir haufenweise Kassetten dabei. Unter den Sitzen lagen auch ein paar dazugehörige schwarze Hüllen herum, aber schließlich steckten die Kassetten überall, nur nicht in den Hüllen. Gekaufte und selbst aufgenommene. Als ich klein war, nahm meine Schwester immer Kassetten auf, indem sie ihren Recorder direkt vor die Boxen unserer Stereoanlage hielt. Sie machte die Wohnzimmertür zu, und wenn aus Versehen jemand hereinkam, musste sie noch mal von vorn anfangen. Später kaufte sich Federicos Vater eine moderne Anlage mit Tape A und Tape B.
Wir nahmen diverse Kassetten mit geeigneten Feriensongs auf. Was nie fehlen durfte, war ein Vasco-Rossi-Mix sowie, für den Fall einer Eroberung, eine Kassette mit Blues. Keine italienischen Blues, denn wir fuhren ja ins Ausland. Fede hatte eine Kassette mit langsamen Stücken der Scorpions aufgenommen. Eins unserer Lieblingsstücke auf dieser Fahrt, das wir aus voller Kehle mitsangen, war La noia von Vasco Rossi. Über die Frauen in Dänemark hatte [19] uns niemand was erzählt, deshalb war es fast ein Schock, als wir ankamen. Die schönsten Mädchen, die wir je gesehen hatten. Das hier war nicht Riccione, hier kamen wir tatsächlich zum Zug. Scorpions olé!
Auf der Rückreise fuhren wir über Amsterdam, und unsere dänischen Eroberungen Kris (meine) und Anne (seine) kamen mit.
Ich erinnere mich an das Autobahnschild, ich erinnere mich, dass wir auf den Parkplatz fuhren, dann erinnere ich mich an praktisch nichts mehr. Ein Stück Kuchen und Pilze. Das ist alles. Der Rest der Erinnerung ist in Rauch aufgegangen.
Ich weiß nur noch, wie wir uns am Bahnhof von unseren Freundinnen verabschiedeten und merkten, dass wir traurig waren. Es tat uns wirklich leid. Wir kamen uns verliebt vor und wollten für den Rest unseres Lebens mit ihnen zusammen sein. Wir versprachen uns gegenseitig, dass wir haufenweise Briefe schreiben würden. »I love you I love you I love you…«
Wir haben niemals auch nur eine Ansichtskarte geschickt.
Ich habe aber noch die Fotos… Was die beiden heute wohl so machen?
Manchmal hätte ich Lust, die unbekannten Frauen wiederzusehen, die hier und da in meiner Fotosammlung auftauchen.
Mit zwanzig stieg Federico ins Immobiliengeschäft ein, weshalb wir zu den wenigen Glücklichen gehörten, die schon früh von zu Hause auszogen. Eines Tages fand er zwei Wohnungen für uns, die frei und bezahlbar waren. Jeder [20] hatte nun seine Miniwohnung, das perfekte Ambiente für jeden Tag Party. Außer mittwochs, denn mittwoch abends spielten wir immer Tippkick.
Es gab nur wenige Gründe, weshalb einer das Spiel ausfallen lassen durfte:
– plötzliche schwere Erkrankung;
– Finger gebrochen;
– garantierter Sex mit einem Mädchen (nur beim ersten Mal);
– ein Erdbeben über Stärke 6 auf der Richterskala;
– ein unvorhergesehener Vollrausch zum Aperitif und daraus resultierende Unfähigkeit, sich auf den Beinen zu halten.
Kurz und gut… wir waren unzertrennlich, bis er mit achtundzwanzig plötzlich eine Grundsatzentscheidung traf und unsere Wege sich trennten. Die Jahre zuvor hatten wir immer nach dem gleichen Muster gelebt. Tagsüber arbeiten, abends unter der Woche manchmal ausgehen, freitags und samstags alkoholische Selbstzerstörung, der Sonntag diente in erster Linie der Erholung. Wenn es gut lief, rissen wir irgendwelche Bräute auf, wenn nicht… rubbel-dich-frei! Ich darf sagen, dass wir bei den Mädchen einen ganz ordentlichen Erfolg hatten, er mehr als ich.
