Pier Paolo Pasolini
Kleines Meerstück
Kleines Meerstück
und
Romàns
Aus dem Italienischen von Maria Fehringer
Mit einem Text zur Entstehungsgeschichte
von Nico Naldini
und einer Nachbemerkung von Maike Albath
Folio Verlag
Wien · Bozen
Die vorliegenden Texte von Pier Paolo Pasolini sind erstmals 1994 unter dem Titel
„Romàns“ bei Ugo Guanda Editore, Parma, auf Italienisch erschienen und
1996 unter dem Titel „Kleines Meerstück und Romàns“ bei Folio auf Deutsch.
© „Kleines Meerstück“ und „Romàns“ by Pasolini Estate, 2015
© Text von Nico Naldini by Ugo Guanda Editore, 2015
Die Pasolini-Porträtfotos sind entnommen dem Band „Pasolini über Pasolini.
Im Gespräch mit Jon Halliday“, Folio Verlag, 1995.
© Folio Verlag Wien • Bozen 2015
Alle Rechte Vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
ISBN 978-3-85256-671-9
www.folioverlag.com
e-Book
ISBN 978-3-99037-049-0
Comme je descendais …
A. Rimbaud
Bis ins Mark erschüttert in Cremona sowie in Sacile und den anderen Orten, an denen meine Familie sich ausbreitete, bis sie auch die winzigste Leere mit ihrer Intimität verstopfte – von der Liebe zu meiner Mutter, die das leuchtende Licht jener Intimität war und fast unsichtbar, so sanft –, war ich wie unfähig, anderes zu fühlen, wenn ich es nicht in jenem Gefühl tränkte. Es gibt alltägliche Geräusche, die unser Gehör nicht wahrnehmen kann, so grenzenlos ist ihre Lautstärke: Es war, als hätte ich für einen Augenblick eines jener außerhalb der menschlichen Welt liegenden Geräusche vernommen, und mein Gehörsinn wäre davon für immer getrübt. Ihre reine, kindliche Gewalt hatte mich vollkommen eingenommen: Alles Übrige war nichts als eine Bühne, auf der sich die Handlung abspielte, deren einzige Beziehung eine bald mehr, bald weniger verzehrende zu dieser meiner Liebe war; jegliche Geschichte, so verschieden sie auch sein mochte, magnetisch angezogen und wieder zurückgeworfen von ihr, gab Zeugnis ab von ihrer Tatsächlichkeit und Andersartigkeit: Sie nahm sofort jene innere Färbung an, alt schon für ein Kind, und immer noch erschreckend frisch in berauschenden Beglückungen. Die Wucht, mit der Cremona mich getroffen hatte, da es mich wie einen Fremden, fast eine Waise aufnahm – indem es meinen zu Urteil unfähigen Augen seine steinerne Oberfläche präsentierte, das seit alters her geschäftige Treiben der Menschen im Zentrum, die grasbewachsenen Zonen der Vorstadt am Fluss –, hatte nachgelassen angesichts jener Gefügigkeit, die in meinem Innern gewachsen war mit der neuen Form, die meine Mutter für mich angenommen hatte: Leichtigkeit, Hingabe, vermischt mit einer Ernsthaftigkeit, die geradezu Unnachgiebigkeit war.
