Drinnen, draußen, voll daneben
Ein paar weit ausgreifende Gedanken zu den
Grundlagen völkischen und rassistischen Denkens
Anselm Neft
Kaum jemand ekelt sich vor der Spucke im eigenen Mund. Aber fast jeder fände es ekelhaft, seine Spucke von einer Tischplatte aufzuschlürfen. Was drinnen ist, ist okay. Was draußen ist, ist fies. Die Wahrnehmung des Unterschieds von »drinnen« und »draußen« verknüpft sich in der Regel unbewusst mit Werturteilen, also automatisch und ohne hinterfragende Reflexion: Zäune, Mauern, Grenzen, komplexe Regeln, wer rein darf und wer draußen bleibt. Wen lasse ich in mein Haus? Wer darf mir seine Zunge in den Mund stecken? Wem würde ich Geld leihen? Wem helfe ich in der Not und bei wem sage ich: Das ist nicht mein Problem?
Wenn Jesus in einem Gleichnis den Juden einen Samariter als ethisches Vorbild präsentiert, dann kann man darin ein Anzeichen für den Wandel von der israelischen Volksreligion zur christlichen Universalreligion sehen: Gottes Wort gilt nun nicht mehr allein für die Juden, sondern für alle. Damit einher geht die Idee einer Ethik für alle gegenüber allen. Es gibt keine Menschen zweiter Klasse mehr. Man kann natürlich die Frage aufwerfen, ob Jesus rassistisch argumentiert, wenn er extra erwähnen muss, dass sogar ein andersgläubiger Samariter barmherzig sein kann. So stellen es zumindest die britischen Komiker Mitchell und Webb dar. Ihr Sketch »Good Samaritan« illustriert, in welchem Zwiespalt wir uns befinden, seit wir uns auf den Weg zu einer universell gültigen Moral gemacht haben: Einerseits wollen wir alle Menschen als Partner behandeln, die dasselbe Recht auf ein gutes Leben haben wie wir. Andererseits erleben wir unsere Empathie als ausgesprochen parteiisch und verstehen auch heute noch sofort die Idee, dass ein Samariter irgendwie anders ist und eigentlich nicht dazugehört. Intellektuell mögen wir bereit sein, universale Menschenrechte als bisherigen Gipfel unseres moralischen Strebens zu begreifen, emotional bleibt die Solidarität mit dem Abstraktum »Menschheit« eine blutleere Angelegenheit. Abgesehen von der geringen Anschaulichkeit bringt eine Moral, die für alle gleichermaßen gelten soll, noch andere Probleme mit sich: Sollen die Menschenrechte auch für die gelten, die selbst nichts von allgemeingültigen Menschenrechten halten? Wie moralisch verhalte ich mich gegenüber den Unmoralischen, vor allem wenn ich mich von ihnen bedroht fühle? Soll ich Staaten, in denen die von mir formulierten Menschenrechte missachtet werden, mit Gewalt zu einer moralischeren Gesetzgebung nötigen und dabei selbst wieder unmoralisch werden? Soll man sich auf den »war to end all wars« einlassen? Was erscheint überzeugender humanistisch motiviert: Wenn die US-Regierung Truppen in den Irak entsendet oder wenn sie das lässt? Und weiter: Wie komme ich mit der Überforderung klar, wenn ich global denken und lokal handeln soll, mich also aufgrund meines Einkaufverhaltens für die Lebensqualität in wesentlich ärmeren Ländern und den Plastikmüll in den Weltmeeren verantwortlich fühle? Vor allem aber: Wenn ich alle Menschen liebevoll betrachte, wohin dann mit dem Hass?
Menschen sind – die Geschichte hat es gezeigt – durchaus in der Lage, sich mit etwas so Abstraktem wie dem internationalen Kommunismus zu identifizieren, solange es einen Klassenfeind gibt, den sie verachten und bekämpfen können. Anderen gelingt es, sich in einen deutschen Volkskörper voller Eichenlaub hineinzufantasieren, der natürlich von hassenswerten Volksschädlingen bedroht wird. Wieder andere, wie etliche Occupy-Aktivisten, solidarisieren sich mit den »99 Prozent« der Ausgebeuteten, was äußerst öde wäre, gäbe es nicht das eine Prozent der Superreichen, die man so ohne Konsequenzen verabscheuen (und heimlich bewundern) kann wie die ominösen Illuminaten oder außerirdische Gestaltwandler.
