Doppelmord
Krimi
Jakob Stein lebt seit mehr als 20 Jahren in Frankfurt am Main. Er arbeitet in der Medienbranche sowie im Marketing- und Werbebereich. Er hat bereits an zahlreichen Veröffentlichungen zur Mainmatropole mitgewirkt. Doppelmord ist sein erster veröffentlichter Kriminalroman.
Die Frankfurter-Kleinmarkthalle gilt als der „Bauch“ der Mainmetropole. An mehr als 60 Ständen sind regionale Produkte und internationale Spezialitäten zu erwerben. Darüber hinaus können viele Delikatessen vor Ort gekostet und als Gerichte verzehrt werden - dies schafft eine einzigartige Mischung aus Geselligkeit und kulinarischem Erlebnis. Jede Köchin und jeder Hobbykoch in Frankfurt kennt die Kleinmarkthalle als den Ort, an dem auch die ausgefallensten Zutaten erhältlich sind.
Diese Idylle wird nun durch den ersten „Kleinmarkthallen-Krimi“ bereichert. Die heile Fassade des Schlaraffenlandes trügt. Hinter den Kulissen ist man sich nicht immer grün, es geht letztlich wie überall ums Geld. Die kulinarische Welt ist ein knallhartes Geschäft, das vor nichts zurück schreckt.
Alle Handlungen, Namen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Krimi
Jakob Stein, Doppelmord — Ein Frankfurter-Kleinmarkthallen-Krimi
© 2013 B3 Verlags und Vertriebs GmbH, Markgrafenstraße 12, 60487 Frankfurt
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Weitere Titel des B3 Verlages unter www.bedrei.de
Umschlag: Bayerl & Ost
Cover unter Verwendung eines Fotos von Andreas Stimpert
Lektorat: Rainer Vollmar, SPRACHgewand(t)
Satz: Claudia Manns, KUNSTSTÜCK
Printed in Germany
ISBN 978-3-943758-44-3
Dieses Buch ist auch als E-Book unter der ISBN 978-3-943758-45-0 erhältlich.
Den Besuchern der Kleinmarkthalle bot sich an diesem Montagmorgen ein ungewöhnliches Bild. Vorne und hinten waren die Eingänge geschlossen und mit einem rot-weißen Kunststoffband mit der Aufschrift „Polizei“ versperrt, dahinter stand jeweils ein Beamter in Uniform. Auch die Seiteneingänge waren bis auf einen zu, so dass weder Händler zu ihren Ständen gelangten, noch hartnäckige Kunden – diese gab es tatsächlich – ihre Einkäufe erledigen konnten. Vor der Absperrung, hauptsächlich auf dem Platz zum Liebfrauenberg hin, hatte sich mittlerweile eine beachtliche Menschenmenge angesammelt, und es wurde mitunter hitzig diskutiert, was wohl der Grund für die Maßnahme sei. Feueralarm hatte alle Händler und Besucher aus der Kleinmarkthalle getrieben, jedoch war weder etwas von der Feuerwehr noch von einem Brand zu sehen. Besonders Ausgeschlafene riefen bereits nach dem Weinstand und wo denn der „Tiroler“ sei. So würde einem das Warten schon leichter fallen.
Knapp zwei Stunden zuvor war Nike Kazikis in das Büro des Hallenmeisters gestürmt.
„Mein Mann war nicht zu Hause“, rief sie mehrfach dem verschlafen hinter seinem Schreibtisch Sitzenden entgegen, so als könnte dieser ihr auf der Stelle Auskunft geben, wo ihr Mann sei. Nach einigen beruhigenden Worten gingen sie gemeinsam zum Stand „Valentino – Delikatessen und Feinkost seit 1982“. Die Jalousie war oben und die Jacke wie auch Autoschlüssel und Handy lagen auf der Theke.
