EINGEMISCHT!
KLÖPFER&MEYER
Neulich, als Bettlektüre, fiel mir ein kleiner Text in die Hände.
»Ein schöner langer Herbst vergeht. Die Blätter in den Lauben färben sich langsam intensiv rot. Mein Haus ist … wohlbestellt. Ich werde hier nun meine Tage und meine Nächte verbringen. Die Leute um mich herum scheinen mir allesamt besser und ehrbarer als ich … Nicht einmal schreiben will ich mehr. Ich werde zum Fischen aufs Meer hinausfahren, werde den Kaffee trinken und das billige Kraut rauchen … (Und) so will ich doch voller Anstand, voll beschämter Verwunderung und Verzweiflung meinen Tod erwarten. Falls mich der Wunsch zu schreiben wieder packt – was heißt der Wunsch, die schlechte Gewohnheit vielmehr, und sei es auch ohne Gedanken an Ruhm und Erfolg, dann werde ich mich ohne Stift und Papier irgendwohin flüchten oder zum Fischen gehen. Ich werde nicht mehr schreiben. Ich weiß, dass die Menschen mich hier nicht mögen. Weil ich nicht bin wie sie … Nie werden sie erfahren, dass mein Leben dahinsiecht, … unerträglich lang, doch in demütiger Liebe zum Wind, den Fischen, den Netzen, dem Meer, bis einst der Tod mich ereilt.«
Der (hier gekürzte) Text stammt aus einem Band mit Geschichten des lange schon verstorbenen türkischen Schriftstellers Sait Faik Abasíyaník (Manesse Verlag, München/Zürich, 2012).
Wer in seinem Leben Vieles erfahren hat, Erfolge und Misserfolge, Versäumnisse und Erreichtes, Fehler und Zufriedenheit, Lust und Leid, Trost und Missachtung, Mut und Verzagen, Schönheit und Abscheu, Liebe und Enttäuschung, Zuversicht und Sinnlosigkeit, der wird unvermeidlich durch solche Sätze nachdenklich, gar elegisch, gestimmt. Mehr als das: sie bestärken den Verdacht, dass es für jedermann irgendwann Zeit wird, den Mund zu halten, mag die Versuchung auch noch so übermächtig darauf drängen, ihn überlaufen zu lassen. Die meisten, die sich selbst für bedeutsam halten, in den Medien oder an sonstigen vermeintlich bedeutsamen Schaltstellen der Gesellschaft, sind ohnehin weder willens noch imstande, zuzuhören – oder zu faul, den Stempel neu zu überdenken, den sie selbst oder andere einem vor Jahren auf die Stirn geprägt haben.
Vielleicht haben sie ja auch Recht, vermutlich ist es ohnehin egal. Die jüngeren Generationen erleben eine grundlegende Umwälzung alles früher Gewohnten, Muße und Besinnlichkeit werden immer mehr zu Fremdworten. Ratschläge eines alten Mannes brauchen sie schon gar nicht. Das Leben geht weiter.
Mein eigenes wird nicht mehr lange andauern. Mir bleibt das Geschenk eines gütigen Schicksals. Dazu zählt die Chance, den Keller aufzuräumen. Dort lagern noch allerhand Themen, die nicht aufhören, mich umzutreiben. Neue kommen immer wieder dazu, verknüpfen sich nicht selten mit den alten. Darf man da wirklich, mag sie noch so sympathisch klingen, der wehmütigen Selbstbeschreibung des türkischen Schriftstellers nacheifern? Darf man wirklich die Achtung vor sich selbst jenem Gefühl zum Opfer bringen, das schon in tausenden von Bänden der Literatur oder in ungezählten philosophischen Diskursen sattsam hin- und hergewälzt worden ist: dem Gefühl, dass alles Leben ohnehin sinnlos sei – oder, wie Albert Camus es nennen würde, »absurd«?