Darüber hinaus machten wir ehrlich gesagt nicht viel aus unserem Leben. Diese Routine gab uns Sicherheit. Alles war bekannt, und so behielten wir die Kontrolle. Hier was essen, da einen Aperitif und dort in die Disco. No problem. Autopilot. Für mich war es das Größte. In stabilen Verhältnissen ging es mir immer gut, zumindest nach außen hin.
Dann, eines Tages, geschah etwas Unerwartetes. Nach [21] dem üblichen Aperitif und dem üblichen Abendessen gingen Federico und ich nicht in die Disco, sondern zu ihm nach Hause, weil er keine Lust hatte weiterzuziehen.
Er hatte während des Essens fast nichts gesagt. Den ganzen Abend hatte er mit dem Messer gegen die Mineralwasserflasche geklopft. Irgendwann hatte ich sie dann weggestellt, doch er hatte mich nicht mal angeschaut, hatte einfach nur mit der Weinflasche weitergemacht, wortlos.
Zu Hause nahmen wir uns zwei Bier und setzten uns. Ich aufs Sofa, er in den Sessel. Ein paar Kommentare über die Leute, die wir auf der Piazza gesehen hatten, ein bisschen albernes Getratsche über diesen und jenen Seitensprung, über den sich inzwischen alle das Maul zerrissen, dann versank er wieder in Schweigen. Er starrte die Bierflasche an und versuchte, mit dem Fingernagel das Etikett abzukratzen.
Ich fragte ihn, ob etwas nicht stimme. Erst antwortete er, alles sei in Ordnung, aber nach einem Moment der Stille brach es aus ihm heraus, als ob er einen Anfall hätte.
»Was ist unser Ding? Ich weiß immer noch nicht, was mein Ding ist. Ich habe das Gefühl, dass ich hier auf diesem dämlichen Planeten bin, um etwas Bedeutendes zu tun, aber ich begreife einfach nicht, was… Weißt du, wie man herausfindet, was das eigene Ding ist?… Ich habe das Gefühl, als würde ich das Leben wegwerfen. Gestern war ich sechzehn… peng, und heute bin ich achtundzwanzig.«
»Was für ein Ding denn?«
»Ach, komm schon… dein Ding, deine Berufung, dein Talent, die besondere Fähigkeit, die man ausleben soll. Die Sache, das Ding, das jeder hat und das uns von den anderen [22] unterscheidet, die Ursache für meine Existenz, der Sinn des Lebens, was weiß denn ich…«
»Oh… was haben sie dir denn ins Bier getan? Kriegst du die Thirtysomething-Krise schon mit achtundzwanzig, oder was?«
»Ach… ich weiß nicht. Ich hab’s dir doch gesagt, ich spüre, dass ich was Richtiges tun muss, vielleicht nicht für die ganze Menschheit, aber für mich, etwas Außergewöhnliches für mein Leben, aber ich weiß einfach noch nicht, was. Ich weiß nur, dass ich es satthabe und dass ich in mir eine Energie verspüre, die rauswill. Aber ich schaffe es nicht, sie freizulassen, und das führt dazu, dass ich mich letztlich nur langweile, egal was ich tue.«
Er nahm einen Schluck Bier, fuhr sich mit der Unter- über die Oberlippe wie ein Schnurrbartträger, dann brach es aus ihm heraus: »Schluss Schluss Schluss… ich bin es leid, es muss einen Notausgang aus dieser Art zu leben geben, wir haben mehr verdient, als auf der Piazza abzuhängen und zu saufen. Das geht schon viel zu lange so, wir dürfen nicht den Fehler machen, alles laufenzulassen und uns in einem normalen, vorgegebenen Leben zu verlieren. Ich will diese Energie unbedingt nutzen, bevor sie verschwindet, bevor sie nachlässt, erlischt, und ich meinen Arsch nicht mehr hochkriege.«
»Also, wenn du mich fragst, du hast die Thirtysomething-Krise mit achtundzwanzig. Du bist frühreif, hab ich ja immer schon gesagt.«