„Sehen Se, do isser doch. Es werd sich sicherlich gleich alles uffkläre.“
„Nein, er ist nicht da. Ich bin schon durch die ganze Halle gelaufen. Nirgends ist mein Mann. Sie müssen die Polizei rufen!“
„Nu mol langsam, nu mol langsam. Ich kann doch net gleich die Bolizei rufe. Do liege doch die Sache von Ihrem Mann. Er is bestimmt drauße uff’m Parkplatz oder unne im Keller.“
„Nein, ist er nicht. Sein Auto steht da seit Samstag, ich war da. Im Keller ist er nicht, da habe ich schon geschaut. Sein Handy ist aus. Ihm ist etwas passiert. Sie müssen die Polizei rufen!“
Langsam wurde der Hallenmeister ärgerlich. Was ging es ihn an, dass ihr Mann nicht nach Hause gekommen war. Wahrscheinlich hatten die beiden Eheprobleme und er hatte eine Neue.
„Höre Se mol zu, ich kann net wesche jedem bissie gleich die Bolizei rufe. Wenn Se Ihrn Mann vermisse, do misse Se dann schon selber anrufe und das dort ahnzeiche.“
„Bitte. Ich war doch schon bei der Polizei. Die sagen, ich soll bis Montag warten, er wird wiederkommen. Ich habe gleich gesagt: ‚Nein, er wird nicht wiederkommen, ihm ist etwas zugestoßen.‘ Die Polizei sagt, ich solle warten. Ich habe gewartet, bis heute. Heute ist Montag. Bitte rufen Sie die Polizei. Sie sind Deutscher, Sie sind eine offizielle Person.“
Mehr um den Anruf zu vermeiden als aus tatsächlicher Hilfsbereitschaft schlug er vor, nochmals gemeinsam auf dem Parkplatz und im Keller nachzusehen. Der Wagen stand verschlossen da, die Motorhaube war kalt. In den Gängen unterhalb der Kleinmarkthalle war Alexis Kazikis nicht zu sehen, das Kühlhaus Nummer vier verschlossen, Frau Kazikis bat aufzuschließen, sie habe keinen Schlüssel.
Eiskalte Luft schlug ihnen in einem Nebel entgegen. Das Licht brannte. In der hinteren linken Ecke lag ausgestreckt auf dem Boden ein lebloser männlicher Körper. Der Kopf war mit Adhäsionsfolie umwickelt, die Hände auf dem Rücken und die Beine ebenfalls.
Der Kopf schien ein einziger roter Ball zu sein. Der schrille Schrei von Nike Kazikis durchschnitt die träge morgendliche Ruhe.
Petra Keiling wollte den herrlichen spätsommerlichen Morgen genießen und zu Fuß ins Büro gehen. Zeitig hatte sie sich aufgemacht und schlenderte nun vom Walther-von-Cronberg-Platz kommend am Mainufer entlang Richtung Innenstadt. Die leichte Frische der Luft und die wärmenden Sonnenstrahlen verleiteten sie, immer wieder für einige Schritte die Augen zu schließen. Das rötliche Farbenspiel hinter ihren Lidern ließ sie die angehende Arbeitswoche vergessen.
Auf Höhe des Eisernen Stegs musste Frau Keiling einem rüpelhaft überholenden Fahrradfahrer ausweichen und auf den schmalen Grünstreifen am Ufer springen. Unmittelbar vor dem dort festgemachten Restaurantschiff blickte sie aufs Wasser. Zwischen Kaimauer und Rumpf schwamm etwas, etwas Großes, etwas Helles. Es trieb nicht unmittelbar an der Oberfläche, vielleicht einen halben Meter darunter. Erst als sich ihre Augen an den Schatten gewöhnt hatten, konnte sie Arme und Beine erkennen. Sie rannte auf einen ihr entgegen kommenden Jogger zu, hielt sich eine Hand vor den Mund und wedelte mit der anderen in Richtung des Schiffes.
„Da, da, da …!“, schrie sie und stellte sich dem Läufer in den Weg.