Auch in weniger bipolaren Ansätzen schwingt immer die Möglichkeit der Verteufelung eines Gegenübers mit. Man kann die Geschichte vom Kreuzestod Jesu so verstehen: Gott selbst macht sich zum ultimativen Sündenbock, der die Gewalt der Menschen auf sich nimmt und damit den Kreislauf durchbricht. Nun müssen wir uns nicht mehr gegenseitig beschuldigen und die Schläge des einen an den anderen weitergeben. Wir sind alle die Kinder eines Gottes, der sich opfert – vielleicht weil eben er es gewesen ist, der die Bedingungen für das Elend in der Welt geschaffen hat, während wir nur in diese Strukturen hineingeboren worden sind. Das ist eine große Erzählung, aber wir wissen, dass sie viele Christen nicht davon abgehalten hat, andere Gotteskinder zu entrechten, zu quälen und zu ermorden. Immer wieder schleicht sich die Frage ein: Bis wohin lässt sich das Ich zu einem Wir erweitern und ab welchem Punkt brauche ich die anderen, die das Feindliche und Widerwärtige in meinem eigenen Selbst- und Welterleben repräsentieren?
Völkischer Nationalismus und Rassismus haben eine einfache Antwort auf diese Frage und lösen die mit ihr verbundene innere Spannung, indem sie den gordischen Knoten einfach in einen guten und einen bösen Teil zerschlagen, wobei der böse Teil den guten bedroht und deshalb abgewehrt, bekämpft, vernichtet werden muss. Dieses Hirngespinst wird genutzt, um Schuldgefühle, Verwirrung über politische Zusammenhänge und Ohnmachtsgefühle zu betäuben. Dieses Mittel ist so erprobt und liegt derart auf der Hand, dass man mit dem Autoren und Reisereporter Andreas Altmann sagen kann: »Rassismus ist wie Dreck unter den Fingernägeln. Er kommt von ganz alleine.«
Da im heutigen Deutschland ein biologistischer Rassismus wenig salonfähig ist, argumentiert der gutbürgerliche Rassist mittlerweile ethnopluralistisch – jeder Kultur ihren Kulturraum, keine Vermischung! – und ummäntelt seinen Antisemitismus mit Israelkritik bzw. seine Herablassung gegen Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten mit der ewig wiedergekäuten Fantasie vom reformunfähigen, unterdrückerischen Islam, dessen Anhänger andere Länder unterwerfen wollen. Man könnte die Situation verkürzt so beschreiben: Die einen wollen die »Musels« nicht reinlassen ins Land, die anderen wollen Rassisten raushaben – zumindest aus dem Internet.
Es wirkt vernünftiger, wenn ich Menschen wegen ihrer Ansichten ausgrenze, als wenn ich das wegen etwas so Zufälligem und Unverfügbarem wie der ethnischen Zugehörigkeit oder dem Geschlecht tue. Man könnte allerdings argumentieren, dass Menschen sich womöglich auch ihre Ängste, ihren Selbsthass, ihr Geltungsbedürfnis und ihr geringes Reflexionsvermögen nicht aussuchen. Entscheidet sich wirklich jemand, der nicht psychisch behindert ist, dafür, ein Hetzreden haltendes Arschloch zu sein? Nehmen wir einmal Akif Pirinçci: Dieser Mann hat ein paar originelle Bücher geschrieben, von denen »Der Rumpf« ein beeindruckend galliges Statement dafür ist, dass auch Schwerbehinderte gemeingefährliche Arschlöcher sein können. Pirinçcis Weltsicht, wie er sie in »Deutschland von Sinnen« ausbreitet, lässt sich so zusammenfassen: Dominante Machos aus dem Morgenland bedrohen unsere Kultur, die so verweiblicht und verschwult ist, dass sie keine Gegenwehr leistet. Noch deutlicher formuliert: Südländische Untermenschen wollen unsere frigiden Frauen begatten, und ein von linksgrünen Gutmenschen beherrschter Mainstream rollt ihnen noch den roten Teppich aus. Diese Anschauung wirft Fragen auf: Was hat Pirinçci gegen die Machos, wenn er die »Verschwulten« so verachtet? Oder anders herum: Was hat er gegen die angeblich friedfertige deutsche »Mainstream«-Kultur, wenn er die angeblich aggressive Kultur der Muslime verabscheut?
