ELI JAXON-BEAR
DAS SPIRITUELLE
ENNEAGRAMM
Neun Pfade der Befreiung
Aus dem Amerikanischen von
Atma Priya H. Bern
Ohne die Lehren und die Übermittlung von Ramana Maharshi wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ramana war die Verkörperung der Wahrheit, und er ist allen, die die Reinheit des Selbst lieben, eine Inspiration. Ich schulde dieses kleine Leben meinem geliebten Sadguru Papaji, der die Stille verkörperte und allen, die durch seine Tür gingen, die Freiheit vermittelte. Meiner geliebten besten Freundin, Partnerin, Ehefrau und Lehrerin, Gangaji, verdanke ich wiederum alles. Ohne ihre Bereitwilligkeit, die Fixierung zu beenden, würde ich noch immer den Mond anbellen.
Oscar Ichazo ist der moderne Vater des Enneagramms. Wir sind einander zwar niemals begegnet, doch alles, was ich hier erarbeitet haben mag, beruht auf der von ihm geschaffenen soliden Grundlage. Claudio Naranjo brachte die Lehren nach Berkeley, wo die SAT-Gruppe tiefe psychologische Einsichten in das Enneagramm integrierte. Jerry Perkins machte mich mit dem Enneagramm und mit seiner Lehrerin, Kathleen Speeth, bekannt. Beiden bin ich sehr dankbar. Meinen Sufi-Brüdern und -Schwestern, die seit Jahrhunderten die Tiefen der Essenz ausloten, bin ich in tiefer Dankbarkeit verpflichtet. Mein tiefer Dank gilt auch A.H. Almaas, der diese Arbeit in den Westen bringt.
Viele Menschen haben ihren Anteil am Erscheinen dieses Buches: die spirituellen Freunde, die als Schüler in diesem Spiel erscheinen. Saleem Barrymen, der seit Jahren mit einer mysteriösen Krankheit darniederliegt, die ihn seiner Vitalität beraubt, hat sich mit Leib und Seele für die Entstehung dieses Buches eingesetzt. Keith Crozier, Jamie Baldwin, David Mills und Nelson Sorbo halfen auf jede erdenkliche Art und Weise, während Padma Gordon das Geschehen als Geburtshelferin sicher lenkte. Shanti Einolander war eine wunderbare Hilfe bei der Durchsicht des Manuskriptes.
Ich übernehme die volle Verantwortung für alle Fehler oder Versäumnisse.
»Deine wahre Natur ist Glücklichsein und Seligkeit.«
RAMANA MAHARSHI
Jeder möchte glücklich sein. Das ist universeller Bestandteil eines jeden menschlichen Lebens und scheint so selbstverständlich, dass es keiner besonderen Erwähnung bedarf. Sogar jemand, der sich selbst zutiefst verhasst ist oder anderen Gewalt antut, kann das letztendlich auf das tiefste, unerfüllte Verlangen zurückführen, dass er glücklich sein will.
Warum ist es so selten, dass jemand wirklich glücklich ist? Wenn es wahr ist, dass unsere Natur Glückseligkeit und Glücklichsein an sich ist, warum haben die Menschen das so selten erkannt? Warum war es so wenigen vergönnt, ihr Leben in Liebe und Dankbarkeit zu leben?
Wie kommt es dazu, dass dieses universelle Verlangen, glücklich zu sein, das ganze Spektrum des Leidens auf diesem Planeten erzeugt hat?
Selbst extremste Erscheinungsformen wie Kriege, Morde, Vergewaltigungen und Umweltzerstörung lassen sich in letzter Konsequenz auf das Verlangen des Menschen nach Glück zurückführen.
Wie ist es möglich, dass der Wunsch, glücklich zu sein, sich als Ignoranz, Gewalt und Gier manifestiert? Das Enneagramm bietet eine Antwort auf dieses Rätsel, und es weist auf die Lösung.
Die unfassbare Pforte der großen Befreiung ist in jedem.
Sie war niemals verschlossen; sie war niemals defekt.
Buddhas und Ch’an-Meister sind in dieser Welt erschienen
und brachten ihr viele dienliche Methoden,
Mittel und Wege mit vielen verschiedenen Fertigkeiten.
Sie bedienen sich illusorischer Medizin
zur Heilung imaginärer Krankheit.
ZEN-MEISTER YUANSOU
Wer durch die Pforte der Befreiung tritt, dem stehen Seligkeit und Glücklichsein offen; hier liegt der Zugang zum Wissen um die eigene wahre Identität. In der Vergangenheit geschah das nur den Allerwenigsten. Wenn eine große Seele wie der Buddha oder Christus durch die Pforte der Befreiung tritt, dann ist das ein Ereignis von solch weitreichender Bedeutung, dass man sich noch Jahrtausende später daran erinnert. Dennoch werden diese großen Wesen zum Objekt der Anbetung, als ob es sich dabei tatsächlich nur um etwas handelte, das jemand anderem vor langer Zeit geschehen ist, als ob das keine Beziehung hätte zu unserer gegenwärtigen Situation, außer eben als Objekt für unsere Gebete.
Diese Pforte der Befreiung ist in jedem. Durch dieses Tor zu treten bedeutet die Erfüllung unseres menschlichen Potenzials. Die menschliche Rasse entwickelt sich noch, und es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Werden wir uns unserem Potenzial gemäß entfalten, oder werden wir die Fähigkeit der Erde, die uns trägt und nährt, zerstören, bevor wir den Sprung zur nächsten Entwicklungsstufe geschafft haben?
Diejenigen, die zu ihrer wahren Natur erwacht sind, die glücklich und selig sind, waren die Vorläufer, die Vorboten dessen, was noch kommen sollte. Jetzt ist es für jeden möglich, aufzuwachen und seine wahre Natur zu erkennen, es ist nicht nur einigen wenigen großen Seelen vorbehalten. Die Saat wurde in den Wind gestreut, die große Pforte der Befreiung hat sich aufgetan, und alle dürfen sie durchschreiten.