„Da schwimmt einer, der ist tot, da unter Wasser!“ Gemeinsam gingen sie zu der Stelle zurück und blickten hinunter. Erst jetzt nahm der Jogger die Stöpsel aus dem Ohr, griff nach seinem Handy und wählte 110.
Im Inneren der Kleinmarkthalle ging es sehr viel ruhiger zu, als die Außenstehenden vermuteten. Bis auf zwei Beamte, die den Eingang am Parkplatz Ziegelgasse bewachten, war im oberen Bereich der Halle überhaupt niemand zu sehen. Auch der Keller war, bis auf das grelle Licht, das von mehreren aufgestellten Scheinwerfern abgegeben wurde, fast unverändert. Zwei Personen in weißen Overalls mit Kapuze und Überziehern an den Schuhen knieten am Eingang zum Kühlhaus Nummer vier. Leise flüsternd untersuchten sie eingehend das Schloss und den verchromten Hebel. Ein Dritter stand im Inneren und fotografierte aus unterschiedlichsten Positionen den leblosen Körper.
Auf dem Parkplatz standen die Händler, die unmittelbar nach dem Fund der Leiche die Halle hatten verlassen müssen oder erst gar nicht hinein durften. Jeder Neuankömmling wurde sofort von den Ereignissen unterrichtet: „Der Alex ist tot. Wahrscheinlich ermordet. Im Kühlhaus.“
Eine weitere Traube wurde von den Beamten der Polizei gebildet, teilweise im Gespräch, teilweise wortlos vor sich hinstarrend. Auch hier war es Montagmorgen. Gegen neun Uhr betrat ein mit mehr als zwei Meter Körpergröße äußerst auffälliger Mann den Platz. Er trug ein zerknittertes, abgewetztes Sakko, grüßte kurz in die Runde und ging schnurstracks auf den Eingang der Kleinmarkthalle zu. Noch im Gehen fragte er den Beamten an der Tür:
„Sind die Kollegen schon fertig?“ Der Angesprochene hob wortlos die Schultern und ließ den Mann passieren.
Martin Schwaner, Hauptkommissar bei der Frankfurter Mordkommission, ging zur nächstgelegenen Treppe und rief hinunter: „Messner? Messner? Wie weit seid ihr?“
Nach einigen Sekunden erschien an der unteren Treppe einer der Herren in Weiß und antwortete: „Auch dir einen schönen guten Morgen! Ein bisschen wird’s noch dauern, so zehn Minuten, Viertelstunde.“
„Ein Morgen mit einer Leiche ist kein guter Morgen. Und ein Montagmorgen mit einer Leiche schon gar nicht. Und ein Montagmorgen mit zwei Leichen ist zum Kotzen. Sag mir Bescheid, ich warte draußen.“ Ob als Einverständnis oder zum Abwinken hob Günther Messner die Hand und ging wieder zum Kühlhaus zurück.
Schwaner machte ebenfalls kehrt und gesellte sich zu den anderen auf dem Parkplatz. Zum ersten Mal fiel ihm auf, welch herrlicher Tag es heute zu werden versprach. Keine Wolke war am Himmel zu sehen und die angenehme morgendliche Temperatur ließ ein Tageshoch von 20 Grad oder mehr erwarten. Nicht schlecht für Oktober.
Ein Kollege informierte Schwaner, dass Frau Kazikis, die Ehefrau des Opfers, beim Hallenmeister im Büro sitze. Sie habe gemeinsam mit diesem die Leiche entdeckt. Tags zuvor hätte Frau Kazikis eine Vermisstenanzeige aufgeben wollen, sei aber von den Kollegen auf dem Revier vertröstet worden. Die Psychologin sei schon informiert und unterwegs. Ob er gleich mit ihr sprechen wolle?