»Ach, hör doch auf! Anstatt mich zu verarschen, hilf mir lieber zu verstehen. Bin ich wirklich dabei, verrückt zu werden, oder sind alle anderen verrückt geworden? Scheiße, [23] Michele, ich verkaufe Wohnungen, das ist nicht schlecht, wirklich nicht, ich verdiene auch gut, aber ich verbringe meinen Tag damit, den Leuten Dinge zu erläutern, die sie selbst sehen, nur dass ich noch das Wörtchen schön hinzufüge: ›Und hier haben wir Ihre schöne Badewanne, hier ist Ihr schönes Fenster, da steht Ihr schöner Heizkessel…‹ Ich wiederhole, was man eh sieht. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie absurd das ist? Ich warte immer darauf, dass ein Kunde mir antwortet, er sei ja nicht doof, das Fenster und die Wanne sehe er selbst. Sei ehrlich, sag nicht, dass es dich nicht auch anödet, immer das Gleiche zu tun, immer die gleichen Orte und die gleichen Leute zu sehen. Hast du nicht ab und zu das Gefühl, es könnte mehr als das geben, dass das Leben in Wirklichkeit mehr auf Lager hat? Die Artikel, die du schreibst, sind schön, aber wie sehr kümmert es dich wirklich, was du da tust? Vor ein paar Monaten hast du einen Artikel darüber geschrieben, wie man sich mit Alltagsgegenständen in Form halten kann. Dazu sah man das Foto einer Hausfrau, die mit einer Anderthalbliterflasche Mineralwasser Übungen machte… Verdammt, Michele, das bist doch nicht du!«
»Was kann ich daran ändern? Wenn die sagen, ich soll einen Artikel über dieses Thema schreiben, dann mach ich’s. Ich kann nicht dauernd nein sagen, ich hab da meistens nichts zu melden.«
»Kann sein, aber darum geht es nicht, es geht darum, dass ich, ich von diesem Leben und diesen Abenden angeödet bin.«
»Das war heute kein toller Abend und auch kein tolles Essen, da gebe ich dir recht. Außerdem hast du fast die [24] ganze Zeit nichts gesagt, aber immerhin haben wir nicht mies gegessen und sogar ab und zu gelacht.«
»Ich habe mal einer gegenübergesessen, die an einer Plastikzigarette nuckelte, weil sie mit dem Rauchen aufhören wollte… wollen wir darüber reden? Carlos Freundin hat neulich eine Diskussion angeleiert, wie wichtig es wäre, den Valentinstag zu feiern. Und er hat sie Mieze genannt… M-I-E-Z-E! Von wegen Mieze: Eine gewöhnliche Katze ist sie, die ihm an den Eiern hängt. Nachdem ich ihr eine halbe Stunde zugehört hatte, stand es mir bis hier. Dann meinte sie noch, nächsten Dienstag würde einer der Träume ihres Lebens wahr, dann würden nämlich sie und ihr Tiger sich eine Küche aussuchen gehen. Wie kann eine Küche der Lebenstraum einer Siebenundzwanzigjährigen sein? Das finde ich so zum Kotzen… Wo ist der Unterscheid zwischen diesem Samstagabend und dem letzten? Dass wir nicht ins Galaxy gegangen sind, sondern nach Hause. Punkt. Ich bin achtundzwanzig und lebe schon in der Illusion des Straßenbahnführers… Verdammter Mist! Aber so schnell gebe ich nicht auf.«
»Illusion des Straßenbahnführers?! Bist du ballaballa? Komm, gib dein Bier her.«
»Nein, du bist ballaballa, wenn du das nicht verstehst! Weißt du, was der Straßenbahnführer macht, Michele?«
»Ich bin immer schwer beeindruckt, wenn du mich beim Namen nennst. Was soll er schon machen… er lenkt die Straßenbahn.«
»Irrtum! Es scheint, als ob er die Straßenbahn lenkte, es scheint, als wäre er Herr über das Fahrzeug, aber in Wirklichkeit macht er nur eines: bremsen und beschleunigen. [25] Den Rest machen die Gleise. Er bestimmt höchstens die Geschwindigkeit, aber auch das nicht nach Gutdünken, denn selbst die Zwischenhalte sind reglementiert und müssen nach Fahrplan angefahren werden. Bei uns ist es genauso: Gymnasium, Uni, Arbeit, Heirat, Kinder, Endstation! Am Ende bestimmen wir nur, wie viel Zeit wir dafür brauchen. Die Einzigartigkeit des Lebens auf zwei Funktionen reduziert: beschleunigen oder bremsen. Punkt. Wir machen uns nur vor, wir würden unser Leben lenken.«
