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Ken Wilber

Wege zum Selbst

Östliche und westliche Ansätze
zu persönlichem Wachstum

Aus dem Englischen von
Gudrun Theusner-Stampa

1

Einleitung:
Wer bin ich?

Plötzlich, ohne jedes Vorzeichen, zu jeder Zeit, an jedem Ort, ohne erkennbaren Grund kann es geschehen.

Ganz plötzlich war ich von einer feuerfarbenen Wolke umgeben. Einen Augenblick lang dachte ich an Feuer, an ein Flammenmeer irgendwo nahebei in jener großen Stadt, im nächsten wusste ich, dass das Feuer in mir war. Unmittelbar darauf überkam mich ein Gefühl des Jubels, der unermesslichen Freude, begleitet oder gefolgt von einer Erleuchtung des Verstandes, die ich unmöglich beschreiben kann. Unter anderem begriff ich nicht nur, sondern ich sah, dass das Universum nicht aus toter Materie besteht, sondern im Gegenteil eine lebendige Gegenwart ist; mir wurde bewusst, dass ewiges Leben in mir ist. Es war nicht die Überzeugung, dass mir ewiges Leben zuteil werden würde, sondern das Bewusstsein, dass ich in diesem Augenblick ewiges Leben hatte; ich erkannte, dass alle Menschen unsterblich sind; dass die kosmische Ordnung so ist, dass ohne jeden Zweifel alle Dinge zum Besten von allem und jedem zusammenwirken; dass das Ursprungsprinzip der Welt, aller Welten, das ist, was wir die Liebe nennen, und dass das Glück aller und jedes Einzelnen auf lange Sicht eine absolute Gewissheit ist (Zit. aus R. M. Bucke).

Was für eine wunderbare Erkenntnis! Es wäre gewiss ein schwerer Fehler, wollten wir voreilig folgern, derartige Erlebnisse seien Halluzinationen oder Folgen einer geistigen Verwirrung, denn in dem, was sie schließlich offenbaren, haben sie nichts mit der schmerzlichen Gequältheit psychotischer Phantasiebilder gemein.

Der Staub der Straße und die Steine waren kostbar wie Gold, die Tore waren zunächst die Enden der Welt. Die grünen Bäume entzückten und begeisterten mich, als ich sie zuerst durch eines der Tore sah … Jungen und Mädchen, die sich auf den Straßen tummelten und spielten, waren dahintreibende Edelsteine. Ich wusste nichts davon, dass sie geboren waren oder sterben würden. Aber alle Dinge verharrten ewig, wie sie waren, an ihrem richtigen Ort. Ewigkeit offenbarte sich am hellen Tage … (Traherne)

William James, der bedeutendste amerikanische Psychologe, hat wiederholt unterstrichen, dass »unser normales Wachbewusstsein nur eine besondere Art des Bewusstseins ist, während überall ringsum, von ihm nur durch feinste Schleier getrennt, potenzielle Formen des Bewusstseins liegen, die ganz anders sind.« Es ist, als sei unser alltägliches Gewahrsein nur eine unbedeutende Insel, umgeben von einem weiten Meer unvermuteten und unerforschten Bewusstseins, dessen Wellen ständig an die schützenden Klippen unseres Normalbewusstseins schlagen, bis sie vielleicht einmal ganz unversehens durchbrechen und unsere Bewusstseinsinsel mit der Erkenntnis eines riesigen, weitgehend unerforschten, aber ungemein realen Bereichs einer neuen Bewusstseinswelt überschwemmen.

Nun kam ein Moment der Verzückung, so intensiv, dass das Universum stillstand, als sei es verblüfft über die unbeschreibliche Erhabenheit des Schauspiels. Nur einer im ganzen unendlichen Universum! Der All-Liebende, der Vollkommene … In demselben wunderbaren Augenblick dessen, was man himmlische Seligkeit nennen könnte, kam die Erleuchtung. Ich sah in einem eindringlichen inneren Bild die Atome oder Moleküle, aus denen sich das Universum anscheinend zusammensetzt – ich weiß nicht, ob materiell oder spirituell –, wie sie sich neu anordnen, während der Kosmos (in seinem fortdauernden, immerwährenden Leben) von einer Ordnung in die andere übergeht. Welche Freude, als ich sah, dass in der Kette keine Unterbrechung war – kein Glied wurde ausgelassen –, alles geschah an seinem Platz und zu seiner Zeit. Welten, Systeme – alles vermischte sich zu einem harmonischen Ganzen. (R. M. Bucke)

Das Faszinierendste an solchen erschreckenden und erleuchtenden Erlebnissen – und der Aspekt, dem wir viel Beachtung schenken werden – ist der Umstand, dass der einzelne Mensch über jeden Schatten eines Zweifels hinaus das Gefühl bekommt, dass er im Grunde eins ist mit dem ganzen Universum, mit allen Welten, seien sie hoch oder niedrig, heilig oder profan. Sein Identitätsgefühl erstreckt sich weit über die engen Grenzen seines Leibes und seiner Seele hinaus und umfasst das ganze Weltall. Eben aus diesem Grunde bezeichnete R. M. Bucke diesen Zustand des Gewahrseins als »kosmisches Bewusstsein«. Der Moslem nennt ihn die »Höchste Identität«, die höchste deshalb, weil sie eine Identität mit dem All ist. Wir werden sie gewöhnlich »Bewusstsein der All-Einheit« nennen – eine liebevolle Umarmung des Universums insgesamt.