„Nein, ich schau mir das zuerst einmal an. Ich komm dann. Fragt ihr doch schon mal bei den anderen Händlern nach, wann sie, wie heißt das Opfer …?“
„Alexis Kazikis.“
„… wann sie Herrn Kazikis zum letzten Mal gesehen haben. Da habt ihr schon mal was zu tun.“ Schwaner schaute auf seine Uhr, betrat wieder die Halle und ging direkt die Treppe hinunter. „Messner, wir haben keine Zeit. Da ist noch eine Leiche am Eisernen Steg.“
„Wir sind soweit fertig. Die Meute kann kommen“, sagte der Mann der KTU, dem Schwaner förmlich in die Arme gelaufen war.
„Gleich. Zeig mir, was wir haben.“ Gemeinsam gingen sie zum Kühlhaus zurück. Die Leiche lag nach wie vor unberührt auf dem Boden.
„Eine männliche Leiche, etwa Mitte fünfzig. Betreibt hier in der Halle einen Stand für italienische Feinkost. Valentino! Obwohl er Grieche ist. Heißt Alexis Kazikis. Er wurde von hinten niedergeschlagen, ist dann mit dem Kopf vorne gegen das Regal geknallt und hier auf den Boden gefallen.“ Günther Messner unterstrich seine Erläuterung, indem er den Schlag nachahmte und am Stahlregal auf eine leicht rötlich gefärbte Stelle deutete.
„Da war er aber noch nicht tot. Der Täter nimmt die Folie, umwickelt damit den Kopf und schnürt sie unten am Hals zu. Dann fesselt er ihm mit der gleichen Folie die Hände auf dem Rücken und bindet ihm die Beine zusammen. Ich denke allerdings, dass er nicht mehr zu Bewusstsein kam, denn wie du sehen kannst, ist die Folie rund um die Hände noch recht straff und zeigt keine Spuren, dass er sich befreien wollte – was er in einem Erstickungskampf sicherlich getan hätte. Auch die Beine scheinen sich nicht mehr bewegt zu haben. Der Boden zeigt keine Spuren.“
„Wieso war er nicht gleich tot?“ Martin Schwaner hatte sich neben den Leichnam gekniet.
„Nun, du siehst das Blut in der Folie am Kopf. Die Wunde hat nach der Umwicklung noch stark weiter geblutet. Durch die Adhäsionswirkung in den einzelnen Lagen ist es um den gesamten Kopf gezogen worden. Ich bin mir sicher, dass wir nur eine Platzwunde an der Stirn finden werden, wenn wir die Folie aufschneiden. Ich konnte auch keine andere Verletzung ertasten.“ Wieder unterstrich Messner seine Einschätzungen, indem er mit Spinnenfingern den Kopf umkreiste. Ein leises Knirschen war zu hören.
„Was ist das?“, wollte Schwaner wissen.
„Das Blut ist gefroren. Der Täter muss den Thermostat runtergedrehthaben. Als wir kamen, stand er auf minus acht Grad. Ich kann dir sagen, das war hier saukalt heute Morgen.“
„Wann ist er erschlagen worden?“
„Nun, auf Grund der Kühlung ist das schwer zu sagen. Aber ich schätze, dass er am Samstagnachmittag oder frühen Samstagabend ermordet wurde. Sonst kommst du hier auch gar nicht in die Halle rein.“ Beide richteten sich auf.
„Wenn du einverstanden bist, drehen wir ihn jetzt um und nehmen die Folie am Kopf ab?“
Martin Schwaner nickte und trat einen Schritt zur Seite. Zu dritt packten die vermummten Gestalten den starren Körper und drehten ihn auf den Rücken. Wie einen Balken legten sie ihn wieder ab. Einer der Mitarbeiter der KTU schnitt behutsam die Folie an beiden Seiten des Kopfes mit einem Skalpell auf. Sie ließ sich nicht abnehmen. Sie war auf dem Gesicht festgefroren.