Mit offenkundiger Sorge haben mich vor einiger Zeit Journalisten gefragt, ob die gegenwärtige deutsche Gesellschaft einem »politischen Friedhof« ähnele, ob sie durch eine »Entwicklung nach rechts« gekennzeichnet sei – oder ob es sich nicht umgekehrt um »eine quicklebendige Zivilgesellschaft« handele. Zwar habe ich zunächst versucht, mich in die Antwort zu flüchten, dass ich weder zum Seelsorger noch zum Psychiater geeignet sei. Dass die Sorgen berechtigt sind, schien mir dann freilich doch so sehr auf der Hand zu liegen, dass ich mich auf eine nähere Diskussion eingelassen habe.
Bei oberflächlicher Betrachtung kann ja kaum bezweifelt werden, dass hierzulande alles in Ordnung ist. Was unser freiheitlich-demokratisches System angeht, mag das weitgehende (hoffentlich nur vorübergehende!) Verschwinden der FDP bedauerlich sein. Ernsthaft gefährliche radikale Parteien oder Gruppierungen sind jedoch weder am rechten noch am linken Rand des politischen Spektrums erkennbar. PEGIDA oder das Aufkommen von so merkwürdigen »Gebilden« wie der AfD treiben zwar in den Medien und Talkshows die üblichen Alleswisser um. Ob sich daraus dauerhaft lebensfähige Organisationen entwickeln, kann hingegen getrost dahingestellt bleiben.
In sozialpolitischer Hinsicht scheint gleichfalls alles im Lot. Das gilt zumindest für das unverändert durch vernünftiges Maßhalten gekennzeichnete Zusammenwirken zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Gewiss warnen ernstzunehmende Stimmen vor Gefahren, die am Horizont aufziehen könnten, falls sich das vielzitierte Auseinanderklaffen zwischen extremem Reichtum auf der einen, zunehmender privater und öffentlicher Armut auf der anderen Seite weiter vertiefen sollte. Doch ernsthaft ausgewirkt haben sich solche Befürchtungen bisher nicht, zumal sich die Zahl der dauerhaft Arbeitslosen in letzter Zeit zumindest nicht nennenswert erhöht hat.
Zugleich hat die gesellschaftspolitische Integration im Sinne eines fruchtbaren Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher kultureller und ethnischer Herkunft sichtbare Fortschritte gemacht. Daran ändern die schrecklichen Entwicklungen im arabischen Raum und die damit verbundenen Versuche einer Destabilisierung durch noch so barbarische terroristische Angriffe offensichtlich – und hoffentlich auch zukünftig – nicht das Geringste. Trotz mancher erschreckender Ausnahmen im Einzelnen zeigt sich das in beeindruckend positiver Weise an der Aufnahmebereitschaft, mit der den zu uns kommenden Flüchtlingen durch öffentliche wie private Anstrengungen tatkräftig geholfen wird, obwohl der Zustrom seit dem Sommer 2015 in bisher so unvorstellbarem Ausmaß angeschwollen ist (die folgenden Zwischenrufe sind allesamt davor entstanden).
Über alledem herrscht unsere bewährte Bundeskanzlerin mit ruhiger Hand. Man kann sich auf sie verlassen. Sie lässt sich nicht, wie andere, durch persönliche Eitelkeit auf Abwege leiten, genießt im Inland wie im Ausland höchstes Ansehen – und wirft ihre unbestrittene Autorität entschlossen in die Waagschale, sobald in wirtschaftlich oder politisch kritischen Situationen eine ruhige Hand gefragt ist.
Also alles in Ordnung? Dürfen wir uns tatsächlich beruhigt schlafen legen?