Cremona, das Theater der einzigen Handlungen, die ich innerhalb der stets exemplarisch strengen, nicht zu lockernden Grenzen jener unbegrenzten Wärme, aber auch unter dem Anschein des höchst veränderlichen Zustands der Obsession setzen konnte, die immer von einem zwingenden, wiewohl unbestimmten Gefühl von Verantwortung geleitet waren, Cremona also machte mich langsam zu seinem Bürger, so wie ein Lufthauch Bürger sein kann oder ein Sonnenstrahl: bemäntelt mit der Weisheit eines Zwölfjährigen. Die Stadt außerhalb der Schule und des Elternhauses, mit den diese umgebenden Straßen und architektonischen Winkeln, ihrer anonymen, aber ausgeprägten volkstümlichen Verstaubtheit, erreichte für einen Jungen ihren allerhöchsten Ausdruck, die blankeste, aufregendste Modernität, in den Giardini Pubblici, den öffentlichen Parkanlagen; diese waren sozusagen das gesellschaftliche Ambiente der Knaben, so wie es der Corso Campi oder der Salon der Farinacci für die Erwachsenen jener Zeit gewesen war. Die Giardini Pubblici verliehen selbst unseren primitiven, banalen Spielen eine gewisse Mondänität; über die unreifen, missverständlichen, plumpen und lästerlichen Seiten unseres kindlichen Lebens hatte sich (wenn auch als schwankender und schmerzlich einfacher Aufbau) eine Überwelt aus Beinahe-Bewusstsein gelegt, ähnlich in ihren Merkmalen der gängigen Moral und der Lästersucht der Erwachsenen. Ein Werk meiner Gefährten und Bekannten natürlich (die mir allein deshalb, weil sie in einer anderen Straße wohnten oder eine andere Schule besuchten, so fern, so geheimnisumwittert waren), nicht den geringsten Beitrag hatte ich dazu geliefert: Sie waren es, die ohne die Irritation einer inneren, schon auf immer festgelegten Geschichte ihren geraden Weg zu gehen sich anschickten. Ich war von den Eindrücken geblendet. Die bereits dunklen Abende des ausklingenden Winters, wenn die Laternen rings um den Pavillon der Musikkapelle angingen und sich duckmäuserisch und traurig im Wasserfilm auf dem Asphalt spiegelten; während wir, die Brüder Del Re, die Söhne des Professors Bozzetti und andere, deren Namen mir entfallen sind, sie, eine Kette bildend, mit der Hand berührten, um aufgeregt den elektrischen Stoß zu spüren. Wir waren stets die letzten, kurz vor der Abendessenszeit, lechzend noch immer nach jenem beispiellosen Vergnügen, das uns die Stunden in den Giardini bereiteten: in ihrem nobleren und frequentierteren Teil, Richtung Dom zu, auf einer Art Vorplatz, auf dem man Bandiera spielen konnte, so groß war er; die anderen waren schon durch die verschiedenen Tore verschwunden und von dem fast nächtlichen, frühlingshaften Cremona aufgesogen worden. Der große Innenring, eine Art Piste rund um den grünroten Buckel eines riesigen Blumenbeets; der Winkel hinten, mit dem Steg und den künstlichen Felsen, alles in einer verblassten, braunen Farbe, der bevorzugte Ort von Gruppen Jugendlicher, die dort ihre lasterhaften und verbotenen Sitzspiele trieben, wie es für pubertierende Schüler aus der Provinz typisch ist, das heißt, nicht ohne eine gewisse Anmut, welche die Sündhaftigkeit noch betont (für mich, den nicht Anpassungsfähigen, der ich mich anschickte, mich in Cremona anzupassen, war dies in der ersten Zeit ein dramatischer, beinahe makabrer Ort, an dem mir beim Vorbeigehen schwindelte; doch provoziert von den anderen, zeigte ich, um mich zu verteidigen, meine tatsächliche Verachtung und verschleierte meine schreckliche Schüchternheit mit einem kecken, vorsätzlichen Trieb hin zu reineren Dingen); alles war schon leer. Kurz darauf würde auch ich den Park verlassen müssen, die kleine, belebte Via Baldesio hinunterlaufen, den Domplatz überqueren, in den Gang zwischen der Kirche und dem Baptisterium (beide riesig groß, dunkelbraun vor dem Sternenhimmel) einbiegen, die Apsis entlang, und schließlich in die Via 11 Febbraio, an deren Ecke mein Elternhaus stand, hart und glänzend wie aus Metall.