Die Straßen waren mein, der Tempel war mein, ebenso Sonne, Mond und Sterne, und die ganze Welt war mein, und ich war der Einzige, der sie betrachtete und genoss. Ich kannte keinen knauserigen Besitz, keine Grenzen noch Trennungen; alle Besitztümer und alles Abgetrennte waren mein, alle Schätze und ihre Besitzer. So dass ich mit viel Getue korrumpiert und veranlasst wurde, die schmutzigen Kunstfertigkeiten dieser Welt zu erlernen, die ich nun wieder verlerne und gleichsam wieder zum kleinen Kind werde, damit ich in das Reich Gottes eingehen kann. (Traherne)

Dieses Erleben der höchsten Identität ist so weit verbreitet, dass es sich zusammen mit den Lehren, die es erklären wollen, die Bezeichnung »Philosophia perennis« verdient hat. Es gibt viele Beweise dafür, dass diese Art von Erfahrung oder Erkenntnis im Zentrum jeder großen Religion steht – im Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, im Christentum, im Islam und im Judentum –, so dass wir zu Recht von der »transzendierenden Einheit der Religionen« und der Einmütigkeit der ursprünglichen Wahrheit sprechen können.

Das Thema dieses Buches lautet: Diese Art des Gewahrseins, dieses Bewusstsein der Einheit oder diese höchste Identität ist die Natur und der Zustand aller fühlenden Wesen, aber wir schränken unsere Welt immer mehr ein und wenden uns von unserer wahren Natur ab, um uns mit Grenzen zu umgeben. Unser ursprünglich reines und einendes Bewusstsein funktioniert dann auf mannigfaltigen Ebenen, mit verschiedenen Identitäten und verschiedenen Grenzen. Diese verschiedenen Ebenen machen im Grunde die vielen Arten aus, wie wir auf die Frage »Wer bin ich?« antworten können und antworten.

»Wer bin ich?« Diese Frage hat wahrscheinlich die Menschheit seit Anbeginn gequält, und sie ist noch heute eine der beunruhigendsten aller menschlichen Fragen. Die angebotenen Antworten reichen vom Heiligen bis zum Profanen, vom Komplexen bis zum Einfachen, vom Wissenschaftlichen bis zum Romantischen, vom Politischen bis zum Individuellen. Aber anstatt die Menge von Antworten auf diese Frage zu untersuchen, wollen wir uns einen sehr spezifischen und grundlegenden Prozess ansehen, der abläuft, wenn ein Mensch die Frage »Wer bin ich?, Was ist mein wahres Selbst?, Was ist meine fundamentale Identität?« stellt und beantwortet.

Wenn jemand fragt, »Wer bist du?«, und wenn Sie darangehen, eine vernünftige, ehrliche oder mehr oder weniger ausführliche Antwort zu geben – was tun Sie dann wirklich? Was geht in Ihrem Kopf vor sich, während Sie dies tun? In gewissem Sinne beschreiben Sie Ihr Selbst, wie Sie es kennen gelernt haben, wobei Sie in Ihre Schilderung die meisten einschlägigen Fakten einbeziehen, gute und schlechte, wertvolle und wertlose, wissenschaftliche und poetische, philosophische und religiöse, die Sie als etwas begreifen, das für Ihre Identität grundlegend ist. Sie könnten zum Beispiel denken: »Ich bin ein einzigartiger Mensch, ein mit einem gewissen Potenzial begabtes Wesen; ich bin gütig, aber manchmal grausam, liebevoll, aber manchmal feindselig, ich bin Vater und Rechtsanwalt, ich gehe gern fischen und spiele gern Basketball …« Und so könnte Ihre Liste von Gefühlen und Gedanken weitergehen.

Aber dem ganzen Vorgang der Darstellung einer Identität liegt noch ein tieferer Prozess zugrunde. Wenn Sie auf die Frage »Wer bist du?« antworten, geschieht etwas ganz Einfaches. Wenn Sie Ihr »Selbst« beschreiben oder erklären oder auch nur innerlich spüren, ziehen Sie in Wirklichkeit, ob Sie es wollen oder nicht, im Geist eine Linie oder Grenze über das ganze Feld Ihres Erlebens, und alles, was innerhalb dieser Grenze liegt, nennen Sie oder empfinden Sie als Ihr »Selbst«, während Sie alles außerhalb dieser Grenze als »Nicht-Selbst« empfinden. Die Identität Ihres Selbst ist, anders ausgedrückt, völlig davon abhängig, wo Sie diese Grenzlinie ziehen.

Sie sind ein Mensch und kein Stuhl, und Sie wissen das, weil Sie bewusst oder unbewusst zwischen Menschen und Stühlen eine Grenze ziehen und Ihre Identität mit Ersteren erkennen können. Sie sind vielleicht ein sehr groß gewachsener Mensch und kein kleiner; daher ziehen Sie im Geist eine Grenze zwischen groß und klein und bezeichnen sich daher als »groß«. Sie bekommen das Gefühl, »Ich bin dies, und nicht das«, indem Sie zwischen »dies« und »das« eine Grenze ziehen und dann Ihre Identität mit »diesem« und Ihre Nicht-Identität mit »jenem« erkennen.