Sven Beck, der Assistent von Martin Schwaner, stand, die Hände in den Hosentaschen, an der Kaimauer des Mains. Er beobachtete einen Taucher der Frankfurter Feuerwehr, der sich auf einem schaukelnden Schlauchboot die Sauerstoffflasche umschnallte und die Taucherbrille aufsetzte. Rücklings fiel der Mann in das trübe Wasser, tauchte nochmals kurz auf und schwamm dann die kurze Strecke bis zur Mauer.
„Schauen Sie nach, ob er unt’n befestigt ist oder irgendetwas an ihm dran hängt. Bitte das zuerst prüf’n und meld’n“, gab Beck die Anweisung. Der Taucher bestätigte mit einem Kreis aus Zeigefinger und Daumen und tauchte ab. Durch die aufsteigenden Luftblasen war die Leiche nicht mehr zu sehen. Ein undeutlicher Lichtstrahl wanderte unter Wasser hin und her. Nach kurzer Zeit war der Taucher wieder an der Oberfläche.
„Nein, da ist nichts. Die Leiche wird von nichts gehalten. Sie ist zwischen Rumpf und Mauer eingeklemmt. Wenn ich sie herausziehe, ist sie frei.“
Beck blickte zu einem Kollegen mit Fotoapparat in der Hand, dieser nickte wortlos.
„Gut, wir haben’s im Kasten. Dann hol’n wir ihn rauf.“
Der Taucher nickte ebenfalls, setzte sein Mundstück ein und war im nächsten Moment verschwunden. Seine Flossen schlugen auf die Oberfläche und erschwerten zusätzlich die Sicht. Einen kurzen Moment später erschien ein lebloser Körper an der Oberfläche. Das wohl einmal weiße Hemd war nach oben gerutscht und bedeckte nur noch die Schulterpartie. Die Arme standen rechtwinklig vom Körper ab und bewegten sich leicht mit den Wellen des Mains. Die Haare waren mittellang und blond. Sie bildeten einen Kranz um den Kopf.
Der Taucher hielt die Füße des Toten, die in dunkelfarbigen Schuhen steckten, keine Socken. Die Beine waren mit einer dunklen Baumwollhose bedeckt. Einen kurzen Moment hatte es den Anschein, als seien die beiden ein Paar. Der Mann mit der schwarzen Kapuze und dem Atemgerät, der dem vor ihm Schwimmenden Unterricht erteilt.
Das Schlauchboot kam herangefahren. Die beiden Insassen packten den Leichnam, der Taucher half vom Wasser aus mit. Die Beine des Toten standen für einige Augenblicke widernatürlich über den Bootsrand. Weiße Beine, deren bleiche Farbe durch die dunkle Kleidung noch betont wurde.
„Das ist der Tod“, war ein plötzlicher Gedanke Becks. „Der Tod hat bleiche, weiße Beine.“ Dann verschwand der Körper hinter der wulstigen Außenwand und wurde mit einer Decke verhüllt. Der Taucher stieg hinzu und das Boot brauste in Richtung Osthafen davon.
Als Beck dort am Bootssteg der Frankfurter Feuerwehr wenig später eintraf, lag der Tote bereits auf der Decke, die ihn zuvor verhüllt hatte. Ein Kollege der Wasserschutzpolizei kam auf Beck zu und überreichte ihm eine Brieftasche, ein Handy und einen kleinen Schlüsselbund. „Das haben wir bei dem Toten gefunden. Er trägt auch noch eine Uhr und zwei massive Ringe.“
„Gut, das kann dann später in der Gerichtsmedizin abgenomm’n werden. Habt ihr alles fotografiert? Dann ab mit ihm.“ Beck öffnete die Brieftasche und zog eine der Karten heraus. Mirko Leininger stand darauf.
Schwaner war zwischenzeitlich ins Büro des Hallenmeisters gegangen, doch es war zu diesem Zeitpunkt unmöglich, mit der Frau des Opfers zu sprechen.