Das Enneagramm erscheint in unserer Zeit als illusorische Medizin, mit der man eine imaginäre Krankheit heilt. Bei der Krankheit handelt es sich um die Idee des Ego, dass ich ein Einzelwesen und daher getrennt bin. Die Heilung besteht darin, in den Weisheitsspiegel zu sehen, den das Enneagramm uns hinhält, und hinter alle Fehlidentifikation bis auf die Wahrheit des Seins zu schauen.
Das persönliche Gebilde,
das seine Existenz mit dem Leben in einem physischen Körper
gleichsetzt und sich selbst als »ich« bezeichnet, ist das Ego.
Der physische Körper,
der an und für sich unbewegt ist, besitzt kein
Ich-Bewusstsein.
Das Selbst, das reines Bewusstsein an sich ist,
besitzt kein Ich-Bewusstsein.
Geheimnisvollerweise erhebt sich zwischen diesen beiden
das Ich-Bewusstsein, der Ich-Gedanke.
Dieses Ego oder die getrennte persönliche Identität
bildet die Wurzel allen Leidens im Leben.
Deshalb ist es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln
zu vernichten.
Das ist Befreiung oder Erleuchtung oder Selbsterkenntnis.
RAMANA MAHARSHI
In allen Menschen wirkt eine lebendige Intelligenz, die letztendlich danach strebt, ihre wahre Identität und Herkunft zu entdecken. Der erleuchtete Weise Ramana Maharshi lehrt, in der Selbst-Erforschung tief nach innen zu fallen, um zu entdecken, wer du wirklich bist.
Die Methode der Selbst-Erforschung besteht darin, nach innen zu gehen und herauszufinden, woraus das Ich gemacht ist. Du kannst damit beginnen, indem du siehst, was du bisher mit Ich gleichgesetzt hast, denn dabei handelt es sich um eine Fehlidentifikation. Wenn du nämlich alle Gedanken, Emotionen und Körperempfindungen direkt hinterfragst und überprüfst, wirst du sehen, dass sie nicht sind, was du bist. Sie sind nicht du. Sie alle unterliegen einer ständigen Veränderung, und du bist das, was weder kommt noch geht noch sich verändert. Du bist Bewusstsein; das Bewusstsein, in welchem alle Wahrnehmung und alle Erfahrung aufsteigt.
Die Erkenntnis deiner selbst als reines Bewusstsein kannst du nicht lernen, nicht studieren und auch nicht glauben. Reines Bewusstsein muss direkt erfahren und mit Intelligenz erforscht werden, damit du es selbst entdecken kannst. Indem das Ich nach innen eintaucht, entdeckt das Ich, das eintaucht – dasselbe Ich, das diese Seite liest – dass es nichts weiter ist als eine bloße Idee.
Es ist ein glücklicher und geheimnisvoller Moment, wenn das Verlangen nach Glücklichsein zu der Erwägung führt, ob denn das, was ich genannt wurde, auch real ist. Im Licht der unmittelbaren Selbsterforschung wird entdeckt, dass die Begrenzungen, die das eigene Selbst(bild) bisher zu definieren schienen, eher so etwas sind wie durchsichtige, aufs Wasser gezeichnete Linien. Sie existieren lediglich in der eigenen Vorstellung an der Oberfläche des Bewusstseins. Wenn diese Illusionen des Mind aufgedeckt und klar ans Licht gebracht werden, offenbart sich wahres, grenzenloses Sein.
Das Enneagramm dient dieser letztendlichen Entdeckung, indem es dem Bewusstsein als Weisheitsspiegel zur Verfügung steht. Dem Bewusstsein wird ermöglicht zu erkennen, wie es sich fälschlicherweise mit bestimmten Formen identifiziert hat. Auf seine sorgsame und tief greifende Weise vermag das Enneagramm körperliche, emotionale und mentale Identifikationsmuster zu enthüllen, die im Unterbewusstsein verborgen liegen. Der tiefste Kern der (Fehl-)Identifikation ist der Gedanke: »Ich bin jemand.« Sobald dieser Gedanke auftaucht, kristallisiert sich das Ego im Mind, und Bewusstsein erfährt sich selbst als Begrenzung.
Die erste Begrenzung geht mit der Empfindung einher, dass der, der man ist, hier drinnen und der, der man nicht ist, da draußen sei. Ich hat nun eine enge Identität als Objekt im Raum und nennt sich ich oder ich selbst. Die neun Variationen, die durch diesen grundsätzlichen Glauben an einen begrenzten und getrennten Körper hervorgebracht werden, beschreibt das Enneagramm auf klare Weise.
Mein Lehrer Sri Poonjaji, ein Anhänger der Lehre von Ramana Maharshi, erzählte gern eine wundervolle Geschichte über Wellen. Unablässig rollen die Wellen gegen das Ufer, wo sie sich brechen und überschlagen, zusammenfallen, sich zurückziehen und wieder neu formen, um aufs Neue heranzurollen und sich wiederum am Ufer zu brechen. Jede dieser Wellen ist auf ihre Art und Weise einzigartig, sie hat ihre eigene Zeit und ihre eigene Bewegung, ihre eigene Größe und ihre eigene Kraft; und sie scheint sich von allen anderen zu unterscheiden.