»Ich weiß nicht, ganz so ist es ja nun nicht, ich finde, du siehst das zu pessimistisch. Die meiste Zeit amüsieren wir uns doch prächtig und haben Spaß. Es ist nicht alles so schwarz, wie du es malst… alles in allem kann ich mich nicht beklagen.«
»›Ich kann mich nicht beklagen‹ – wie widerlich das klingt… Wir sind hier, um die Welt aus den Angeln zu heben, und du sagst: ›Ich kann mich nicht beklagen.‹ Hör zu, Michele, denk darüber, wie du willst, aber ich habe schon seit längerem einen ganz starken Wunsch: Ich will mich gehenlassen, ich will mehr für mich, ich will mich hineinstürzen, um hinaufzufallen. Das beschäftigt mich schon lange, und ich bin zu einem Schluss gekommen: Warum spielen wir nicht ein bisschen mit dem Leben?«
»Ich kann dir nicht ganz folgen. Was soll denn das heißen: mit dem Leben spielen? Sollten wir nicht gerade das Gegenteil tun? In unserem Alter mit dem Spielen aufhören und an konkretere Dinge denken, was weiß ich, eine Partnerin finden, uns die Flausen aus dem Kopf schlagen, heiraten, Kinder kriegen, einen Kredit fürs Eigenheim aufnehmen, anstatt bis in alle Ewigkeit Miete zu zahlen. Du [26] weißt doch, Miete zahlen ist so, als würde man das Geld zum Fenster rauswerfen, weil man hinterher weder Geld noch Wohnung hat. In unserem Alter hatten unsere Eltern schon Kinder. Vielleicht ist es ja das, was dich beunruhigt, die Tatsache, dass wir mit achtundzwanzig noch nichts Konkretes gemacht haben. Die biologische Uhr des Mannes oder so. Wenn du eine Frau wärst, würdest du dich jetzt vielleicht nach einem Kind sehnen.«
»Ja ja, die Thirtysomething-Krise mit achtundzwanzig, die männliche Version der weiblichen Sinnkrise… Sag mal, hältst du mich für ein genetisches Experiment, oder was? Natürlich müssen wir die Dinge tun, die du genannt hast, aber man kann nicht damit anfangen, man kann nicht erst die Schuhe anziehen und hinterher die Strümpfe. Gegen diese Dinge habe ich nichts, aber es gibt für alles den richtigen Zeitpunkt. Schau dir Maurizio an, zum Beispiel. Mit siebenundzwanzig ist er von zu Hause ausgezogen und hat Laura geheiratet. Mann, aber vorher muss man sich doch mal die Welt anschauen, oder? Bei denen spielt sich das ganze Leben auf einem Quadratkilometer ab. Was ein Elend. Er hat das eine Zuhause verlassen und ist sofort ins nächste gezogen, wie ein Kranker, der in eine andere Abteilung verlegt wird. Und die Frau, die er geheiratet hat, die hat doch schon mit jedem von uns was gehabt. Die Frauen hier sind wie Flipperkugeln: erst mit einem, dann mit dem nächsten, und heiraten und ins Loch fallen tun sie erst, nachdem sie alle Banden berührt haben. Ich hab nichts gegens Häuschen, das Autochen, das Bürochen, das Frauchen…«
»Na, so wie du ›Häuschen‹, ›Bürochen‹, ›Frauchen‹ sagst, [27] schaust du schon ein bisschen auf dieses Leben herab, so klingt es nämlich, als würdest du dich darüber lustig machen. Wenn er sie bei sich um die Ecke kennengelernt hat, wozu sollte er dann durch die Weltgeschichte reisen? Vielleicht sagst du das ja auch nur, weil du noch nicht die Richtige gefunden hast.«
»Also gut, sag, dass du wirklich so darüber denkst, dass du wirklich an das glaubst, was du eben gesagt hast, und ich höre sofort auf, mit dir über diese Dinge zu reden, und wir reden über Frauen. Ich sage doch nur, dass da noch etwas Größeres sein muss, was man tun kann.«
»Hör zu, Fede, das Größte, was ich jetzt tun kann, ist nach Hause gehen.«
»Versuch doch zu verstehen, was ich dir sagen will. Wenn ich in die Zukunft schaue, ist fast schon alles vorgezeichnet.