„Ich habe gleich gesagt, ihm ist etwas passiert. Ich habe es gleich gesagt. Niemand hat mir zugehört“, brachte sie immer wieder hervor und weinte weiter in ein schon völlig zerknülltes Taschentuch hinein. Die Kollegin vom psychologischen Dienst schaute Schwaner kurz an und schüttelte leicht den Kopf.
Der Hauptkommissar verabschiedete sich von Frau Kazakis und kündigte seinen Besuch für den morgigen Tag an. „Sie kümmern sich bitte darum, dass Frau Kazakis nach Hause kommt und jemand bei ihr bleibt.“ In diesem Moment klingelte sein Handy. „Ja?“
„Hallo Martin, hier Sven“, meldete sich Beck, „passt es bei dir?“
„Leg los!“
„Also, wir hab’n hier ne männliche Leiche, um die Vierzig. Nach mein’n ersten Beobachtung’n keine erkennbare Fremdeinwirkung. Raub fällt meines Erachtens auch aus. Die Brieftasche is vorhand’n und der Tote trägt reichlich Klunker. Nach Meinung aller kann er noch nicht lange im Wasser geleg’n ham. Er sieht noch ziemlich gut aus. Die Leiche ist jetzt unterwegs in die Gerichtsmedizin. Was hast du?“
„Ein erschlagener Händler der Kleinmarkthalle. Erzähle ich dir später. Bitte organisiere eine erste Besprechungsrunde gegen …“, Schwaner schaute auf seine Uhr, es war jetzt kurz nach halb zehn, „… sagen wir so gegen elf. Ich versuche hier mit Messner eine erste Fallanalyse.“
„O. k., ich fahr dann zurück. Bis später.“ Beck legte auf. Schwaner ging zurück zum Kühlhaus. Das Opfer hatte ein Gesicht bekommen.
„Siehst du, wie ich es gesagt habe. Eine Platzwunde an der Stirn“, empfing ihn Günther Messner fast strahlend.
„Wir haben mit einer Lampe das Blut aufgetaut, die Folie abgenommen und das Gesicht gereinigt.“
Das selbst für einen Toten sehr bleiche Antlitz wirkte entspannt, fast enthoben. Lediglich die verschlossenen Augen waren bläulich unterlaufen, und in den kurzen schwarzen Bartstoppeln waren Reste von Blut zu sehen. Am Kinn hatte sich ein Stück weißen Zellstoffs verhakt. Reflexartig nahm es Schwaner mit den Fingerspitzen ab. Nein, er war nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, war sein Gedanke. Er hatte schon Tote gesehen, die erstickt waren. Der Todeskampf hatte ihre Gesichter zu einer Grimasse verzerrt.
Die klaffende Wunde an der linken Stirnseite war nicht sehr lang, stand allerdings wulstig offen. „Fünf Stiche – vielleicht sechs“, dachte Schwaner und ihm kam seine Platzwunde in den Sinn, die er sich beim Rudern zugezogen hatte. Beim Heraustragen war er unaufmerksam gewesen und gegen eine Stange, auf der die Boote lagen, gerannt. „Viel Blut“, dachte er.
Die schwarzen Haare des Opfers klebten am Kopf und waren mit roten Strähnen durchzogen. An den Schläfen waren Ansätze von Grau zu erkennen. Schwaner richtete sich auf. Er glaubte, den Toten nun ein wenig zu kennen. „Auch Tote können sprechen“, pflegte er immer zu sagen.
„Also, lass es uns einmal durchspielen. Was ist passiert?“, sagte er zu dem Leiter der KTU.
„Einen Moment noch. Etwas haben wir noch gefunden. Es lag unter dem Regal.“ Und Messner hielt ihm einen Kunststoffbeutel vor die Nase, in dem eine unförmige, dunkle Knolle lag. „Weißt du, was das ist?“
„Das ist Trüffel, schwarzer Trüffel“, gab Schwaner sofort zur Antwort. Trotz seiner eher sportlichen Lebensführung und bewussten Ernährung waren ihm die Feinheiten der gehobenen Küche nicht ganz fremd. Allerdings hatte er noch nie einen Trüffel in natura gesehen, geschweige denn, gegessen.