Eine kleine Welle bemerkte eines Tages, wie eine große alte Welle heranrollte, und wurde neugierig. Die kleine Welle näherte sich der großen Welle und fragte sie: »Bitte, du siehst aus wie eine große, alte und weise Welle, du bist doch weit gereist und hast so viel gesehen. Kannst du mir vielleicht sagen, ob es so etwas gibt wie einen Ozean?«
Die alte Welle lächelte, dann sagte sie: »Na ja, ich habe schon vom Ozean gehört, gesehen habe ich ihn aber nicht.«
Mit dem Enneagramm kannst du entdecken, auf welche Art und Weise du daran geglaubt hast, eine vom Meer des Bewusstseins getrennte Welle zu sein. Wenn du einmal klar erkannt hast, wie der Mind arbeitet, hast du seine Struktur durchschaut, und dann bist du frei: Du kannst entweder weiter an dem Glauben festhalten, dass du ein begrenztes »Ich« bist, oder du kannst einräumen, dass dein Glaube an einen begrenzten, an Raum und Zeit gebundenen Jemand, möglicherweise falsch ist. Dann kannst du damit beginnen, diesen Glauben bis auf den Grund zu überprüfen. Damit Letzteres möglich ist, muss ein tiefes Verlangen auftauchen, ein Verlangen, das Ego zu transzendieren. Ein brennendes Verlangen nach Freiheit, nach der Wahrheit oder Gott.
Mit der Bereitschaft, die begrenzte Identifikation bewusst aufzugeben, kommt eine tiefe Entspannung. Man ist nicht mehr gewillt, einem selbstzerstörerischen mentalen Spiel noch weiter nachzugeben. Wenn das Leidensdrama aufhört, zeigt sich tiefe und weite Erkenntnis. Entdeckt wird das, was hinter aller, unter aller Identifikation ist: der Ozean erhabenster Glückseligkeit und Frieden. Das ist der Anfang.
Persönlichkeit
Jeder Organismus hat eine Persönlichkeit, das lässt sich bei Hunden und Katzen und Pferden leicht beobachten. Bei einer Studie hat man festgestellt, dass selbst Ameisen eine Persönlichkeit aufweisen. Innerhalb der Struktur des Ego bildet die Persönlichkeit den äußersten Ring, sie liegt ganz oben an der Oberfläche und besteht aus konditionierten und genetischen Anlagen. Diese Muster treffen dann später im Leben auf die entsprechenden Umwelteinflüsse oder sozialen Umstände.
Wir haben es mit drei Körpern der Manifestation zu tun – dem mentalen, dem emotionalen und dem physischen Körper, die in der Persönlichkeit als »meine Gedanken«, »meine Gefühle« und »meine Verhaltensweisen« aktiv sind. Auf diesen drei Ebenen sind wir in dieser Welt identifiziert.
Die meisten herkömmlichen Therapien setzen bei der Arbeit mit dem Ego an; sie sind überwiegend darauf ausgerichtet, dir zu einem besser funktionierenden Ego zu verhelfen. Die Identifikation mit dem Ego verlangt nun allerdings, dass die persönliche Geschichte ständig aufrechterhalten wird. Die Geschichte von mir entsteht, wenn einzelne Momente auftauchender Phänomene aneinander gereiht werden. Das Ganze wird mit einem Band der Kontinuität versehen, indem man alles auf sich selbst bezieht, was bedeutet: Man nimmt es persönlich. Oft geht es in der Therapie darum, die Geschichte zu verändern, die du dir selbst erzählst, und oft genug ist der Therapeut ein sympathisierender Berater, der dir beibringt, wie du mit der Geschichte anders umgehen kannst.
Du kannst deine persönliche Geschichte verändern. Ein positiver innerer Dialog ist einem negativen sicher vorzuziehen, und in einem bestimmten Stadium kann es sehr wertvoll sein, deine Geschichte zu verändern. Es kann wichtig sein zu erkennen, dass du in einer bestimmten Geschichte nicht feststeckst. Es ist nur so: Wenn Therapie hier aufhört, wirst du dich immer wieder mit denselben Themen auseinander setzen müssen, du wirst sie in ähnlichen Umständen wieder und wieder aufgreifen. Vielleicht für diese Runde in einer anderen Besetzung, aber bestimmt wieder in der alten, bekannten Rollenverteilung.
Oft gehen Menschen zu Seminaren oder in die Therapie, weil sie gern mehr Mut oder weniger Angst hätten, weil sie lernen möchten, sich selbst besser anzunehmen oder ihren Eltern zu vergeben. In alledem geht es um die Arbeit an der Persönlichkeit – etwas soll hier anders werden. Die große Falle bei der Arbeit an der Persönlichkeit oder an den Umständen liegt darin, dass hier niemals die Frage gestellt wird: Wer hat denn diese Persönlichkeit; wer ist der, der an ihr arbeitet?
Geschichten erzählen – soweit es um die eigene geht – ist eine Form von Selbsthypnose, es handelt sich um eine »Trance-Induktion«. Bewusstsein versetzt sich selbst in Trance, und von hier aus beschreibt es fortan die Welt, von hier aus reagiert es auf die Welt, und von hier aus entwickelt es persönliche Meinungen und Urteile darüber, wie die Welt denn auszusehen hätte.
Wenn du spirituell gereift bist, wirst du dich allein mit einer besseren Persönlichkeit oder einem besseren Leben nicht zufrieden geben. Dich wird nach etwas Tieferem verlangen. Ein spürbares Sehnen, wieder nach Hause zu kommen, ein Sehnen nach wahrem Frieden, nach wirklicher Liebe und wahrhaftiger Freiheit. Grundsätzlich und schlussendlich ist die Persönlichkeit weder das Problem, noch ist es die Lösung.
Charakterfixierung
Das Enneagramm ist kein System der Persönlichkeitsstrukturen, auch wenn es sehr häufig als solches dargestellt wird. Es ist vielmehr eine Beschreibung der Charakterfixierung, und dieselbe Charakterfixierung kann sich in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Persönlichkeiten zeigen. Jack Nicholson und Slobodan Milosevic zum Beispiel haben dieselbe Charakterfixierung, aber unterschiedliche Persönlichkeiten.