Wenn Sie also sagen: »mein Selbst«, ziehen Sie eine Grenze zwischen dem, was Sie sind, und dem, was Sie nicht sind. Wenn Sie auf die Frage »Wer bist du?« antworten, beschreiben Sie einfach das, was innerhalb dieser Grenzlinie liegt. Die so genannte Identitätskrise tritt ein, wenn Sie nicht entscheiden können, wie oder wo die Linie zu ziehen ist. Kurzum, »Wer bist du?« bedeutet »Wo ziehst du die Grenze?«

Alle Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« leiten sich genau von diesem Grundvorgang her, dass man zwischen »Selbst« und »Nicht-Selbst« eine Grenze zieht. Wenn erst einmal die allgemeinen Grenzlinien festgelegt sind, können die Antworten auf jene Frage sehr komplex werden – wissenschaftlich, theologisch, ökonomisch –, oder sie können auch höchst einfach und ungegliedert sein. Aber jede mögliche Antwort hängt davon ab, dass man zunächst die Grenze zieht.

Das Interessanteste an dieser Grenzlinie ist, dass sie sich verschieben kann und dies auch häufig tut. Man kann sie neu ziehen. Der Mensch kann gewissermaßen seine Seele neu erforschen und Gebiete in ihr finden, die er niemals für möglich, erreichbar oder sogar wünschenswert gehalten hätte. Wie wir gesehen haben, geschieht die radikalste Neu-Erforschung oder Verschiebung der Grenzen beim Erleben der höchsten Identität, denn hier erweitert der Mensch die Grenzen der Identität seines Selbst so, dass sie das ganze Universum umfassen. Wir könnten sogar sagen, er verliert die Grenzlinie ganz und gar, denn wenn er mit dem »harmonischen Ganzen« identifiziert ist, gibt es kein Außen oder Innen mehr, also auch keinen Ort, wo man eine Grenze ziehen könnte. In diesem Buch werden wir immer wieder auf das Bewusstsein ohne Grenzen, das als höchste Identität bekannt ist, zurückkommen und es untersuchen. Aber hier scheint es mir der Mühe wert, einige der anderen, vertrauteren Methoden zu untersuchen, wie man die Grenzen der Seele definieren kann. Es gibt so viele Arten von Grenzen wie Individuen, die sie ziehen, aber sie alle lassen sich in eine Handvoll leicht erkennbarer Klassen einordnen.

Die am weitesten verbreitete Grenzlinie, die Menschen ziehen oder als gültig anerkennen, ist die Grenze der Haut, die den gesamten Organismus umhüllt. Dies scheint eine allgemein anerkannte Grenzlinie zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu sein. Alles innerhalb dieser Hautgrenze ist in gewisser Hinsicht »ich«, während alles außerhalb dieser Grenze »nicht ich« ist. Etwas außerhalb der Hautgrenze mag »mein« sein, aber es ist nicht »ich«. Zum Beispiel erkenne ich »mein« Auto, »meine« Arbeit, »mein« Haus, »meine« Familie, aber sie sind eindeutig nicht unmittelbar »ich« – auf dieselbe Weise, wie alles, was in meiner Haut steckt, »ich« bin. Die Hautgrenze ist also eine der am grundsätzlichsten anerkannten Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst.

Wir könnten denken, diese Hautgrenze sei so offensichtlich, so real und so allgemein verbreitet, dass es in Wirklichkeit für einen Menschen gar keine anderen möglichen Grenzen geben könnte, ausgenommen vielleicht das seltene Auftreten des Bewusstseins der All-Einheit einerseits oder das Bewusstsein des hoffnungslosen Psychotikers andererseits. Aber es gibt tatsächlich einen weiteren, äußerst verbreiteten, nachweisbaren Typus der Grenzlinie, die sehr viele Menschen ziehen. Die meisten Menschen erkennen und akzeptieren zwar die Haut als Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst als selbstverständlich, aber sie ziehen noch eine weitere Grenze, die für sie auch noch bedeutsamer ist, innerhalb des Gesamtorganismus.

Wenn Ihnen eine Grenzlinie innerhalb des Organismus seltsam vorkommt, dann lassen Sie mich fragen: »Haben Sie das Gefühl, ein Körper zu sein, oder haben Sie das Gefühl, einen Körper zu haben?« Die meisten Menschen glauben, sie hätten einen Körper, als ob sie ihn besäßen oder sein Eigentümer wären, ganz ähnlich wie bei einem Auto, einem Haus oder irgendeinem anderen Gegenstand. Unter diesen Umständen scheint der Körper mehr »mein« als »ich« zu sein, und was »mein« ist, liegt der Definition gemäß außerhalb der Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Der Mensch identifiziert sich tiefer und enger mit nur einer Facette seines Gesamtorganismus, und diese Facette, die er als sein wahres Selbst empfindet, wird unterschiedlich als das Geistig-Seelische, die Psyche, das Ich oder die Persönlichkeit bezeichnet.