Ich will die Fäden meines Lebens in die Hand nehmen. Ich will nicht länger ein Straßenbahnführer sein. Ich will aussteigen, herausfinden, was ich wirklich will, was mein Ding ist. Möglicherweise entdecke ich, dass es tatsächlich Wohnungen-Verkaufen ist. Das soll mein Gesellschaftsspiel sein. Nix Playstation. Ich will nicht einer von diesen Schwachköpfen werden, die auf einen Bildschirm ballern und sich wie Helden vorkommen, aber wenn dann ihre Freundin mal drei Tage mit der Regel über die Zeit ist, werden sie blass, brechen zusammen oder machen sich sogar aus dem Staub.«
»Ehrlich, Fede, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir wollten hier ein Bier trinken, und du hältst mir Vorträge über Sachen, die wir schon früher durchgekaut haben, aber in einer anderen Tonart. Was soll das heißen, ab jetzt soll es [28] ein Spiel sein? Krieg dich wieder ein! Was soll ich deiner Meinung nach tun? Mich still in die Garage hocken und darauf warten, dass ein Stimmchen mir sagt, ich soll Astronaut werden oder Metzger oder Maler? Was mich betrifft, ich versuche einfach nur, es mir gutgehen zu lassen, was sollte man anderes tun?«
»Ich habe das alles nicht gesagt, damit du eine Entscheidung triffst. Ich sage nur, dass ich einfach nicht noch mehr Zeit damit verbringen will, auf die Piazza zu gehen und zu saufen, bevor ich nicht etwas getan habe, was für mich persönlich wichtig ist. Ab morgen beschäftige ich mich mit mir.
Ich wollte bloß wissen, ob du Lust hättest, bei diesem Abenteuer mitzumachen. Das ist alles. Das war es, was mir vorher im Kopf herumging.«
»Ha… Von wegen das ist alles! Kommt her und kotzt mir eine Busladung Gedanken vor die Füße. Mir platzt gleich der Schädel. Gehen wir raus?«
Wir gingen wieder nach draußen und betranken uns. Ich ein bisschen weniger.
Federico sagte, dieses eine Mal wolle er sich noch besaufen, denn am nächsten Tag werde aus diesem Besäufnis ein neues Leben entstehen.
Als ich nach Hause kam, war ich ganz durcheinander.
Die Tage darauf kamen wir nicht mehr auf das Thema zurück. Abgesehen von der Tatsache, dass Federico nicht mehr so oft ausging, schien alles wie früher. Wir verbrachten viele Abende zu Hause, meist bei ihm. Eines Abends hatten wir uns um neun bei mir verabredet, aber um zehn nach zehn war er immer noch nicht da. Ich rief bei ihm an, aber er nahm nicht ab. Komisch, dass er mir nicht Bescheid [29] gesagt hatte. Wäre es irgendein Abend gewesen, hätte ich mir keine Sorgen gemacht, aber es war Mittwoch, und die Tippkickfiguren standen schon auf dem Feld. Wenn es mittwochs später wurde, sagte er mir normalerweise Bescheid.
Einen Augenblick sah ich mich wieder mit acht Jahren vor der Schule stehen und auf meine Mutter warten, die nicht kommt. Ich wurde nervös.
Vom Erdbeben abgesehen – welche der vier Möglichkeiten, nicht zu kommen, mochte ihm dazwischengekommen sein? Hatte er sich vielleicht betrunken? Hatte er einer Kundin eine Wohnung gezeigt und sie wälzten sich jetzt in heißer Umarmung auf dem Fußboden?
Das war tatsächlich schon mal vorgekommen.