Die Charakterfixierung liegt auf einer tieferen Ebene als die der Persönlichkeit. Hier finden wir den Knotenpunkt des Ego. Von hier aus, von dieser Identifikation im tiefsten Kern steigen alle Gedanken, alle Gefühle und alle Verhaltensweisen der Persönlichkeit auf. Man kann die Charakterfixierung auch als zentrale Überlebensstrategie des Körpers betrachten. Hier, auf dieser Ebene, wird das falsche »ich«-Gefühl, das die Wurzel allen Leidens ist, erkannt und transzendiert.
In der Charakterfixierung maskiert sich das Ego und verdeckt den wahren Charakter. Wahrer Charakter befindet sich auf der Ebene der Seele. Er drückt sich in den Eigenschaften aus, die die Seele ihrer Essenz entsprechend hervorgebracht hat. Wahrer Charakter wird entwickelt, wenn man gewillt ist, persönliches Vergnügen oder persönliche Sicherheit für etwas Wichtigeres herzugeben; wenn man bereit ist, für etwas einzustehen, von dem man weiß, dass es wahr ist, auch im Angesicht der Rationalisierungen und Ängste, die in der Charakterfixierung emporsteigen.
Wahrer Charakter lässt sich allerdings nicht entwickeln, indem man direkt an ihm arbeitet, das wäre eine Form von Selbstsucht. Er zeigt sich in selbstlosem Handeln und wird auch durch selbstloses Handeln gestärkt.
Die große Herausforderung liegt darin, zu erkennen, auf welche Weise wahrer Charakter und die wesentlichen Eigenschaften der Seele von der Charakterfixierung nachgeahmt, wie sie imitiert werden. Das wird im folgenden Teil beschrieben. Dieses Nachahmen wird zum untrennbaren Bestandteil der Strategie des Ego in seinem Bemühen um Sicherheit, Kontrolle und Liebe.
Die Charakterfixierung ist überdies auch »hilfreich«, wenn es darum geht, dieses »ich«-Gefühl in Sicherheit zu halten und abzuschirmen, denn sie bietet ein positives Bild an, mit dem man sich – offen oder heimlich – identifizieren kann. So kommt es dann erst gar nicht so weit, dass dieser »ich«-Sinn überhaupt in Frage gestellt und überprüft wird. Zu jeder Fixierung gehört nämlich eine »Idealisierung«, eine verinnerlichte Geschichte, die alles gut und richtig erscheinen lässt und somit über das, was wirklich vor sich geht, hinwegtäuscht.
Wenn man zuerst der »gebenden« Fixierung, der Zwei, begegnet, erscheint einem das alles als so überaus freundlich und liebevoll. Die unausgesprochene Botschaft, die von der Zwei ausgeht, lautet: »Wie kann ich dir helfen, was kann ich für dich tun?« Bei näherem Kennenlernen wirst du allerdings merken, dass diese Fixierung eher so etwas ist wie eine Liebes-Melkmaschine. »Ich sorge für dich – wenn du mich dafür mit Liebe versorgst. Ich tue alles für dich, wenn du mir dafür meinen Selbstwert gibst.« Diese heimliche Selbstsucht wird in der Nachahmung wahrer Güte oder Freundlichkeit verdeckt. Wahrhaftige, grundlegende Freundlichkeit und Güte müssen nicht anerkannt werden, während die egobezogene Imitation von Güte die Anerkennung braucht.
Es kann durchaus sein, dass die Charakterfixierung, da sie ja die Essenz der Seele nachahmt, so erlebt wird, als handele es sich um eine wirkliche Selbsterfahrung. Auch aus diesem Grund ist das heilige Enneagramm von so unschätzbarem Wert, denn es hat die Fähigkeit, diesen Trick des Ego rücksichtslos zu durchschauen.
Seele und Essenz
Unsere Seele ist kristallisiertes Bewusstsein in einer subtileren Form; Ich-Bewusstsein taucht als äußerst vergänglicher Körper auf. Es ist die Seele, die sich Leben um Leben auf der Suche nach Glück und Erfüllung, auf der Suche nach Gott inkarniert.
Die unerleuchtete, mit einer egobezogenen Identität belastete Seele wird in der alten Sprache Indiens, in Sanskrit, jiva genannt. In diesem Fall ist jiva oder die Seele das Lagerhaus latenter Neigungen und unerfüllter Wünsche, die in einem neuen Körper wieder geboren werden. Indem sich die Seele mit dem Körper identifiziert, entsteht der Ego-Knoten der Charakterfixierung.
Die Eigenschaften der Essenz der Seele finden wir im Sufi-System der subtilen lataif (der neun latifas) beschrieben. Für jede Eigenschaft der Seelen-Essenz gibt es eine Entsprechung in der Fixierung, wobei die Eigenschaft der Seelen-Essenz von der Fixierung verschleiert oder maskiert wird.
So wird zum Beispiel die rote latifa der shakti oder Kraft in der Achter-Fixierung maskiert, indem die Macht hier für persönliche Zwecke eingesetzt wird. Die grüne latifa der Freundlichkeit und Güte wird in der Zwei getrübt, indem die Güte hier als Stolz erscheint. Die weiße latifa der Reinheit wird durch den Zorn verdunkelt, den die Fixierung der Eins gegen alles empfindet, was nicht perfekt ist. Die goldene latifa der Freude wird vom Schleier der Melancholie verdeckt, in den die Vier sich auf der Suche nach eben dieser Freude einhüllt. Die schwarze latifa des Friedens wird durch den Versuch der Fünf verschleiert, in ihrem Rückzug vom Kontakt mit der äußeren Welt den eigenen Frieden herzustellen. Die blaue latifa des Sich-Versenkens wird von der Sieben zugedeckt, indem sie die Glückseligkeit in äußeren Aktivitäten sucht.