Im Laufe meines Lebens habe ich unzählige Male miterlebt, dass Hektik und Dramatisierung nicht die besten Ratgeber sind. Zum Schluss kommt es regelmäßig anders, als es die vermeintlich weisesten Propheten vorausgesagt haben. Dass es eine Menge wahrhaft beunruhigender Fragen gibt, denen wir uns stellen müssen, davon bin ich trotzdem zutiefst überzeugt. Und gerade »weil ich nicht bin wie sie«, schreibe ich gelassen die folgenden Zwischenrufe auf, darauf hoffend (und vertrauend), dass es die eine oder den anderen unter uns geben möge, deren Blick nicht durch Vorurteile getrübt ist. Allesamt legen die Texte die Schlussfolgerung nahe, dass wir gut beraten sind, lieber wach zu bleiben – oder zumindest nicht zu vergessen, rechtzeitig den Wecker zu stellen…
Ich selbst werde derweil still für mich die Weltläufe weiter verfolgen, »in demütiger Liebe zum Wind, den Fischen, dem Meer, bis der Tod mich ereilt«. Niemand wird mich dabei stören…
1930. Es gibt gute Gründe, nicht erst 1933, das Jahr der Machtergreifung durch die Nazis, sondern schon jenes Jahr als Schicksalsjahr der Weimarer Republik zu verstehen. Und immer wieder von neuem zu bedenken, dass sich die Geschichte zwar niemals wiederholt – aber gerade deswegen als drängende Mahnung geeignet ist, die Augen und Sinne für die Gefahren der Gegenwart offen zu halten.
Für den 14. September 1930 waren wieder einmal – schon das zweite Mal in jenem Jahr – Wahlen zum Reichstag angesetzt. Fritz Roeder im fränkischen Bad Kissingen, der Vater meiner Frau, hatte gerade sein 21. Lebensjahr vollendet. Zum ersten Mal durfte er an einer solchen Wahl teilnehmen. Wie offenbar damals üblich, fühlte sich sein Vater berufen, dem Sohn aus einem solchen Anlass Rat zu erteilen. Den schrieb er in einem (hier auf die wesentlichen Teile gekürzten) Brief nieder:
»… wenn auch baldige Verbesserungen nicht zu erwarten sind, so ist es doch die Aufgabe der Jugend, … die leider so kraß eingerissenen Mißstände nach bester Möglichkeit alsbald wieder zu beseitigen. Die Wahl kann deshalb nur auf eine rechtsstehende, aufbauende und reinigende Partei fallen, während die Linke doch nur Vorteile für sich und ihre Anhänger im Auge hat und nicht danach fragt, … was schließlich aus dem Reich werden soll. … Die früher führende Deutschnationale Volkspartei … ist übrigens die Partei der Schwerindustrie und Großkapitalisten, die bekanntlich nicht immer Freunde und Gönner der Beamten und Angestellten sind. …«
Kein noch so kluger und belesener Historiker könnte anschaulicher schildern, wie kindlich unbedarft sich große Teile vor allem des sogenannten Bürgertums – in merkwürdiger Gemeinsamkeit (was manches Mal gern übersehen wird) mit einer großen Zahl hoffnungslos dahinvegetierender Arbeitsloser – auf den Weg begaben, der in einer geschichtlichen Katastrophe ohnegleichen enden sollte. Freilich fürchte ich, dass eine solche Feststellung keineswegs zwingend zu der Schlussfolgerung führen muss, eine derartig schreckliche Missdeutung der politischen Wirklichkeit könne sich niemals mehr wiederholen. Sind nicht vielleicht, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, heute schon wieder allzu viele unter uns genauso blind wie ein großer Teil der damaligen Wählerinnen und Wähler, wenn es darum geht, für die überlebensfähige Gestaltung des künftigen Europas eigene Opfer in Kauf zu nehmen – anstatt durch politische Kurzsichtigkeit die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder aufs Spiel zu setzen?
Seit mehr als zehn Jahren hatte sich die Mehrheit der im Reichstag vertretenen Parteien in unterschiedlichen Regierungskoalitionen redlich bemüht, der Unzahl von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme Herr zu werden, die seit dem Ende des verlorenen Weltkriegs und dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung des Kaiserreichs die junge deutsche Demokratie überfallen hatten. Nicht zuletzt zählten dazu die mit dem Vertrag von Versailles verbundenen Reparationslasten und die auf den durch die Siegermächte erzwungenen Vertrag – eine politische und geschichtliche Dummheit größten Ausmaßes – zurückgehende französische Besetzung des Rheinlands. Wie eine pandemische Gottesstrafe war Anfang der zwanziger Jahre die Inflation hinzugekommen. Millionen von Menschen waren ins Elend gestürzt, wenige skrupellose Glücksritter mit unermesslichen Reichtürmern belohnt worden. Ein tiefer Riss von Hass und Missgunst spaltete die Gesellschaft, bildete den Nährboden für die hoffnungslose Verzweiflung von Millionen Mitmenschen. Heilsbringer, die nicht zögerten, die demokratische Regierungsform und den mit ihr verbundenen Streit der Parteien als Schuldige für die Misere haftbar zu machen, schossen wie Pilze aus dem Boden.