„Richtig, ein Trüffel. Weißt du, was der kostet?“ Messner wirkte aufgeregt. Ihm und seinem Körperumfang waren anzusehen, dass er diese Delikatesse nicht nur vom Sehen kannte. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort:
„Etwa fünf bis sechs Euro das Gramm! Hier in der Kleinmarkthalle vielleicht sogar noch etwas teurer. Und dieser hier, den schätze ich auf gut und gerne 70 bis 80 Gramm, eventuell mehr. Das heißt, dieser kleine Freund ist so um die 500 Euro wert!“, und blickte erwartungsvoll in das Gesicht des Kommissars.
„Sind noch mehr da?“, wollte Schwaner wissen.
„Nein, das ist der einzige.“
„Du meinst, es könnte sich um einen Raubüberfall gehandelt haben?“
„Ich weiß nur, dass die Trüffelsaison jetzt gerade beginnt. Und sicherlich hat er nicht nur mit einem gehandelt. Er betreibt ja ein Geschäft für italienische Delikatessen. Und kennst du eine teurere und begehrtere als Trüffel?“
Schwaner hob die Schultern und schaute sich zum ersten Mal genauer im Kühlhaus um. Dass hier etwas Wertvolles gelagert worden war, war ihm bislang gar nicht in den Sinn gekommen. Er konnte auch jetzt zwischen den Flaschen, Dosen und Kartons nichts dergleichen erkennen.
„Meiner Meinung nach kommt er mit einem Kunden herunter und will ihm die Trüffel zeigen. Die Tür ist unbeschädigt und wurde aufgeschlossen. Sie gehen beide herein, er nimmt etwas aus dem Regal und steht in diesem Moment mit dem Rücken zum Täter. Der schlägt ihn von hinten nieder, wickelt ihn ein, schnappt sich die Trüffel, dreht die Temperatur unter Null und verschwindet.“ Auch jetzt hatte Messner seine Ausführungen mit Gesten und einigen Schritten im Kühlhaus unterstrichen. Erwartungsvoll blickte er zu Martin Schwaner. Dieser überlegte einen Moment.
„Du bist mir zu schnell, Günther. Lass uns keine voreilige Position einnehmen.“ Da war er wieder, der Systematiker Martin Schwaner. Dafür war er im Präsidium bekannt. Alles musste in ein klares System hinein passen, nichts durfte vorschnell oder ungeprüft angenommen werden.
„Was wissen wir sicher? Der Mörder und sein Opfer haben sich gekannt? Vielleicht. Er ist mit seinem Mörder freiwillig hier herunter gekommen? Vielleicht. Er kann auch gezwungen worden sein. Wenn er gezwungen worden wäre, würde er wahrscheinlich anders liegen. Dann hätte er sich wohl eher zu dem anderen hingedreht.“ Dieses Mal hatte Schwaner seine Ausführungen fast pantomimisch begleitet. Er überlegte einen Moment.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand das Opfer in der Halle bedrohen konnte. Das wäre zu auffällig“, warf Messner ein.
„Also nochmal, beide kommen hier herunter, sagen wir, um sich die Trüffel anzuschauen. Das Opfer dreht dem Täter den Rücken zu, um etwas aus dem Regal zu nehmen. In dem Moment schlägt der Täter zu!“ Wieder tänzelte der Kommissar zwischen Messner und Regal umher.
„Woher kommt die Waffe?“
Das war nun eine Frage an Messner. Beiden war klar, dass der Täter sicherlich keine Waffe offen bei sich getragen hatte, als er mit dem Opfer herunter kam. Schwaner langte mit der Rechten in das Regal. Hier war ein freier Platz.