Die lataif der Essenz beschreiben keinesfalls die Wahrheit der Seele, denn die Seele selbst ist bar jeder Form, auch der subtilsten. Die lebendige, leere Intelligenz, die Wahrheit des Seins an sich, hat weder Farbe, Form noch Eigenschaft, und dennoch ist sie Ursprung aller Form und verleiht allem und jedem seine Eigenart, Beschaffenheit und Färbung.
Wenn man nicht mehr gewillt ist, die alten Muster der Verschleierung auszuagieren, wird diese Entschlossenheit auf die Eigenbewegung der Fixierung und ihrer Impulse treffen. Im Aufeinandertreffen dieser Kräfte verbrennt die Fixierung, und was hindurchscheint, ist die eigene wahre Essenz.
Das wahre Selbst
Wenn wir die Seelen mit Funken vergleichen, die sich in die unendliche Nacht hinein versprühen, dann ist das wahre Selbst nicht nur die Funken, sondern auch die Nacht, das Universum und der Raum, in dem das Universum auftaucht. Es ist ein gewaltiger kosmischer Witz, dass die Seele aus eben dem Stoff gemacht ist, nach dem die Seele sucht. Sie ist unsterbliches Bewusstsein. Erleuchtung ist die Erkenntnis, dass der, der du bist, dieses unsterbliche Bewusstsein ist. Gott, Seele und Universum werden als Eins erkannt.
Es ist möglich, aus der Trance des Ego und der Identifikation mit der Form zu erwachen. Alle Dinge werden als wahrhaftig leer erkannt. In aller Klarheit wird gesehen, dass nichts wirklich existiert! Und dieses »nichts« liegt jenseits aller Worte und Beschreibung. Wenn du dich selbst erkennst als die Vollkommenheit vollständiger, leerer, intelligenter Fülle, wird das »Erleuchtung oder Erwachen aus der Trance des Leidens« genannt.
Die Erfahrung des Erwachens ist für jeden anders. Sie unterscheidet sich in ihrer Tiefe, in der Dauer und dem Umfang des Erlebens. Einige Erfahrungen sind kurz und gehen nicht sehr tief, andere sind weiter und von großer Tiefe. Je mehr der individuelle Mind bereit ist, sich dem, was jenseits von Mind ist, zu öffnen, umso tiefer ist die Erkenntnis. Die Wahrheit dessen, was erfahren wird, verändert sich nicht. Was sich jedoch verändert, ist die Fähigkeit des Mind, sich dem zuzuwenden, was außerhalb seines Machtbereiches liegt. So kann er sich dem, was der Verstand nicht greifen kann, zumindest annähern und annähernd begreifen.
Sobald der Knoten egobezogener Identität durchtrennt ist, bist du frei. In Sanskrit heißt das, jiva wurde zu jiva mukta, zu einer befreiten Seele. Die Buddhisten schreiben den verschiedenen Buddhas und bodhisattvas – jenen Wesen, deren Leben im Dienst der Erleuchtung aller steht – bestimmte Eigenschaften zu, und dementsprechend reift die Seele, indem sie sich in der Erkenntnis ihrer wahren Natur vertieft. Nach der Erfahrung des Erwachens geschieht ein natürliches Sich-Vertiefen. Verschiedene Prüfungen und Versuchungen werden das Bewusstsein entweder wieder zurück in die Identifikation ziehen, oder sie werden es in eine tiefere Ebene der gefestigten Erkenntnis entlassen.
Die endgültige Erlösung ist die Vereinigung mit Gott. Indem sie ihre wahre Natur erkennt, die jenseits aller Form ist, erkennt sich die Seele als das formlose Eine. Das Selbst als befreite Seele wird im Sanskrit Atman genannt. Wenn sich die Seele im Geliebten Einen, in der Vereinigung mit der einen allumfassenden Totalität aufgelöst hat, heißt das brahman.
Brahman oder Gott – das ist das absolute, unveränderliche Feld, das alle Formen, einschließlich Gott, die Seele und alles, was wir »Universum« nennen, hervorbringt. Wenn sich die Identifikation verlagert – von einem einzelnen Körper, wie subtil er auch sein mag, auf das allumfassende Sein, das alle Objekte erscheinen lässt –, erkennt sich die Seele darin als reines, grenzenloses Bewusstsein. Es ist diese Verlagerung in der Identifikation, die man als »Selbst-Erkenntnis« bezeichnet. In dieser Erkenntnis findest du nicht nur, dass alles, was ist, Liebe ist, du entdeckst zudem, dass das, was du bist, eben diese Liebe ist.
Dieses einfache Dreieck bildet die Grundlage für die gesamte Struktur des Enneagramms. Alles andere geht von dieser Dreiheit aus und entfaltet sich aus ihr. Sie repräsentiert die wesentlichen Aspekte der lebendigen, unbenennbaren Wahrheit, die aller Manifestation zugrunde liegt.
In Wahrheit sind diese Aspekte unteilbar, sie sind nahtlos miteinander verwoben und lassen sich als einzelne Qualitäten eigentlich gar nicht voneinander trennen, genauso wenig wie wir das, was wir beim Feuer als »Hitze«, »Licht« und »Brennen« wahrnehmen, vom Feuer trennen können. Aber um unserer Erforschung willen ordnen wir sie auf einem Dreieck an und tun so, als ließe sich »unsterbliches Sein« auf bestimmte Weise von »Bewusstsein« und von »Liebe« unterscheiden.
An und für sich ist es unzulässig und auch unkorrekt, vom Unbenennbaren wie von einem Objekt zu sprechen, denn die Wahrheit des Seins ist weder ein Objekt, noch ist es eine Form oder ein Ding, das man benennen könnte. Aber auf der Suche nach der namenlosen Wahrheit können uns Namen als Fingerzeig dienen, die uns den richtigen Weg weisen.