Dabei war es eben diesen demokratisch legitimierten Parteien, wenn auch unter unsäglichen Mühen und begleitet von ermüdenden Auseinandersetzungen, schließlich gelungen, die französischen Besatzer zum Abzug zu bewegen und die Katastrophe der galoppierenden Geldentwertung zu überwinden. Doch jetzt war erneut ein Orkansturm über das Land hereingebrochen. Ausgelöst im Herbst 1929 durch den »Schwarzen Freitag« an der New Yorker Börse, versank die gesamte Weltwirtschaft in einer tiefen Krise. Deutschland blieb davon nicht verschont. Binnen weniger Wochen stieg die Zahl der Arbeitslosen auf sechs Millionen Menschen an, Nährboden nicht nur für unermessliches Elend der Betroffenen, sondern auch Wasser auf die Mühlen rechtsradikaler Parteien auf der einen, der Kommunisten auf der anderen Seite.
Hinzu kam, dass just in dieser Zeit die amtierende Reichsregierung einen zwar bei sachlicher Betrachtung politisch wie wirtschaftlich großartigen Erfolg einfahren konnte, der aber von eben diesen gegen die demokratischen Parteien agitierenden radikalen Gegnern der Republik als erneuter Volksverrat denunziert wurde: die Anfang 1930 erfolgte Unterzeichnung des neu ausgehandelten sogenannten Young-Plans, durch den die Reparationsverpflichtungen aus dem Versailler Vertrag auf ein nun wenigstens einigermaßen erträgliches Maß zurückgeführt wurden.
Der politische Preis für den Erfolg der bisherigen demokratischen Regierungskoalitionen wurde jetzt fällig. Das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung für die gesamte Nation, das über die schwierige Wegstrecke des ersten Jahrzehnts der Weimarer Republik hinweg eine übergroße Mehrzahl der führenden politischen Persönlichkeiten gekennzeichnet und ihr Handeln bestimmt hatte, schien weitgehend aufgebraucht – oder zumindest abgenutzt. Ein Gefühl allgemeiner Ermüdung griff um sich. Es schlug sich nieder in der Neigung nahezu aller demokratischen Parteien, Führungspersönlichkeiten den Vorzug zu geben, die durch Mittelmäßigkeit hervorstachen. Diejenigen, die klare Vorstellungen vertraten und Führungswillen erkennen ließen, wurden hingegen eher ins Abseits gestellt. Zugleich verführte die sich abzeichnende wirtschaftliche, soziale und politische Verschnaufpause dazu, die unverändert am Horizont lauernden Gefahren der zukünftigen Entwicklung auf die leichte Schulter zu nehmen, anstatt die Zeit für eine durchgreifende Sanierung des in Unordnung geratenen Staatswesens zu nutzen.
Bezeichnend dafür war die Entwicklung in zwei Parteien, die bisher regelmäßig ihren Kopf für die zurückliegenden schwierigen Entscheidungen hingehalten hatten: die Sozialdemokratie und die Demokratische Volkspartei. Die SPD verfügte mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun über eine Persönlichkeit, deren Durchsetzungsfähigkeit und Mut zur Unpopularität mehrfach erwiesen waren. Doch gerade wegen der damit verbundenen inneren Unabhängigkeit gegenüber den grauen Zwängen der Funktionärsorganisation hatte ihn die Partei nie wahrhaft als einen der Ihren empfunden: Vor allem dann, wenn es um die Vergabe ernsthafter politischer Führungsaufgaben ging, hatte man regelmäßig anderen, eher angepassten Persönlichkeiten den Vorzug gegeben. Das war auch jetzt nicht anders. Ähnliches galt für Gustav Stresemann, der als Außenminister nicht nur die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund erreicht, sondern auch den Grundstock für eine dauerhafte deutsch-französische Aussöhnung gelegt hatte. So war es über lange Jahre hinweg allein sein Verdienst, die DVP auf den Weg einer vertrauensvollen Zusammenarbeit der jungen deutschen Republik mit den demokratisch organisierten Völkern der westlichen Welt geführt zu haben. Inzwischen fiel es ihm jedoch von Tag zu Tag schwerer, seine Parteifreunde auf der Linie demokratischer Beständigkeit und Kompromissbereitschaft zu halten, wenn es um Versuche zur Bildung handlungsfähiger Regierungskoalitionen mit vermeintlichen politischen Konkurrenten ging.