Das Zentrum der Überwelt der Giardini, zwischen den Bäumchen, den Laternenbogen und dem Gemäuer des Pavillons, war jedoch eine geraume Zeit hindurch, und ohne dass ich es eingestehen wollte, Silvia. Für sämtliche Knaben, von den allerfrechsten bis zu den blassesten, war sie wie zu einem ständigen, berauschenden Vergleichsobjekt geworden, eine Substanz, welche, in die Giardini filtriert, deren Aroma, deren Klima veränderte. (Für gewöhnlich kam sie unbemerkt, gleichsam auf Zehenspitzen, mit ihren zwei Freundinnen heran, wie ein Götterbild aus Ton, aber ganz zart, zumindest beim Anblick, ganz zart selbst in der Festigkeit ihrer Haut und ihrer Lippen, die, ebenfalls fast braun, mit ihr verschmolzen; die langen Haare fielen ihr lebhaft über die Schultern, wie um ihren Gang, erfüllt von ihrem Bewusstsein, aufrecht und locker erscheinen zu lassen; um durchzuschimmern in dem Braun, das wie Lakritze, ganz schwarz, unter den Augen und an den Schläfen wurde.) Aber das, was sie für die anderen war, war ein schmerzliches Geheimnis, tief versenkt in ihrer Andersartigkeit, welche in diesem Geheimnis, von dem ich nur das Äußere in ihren Körpern sehen konnte, zu einer aufwühlenden Spannung führte, einem Zusammenbruch vor meinen Augen, die, verzweifelt und enttäuscht, beinahe nicht mehr sehen wollten; fassungslos bis hin zur Zerrüttung meines ganzen Selbst erlebte ich mit einem Schwarm Pubertierender, die schon an der Schwelle einer weniger herben und graziösen Schönheit standen, mit zerschlissenen Kleidern und einer Haut, die prickelte wie vom Gerede leichtsinniger und unreifer Männer, Silvias Fluchten; ich schloss mich ihnen an wie ein Schiffbrüchiger; und das Fieber des Erwachsenseins, das sie von den Spielen, in denen ich wieder einmal nicht nur die Bürgerschaft, sondern eine Art keuscher, indirekter Überlegenheit erlangt hatte, wegriss und sie entzweite, wie wenn es sie in eine haltlose, vulgäre Welt versetzte, in der ihre Stimmen einen allzu menschlichen Klang hatten. Manchmal floh sie aus den Giardini hinaus; es gab im Hintergrund, auf der Höhe des geheimen Winkels, kleine, rötlich schimmernde Straßen, wo die Stadt ihre Mittagsruhe hielt, geadelt durch die Enge und Verlassenheit, wie ein leerer, schattiger Korridor; hier zerschellten die Verfolgungen, als ob das Geheimnis, um sich besser auszudrücken, einen geheimnisvollen Ort brauchte; das mich erfüllte wie der Schatten eines unausgesprochenen, zukünftigen Leids.
Und so suchte ich, längs der Ufer des Po jenseits der Eisenbrücke (wo ich zusammen mit Gianni Formica auf erschrockenen schwarzen Heftchen die elfsilbigen Zeilen unserer Gedichte schrieb, ausgestreckt auf den Kielen irgendwelcher umgestürzter Boote, auf verdorrten Grasfeldern vor den Pappelhainen), der Zeit mit einer unfruchtbaren, gefühllosen Frühreife gleichsam vorauseilend, eine Tatsache innerlich wahrzumachen, die dies nicht einmal in der allerkühnsten Fantasie sein konnte; ein pures Unbehagen, ein lustloses und verderbliches Spiel. Und doch hielt ich mich, vom ersten Moment an, in jener ersten Steigerung der Unruhe (was nicht mehr nur banges Glück war) gelassen und heroisch; meine Konstitution hielt stand; meine Nerven hielten stand, nicht in der Robustheit einer aufgezwungenen Frische, sondern einer wirklichen Gesundheit; vielleicht wirkte sich die schreckliche Verdammnis der Fragilität und Fantasterei, die ich meiner Mutter verdanke, weniger drastisch aus in dem übrigen Äußeren, das mehr meinem Vater ähnelt: auf einer Seite des Spiegels die Gestalt eines so zarten Geistes, dass er fast unmenschlich war, auf der anderen ein beinahe allzu menschlicher Charakter: das eine im anderen gespiegelt, mütterliche Ferne in väterlicher Nähe. Indes jedoch – vielleicht weil ich es aufgesucht hatte mit einer bewussten Erinnerung, elektrisiert von Silvias Nacken, den ich im Lauf zwischen ihren Haaren berührte, und mit dem im Geheimen geschriebenen Heftchen mit den kindlichen Elfsilbern, in denen ein Gefühl der Loslösung, eine schamhafte Empfindung von Abkehr vom Leben Gestalt anzunehmen begann – sollte sich jenes Stück des Po-Ufers in der Vergangenheit ausbreiten ohne die irreale Färbung eines Raumes, der zu purem Schmerz wurde, im Geheimnis der Kindheit, das als Geheimnis der Poesie wiederkehrte: Aber bereits auf der Ebene des Bewusstseins sollte es sich dem Bewusstsein sehr rau präsentieren, zwischen geraden Pappelreihen, denen eher als ein lombardischer Maler ein Brueghel die grünlichen Blättchen einzeln gemalt zu haben schien, im Hintergrund die Parzellen der Acker und leuchtender Vorlandwiesen; asiatische Grafschaft, nicht Kontinent; und der Po war, in meinen damals unbedarften Augen, ein Fluss, und nicht das zügellose Meer …
Damit diese Orte in einem Italien des unbebauten Raumes von Dauer blieben, war es nötig, dass ich in diesen drei Cremoneser Jahren eine Kindheit rein nach Lust und Laune verlebte, ohne jegliches andere Interesse als ein scheinheilig schwärmerisches Beharren darauf, die Realität zu mythisieren, mit irren Freudenausbrüchen beim Entdecken eines Dammes oder eines Gestades, die noch einsamer und ferner waren als die anderen.