Die verschiedenen spirituellen Traditionen bedienen sich seit jeher unterschiedlicher Bezeichnungen, die alle auf das Absolute weisen: Wahrheit, dharmakaya, Gott, Liebe, (das) Nichts, Existenz usw. Alle diese Bezeichnungen weisen auf das, was in allen Kulturen und Traditionen weltweit als unnennbare, unermessliche, ewige Gegenwart erkannt wird.
In Sanskrit wird das Selbst als satchitananda bezeichnet. Die Bedeutung von »sat« ist »unsterbliches Sein«, was auch »Gewahrsein« ist; »chit« lässt sich als »reines, grenzenloses Bewusstsein« übersetzen. Reines grenzenloses Bewusstsein ist absolute Leerheit jenseits von Raum und Zeit und Form, und »ananda« bedeutet »Liebe bzw. Glückseligkeit«. Gewahrsein, Leerheit, Liebe bzw. Glückseligkeit: das sind die drei ursprünglichen Aspekte der einen untrennbaren Wahrheit.
Was sich als Ich ausdrückt, ist in seiner grundlegenden wahren Natur reines und unbegrenztes Gewahrsein, Leerheit und Liebe. In Wahrheit gibt es nur ein Ich, und dieses Eine lässt alle Manifestation entstehen. Es ist dasselbe Eine, welches durch unzählige Augen hinausschaut, und wo es hinschaut, erblickt es die Widerspiegelung seiner selbst. Jeder sagt »Ich bin«, überall und auf der ganzen Welt. Wer könnte sagen »Ich bin nicht«?
Wenn sich »Sein-Bewusstsein-Liebe« ausdrückt, leuchten natürlicherweise die Eigenschaften von Gewahrsein, Intelligenz und Glückseligkeit auf, denn das ist der naturgemäße, wahre, grundlegende und lebendige Zustand des wirklichen Selbst. Dafür musst du nichts erschaffen, du musst an nichts arbeiten und nichts transformieren, um das zu werden. Es ist nicht so, dass du es erst herstellen müsstest oder dass du es eines Tages zustande bringen würdest, wenn du dich nur genügend dabei anstrengen würdest. Es ist, wer du bereits bist. Lediglich dein Mind erzählt dir etwas anderes. Aufgrund seiner Konditionierung erzeugt er Schleier von Trägheit, Angst und Verlangen, wobei das Ganze auf nichts anderem als einer Idee beruht; einer Idee, die von sich sagt: »Ich bin jemand.«
Unsere Wahrnehmung von einem »Universum« ist eine Trance-Induktion. Aus ursprünglichem, reinem Gewahrsein steigt eine Welt der Täuschung auf – das, was die Hindus maya nennen. Durch die »Macht der Verschleierung von maya« scheint sich über das reine Gewahrsein eine Illusion von Dunkelheit oder Verwirrung zu legen. Alles was ist, ist reines Gewahrsein, doch durch diesen Trick von maya lässt sich das nicht so leicht durchschauen. Das Selbst hat sich selbst hereingelegt, und nun scheint es, als wäre Bewusstsein begrenzt, indem es sich als begrenzte Form identifiziert. Das ist mayas Illusion. Im reinen, weißen Licht wird nichts gesehen. In reiner Dunkelheit wird nichts gesehen. Erscheinung manifestiert sich nur im Spiel der Schatten und der Relativität. Das sind die magischen Lichtspiele von maya.
Sobald sich das scheinbar abgesonderte Bewusstsein mit einem Körper identifiziert, haben wir es mit Unkenntnis, oder besser gesagt, mit Ignoranz zu tun. Ignoranz ist eine etwas persönlichere Form der Hypnose. Das, was wirklich hier ist, wird nicht zur Kenntnis genommen, es wird ignoriert. Es ist so etwas wie Einschlafen. Im Sanskrit nennt man diese schlafende Qualität des Mind tamas.3 Das ist der dichte, dunkle, umwölkte, träge Mind. Seine Eigenschaften lassen sich am ehesten mit Bildern beschreiben: etwa wie abgelagerter Schlamm oder wie Motorenöl, das sich in einem Gefäß ansammelt. Die tamas-Qualität des Mind ist Ignoranz. Zunächst wird das wahre Sein nicht zur Kenntnis genommen, und daraus folgt die Fehlannahme, man sei dieses menschliche Einzelwesen.
Das wahre Sein zu ignorieren fordert einen hohen Preis, es ist die Wurzel allen Leidens. Diese Ignoranz lässt Angst und Zweifel aufsteigen. Man ängstigt sich um das Überleben dieses Körpers und zweifelt an der eigenen Fähigkeit, in einer gefährlichen Welt zurechtzukommen. Außerdem tauchen Verlangen auf und die Bedürfnisse des Körpers. Die Liebe selbst wird vom Verlangen nach der Liebe und von der Angst, verletzt zu werden, überdeckt, also legt man sich einen emotionalen Schutzpanzer zu und verkriecht sich dahinter. Aus dieser Sicht der Wahrnehmung gilt es, bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, sonst bekommt man keine Liebe. Und um Liebe zu bekommen, geschieht der Selbstverrat – man »verkauft« sich.
Das ist das menschliche Dasein: Unkenntnis, Angst und Zweifel, Verhärtung der Gefühle, das Bedürfnis nach Liebe und persönliche Anstrengung, um Liebe zu bekommen. Das ist dann ein normales Leben. Kein natürliches, aber ein normales Leben.