Michel Houellebecq legt in seinem Roman »Unterwerfung« nahe, dass sich die französischen Rechten und die orthodoxen Muslime in vielem einig sind, vor allem in dem Bestreben, die Frauen kleinzuhalten. Tatsächlich liest man auch in Pirinçcis Bestseller etliche antifeministische und antiemanzipative Statements und fragt sich: Wieso ist der Mann nicht bei den Salafisten? Müsste er nicht zumindest Verständnis haben für ostentativ antiliberale muslimische Subkulturen? Pirinçci kämpft jedoch an zwei Fronten: gegen das heutige Deutschland, das durch den Siegeszug eines »linksgrünen Mainstreams« nicht mehr das ist, was es einmal war, und gegen die muslimischen Einwanderer, die sich in dieses heutige Deutschland nicht einfügen wollen. Das mag widersinnig erscheinen, es ist aber mehr als das. Dieses Gedankengebäude bietet die Erklärung und Rechtfertigung für eine Wut, die immer einen Auslöser findet – seien es Minderheiten oder ein zusammengesponnener Mainstream. So lässt sich das Gefühl eigener Kleinheit besonders wirkungsvoll in eines der elitären Größe ummünzen. Je größer die Zahl der Feinde, desto tapferer derjenige, der sich ihnen mit einer kleinen Schar Getreuer entgegenstellt.
Aber was haben die »linksgrünen Gutmenschen« und »Emanzen« Pirinçci eigentlich getan? Sie kritisieren Chauvinismus gegenüber Minderheiten und dem »schwachen Geschlecht« und hinterfragen so ein Überlegenheitsgefühl, für das der deutsche Mann nicht das Geringste leisten muss. Folglich müssen auch und gerade diejenigen abgewertet werden, die das eigene Abwertungsspiel stören. Wenn aber jemand das liebt, was nicht ist – eine fantasierte Vergangenheit – und Menschengruppen und Phänomene hasst, die nicht die primäre Ursache seiner Wut, Komplexe und Frustrationen sind, sondern auf diese aufmerksam machen, dann ist es angebracht, von seelischer und geistiger Krankheit zu sprechen.
Es ist kein Zufall, dass Pirinçcis Weltbild dem des norwegischen Massenmörders Anders Breivik ähnelt. In dessen Manifest »2083« dominiert folgende aus vielen Quellen ausführlich zusammengetragene These: Das verweiblichte Abendland wird durch ein vital-männliches Morgenland in seiner Identität und Existenz bedroht. Breivik weiß das Grundübel hinter dieser Bedrohung klar zu benennen und widmet ihm in seiner Schrift viel Aufmerksamkeit: Der Feminismus hat die Norweger schwach gemacht.
Auch Breivik hat bei diesem Narrativ auf Vorbilder zurückgreifen können. Einer der Ahnherren stark sexuell gefärbter Rassistenfantasien ist der Okkultist und Betrüger Jörg Lanz von Liebenfels. Sein 1906 erschienenes Werk »Die Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron« ist heutzutage in den Giftschränken der Bibliotheken verschlossen. Der Liebenfels’sche Einfluss auf Hitler wurde in der Forschung eine zeitlang überschätzt. Heute geht man davon aus, dass sich der ehemalige Zisterziensermönch zwar selbst als »Der Mann, der Hitler die Ideen gab«, stilisiert hat, jedoch bloß besonders drastisch formulierte, was in der untergehenden Donaumonarchie ohnehin verbreitetes Gedankengut war.
Am 17. Juni 2015 zieht der 21-jährige Dylann Storm Roof in einer Kirche in Charleston, South Carolina, eine 45-Kaliber-Pistole. Ein junges Gemeindemitglied bittet ihn eindringlich, nicht zu schießen. Roof antwortet: »No, you’ve raped our women and you’ve stolen and you’ve taken over the country, so no, this must be done.« Bei dem weißen Roof sind es die Schwarzen, die das Land übernehmen und die Frauen schänden. Deswegen erschießt er sechs Frauen und drei Männer, mit denen er vorher in einer Bibelstunde zusammengesessen hat. In seinem Manifest schreibt der junge Mann, dass ihm durch das Studium der Homepage des Council of Conservative Citizens die Augen aufgegangen seien. Diese Homepage listet die Verbrechen von Schwarzen (vor allem gegen Weiße) auf und vermischt Fakten mit tendenziösen Berichten und hetzerischen Kommentaren – ganz ähnlich wie es die deutsche Website PI-News in Bezug auf Muslime tut. Nach dem Anschlag wurde die Website kurz gesperrt, ist nun aber unter anderem Namen aufrufbar. Seit dem 29. Juni erklärt dort der Vlogger Paul Ray Ramsey (»RamZPaul«) in dem Video »Did NBC cause Charleston shooting?« schmunzelnd, dass die Homepage keinerlei Mitverantwortung für das Charleston Massaker habe. Man verlinke nur Artikel.