Aber was, wenn er bei sich zu Hause auf dem Fußboden lag, ohnmächtig oder tot? Ich lief nach draußen, zu seiner Wohnung. Ich klingelte, aber niemand machte auf.
Seine und meine Wohnungstür schlossen sich automatisch, wenn man sie hinter sich zuzog. Man musste nicht extra abschließen. Und weil wir uns schon so oft ausgeschlossen hatten, besaß ich den Schlüssel zu seiner und er den zu meiner Wohnung.
Jeder hätte den Ersatzschlüssel auch bei sich ins Auto legen können, aber es war schon vorgekommen, dass wir sie benutzt und dann vergessen hatten, sie wieder ins Auto zurückzulegen, und früher oder später blieben sie dann zusammen mit den anderen in der Wohnung liegen. Ich holte also seinen Ersatzschlüssel, öffnete und trat ein, auf der Suche nach Federicos betrunkenem oder leblosem Körper. Er war nicht da.
Alles war aufgeräumt, sogar mehr als sonst. Nichts, was [30] nicht an seinem Platz gewesen wäre, kein Teller und keine schmutzige Gabel im Spülbecken. Wo immer er hingegangen sein mochte, vorher hatte er die Wohnung aufgeräumt.
Auf dem Tisch lag ein Zettel für mich.
»Ciao, Michi. Ich hab beschlossen, es zu versuchen. Gieß bitte die Alpenveilchen.«
[31] Das musste ich erst lernen
Mit achtundzwanzig trennten sich also Federicos und meine Wege. Der berühmte Scheideweg. Einer wurde praktisch die Kehrseite des andern. Er die Straße, ich das Haus. Er stürzte sich mit Haut und Haar in ein Abenteuer, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Ich hingegen wählte Sicherheit und Beschaulichkeit.
Bis vor wenigen Jahren war ich nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die eine Veränderung mit sich gebracht hätten. Ich war traumatisiert.
Ich war acht und ging in die 3a der Grundschule Giosuè Carducci. An diesem Tag verließ ich nach dem Läuten das Gebäude, stellte mich neben den Betonpfeiler des Schultors und wartete.
Seit einigen Tagen holte mich endlich wieder meine Mutter von der Schule ab, nachdem sie zuvor mehr als einen Monat im Krankenhaus gewesen war.
Doch sie verspätete sich, und während meine Kameraden mit ihren Eltern und auch die Lehrerin schon alle nach Hause gegangen waren, blieb ich allein vor der Schule zurück. Das fiel auch Silvano auf, als er kam, um das Tor abzuschließen. Er rief mich beim Namen. Er kannte mich, weil er in der Pause heimlich Focaccia verkaufte und ich Stammkunde bei ihm war.
[32] »Noch nicht abschließen, Silvano, lassen Sie den Jungen einen Augenblick hereinkommen.«
»Michele, komm rein, die Direktorin will mit dir sprechen.«
»Ich kann nicht, meine Mutter holt mich doch ab, und wenn sie mich nicht sieht, kriegt sie einen Schreck.«
»Dann lasse ich das Tor offen, und wenn sie kommt, sage ich ihr, dass du drinnen bist.«
Während ich die Treppen zur Schulleitung hinaufstieg, überlegte ich, was ich bloß angestellt hatte. Ich war aufgeregt und ängstlich, obwohl ich nicht genau wusste, warum.
Hatten sie die Kaugummis unter meiner Bank entdeckt? War es möglich, dass sie die Handschrift auf den Klotüren erkannt und herausgefunden hatten, dass ich es war, der dort geschrieben hatte: ›Fabrizio Metelli aus der 3e ist doof‹?«
Als ich das Büro betrat, zog die Direktorin sofort ihren Mantel an und sagte, meine Mutter könne nicht kommen und sie selbst werde mich nach Hause bringen.
Ich seufzte erleichtert auf, auch wenn es mir nicht behagte, dass sie mich bringen wollte.