Ich bin jemand
Sobald im leeren Feld des Bewusstseins der erste Gedanke von ich auftaucht, hat sich Bewusstsein als ein Körper identifiziert. Wenn wir uns beim Namen nennen, beziehen wir uns auf die Form, auf diesen Körper. Jemand sagt zum Beispiel »Ich bin Fred, und ich bin vierzig Jahre alt.« Die Identifikation liegt beim Körper. Sobald im reinen Bewusstsein der Gedanke auftaucht »Ich bin jemand« und sich selbst damit als diesen Körper meint, sieht unser Dreieck so aus:
Mit diesem Gedanken »Ich bin jemand« steigt auch das Universum als ein »Anderes« auf. Ohne »Ich« ist die Unterscheidung von du, er, sie oder es nicht möglich.
Sobald das Ich erscheint und mit ihm eine Welt, hat sich Bewusstsein gespalten. Der, der man ist, befindet sich hier (= drinnen) und die Welt ist dort (= draußen); hier haben wir die ursprüngliche Entfremdung des Ego. Aus diesem Gefühl, ein getrenntes Selbst zu sein, entsteht alles Leiden.
Durch alle Zeiten erklingt der Mythos von Adam und Eva und erzählt uns in seiner Symbolik vom Bewusstsein auf dem Weg zu seinem eigenen Erwachen. Im Paradies ist nur Einssein, wenngleich der Mensch noch nicht »selbst-bewusst« ist. Gott, der Schöpfer, gebietet nun, nicht von einem bestimmten Baum zu essen. Der menschliche Geist muss sich also, wenn er von den Früchten dieses Baumes essen will, gegen Gott stellen. Die Versuchungen des Fleisches werden eingesetzt, um Gott zu entmachten. Auf symbolischer Ebene wird das Einssein im Paradies dadurch zerstört, dass man von den Früchten des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse isst. Die Dualität des Geistes tritt in Erscheinung – der Mensch gegen Gott; Mann und Frau; richtig und falsch; Scham und Trennung. Die Menschen werden aus dem Paradies vertrieben, unzählige Generationen wandern sie umher. Der Kopf (mind) hat das Sagen und liegt im Widerstreit mit Gott. Wie weit wir es damit gebracht haben, zeigt sich im derzeitigen Zustand unserer Erde.
In seiner Identifikation mit den physischen, mentalen und emotionalen Körpern meint das Ich, es sei der Handelnde, der Denkende und der Genießende. Das Ego hat sich an den Platz Gottes gesetzt und bildet sich ein, es könne das Geschehen lenken. Jedes Ego lebt in der Vorstellung, es hätte die Macht und die Kontrolle über alles und weiß doch im Geheimen, dass es überhaupt gar keine Ahnung hat, was eigentlich zu tun ist. Wenn das Leiden in diesem Zustand unerträglich wird, kehrt der verlorene Sohn nach Hause zurück, zurück zu seinem Ursprung. In der Hingabe an Gott wendet sich der Mind nach innen, und das individuelle Bewusstsein findet den Weg nach Hause, zurück zum Göttlichen.
Die Kristallisierung der Fixierung
Das Enneagramm ist eine Beschreibung des Ich-Gedankens, der den Knoten des Ego bildet. Für gewöhnlich wird das Enneagramm aus der Sicht der Persönlichkeit gelehrt. Fixierung wird als ein Phänomen der Persönlichkeit betrachtet, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Kindheit auftaucht. In meiner Arbeit mit Menschen habe ich festgestellt, dass die Fixierung schon vorgeburtlich angelegt und bereits im Mutterleib vorhanden ist. Tatsächlich gibt es häufig einen bestimmten Zeitpunkt in der Kindheit, an den man sich erinnert, wo die Fixierung Form annahm. Meistens geschah das in einem Alter zwischen drei und fünf Jahren, wenn sich die Struktur des Ego ausbildet. Aber obwohl sich die Fixierung zu dieser Zeit herausbilden mag, das Potenzial dafür war schon latent vorhanden und wartete auf den geeigneten Moment, um in Erscheinung zu treten.
Wir können uns das wie eine Blume vorstellen. Bevor eine Rose erblüht, erkennt man sie bereits offensichtlich als Rose. Das Potenzial der Rose ist in der Wurzel angelegt, und die Blume wird zu gegebener Zeit erblühen. Genauso ist die Charakterfixierung schon im Babyalter ersichtlich und lässt sich oft im Mutterleib erkennen. Manchen Fixierungen scheinen dieselben Erfahrungen im Mutterleib gemeinsam zu sein.
Stanislav Grof ist in seiner bahnbrechenden LSD-Therapie davon ausgegangen, dass sich der Charakter durch die Traumata in der Kindheit formt. In meiner therapeutischen Arbeit mit Rückführungen scheint die Charakterfixierung bereits in der DNS angelegt zu sein. Mit Sicherheit sind den einzelnen Fixierungen einige physische Merkmale gemeinsam.
In der Zwillingsforschung hat man festgestellt, was ich nach meinen eigenen Beobachtungen bestätigt fand, dass eineiige Zwillinge anscheinend dieselbe Fixierung haben, während zweieiige Zwillinge verschiedene Fixierungen aufzuweisen scheinen. Das mag ein weiterer Hinweis darauf zu sein, dass die Fixierung bereits in der DNS angelegt ist.
Ein weiblicher zweieiiger Zwilling berichtete von seinen Erinnerungen an die Erfahrung im Mutterleib:
Ich habe eine Fünfer-Fixierung, und ich konnte es einfach nicht ertragen, dass meine Schwester noch mit mir da drin war. Ich war so eingeengt. Ich habe den Rest meines Lebens damit zugebracht, vor dieser Erfahrung wegzulaufen, um allein und für mich zu sein. Meine Schwester hingegen, die eine Zweier-Fixierung hat, liebte es, da drinnen jemanden bei sich zu haben. Sie läuft mir immer noch hinterher und stöbert mich auf, während ich um die Welt reise und mich zu verstecken versuche.