Biologisch gibt es nicht die geringste Grundlage für diese Trennung oder radikale Spaltung zwischen Seele und Leib, Psyche und Soma, Ich und Fleisch, aber psychologisch ist sie verbreitet wie eine Seuche. Tatsächlich ist die Leib-Seele-Spaltung und der mit ihr einhergehende Dualismus ein grundlegendes Merkmal der westlichen Kultur. Beachten Sie bitte, dass ich selbst hier das Wort »Psychologie« für die Untersuchung des Gesamtverhaltens des Menschen benützen muss. Das Wort selbst spiegelt das Vorurteil wider, der Mensch sei im Grunde eine Geistseele und nicht ein Leib. Sogar der heilige Franziskus nannte seinen Körper den »armen Bruder Esel«, und die meisten Menschen meinen wirklich, dass wir nur gewissermaßen auf unserem Körper herumreiten wie auf einem Esel.

Diese Grenzlinie zwischen Leib und Seele ist gewiss seltsam, und sie ist keineswegs von Geburt an vorhanden. Aber wenn der Mensch an Jahren zunimmt und beginnt, seine Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst zu ziehen und auszubauen, blickt er mit gemischten Gefühlen auf den Körper. Soll er ihn nun unmittelbar in die Grenzen seines Selbst mit hineinnehmen, oder soll er ihn als fremdes Gebiet ansehen? Wo soll er die Grenze ziehen? Einerseits ist der Körper ein Leben lang die Quelle von viel Lust, von den Ekstasen erotischer Liebe bis hin zu den Feinheiten köstlicher Speisen und zur Sanftheit von Sonnenuntergängen, die man mit den leiblichen Sinnen in sich aufnimmt. Aber andererseits beherbergt der Körper das Gespenst lahmender Schmerzen, entkräftender Krankheiten und die Folter des Krebses. Für das Kind ist der Körper die einzige Quelle der Lust, und dennoch ist er auch die erste Ursache von Schmerz und von Konflikten mit den Eltern. Außerdem scheint der Körper Abfallprodukte herzustellen, die aus für das Kind völlig unverständlichen Gründen den Eltern ein ständiger Anlass zu Besorgnis und Angst sind. Was für ein unglaubliches Getue machen sie ums Bettnässen, um das »große Geschäft«, ums Naseputzen! Und all das hängt mit dem Körper zusammen. Es wird schwierig sein, zu entscheiden, wo man hier die Grenze ziehen soll.

Wenn aber der Mensch reifer geworden ist, hat er im Allgemeinen dem armen Bruder Esel den Abschiedskuss gegeben. Wenn die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst endgültig festgelegt wird, ist der Bruder Esel eindeutig auf der anderen Seite des Zauns. Der Körper wird zum fremden Gebiet, fast (aber niemals ganz) so fremd wie die Außenwelt selbst. Die Grenze wird zwischen Geistseele und Leib gezogen, und der Mensch identifiziert sich aufrichtig mit der Ersteren. Er bekommt sogar das Gefühl, er lebe in seinem Kopf, als sei er ein kleiner Mensch in seinem Schädel, der dem Körper Anweisungen und Befehle gibt, denen dieser gehorcht oder auch nicht.

Kurzum, was der Mensch als seine Eigenidentität empfindet, umfasst nicht direkt den Gesamtorganismus, sondern nur eine Facette dieses Organismus, nämlich sein Ich. Das heißt, er identifiziert sich mit einem mehr oder weniger zutreffenden geistigen Selbstbild zusammen mit den Verstandes- und Gefühlsprozessen, die mit diesem Selbstbild einhergehen. Da er sich nicht konkret mit dem Gesamtorganismus identifizieren will, lässt er höchstens ein Bild oder eine Vorstellung vom Gesamtorganismus zu. Er fühlt sich also als ein »Ich«, und sein Körper baumelt einfach unter ihm mit. Wir sehen hier also einen weiteren Haupttypus der Grenzziehung, die die Identität des Menschen so darstellt, dass sie vor allem mit dem Ich, dem Selbstbild, übereinstimmt.

Wie wir sahen, kann diese Grenzlinie zwischen Selbst und Nicht-Selbst ziemlich flexibel sein. Es wird uns also nicht überraschen, wenn wir feststellen, dass selbst innerhalb des Ichs oder des Geistig-Seelischen – ich verwende diese Ausdrücke vorläufig sehr ungenau – eine weitere Art von Grenzlinie gezogen werden kann. Aus verschiedenen Gründen, von denen wir einige später besprechen wollen, kann sich der Mensch sogar weigern zuzugeben, dass einige der Facetten seiner eigenen Psyche zu ihm gehören. In der Fachsprache der Psychologen heißt dies, er überträgt sie, verdrängt sie, spaltet sie ab oder projiziert sie. Das Wesentliche ist, dass er seine Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst so einengt, dass sie nur bestimmte Anteile seiner Ich-Tendenzen umfasst. Dieses eingeschränkte Selbstbild wollen wir als »Persona« bezeichnen, und seine Bedeutung wird im Folgenden klarer werden. Wenn sich aber der Mensch nur mit Facetten seiner Psyche (mit der Persona) identifiziert, empfindet er die übrigen Anteile tatsächlich als »Nicht-Selbst«, als fremdes Gebiet, als feindlich, unheimlich. Er macht sich ein neues Bild von seiner Seele, um die unerwünschten Aspekte seiner selbst (wir nennen sie den »Schatten«) zu leugnen und um zu versuchen, sie aus dem Bewusstsein auszuschließen. In größerem oder geringerem Maß wird der Mensch »von Sinnen«, verrückt. Dies ist ganz offenkundig ein weiterer wichtiger und allgemeiner Typus von Grenzziehung.