Man trat aus dem Haus, an der Ecke zur Via 11 Febbraio, und wenn man die so typischen Cremoneser Straßen, die wir jeden Tag auf unserem Weg ins Gymnasium gingen, rechts liegen ließ, gelangte man zu den weißlich schimmernden, hallenden Pflastersteinen Richtung Teatro Ponchielli, wo die Stadt leerer wurde und fast unbekannt. So kamen wir auf den staubigen Platz, schlicht wie die der bäuerlichen Jahrmärkte, wo die Po-Allee begann, und die letzten Schneeflecken zwischen den Schienen der Straßenbahn, die einsam unter den nackten Kastanienreihen dahinfuhr zur Endstation am Fluss, überlebten hartnäckig den Glanz, der sie zerstörte, die strahlende Helle, die den Himmel emaillierte.
In der luftigen Weite, am Beginn der Allee, wo der Geruch der ersten, noch tauigen, mit Sonne vergorenen Gräser jenen der Steine und des in seiner städtischen Noblesse da und dort abgebröckelten Verputzes überlagerte, da drangen in die von der Lauheit entblößten Sinne die eisigen Stöße, die die vom Schnee vergoldete Luft heranbrachte, besonders rau ein; und obwohl alles trocken war und das Licht kalt, lag dennoch in der Luft das Gefühl der Eisschmelze, der im Lauf der Jahrhunderte erfolgten Überschwemmungen; die Landschaft, frostig wie ein Zimmer während des Morgenputzes, quoll über von jenem gleichsam dialektalen Gefühl des Frühlings, zwischen Eiswänden und Wärmevenen; mehr als Peripherie war es eine Ebene, die schutzlos dem Ansturm barbarischer Horden ausgeliefert war. Wenn ich mit Ari und Ghera und Pontiroli, während die Sonne mir mehr als auf Gesicht und Mantel in das Innere meines schmächtigen, aber starken Körpers zu brennen schien, auf den ungeordneten, leeren Platz kam, fühlte ich, dass nunmehr unserem Schweifen durch die schlammigen, verdorrten Weiten, deren Luft mir an der Kehle rieb mit ihrem Aroma von Eis, Flaum und Kohle, keine Grenzen mehr gesetzt waren: Und ich zitterte bei dem Gedanken, was die Allee und am Ende der Allee der Po mit seinen Ufern für meine Fantasie waren.