Ob Pirinçci, Breivik, Liebenfels oder Roof – die rassistische Mär erzählt die immer gleiche Geschichte: Ein Drinnen wird von einem aggressiven, minderwertigen Draußen bedroht. Eine Versöhnung ist nicht denkbar. Ein heldenhafter Kampf muss nicht nur gegen die anbrandenden Horden von Eindringlingen ausgefochten werden, sondern auch gegen die jede Kampfkraft zersetzenden Schwächlinge in den eigenen Reihen. Endziel des Kampfes ist die Rückkehr in ein ursprüngliches, geeintes Reich der Reinheit, aus dem aller Schmutz beseitigt ist. Nichts anderes erzählen die theologisch oft durchaus versierten Prediger des Islamischen Staates. Der Kampf gilt nicht allein den korrupten, aggressiven Ungläubigen des Westens – mehr oder minder offen angeführt vom ewigen Juden –, sondern mehr noch den lauen oder irregeleiteten Glaubensbrüdern und -schwestern im Inneren, die mit Reformen und liberalen Interpretationen oder bloßem Schiit-Sein die Reinheit des göttlichen Wortes besudeln. Allah hat alles vorausgesehen und die Menschen bereits von Anbeginn dazu bestimmt, Rechtgeleitete oder Abtrünnige zu sein, im Paradies oder in der Hölle zu enden. Nach drinnen gilt eine andere Moral als nach draußen, denn wenn nicht bereits die angebliche Aggression des Feindes alle Mittel rechtfertigt, dann tut es spätestens die Erkenntnis, dass die Gegner Untermenschen sind, nämlich eben jene von Allah zur Hölle Bestimmten, deren Zweck einzig darin bestehe, den frommen Muslim zu prüfen und ihm Gelegenheit zu geben, seine Treue, seinen Glauben und seine Kampfstärke unter Beweis zu stellen. Am Ende herrscht die in Brüderlichkeit geeinte Umma, es gibt nur noch Licht, alle Finsternis ist besiegt.
Wer das »Dritte Reich« oder den »Islamischen Staat« zu Ende denkt, wird zu der Frage kommen: Was wird sein, wenn alle Feinde besiegt sind und das islamische Weltreich errichtet ist? Was wird sein, wenn die Nazi-Mystiker mit ihren Reichsflugscheiben im rassereinen Altland landen? Die Antwort liegt auf der Hand: Spätestens jetzt zeigt sich der Hass auf die Vielfältigkeit und Unkontrollierbarkeit des Lebendigen in seinem unverhohlenen Vernichtungswillen auch gegenüber dem eigenen, nie ganz reinen Wesen. Die Wut, die bisher dem Fremden galt, gilt jetzt dem Fremden – also nicht Beherrschbaren – in sich selbst. Der Hass, dessen Ursache ohnehin nie die Juden, Roma und Sinti oder Asylsuchenden gewesen sind, hat jetzt freie Bahn, um zurückzukehren zu seiner Ursache: dem Abscheu über die eigene Existenz voller Schwäche, Behinderung, sexueller Angst, nicht heilender Verwundungen und Ohnmacht gegenüber einem zum Tode bestimmten Körper. Nichtsein ist besser als dieses grässliche Sein, in dem es immer ein Drinnen und ein Draußen gibt. Das totale Drinnen ohne Draußen ist das Ziel aller radikalen Religiosität und Ideologie. Die einen nennen dieses Ziel das Einssein mit Gott, die anderen nennen es das Nirwana, wieder andere das Nichts.
Der amerikanische Religionswissenschaftler Bart D.Ehrman widmete sein Buch »God’s Problem: How the Bible Fails to Answer Our Most Important Question – Why We Suffer« dem Theodizee-Problem, also der Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung eines guten, allmächtigen Gottes angesichts einer Welt voller Leid und Ungerechtigkeit. Dort und noch pointierter in »The Lost Gospel of Judas Iscariot« beschreibt Ehrman verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit Gott und ordnet ihnen verschiedene Bewältigungsstrategien zu: Nach einem Zustand der Zufriedenheit mit Schöpfer und Einigkeitsgefühl mit der Schöpfung sei in einer zweiten, bereits missmutigeren Phase argumentiert worden, man befolge Gottes Gebote nicht ausreichend genug, deshalb verhänge er Strafen. Da trotz aller Anstrengung die Übel nicht ausblieben, sei man in einer dritten Phase auf apokalyptisches Denken verfallen: Die Welt sei der Schauplatz eines finalen Kampfes, Licht werde von Finsternis geschieden, das Böse sei eine Prüfung. Als jedoch das Weltende und der Einzug der Guten ins Reich Gottes auf sich warten ließen, sei in einer vierten Phase die spätantike Gnosis (griechisch: Erkenntnis) einflussreich geworden. Der Gnostiker meinte, die Welt und alle Materie, also auch sein Körper, seien die Schöpfung eines bösen oder unfähigen Gottes, derweil der gute, allmächtige Gott in einem fernen, immateriellen Lichtreich auf die Heimkehr der in die Materie gefallenen Lichtfunken (die durch Erkenntnis erwachten Menschenseelen) wartet.