Wir versuchen an dieser Stelle nicht zu entscheiden, welche dieser Arten von Selbstbildern »richtig«, »korrekt« oder »wahr« sind. Wir stellen einfach unparteiisch fest, dass es tatsächlich mehrere Hauptarten von Grenzlinien zwischen Selbst und Nicht-Selbst gibt. Und da wir dieses Thema nicht wertend angehen, können wir einen weiteren Typus der Grenzlinie zumindest erwähnen, dem man heute viel Beachtung schenkt, nämlich die Grenze, die zu den so genannten transpersonalen Phänomenen gehört.

»Transpersonal« bedeutet, dass im Individuum irgendeine Art von Prozess abläuft, der gewissermaßen über das Individuum hinausgeht. Der einfachste Fall davon ist die außersinnliche Wahrnehmung (ASW). Parapsychologen erkennen mehrere Formen von ASW an: Telepathie, Hellsehen, Vorauswissen, Vergangenheitsschau. Wir könnten noch hinzunehmen: Erlebnisse außerhalb des eigenen Körpers, Erleben eines transpersonalen Selbst oder Zeugen, Gipfelerlebnisse usw. All diese Ereignisse haben eine Erweiterung der Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst gemeinsam, die über die Hautgrenze des Organismus hinausgeht. Die transpersonalen Erfahrungen haben zwar einige Ähnlichkeit mit dem Bewusstsein der All-Einheit, aber man sollte sie nicht miteinander verwechseln. Im Bewusstsein der All-Einheit ist der Mensch identisch mit dem All, mit absolut allem. Bei transpersonalen Erlebnissen erstreckt sich die Identität des Betreffenden nicht voll bis zum Ganzen, aber sie dehnt sich aus oder erweitert sich zumindest über die Hautgrenze des Organismus hinaus. Er ist nicht mit dem All identifiziert, aber seine Identität ist auch nicht allein auf den Organismus beschränkt. Was immer man von transpersonalen Erlebnissen halten mag (wir werden im weiteren Verlauf viele von ihnen ausführlich besprechen), die Beweise dafür, dass zumindest einige Arten von ihnen tatsächlich stattfinden, sind überwältigend. Wir können also ohne Risiko folgern, dass dieses Phänomen wieder eine weitere Art von Selbstgrenzen darstellt.

Der springende Punkt dieser Besprechung von Grenzen zwischen Selbst und Nicht-Selbst ist, dass einem Individuum nicht nur eine Identitätsebene zur Verfügung steht, sondern viele. Diese Identitätsebenen sind keine theoretischen Postulate, sondern Realitäten, die man beobachten kann – Sie können sie in sich und für sich selbst nachprüfen. Was diese verschiedenen Ebenen angeht, so ist es fast, als sei dieses vertraute, jedoch letzten Endes geheimnisvolle Phänomen, das wir Bewusstsein nennen, ein Spektrum, etwas wie ein Regenbogen, das sich aus zahlreichen Streifen oder Stufen der Selbst-Identität zusammensetzt. Beachten Sie, dass wir fünf Klassen oder Ebenen der Identität kurz umrissen haben. Es gibt auf diesen fünf Hauptebenen sicherlich Unterschiede, und man kann die Stufen selbst stark unterteilen, aber diese fünf Ebenen scheinen fundamentale Aspekte des menschlichen Bewusstseins zu sein.

Nehmen wir diese hauptsächlichen Identitätsebenen und bringen wir sie in eine gewisse Ordnung. Diese einem Spektrum ähnliche Anordnung ist auf Abbildung 1 dargestellt; sie zeigt die Grenzlinie zwischen Selbst und Nicht-Selbst und die besprochenen Hauptidentitätsebenen. Jede der verschiedenen Ebenen ergibt sich daraus, wo die Menschen diese Grenze ziehen können und tatsächlich ziehen. Beachten Sie, dass die Grenzlinie sich gegen den unteren Rand des Spektrums hin in dem Bereich, den wir transpersonal nennen, auflöst (Abb. 1) und dass sie auf der Stufe des Bewusstseins der All-Einheit völlig verschwindet, denn auf dieser höchsten Ebene werden Selbst und Nicht-Selbst »ein harmonisches Ganzes«.