Im Frühjahr 1930 war die Reichsregierung zurückgetreten. Geleitet durch den zwar keineswegs unbegabten, aber doch nach innen wie nach außen bieder wirkenden Sozialdemokraten Hermann Müller, hatte man sich als Ergebnis eines monatelangen Tauziehens über eine völlig nebensächliche Frage zerstritten. Es sollte die letzte Regierung sein, die noch von einer Mehrheit der erwiesen demokratischen Parteien getragen war.
Fritz Roeders Vater sah das anders:
»Nach unseren Überlegungen kommt es … bei den heutigen Mißständen …darauf an, erst einmal im Innern des Landes für Ordnung und Reinlichkeit zu sorgen, um …den unlauteren Elementen im Land selbst das Handwerk zu legen und diese an den Pranger zu stellen. … Aus diesem Grunde wollen wir die ganz rechts stehende National-Sozialistische Partei … mit einem X versehen. Wir sind der Meinung, dass diese Partei … viele Stimmen bekommen wird als Gegengewicht gegen die ganz links stehenden Kommunisten und Sozialdemokraten. … Das Vorgehen der Nazi-Sozis ist ja nicht immer ganz einwandfrei, aber es gibt ja auch viele Fälle, wo Rücksichtslosigkeit angebracht ist und mit dem Wachsen ihres Einflusses wird auch der Stolz wachsen.«
Der dies seinem Sohn so treuherzig wie naiv nahelegte, war nicht etwa ein beruflich gescheiterter oder menschlich enttäuschter Mann. Im Gegenteil: er bildete die genaue Verkörperung alles dessen, was man damals mit einem Begriff bezeichnete, der auch heute noch von vielen unbedarften Zeitgenossen als Inbegriff moralischer wie materieller Solidität und Verlässlichkeit missverstanden wird, kurzum, von angepasster Bürgerlichkeit. Als Direktor des städtischen Gaswerks hatte er ein gutes und gesichertes Auskommen, lebte mit seiner Ehefrau und fünf Kindern in einem geräumigen Haus mit großem Garten und erfreute sich eines hohen Ansehens in der Gesellschaft seiner Stadt. Bad Kissingen, das war ein an der fränkischen Saale gelegener Kurort, der sich durch seine illustren Gäste – von Otto von Bismarck bis zur russischen Zarenfamilie – vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in weiten bürgerlichen und adeligen Kreisen einen großen Ruf erworben hatte und bis dahin, verglichen mit den nicht wenigen wahren Elendsgebieten im Reichsgebiet, auch recht ordentlich damit gelebt hatte.
Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg dachte da allerdings ganz anders als Vater Roeder. Keineswegs bereits so senil, wie ihn nachträglich manche Kommentatoren hinzustellen pflegen, hatte er mit eben jener Nazipartei, die dem Sohn Fritz Roeder so warm zur Wahl empfohlen wurde, nichts im Sinn. Das ungehobelte Auftreten der braunen Horden der SA war ihm genauso zuwider wie deren Anführer, der – wie er sich auszudrücken pflegte – »böhmische Gefreite« namens Adolf Hitler. Dem stand freilich nicht entgegen, dass der ehemalige Generalfeldmarschall seit jeher in seiner ganzen inneren Einstellung nicht nur extrem konservativ dachte, sondern von einer Überwindung der von ihm als unwürdig empfundenen demokratischen Eiertänze träumte. So war er dem Rat seines engsten Küchenkabinetts – an der Spitze der ehrgeizzerfressene General von Schleicher, Chef der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium, später selbst für kurze Zeit Reichskanzler und 1934 von den Nazis ermordet – gefolgt und hatte, zwei Tage nach dem Rücktritt der Regierung Müller, Heinrich Brüning mit der Regierungsbildung betraut.