Aber durch die Unmöglichkeit, meine überbordenden Absichten in einem einzigen Gefühl sicherer Freude zusammenzuhalten, wechselte ich zwischen der überschwänglichen Gewissheit, sie zu verwirklichen, und der fahlen Angst vor einer schon feststehenden Enttäuschung (die ich gespenstisch auf mir lasten spürte). Keineswegs verbittert wegen meiner Ernsthaftigkeit, sondern im Gegenteil vertrauend auf das mögliche Abenteuer, das uns erwartete entlang des verlassenen, glänzenden Stromes – auf dem unbebauten Terrain, in dessen Hintergrund die frisch mit rotem Lack gestrichenen Schiffsrumpfe der Flussdampfer glitzerten, die Arme der Kräne … in den von den Sonntagsausflügen zerzausten Hainen, die jetzt mit einem Mal wieder wie vorher geworden waren in der Feuchtigkeit der ersten Gräser und des Erdreichs … –, konnten meine Gefährten mir nur wenig helfen, die Qual des Wartens auf die vollständige Wahrheit unseres Vorstoßens in jene Wiesen, so wie in unerforschte Kontinente, zu ertragen: der realen Verwandlung des Po in ein tropisches Meer. Ari und Ghera kamen zu diesem Spiel wie zu einem unter Knaben, ohne jegliche Verzweiflung: Manchmal kam es sogar vor, dass sie, in ihrer unbeholfenen Gutmütigkeit, durchblicken ließen, sie fänden meine Heftigkeit etwas lächerlich. Pontiroli suchte andere Geheimnisse; seine Mythen unterschieden sich so sehr von den meinen, dass sie, bei Berührung, wie Prosa wirkten, die meine Illusion aufzeigte, ohne dass sie mich jedoch, ich weiß nicht wie, verletzte, sondern mir sogar neue Formen der Hoffnung gab. Er kalkulierte mit einer Kaltblütigkeit, die für mich einen beinahe exotischen Beigeschmack hatte, wie jener der rötlichen Via delle Magistrali, die er frequentierte, den Widerhall, den gewisse Situationen längs der Allee und in den Hainen in mir zurückließen: Und da er sich in unserer Gesellschaft ein wenig als Außenseiter fühlen musste (emporgestiegen aus seinem proletarischen Elternhaus, in den Vororten, mit seinem dürren Körper, den er von seiner Mutter, einer Frau aus dem Cremoneser Volk, hatte), provozierte er sie, um sich Rechte zu erwerben, um sich an mich zu binden. Es war eine Demonstration, eine Linderung. Er hüpfte plaudernd wie ein Stelzvogel um die beiden Dicken, Ari und Ghera, und um mich herum, der ich vor Ungeduld darauf brannte, das Mirakel zu erfahren, in das allergewisseste Abenteuer einzudringen. Wie erschrocken fast endete die Allee an dem kurzen Anstieg, der zum Fluss führte; die Kastanienreihen setzten an der verlassenen Endstation aus, und links und rechts erstreckte sich das mit Sträuchern bewachsene, freie Land, das gegen den Himmel zu von den winterlichen Dämmen begrenzt wurde.
Auf der linken Seite verliefen über ein flaches, schmutziges Wiesenstück, zwischen Böschungen, Wällen und Dämmen, die den kümmerlichen Horizont ausfüllten, die Straßen, auf welchen man zum Fluss hinunterstieg, und die gesperrte Gasse, die zur Via Baldesio führte. Wir aber ließen diese von der Zivilisation überfluteten Stätten beiseite, diese kaum errichteten und schon verfallenen Vorposten, trotz der frischen, dunkelblauen Lackanstriche des Chalets und der im Sand aneinandergereiht liegenden Boote, trotz des Eisengerüsts der Brücke, zwischen deren Pfeilern der Fluss zu einem einzigen Tosen wurde; und gelangten, dürstend nach dem Raum, der die Blicke auf den trüben Wasserspiegel aufsog, den riesigen schlammigen Spiegel, der den Himmel mit sich riss, gegen die noch von der Weiße des Schnees knisternden Ufer, zu den Hainen.
Der Abend brach früh herein, als Folge des schwachen Glanzes der Sonne, die einen ebenso geheimnisvollen wie unausgereiften Duft nach Primeln oder, beinahe, Zyklamen, evozierte; und sogleich ein schattendunkles Kastanienbraun in der Luft verbreitete.