Es ist deutlich erkennbar, dass jede der aufeinanderfolgenden Ebenen des Spektrums eine Art der Einengung oder Einschränkung dessen darstellt, was der Einzelne als sein »Selbst« empfindet, als seine wahre Identität, seine Antwort auf die Frage »Wer bist du?«. An der Basis des Spektrums fühlt der Mensch, dass er mit dem Universum eins ist, dass sein wirkliches Selbst nicht nur sein Organismus ist, sondern die ganze Schöpfung. Auf der nächsten Stufe des Spektrums (wenn man von unten nach oben geht) hat der Mensch das Gefühl, nicht mit dem All eins zu sein, sondern nur mit seinem gesamten Organismus. Sein Identitätsgefühl hat sich verschoben und vom Universum als Ganzem auf eine Facette des Universums verengt, nämlich auf seinen eigenen Organismus. Auf der nächsten Stufe verengt sich seine Selbst-Identität noch einmal, denn nun identifiziert er sich hauptsächlich mit seiner Geistseele oder seinem Ich, das nur eine Facette seines Gesamtorganismus ist. Und auf der letzten Stufe des Spektrums kann er seine Identität sogar auf Facetten seiner Psyche verengen, indem er den Schatten oder unerwünschte Aspekte seiner selbst überträgt oder verdrängt. Er identifiziert sich nur mit einem Teil seiner Psyche, einem Teil, den wir als »Persona« bezeichnen.

Das Spektrum des Bewusstseins Abb. 1

Therapien und die Ebenen des Spektrums Abb. 2

Vom Universum also zu einer Facette des Universums, »der Organismus« genannt; vom Organismus zu einer Facette des Organismus, genannt »das Ich«; vom Ich zu einer Facette des Ichs, genannt »Persona« – so also sind einige der Hauptstreifen des Bewusstseinsspektrums. Auf jeder der aufeinanderfolgenden Ebenen des Spektrums scheinen immer mehr Aspekte des Universums außerhalb des »Selbst« eines Menschen zu liegen. So erscheint auf der Ebene des Gesamtorganismus die Umwelt als etwas, das außerhalb der Selbstgrenze liegt und fremd, äußerlich, Nicht-Selbst ist. Aber auf der Persona-Ebene erscheinen die Umwelt des Einzelnen und sein Körper und Aspekte seiner eigenen Psyche als etwas Äußeres, als fremd, als Nicht-Selbst. Die verschiedenen Ebenen des Spektrums stellen nicht nur Unterschiede der Selbst-Identität dar, so wichtig das auch ist, sondern auch Unterschiede in jenen Eigenschaften, die direkt oder indirekt mit der Selbst-Identität verbunden sind. Man denke z.B. an das verbreitete Problem des »inneren Konflikts« im eigenen Selbst. Da es verschiedene Stufen des Selbst gibt, gibt es natürlich auch verschiedene Ebenen des inneren Konflikts. Der Grund ist, dass die Grenzlinie des Selbst eines Menschen auf jeder Stufe des Spektrums in anderer Weise gezogen wird. Aber eine Grenzlinie ist, wie Ihnen jeder Militärfachmann sagen wird, auch eine potenzielle Gefechtslinie, denn eine Grenze bezeichnet das Territorium zweier gegnerischer und potenziell einander bekämpfender Lager. So findet z.B. ein Mensch auf der Stufe des Gesamtorganismus den potenziellen Feind in seiner Umwelt – denn sie erscheint ihm fremd, äußerlich und daher bedrohlich für sein Leben und Wohlbefinden. Aber ein Mensch auf der Ich-Ebene findet, nicht nur seine Umwelt, sondern auch sein Körper sei fremdes Gebiet, dasselbe fremde Gebiet, und daher ist das Wesen seiner Konflikte und Verwirrungen spektakulär anders. Er hat die Grenzlinie seines Selbst verschoben, daher auch die Gefechtslinie seiner Konflikte und persönlichen Kämpfe. Und in seinem Fall ist sein Körper zum Feind übergelaufen.

Diese Kampflinie kann auf der Persona-Ebene scharf hervortreten, denn hier hat der Mensch die Grenzlinie zwischen gewissen Facetten seiner eigenen Psyche gezogen, und daher liegt die Gefechtslinie nun zwischen dem Individuum als Persona und der Umwelt und seinem Körper und Aspekten seiner eigenen Seele. Das Wesentliche ist, dass ein Mensch, wenn er die Grenzen seiner Seele zieht, zugleich die Kämpfe seiner Seele programmiert. Die Grenzen der Identität eines Menschen bestimmen, welche Aspekte des Universums als »Selbst« zu betrachten sind und welche als »Nicht-Selbst« gelten sollen. So erscheinen auf jeder Ebene des Spektrums wieder andere Aspekte der Welt als Nicht-Selbst, fremd und fern. Jede Ebene sieht wieder andere Prozesse des Universums als etwas ihr Fremdes an. Und da, wie Freud einmal bemerkte, jeder Fremde als Feind erscheint, ist jede Ebene potenziell in anderen Konflikten mit verschiedenen Feinden befangen. Man erinnere sich – jede Grenze ist auch eine Gefechtslinie, und der Feind ist auf jeder Stufe ein anderer. Psychologisch ausgedrückt: Verschiedene Symptome stammen von verschiedenen Ebenen.

Der Umstand, dass verschiedene Stufen des Spektrums verschiedene Eigenschaften, Symptome und Potenziale besitzen, bringt uns zu einem der interessantesten Punkte dieser Sichtweise. Es herrscht heute ein unglaublich verbreitetes und noch zunehmendes Interesse an allen Arten von Schulen und Techniken, die sich mit verschiedenen Aspekten des Bewusstseins befassen. Menschen drängen zur Psychotherapie, zur Jungschen Analyse, zur Mystik, zur Psychosynthese, zum Zen, zur Transaktionsanalyse, zum Rolfing, zum Hinduismus, zur Bioenergetik, zur Psychoanalyse, zum Yoga und zur Gestalttherapie. Diesen Schulen ist gemeinsam, dass sie alle auf die eine oder andere Weise versuchen, Veränderungen im Bewusstsein der Menschen zu bewirken. Aber damit ist die Ähnlichkeit auch schon zu Ende.