Will man Rassismus religionswissenschaftlich als eine Antwort auf die Frage nach dem Übel in der Welt fassen, dann verbindet er die zweite mit der dritten Phase: Wir leiden, weil wir unsere Rasse nicht reinhalten. Dabei sind die uns bedrohenden anderen Rassen Gegner in einem endzeitlichen Kampf, der mit dem Sieg unserer überlegenen Rasse enden wird, die dann paradiesähnlich zusammenlebt. Weil es um eine grundsätzliche und finale Schlacht geht, müssen wir besonders streng mit Verrätern in unseren eigenen Reihen sein und unsere Botschaft, wenn auch vorsichtig, an die weitergeben, die noch zu retten sind.
Natürlich denkt der gewöhnliche Pegida-Demonstrant nicht in diesen Dimensionen. Er spürt ein Unbehagen an seiner Existenz und wird durch den vital nach außen gerichteten Selbsthass und die klaren Schuldzuweisungen eines Pirinçci angesprochen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit löst scheinbar den Konflikt zwischen moralischem Sollen und dem Bedürfnis, seinen Frust an jemand anderem auszulassen, bevor man vor lauter nach innen gerichteter Aggression depressiv wird. Sigmund Freud formuliert in seinem pessimistischen Essay »Über das Unbehagen in der Kultur« den Gedanken, dass bei fortschreitender Zivilisierung die Individuen zunehmend gezwungen seien, destruktive Kräfte durch ein immer strengeres Über-Ich gegen sich selbst zu richten. So gesehen könnte man das Wettern gegen »Gutmenschen« auch als Aufbegehren gegen die Zumutungen eines immer rigideren Über-Ichs begreifen. Dazu passt, dass Pirinçci erfrischend vulgär formuliert. Endlich kann aus den Schläuchen etwas von dem Dreck, der sich durch die Zumutungen des Arbeits- und Beziehungslebens dort angelagert hat.
Dennoch: Bereits im alltäglichen Fremdenhass begegnet uns, wenn auch nur hintergründig, der Wunsch nach der totalen Reinheit von allem Schmutz und einem Ende aller Konflikte. Es ist dieser regressive Wunsch gepaart mit einer falschen Analyse der Problemursachen, der eine sinnvolle politische Teilhabe verhindert. Anstatt für eine menschenwürdige Rentenpolitik und gegen das politisch in Kauf genommene Abhängen eines Teils der Gesellschaft zu demonstrieren, machen völkische und strukturell antisemitische Bewegungen gegen einen Popanz mobil, der mal »Islamisierung des Abendlandes«, mal »jüdische Weltverschwörung« heißt. Wobei die Solidarität mit dem »Abendland« oder den vom »System« Benachteiligten auffällig mager ausfällt, wenn zum Beispiel Mitgliedsstaaten der EU in Not geraten oder von islamistischen Terroristen verfolgte Menschen um Asyl bitten.
Was man der Mehrheit der Pegida-Demonstranten, aber auch etlichen Montagsmahnern vorwerfen muss, ist nicht so sehr ihre pharisäische oder apokalyptische Radikalität, sondern das Ersetzen politischen Engagements durch kindische Inszenierungen. Anstelle ernstzunehmender politischer Vorschläge wird Stimmung gegen »die da oben« oder die »Sozialschmarotzer« aus anderen Ländern gemacht. Anstatt in eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir gemeinsam besser leben können, wird die Energie in logikresistentes Verschwörungs-Geraune und laut herausposauntes Halb- und Viertelwissen über »den Islam« oder »die Illuminaten« gesteckt, oft mit dem Gestus der beleidigten Leberwurst, die nicht sagen darf, was sie andauernd sagt. Daraus resultieren kräfteraubende Debatten um die falschen Fragen, in denen im Kern eher Therapeutisches als Politisches verhandelt wird. Das nutzt höchstens denen, die im Stillen die Erzeugnisse des Gemeinwesens unter sich aufteilen und aus ihrem privilegierten Drinnen möglichst viele draußen lassen wollen.