Stärker war so der Zauber der Wäldchen, die die Bauern und Sonntagsausflügler nicht beachteten, ein dorniger, grünlicher Flaum, der Senken und Buckel überzog; das Gelände, auf dem die Spuren der letzten Überschwemmung noch frisch waren, lag düster und aufgeweicht im Braun der Luft, in der frühen Mittagszeit, die die Melancholie der Abendstunde in sich trug, indem sie mit gleichen Schatten den Lichthof der Fantasien erweitern konnte, denen wir mit vereinzelten Schreien zwischen den trockenen Mohrenhirsestauden, mit den wie Umhänge über die Schultern geworfenen Mänteln und schmutzigen Stöcken in der Faust wie Waffen verzweifelt Wirklichkeit zu verleihen suchten. Der Po, der kaum Platz fand zwischen den weit auseinanderliegenden Ufern, strömte zu unserer Rechten mit brutaler Gewalt, fortgerissen von seinem inneren Leuchten, das gelblich, schwindelerregend war und die unendliche Oberfläche zum Horizont hin rollte; er zog dahin, schäumend, längs der am Fuße der Böschungen hervorgetretenen Sandbänke und der Fetzen von schmutziggrauen, zerzausten Wasserpflanzen, war glatt, als hielte er inne wie ein Tier auf der Lauer, als staute sich der Strom, und doch blähte er sich, erhob sich beinahe, in der Mitte, über seine Höhe hinaus, dort wo er sich zügellos in den Gegenlichtspiegeln tränken konnte, schon dem Meer zu.
Wenn ein wenig abseits vom Fluss, von wo man ihn nicht sah, ein Gefühl von Andacht die Orte des Abenteuers der Schatten mit einem abgrundtiefen, fast ätherischen Geheimnis umgab, das uns wie in einem Pastell spielen ließ, mit nur ganz stumpfem, gedämpftem Widerhall, so bedeutete das Hinaustreten an den Po das Aufbrechen jeglichen Schutzes vor der Fantasie (die in den Hainen wie eingelullt und zugleich geschärft war) und nicht nur Schreien, sondern Sich-Heiser-Schreien angesichts so gewaltiger Unternehmungen, dass sie einen erschrecken konnten.
Unter den Buckeln, über die sich die Vorlandwiese längs des Flusses zog, gab es einen, der ein wenig höher war, für uns gar, obwohl er zwei, drei Meter nicht überragte, ein Hügel; verloren zwischen den anderen, und doch von diesen traurig isoliert, steil abfallend zwischen verbranntem Gestrüpp auf der einen und rundlich auf der anderen Seite unter einer dunklen, grünlichen Decke aus Grashalmen, hatte er sich in unsere Vorstellung eingeprägt als der ideale Ort für einen Besitz auf dem Festland; und obwohl das beständige Vorhaben an all diesen Frühlingsnachmittagen jenes war, darauf eine Hütte zu errichten, war es uns schließlich nur gelungen, trotz der Mühe, die mich jene Handarbeit kostete, welche in keinem Verhältnis stand zu dem poetischen Charakter der Absichten, und vor allem dank Ari und Ghera, ringsum einen Zaun aus Gräsern und Schilfrohr aufzuziehen; dieser genügte, um in unseren Sinnen die reinsten Freuden zu entfachen, die ein bewusstes Spiel zu geben vermochte, und er wurde für uns zu einer wirklichen kleinen Festung; wirklich auf eine besondere Weise, in ihrer Beschränktheit, die die Vorstellungskraft so sehr vonnöten hatte, und doch schon aus sich heraus im ästhetischen Sinn mit eigener Schönheit erfüllt. Wie eine dem Herzen eingeprägte Feuchtigkeit mit ihrem ganzen, unausgesprochenen Geruch nach Gras, Schlamm und brennendheißen Tonscherben verfolgte mich das Bildnis unseres Besitzes, des Kastells, nach Hause und in die Schule, in Miniatur, immer drauf und dran, ausgesprochen zu werden in der ganzen Erregung eines erlangten Ausdrucks, einer realen Präsenz.