Der neue Reichskanzler war Vorsitzender einer Partei, des erzkatholischen Zentrums, die seit 1919, sogar noch beständiger als SPD und DVP, an allen demokratisch gewählten Reichsregierungen beteiligt gewesen war und dabei vielfältigen Versuchungen widerstanden hatte, der Sehnsucht mancher der sie tragenden Persönlichkeiten nachzugeben und offen auf eine Rückkehr zur monarchischen Staatsverfassung hinzuarbeiten. Tief in seinem Innersten träumte jedoch auch Brüning diesen Traum. Nicht zuletzt deswegen erschien er offensichtlich dem Reichspräsidenten weitaus sympathischer als alle bisherigen Kanzler. Hindenburg selbst aber war ohnehin inzwischen entschlossen, den aus seiner Sicht stets zaudernden und untereinander zerstrittenen Demokraten das Heft des Regierens aus der Hand zu nehmen. In politischer Hinsicht einfältig und sich in seinem Selbstverständnis als kommandierender Offizier über alles Tun von Zivilisten erhaben wähnend, fühlte er sich dazu berufen, endlich wieder Ordnung im deutschen Vaterland zu schaffen. Das Instrument dafür bot ihm die Verfassung – wozu es allerdings eines willfährigen Reichskanzlers bedurfte.
Den hatte er jetzt. Die Verfassung eröffnete dem Reichspräsidenten das Recht, in alleiniger Vollmacht, also am gewählten Reichstag vorbei, eine Reichsregierung einzusetzen. Mehr als das: Gemäß Artikel 48 der Verfassung konnte er Verordnungen, sogenannte »Notverordnungen«, erlassen, die volle Gesetzeskraft hatten, sofern der Reichstag sie nicht ausdrücklich widerrief.
Nachdem er Brüning zum Reichskanzler und mit diesem ein Kabinett eingesetzt hatte, das ausnahmslos aus bekennend rechtsgerichteten Persönlichkeiten zusammengesetzt war, brachte die neue Reichsregierung in schneller Folge eine ganze Serie von Gesetzesvorschlägen in das Parlament ein, die zur Deckung des Staatshaushalts führen sollten. Das Ergebnis war ein wochenlanges Tauziehen unter den demokratischen Parteien über das Für und Wider einer Zustimmung. Im Juli fand es ein Ende, als der Reichstag auf Antrag der SPD – mit Unterstützung einer sich aus Kommunisten, Nationalsozialisten und Deutschnationalen zusammensetzenden Gruppierung von Parteien, die aus ihrer Verachtung für die demokratische Staatsordnung noch nie Hehl gemacht hatten – eine Regierungsvorlage zum Abbau des riesigen Defizits in der staatlichen Arbeitslosenversicherung ablehnte. Hindenburg erließ daraufhin das gleiche Gesetz unverzüglich als Notverordnung. Zwei Tage später hob der Reichstag mit der gleichen Mehrheit die Verordnung wieder auf. Postwendend machte daraufhin der Reichspräsident von seinem in Artikel 25 der Verfassung verbrieften Recht Gebrauch und löste das Parlament auf.
Der auf den 14. September 1930 festgesetzte Wahltag sollte das Ende einer durch parlamentarische Mehrheiten getragenen Regierungsfähigkeit im Deutschland der Weimarer Republik nach sich ziehen. Mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie vollendete sich das anschließende Drama dann am 31. Januar 1933, dem Beginn einer geschichtlichen Katastrophe, die über zwölf lange Jahre hinweg das Geschick ganz Europas und seiner Völker ins Dunkel stürzen sollte.