Dem Menschen, dem ernsthaft daran liegt, seine Selbsterkenntnis zu vermehren, steht eine solche verwirrende Vielfalt von psychologischen und religiösen Systemen gegenüber, dass er kaum weiß, wo er anfangen, wem er glauben soll. Selbst wenn er alle Hauptrichtungen der Psychologie und Religion sorgfältig studiert, wird er wahrscheinlich ebenso verwirrt herauskommen, wie er hineingegangen ist, denn diese verschiedenen Schulen insgesamt widersprechen einander ganz entschieden. Beim Zen-Buddhismus z. B. wird man aufgefordert, das eigene Ich zu vergessen, zu überschreiten oder durch es hindurchzuschauen, in der Psychoanalyse dagegen wird einem geholfen, das eigene Ich zu stärken, zu kräftigen, zu festigen. Welches von beiden ist richtig? Dies ist ein sehr reales Problem, sowohl für den interessierten Laien als auch für den professionellen Therapeuten. So viele verschiedene und einander widerstreitende Schulen – alle auf das Verstehen desselben Menschen ausgerichtet. Oder doch nicht?

Das heißt: Sind sie alle auf dieselbe Ebene des menschlichen Bewusstseins ausgerichtet? Oder ist es vielmehr so, dass diese verschiedenen Methoden in Wirklichkeit Zugänge zu verschiedenen Ebenen des Selbst eines Menschen sind? Könnte es sein, dass diese verschiedenen Methoden, weit entfernt davon, einander zu widerstreiten oder zu widersprechen, in Wirklichkeit die sehr realen Unterschiede in den verschiedenen Ebenen des Bewusstseins widerspiegeln? Und könnte es nicht sein, dass diese unterschiedlichen Ansätze alle mehr oder weniger richtig sind, wenn sie auf der ihnen hauptsächlich zugehörigen Ebene angewandt werden?

Wenn dies zutrifft, ermöglicht es uns, in diesen sonst verwirrenden komplexen Bereich doch recht viel Ordnung und Zusammenhang hineinzubringen. Es würde deutlich werden, dass all diese unterschiedlichen Schulen der Psychologie und Religion nicht so sehr widersprüchliche Zugänge zum Menschen und seinen Problemen darstellen, sondern vielmehr komplementäre Zugänge zu verschiedenen Ebenen des Individuums. Wenn man dies weiß, unterteilt sich das Riesengebiet von Psychologie und Religion in fünf oder sechs handhabbare Gruppen, und es wird klar, dass jede dieser Gruppen sich vor allem an eine der Hauptstufen des Spektrums wendet.

So ist es, um nur ein paar sehr kurze und allgemeine Beispiele anzuführen, das Ziel der Psychoanalyse und der meisten Formen konventioneller Psychotherapie, die radikale Spaltung zwischen den bewussten und den unbewussten Aspekten der Psyche zu heilen, so dass der Mensch mit »seiner ganzen Seele« in Fühlung kommt. Diese Therapien zielen darauf ab, Persona und Schatten wieder zu vereinen und damit ein starkes und gesundes Ich zu schaffen, was besagen will, ein richtiges und annehmbares Selbstbild. Mit anderen Worten: Sie sind alle auf die Ich-Ebene ausgerichtet. Sie wollen dem Menschen, der als Persona lebt, helfen, seine Seele als Ich neu zu ordnen.

Darüber hinaus ist es jedoch das Ziel der meisten so genannten humanistischen Therapien, die Spaltung zwischen dem Ich und dem Körper zu heilen, Psyche und Soma wieder zu vereinen, um den Gesamtorganismus offenbar werden zu lassen. Darum nennt man die humanistische Psychologie – die man als die dritte Kraft bezeichnet (die anderen beiden Hauptkräfte in der Psychologie sind dann Psychoanalyse und Behaviorismus) – auch die Bewegung für das menschliche Potenzial (human potential movement). Wenn man die Identität des Menschen von seiner Geistseele oder seinem Ich auf seinen Geamtorganismus ausdehnt, werden die riesigen Potenziale des Gesamtorganismus befreit und dem Menschen verfügbar gemacht.

Wenn wir noch tiefer gehen, finden wir, dass es das Ziel von Disziplinen wie Zen-Buddhismus oder Vedanta-Hinduismus ist, die Spaltung zwischen dem Gesamtorganismus und der Umwelt zu heilen und eine Identität, eine höchste Identität, mit dem ganzen Universum zu offenbaren. Sie zielen, anders ausgedrückt, auf die Ebene der Einheit des Bewusstseins ab. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass zwischen der Ebene der Einheit des Bewusstseins und der Ebene des Gesamtorganismus die transpersonalen Streifen des Spektrums liegen. Die Therapien, die sich an diese Ebene wenden, sind zutiefst an jenen Prozessen im Menschen interessiert, die in Wirklichkeit »überindividuell«, »kollektiv« oder »transpersonal« sind. Manche von ihnen sprechen sogar von einem »transpersonalen Selbst«; dieses ist zwar nicht mit dem All identisch (das wäre das Bewusstsein der All-Einheit), aber trotzdem übersteigt es die Grenzen des Einzelorganismus. Zu den Therapien, die diese Ebene anstreben, gehören Psychosynthese, Jungsche Analyse, verschiedene vorbereitende Yoga-Praktiken, die Techniken der transzendentalen Meditation usw.