Auf der Fahrt versuchte sie, nett zu sein, aber ich war noch nie ein sonderlich vertrauensseliges Kind gewesen und antwortete immer nur »Ja« oder »Nein«. Nur einmal sagte ich etwas aus eigenem Antrieb: »Sie sind falsch gefahren.«
»Ich bringe dich nicht nach Hause, sondern zu deinen Großeltern, sie erwarten dich.«
Meine Oma wartete vor dem Haus. Sie bedankte sich bei der Direktorin, die sich von mir verabschiedete und, bevor [33] sie davonfuhr, zu Oma sagte: »Es tut mir unendlich leid, mir fehlen die Worte.«
Während ich die Treppe hochging, fragte ich, wo Mama sei und weshalb nicht sie mich abgeholt habe. Aber Oma antwortete nicht.
Zum ersten Mal hörte ich nicht in der Küche den Fernseher laufen, als ich in die Wohnung meiner Großeltern kam. Opa saß nicht am Tisch, sondern hatte sich ins Zimmer zurückgezogen und kam erst ein paar Minuten später heraus, nachdem er heimlich mit Oma gesprochen hatte.
Während ich am Tisch saß und wartete, dass mir jemand etwas zu essen hinstellte, kam Opa in die Küche und sagte, er müsse etwas Wichtiges mit mir besprechen.
Er setzte zu einer wirren Rede an. Meine Mutter sei ein besonderer Mensch und habe für eine Weile fortgemusst, dann sagte er etwas von Engeln und Jesus und dass dieser mich von diesem Tag an beschützen werde und mir noch näher sei. Erst am Ende seiner Rede begriff ich, dass er mir einfach nur zu erklären versuchte, weshalb meine Mama mich nicht abgeholt hatte. Sie hatte nicht in die Schule kommen können, weil sie jetzt im Himmel war.
Mit acht Jahren hatte ich noch eine kindliche Vorstellung vom Tod, damals sah ich darin nichts Endgültiges. Nach Opas Ansprache glaubte ich, meiner Mutter seien Flügel gewachsen und sie sei fortgeflogen, und manchmal war ich weniger traurig als wütend auf sie, weil sie mich ohne ein Wort verlassen und allein bei Oma und Opa zurückgelassen hatte. Hätte sie nicht beim Schultor, wo wir verabredet waren, vorbeikommen und sich von mir verabschieden können, bevor sie sich auf den Weg in den Himmel machte?
[34] Meine Mama fehlte mir, ich fragte oft, wann sie zurückkäme.
Das Leben war schöner gewesen, als meine Mutter noch da war. Nach ihrem Tod waren meine Schwester und ich dauernd bei Oma und Opa, jeden Tag nach der Schule, und oft übernachteten wir auch dort. Manchmal weinte ich, weil ich lieber in meinem kleinen Zimmer zu Hause schlafen wollte, wo all meine Sachen waren.
Oft war das Spielzeug, das ich gerade brauchte, dort.
Nachdem ich meine Mutter verloren hatte, sah ich auch meinen Vater seltener.
Ich mochte diese Veränderungen nicht.
Morgens war es nun Oma, die die Kleider raussuchte und mich zur Schule brachte. Ich merkte schnell, dass sie es nicht so damit hatte, Kleider zu kaufen, die zueinander passten. Es kam sogar vor, dass ich deswegen in der Schule ausgelacht wurde. Früher wäre das nie passiert.
Bei Oma musste ich immer Rollkragenpullover aus Acryl tragen. Ich hasse Rollkragenpullover.
»Wenn der Hals bedeckt ist, erkältest du dich nicht.«
Meine Schwester, die schon ein großes Mädchen war, hatte mehr Freiraum und ein Mitspracherecht, während ich in der Kleiderfrage den Mund zu halten hatte. Immer. Auch als Oma an Karneval beschloss, selbst das Kostüm anzufertigen, in dem ich auf Rossella Bianchettis Party ging.
Durfte da der Rollkragenpullover fehlen? Nein!
Zur Feier des Tages hatte sie sogar einen neuen gekauft. Weiß, natürlich aus Acryl, dazu eine Wollstrumpfhose in der gleichen Farbe. Dann schnitt sie ein großes Loch in einen roten Karton, durch das man mein Gesicht sah, und [35] setzte ihn mir auf den Kopf. Sie fand es umwerfend. Ich ging als… Lolli.