Wir fanden es wieder (für kurze Zeit allerdings nur) hinter den in abgenutzten Brauntönen versunkenen Hainen. Die Begeisterung war also ruhig, gemessen; Ari und Ghera trugen im selben Maße wie ich selbst dazu bei, es lebendig zu erhalten, in der unbestimmten, berauschenden Farbe zu färben, die es in unserer Fantasie annahm. Es unterschied sich, in jener Färbung, nicht sehr von der Jagd nach den Eidechsen in den Betonwannen, von den Radfahrten auf den Privatwegen der Via Baldesio, von den gängigeren Spielen, wenn da nicht eine blankere, bedrückende Intensität gewesen wäre. Das Gefühl des Besitzes – zutiefst subversiv, da dies in keinem Verhältnis stand zur Besitzlosigkeit der Knaben, die folglich jeden erlaubten Besitz ungläubig betrachteten –, welches unsere Einfriedung auf dem kahlen Rücken des Hügelchens uns verlieh, ließ uns in einem mehr tiefen als großen Gefühl lustwandeln. So sehr, dass selbst die innere Unfähigkeit Pontirolis, ernsthaft die geheimen Nuancen unserer Ekstasen zu erleben (die vielleicht einzig und allein mein Bruder Guido mit mir hätte teilen können), ohne Bitterkeit toleriert werden konnte: nicht als prosaische Stimme, in ihren humoristischen Intonationen, sondern als anregende, beinahe, da nämlich die kleine, heimtückische Welt, die auf dem Geheimnis der Haine entstanden war, zum geringeren Teil, und, wenn auch pervers, idyllisch war. Denn allmählich war es Pontiroli gelungen, meinen Stempel an jenem Ort durch seinen zu ersetzen: Auch weil meiner unsichtbar war, einer Welt aufgesetzt, in der nur ich und meine Vision vorkamen. Nicht, dass wir nicht seit dem ersten Nachmittag, beinahe ohne dass er Gestalt in uns angenommen hätte, den Verdacht hegten, Pontiroli sei es gewesen, der (am Abend zuvor? oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt des Tages, er allein, inmitten der Wäldchen, in die man, nunmehr, nur mehr ganz vertraulich eindringen durfte?) die Vorrichtung angebracht hatte, deren Entdeckung unserem Erstaunen eine immens banalere, wenn auch immens unmittelbarere Form gegeben hatte. Das geheimnisvolle, weiß schimmernde Blatt Papier hinten in unserer Einfriedung, bedeckt mit Kreuzen und Symbolen, auf dem wir Wörter lasen, die geheime Drohungen waren, das entsprach alles in allem mehr Pontirolis als meiner Fantasie. Aber wie durch eine Irreleitung meiner Gefühle, durch eine Schwäche, die vielleicht im Missverhältnis meiner inneren Welt zur äußeren begründet lag, welche, obwohl alltäglich, mir verachtenswert erschien, fremd und ungreifbar, für das Glück anderer bestimmt – tat ich nichts, um mich dem Niedergang unseres Abenteuers zu entziehen. Allgemeinere und wahrere menschliche Situationen wirkten vielleicht, wenn auch nur in ihren Anfängen, in dem Schatten, der sich hinter unseren Verhältnissen ausbreitete; wie sehr, in diesen, Pontiroli an der Unterlegenheit seiner Geburt litt (die ihm bewusst war, aber nicht mir oder Guido; und ich hätte noch Jahre danach erröten können, wenn ich mich daran erinnerte, wie ich ihm etwas vorwarf, wovon er geglaubt hatte, es sei ihm gelungen, es zu verbergen, nämlich dass sein Vater Briefträger war: Ich hatte es allerdings aus rein moralischer Gewissenhaftigkeit getan, in meiner Moral isoliert, die die Gesellschaft nicht kannte), dieses Leid kann nicht beurteilt werden als ein Gefühl, getaucht in jenes kindliche Idyll, welches ganz nach außen gerichtet ist, frühreif, aber unbewusst, eine Mischung aus Geheimnis und Überschwang. Aber vielleicht wegen seines Leidens, das nie durchsickerte, als hätte es nicht mehr seine wahre Form, sondern wäre verwandelt in ein sinnloses Leiden, das damit endete, seine Klasse zu verraten, dessen Zugehörigkeit ihn leiden ließ – hatte er aufgehört, das Recht zu suchen, mit uns zu sein, welches wir ihm in absoluter Treuherzigkeit einräumten, indem er sich ein wenig zu unserem Kasperl machte; und manchmal auch war er ernsthaft geworden. Dann kehrte er seinen Ruf hervor, indem er ihn über jenes kleine Geheimnis schweben ließ, welches er, spät am Abend, vielleicht auf dem Heimweg von der Schule, im Herzen der Wäldchen bereitete: Und indem er es verletzte, mit einer Geistesklarheit, die mich verblüffte (denn, auch wenn ich nicht verstehen wollte, ich verstand). Einige Wochen lang war der Held des Frühlings am Po Pontiroli gewesen, mit seinen Botschaften voller Vorstadtkreuzchen und Formeln, die aus einer Vorliebe für Magie herrührten, wie man sie Mädchen aus dem Volk nachsagte; auch wenn er die Kraft hatte, im Schatten zu bleiben; und aus dem Schatten spielte er mit uns, wenn er sah, wie beeindruckt wir von dem geheimnisvollen Spiel waren, das er auslegte: Aber anstatt, wenigstens innerlich, zu triumphieren, zeigte er sich uns dankbar für die Verwunderung, für das Interesse, von dem nur er allein wusste, dass er im Mittelpunkt stand, und mit noch eindringlicherer Fröhlichkeit umgab er mit seinen Possen unsere heftigen Kundgebungen von Bestürzung in den frischen, geronnenen Tintenfarben der Haine.