Dies alles ist natürlich eine sehr starke Vereinfachung der Dinge, aber es erklärt die allgemeine Art, wie die meisten Hauptrichtungen der Psychologie, Psychotherapie und Religion sich einfach nur an die verschiedenen Hauptebenen des Spektrums wenden. Einige dieser Entsprechungen sind auf Abbildung 2 zu sehen, wo die Hauptschulen der »Therapie« neben der Ebene des Spektrums aufgeführt sind, auf die sie im Grunde ausgerichtet sind. Ich möchte noch erwähnen, dass eine absolut eindeutige und gesonderte Klassifikation der Ebenen oder der auf sie gerichteten Therapien nicht möglich ist, weil – wie bei jedem Spektrum – die Ebenen sich ziemlich stark überschneiden. Wenn ich eine Therapie auf Grund der Ebene des Spektrums »klassifiziere«, auf die sie ausgerichtet ist, bedeutet dies außerdem immer die »tiefste« Ebene, von der die betreffende Therapie Notiz nimmt, sei es ausdrücklich oder unausgesprochen. Allgemein werden Sie feststellen, dass eine Therapie jeglicher Ebene die potenzielle Existenz aller Ebenen oberhalb ihrer eigenen anzuerkennen, jedoch die Existenz aller Ebenen unterhalb zu leugnen pflegt.

Wenn sich jemand (Laie oder Therapeut) mit dem Spektrum – seinen verschiedenen Ebenen mit ihren unterschiedlichen Potenzialen und Problemen – vertraut macht, wird er besser in der Lage sein, sich (oder seinen Klienten) auf dem Weg zum Verständnis und zum Wachstum des Selbst zu orientieren. Vielleicht wird er fähig, leichter zu erkennen, von welcher Ebene die vorhandenen Probleme oder Konflikte herrühren und so auf jeden Konflikt den der betreffenden Ebene angemessenen »therapeutischen« Prozess anzuwenden. Vielleicht erkennt er auch allmählich, mit welchen Potenzialen und Ebenen er in Fühlung kommen möchte, und welche Verfahren zur Förderung dieser Weiterentwicklung am geeignetsten sind.

Persönliches Wachstum bedeutet im Grunde eine Ausdehnung und Erweiterung des eigenen Blickfelds, ein Weiterwerden der eigenen Grenzen – nach außen in Bezug auf den Weitblick, nach innen in Bezug auf die Tiefe. Aber das ist genau die Definition des Hinabsteigens im Spektrum (oder des »Aufsteigens« in ihm, je nach der Blickrichtung, die man vorzieht. Ich will in diesem Buch »Hinabsteigen« verwenden, einfach weil es besser zu Abbildung 1 passt). Wenn ein Mensch eine Stufe des Spektrums hinabsteigt, hat er tatsächlich seine Seele neu erforscht und ihr Gebiet vergrößert. Wachstum ist Neubestimmung, Neueinteilung, Neuordnung; eine Anerkennung und dann eine Bereicherung immer tieferer und umfassenderer Ebenen des eigenen Selbst.

In den nächsten drei Kapiteln werden wir einige Facetten des letzten Geheimnisses, genannt »Bewusstsein der All-Einheit«, erforschen, uns hineintasten, es umkreisen, uns an es heranschleichen, nur um festzustellen, dass es uns von hinten her beschleicht. Diese Erforschung wird uns ein gewisses Gespür für das »Bewusstsein der All-Einheit« geben, uns aber außerdem mit vielen der Werkzeuge ausrüsten, die notwendig sind, um den ganzen Bereich dessen zu verstehen, was man heute »transpersonale Psychologie«, »Noëtik« oder »Bewusstseinsforschung« nennt. Wir wollen die Welt untersuchen, wie sie ohne Schranken und Grenzen erscheint; den gegenwärtigen Augenblick, wie er ohne die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft erscheint, und das Gewahrsein, wie es ohne die Schranken von innen und außen erscheint.

Wir wollen dann der Erklärung von persönlichem Wachstum auf jeder Ebene des Spektrums ein Kapitel widmen: der Ebene des Gesamtorganismus, der Ebene des Ichs und der Persona-Ebene. Wenn wir dieses Grundverständnis erworben haben, werden wir beginnen, im Bewusstseinsspektrum hinabzusteigen; wir werden im Erleben die verschiedenen Ebenen untersuchen sowie die hauptsächlichen »Therapien«, die man anwendet, um mit ihnen in Fühlung zu kommen, und wir werden schließlich dort wieder ankommen, wo wir angefangen haben – auf der Stufe des »Bewusstseins der All-Einheit«. Das ist nur recht und billig, denn dies ist – wie wir sehen werden – die einzige Ebene, ohne die wir wahrhaftig niemals gewesen sind.