Ich habe meinen Lehrer nach der Wurzel der Fixierung gefragt, und er sagte, es seien die unerfüllten Wünsche, die sich wieder inkarnieren. Diese unerfüllten Wünsche oder latenten Eindrücke und Neigungen, die dann mit der Geburt als Charakterfixierung wieder auftauchen, heißen im Sanskrit samskaras. Das Ego formt sich und nimmt Gestalt an, um diese Wünsche und Begierden zu erfüllen. Das ist es, was man unter samsara kennt: »der endlose Kreislauf des Leidens auf dem Rad der Wiedergeburt«.
Kindheit
Als Babys erleben wir unsere Eltern als Gott, und zwar in jeder Hinsicht. Bedenken wir einmal, was »Gott« bedeutet. Gott ist der Schöpfer, Gott ist der Versorger und Gott ist der Allwissende. Für das Baby trifft diese Definition auf seine Eltern zu. Da die Eltern das Baby gezeugt – erschaffen – haben, erfährt das Baby seine Eltern buchstäblich als Schöpfer. Eltern sind auch die Versorger. Ohne die Eltern stirbt das Baby. Und aus der Sicht des Babys sind die Eltern allwissend. Die Eltern wissen alles über dieses kleine Baby. Sie gehen weg und besuchen andere Welten, von denen das Baby keinerlei Vorstellung hat. Für das Baby sind die Eltern Götter, die durch andere Welten und Umstände reisen; und in Bezug auf das, was mit diesem kleinen Baby vor sich geht, scheinen sie allwissend zu sein.
Unglücklicherweise werden die meisten von uns in eine Welt hineingeboren, in der Gott, die Eltern, nicht erleuchtet sind. Du kommst als reines Gewahrsein in diese Welt und bist ganz und gar abhängig von deinen Eltern. Dann gibt dir »Gott-Eltern« einen Namen, sagt dir, du bist ein Körper, und schon bald hast du eine Vergangenheit und eine Zukunft. Die Eltern, als Gott, geben die Trance-Induktion der Sklaverei an dich weiter. Du erhältst den Stempel einer persönlichen Identität. Hier liegt die ursprüngliche Verwundung. Du wirst nicht erkannt als das, was du bist, nämlich reines Bewusstsein, sondern stattdessen als ein gutes oder auch ein böses Baby. Wenn du die ganze Nacht durchschläfst und zu den vorgegebenen Zeiten isst, bist du ein gutes Baby. Wenn du aufwachst und weinst, bist du ein böses Baby. Vielleicht bist du ein hübsches Baby oder ein hässliches Baby, ein schlaues Baby oder ein dummes Baby. Das alles wird dir von der Welt, von »Gott«, übergestülpt und lässt dich »wissen«, wer du bist.
Die Trance-Induktion deines Namens beginnt sofort. Wie viele Male, eines um das andere Mal, über lange Monate hörst du die Wiederholung, das Weben des Zauberbanns: Du bist »Sally«. Schließlich ist es verinnerlicht, und du stimmst zu: »Ja, ich bin Sally.«
Ausgehend von dieser Konditionierung muss das kleine Baby lernen, wie es überlebt. Darum lernt das Baby sein individuelles Programm – es lernt, wie es lächelt und niedlich ist, oder es lernt, wie es sich gegen das Programm zur Wehr setzt. Das Baby lernt, dass ein gutes Baby Zuwendung bekommt und ein böses Baby zurückgewiesen wird. Auch wenn sich die Muster voneinander unterscheiden, in beiden Fällen handelt es sich um Beziehungen, die im Wechselspiel mit der elterlichen Konditionierung dem Überleben dienen.
Zu diesem Zeitpunkt hat das Kind den Zugang zu seinem wahren Selbst verloren. Es ist als Körper identifiziert, es hat einen Schutzpanzer entwickelt sowie Abwehrmechanismen und verhaltensspezifische Muster. Das Kind glaubt: »Das bin ich.« Dann macht es sich auf, um »Glück und Frieden und Erfüllung« in einer Welt der Objekte zu finden.
»Wenn ich nur jemanden finde, der mich genug liebt, dann wird’s mir gut gehen.«
Oder: »Wenn ich genug Geld habe, dann wird’s mir gut gehen.«
Oder: »Wenn ich die richtigen Partner habe oder die richtigen Erfahrungen mache, dann wird’s mir gut gehen.«
In dem Glauben, man sei ein Organismus, der unweigerlich auf seinen Tod zugeht, sucht man im Außen nach Bedeutung und Erfüllung, aber weder Bedeutung noch Erfüllung offenbaren sich in diesem Suchen.
Wir suchen in äußeren Erscheinungen nach Frieden und Glück und Liebe, weil wir in Unkenntnis unserer wahren Identität eingeschlafen sind. Das vergebliche Suchen im Außen nach etwas, das niemals dort gefunden werden kann, führt normalerweise, zumindest bis zu einem gewissen Grad, zu Depression, Paranoia und Gefühlskälte. Hast du dich erst einmal in der Trance, die sich »Ich und mein Leben« nennt, verloren, kann das wie ein endloser Kreislauf erscheinen. Emotionale Abschottung bewirkt die verstärkte Dissoziation, was wiederum Angst und Zweifel fördert und den betäubenden Schlaf so wünschenswert erscheinen lässt; und überdies wird der Hunger nach Liebe, die von jemand anderem außerhalb deiner selbst kommen muss, dadurch noch weiter genährt.
Es gibt eine Möglichkeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen und ihm zu entkommen: indem du diesem endlosen Bemühen den Rücken kehrst; indem du aufhörst, deiner Erfüllung im Außen nachzujagen. Dann kannst du entdecken, dass der einzige Weg zu wahrer Erfüllung darin liegt, auf dein eigenes Selbst zuzugehen, bis in die tiefsten Ebenen deines Seins.
Zu guter Letzt wirst du dich unmittelbar mit dem Knoten des Ego konfrontiert sehen. Das ist der Punkt der wirklichen Hingabe.