Angesichts der Strömung des Po hingegen hätte mich nichts aus dem immer gleichen Feld meiner Fantasie bringen können. Schon ihr Anblick entfachte stets aufs Neue, wie in einer weiten Furche, die seit langem tief in mir eingegraben war, das Bild eines Meeres; aber da ich das Meer noch nie gesehen hatte außer in den Versen und Figuren der Odyssee oder in den flammenden Bildern von der Meuterei auf der Bounty oder den Braven Seeleuten Kiplings, so hatte es die Strudel und die Trübheit des Po, tausendmal vervielfacht, aber in einem salzigen, blendenden, fossilen Glanz festgehalten; dieses Bild bot sich, kaum hatten wir uns dem Wasserspiegel genähert und in die Leere hinausgelehnt, indem es den Geruch, den der Strom von der Wasseroberfläche aufwirbelte – ein kalter, pflanzlicher Geruch –, mit jenem vollkommen geistigen der großen Golfe, der tropischen Strände vermischte. Das, beinahe weibliche, Gefühl von Aufgenommen- und Eingeschlossensein, das uns in den Schlupfwinkeln der Haine eingelullt hatte, wurde hier ins Gegenteil verkehrt: Wir standen, mit beinahe stockendem Atem, auf den angeschwollenen, ovalen Sandbänken, auf den langgezogenen, mit Sträuchern bewachsenen Binnenseerücken, unseren Meeresbesitzungen, mit den märchenhaften Namen wie Ariland, Gheraland, Pieroland, als ob die Weite, in deren Gegenlicht wir uns verloren, uns erstickte. Der Aufruhr, der sich in meiner Brust abspielte, die meiner entleert und erfüllt von jenen brennenden Weiten war, hielt beinahe das Fließen der Gedanken an, das dort in einem immer gleichen Taumel, einer so absoluten Nacktheit, dass keine Bewegung mehr möglich war, steckenblieb.
Und das Sich-Auftun des Po vor unseren Augen schien immer zusammenzufallen, im Unterschied zu dem, was in den Wäldchen geschah – deren Licht das der Dämmerung oder des frühen, herben Nachmittags war –, mit einem klareren, unversehrteren Sich-Einbetten des Tages in seine wilde Umgebung: Als wäre an jenem scheinbaren Meer der Frühling immer schon weiter fortgeschritten und als träufelte aus Mai- und nicht aus Märztagen ein wächsernes, goldenes Licht, das sich ergoss über den Bewuchs aus Gestrüpp, die Sandrücken und die Baugerüste am Fluss: in einem gleichzeitigen Bersten der Primeln, der Sonne und der großen asiatischen Meere. Überwältigt vom Raum und vom Duft und dem Anspruch, Fantasien zu verwirklichen, die diese erweiterten, so weit, dass sie unfassbar wurden, blieb von mir nur meine innere Welt, aber nach außen gekehrt, um sich von der Sonne, der Komplizin ihrer Orgasmen, entflammen zu lassen; als ob es in mir in jenen Momenten, im Unterschied zum anderen Ufer, an dem ich an Silvia dachte, oder den Hainen, die mich zum Teil von der Höhe meiner kühnen Fantasien auf die weit weniger typisch kindliche Pontirolis herabsinken sahen, keinerlei Vorgabe mehr für eine Geschichte, eine Zukunft gäbe.