„Hier hat sie gelegen. Was war es?“
„Sie muss schon einiges an Gewicht gehabt haben. Sonst hätte die Wucht nicht ausgereicht, um das Opfer bewusstlos zu schlagen. Auch konnte der Täter nicht sehr weit ausholen, das lässt sein vermutlicher Standort gar nicht zu.“
Beide blickten sich im Kühlhaus um. Hier war nichts Verwertbares zu sehen. Messner las auf einer Kiste oberhalb des von Schwaner bezeichneten Platzes „Prosciutto di Parma“ und rief:
„Schinken – vielleicht ein Schinken.“
Schwaner sah ihn ungläubig an. „Meinst du, mit einem Schinken kann man einen Menschen erschlagen?“
„Und ob! Man muss ihn ja nicht erschlagen, aber die Wirkung reicht aus, dass das Opfer nach vorne fliegt und gegen das Regal donnert.“ Messner trat zum Regal, zog einen der Kartons herunter, riss ihn auf und zeigte auf eine unförmige Keule. „Die wiegt sicherlich gut und gerne 15 Kilo. Und du siehst, man kann sie am unteren Ende packen und damit zuschlagen.“
„Eine Möglichkeit“, entgegnete Schwaner knapp. „Wo ist eigentlich die Folie?“
„Die haben wir nicht gefunden. Der Täter muss sie mitgenommen haben – leider. Diese Adhäsionsfolie hätte uns sehr geholfen. Die zieht ja förmlich Spuren an. Das ist demjenigen wohl auch eingefallen. Und noch etwas.“ Messner deutete auf eine aufgerissene Packung Einweghandschuhe. „Fingerabdrücke können wir sicherlich vergessen.“
„Könnte es auch eine Frau gewesen sein?“
„Also, wenn wir vom Schinken als Tatwaffe ausgehen, eher weniger. Da müsste es schon eine sehr kräftige Frau gewesen sein.“
„Ich kenne kräftige Frauen bei uns im Ruderverein. Täusch dich mal nicht. Denen siehst du nicht an, was die an Power haben. Wir denken da oft noch in alten Rollenbildern.“
„Na gut, dann könnte es auch eine Frau gewesen sein.“
„Was käme noch als Tatwaffe in Frage? Vielleicht die Folienrolle selbst?“
„Wäre auch nicht auszuschließen. Zumal hier am Stand sicherlich die großformatigen Rollen verwendet wurden.“ Messner deutete auf einige Kisten, die mit Klarsichtfolie abgedeckt waren. Dennoch schien ihm sein Vorschlag des Schinkens als Tatwaffe nachvollziehbarer und sympathischer.
„Also weiter. Der- oder diejenige schlägt mit dem Schinken oder der Folie zu. Das Opfer schlägt vorne gegen das Regal und liegt dann bewusstlos am Boden.“
„Nicht ganz“, unterbrach ihn Messner. „Schau einmal hier, der Blutfleck“, und deutete auf eine Stelle in der hintersten Ecke. „Ich nehme an, dass das Opfer zunächst hier, und zwar recht verkrümmt, gelegen hat. Erst dann wurde es ein Stück hierher gezogen – hier ein weiterer Blutfleck – gerade hingelegt und mit der Folie umwickelt.“
So ging es etwa zehn Minuten sukzessive weiter. Die beiden Kriminalbeamten kannten dieses Spiel bereits aus zahlreichen anderen Fällen und wussten, wie wichtig eine rasche Erarbeitung des möglichen Tathergangs war. Am Ende fasste Schwaner zusammen.
„Was suchen wir? Die Tatwaffe – Folie oder Schinken. Den Schlüssel zum Kühlhaus, denn der Täter hat von außen abgeschlossen. Zeugen, die gesehen haben, mit wem Herr Kazikis hier herunter gegangen ist oder wer am Samstagabend hier noch in der Halle war. Es könnte ja auch einer der Kollegen gewesen sein.“
Mit diesem Ergebnis ging Schwaner nach oben und trat vor die Halle. Dort wurde er von einer aufgeregten Menge von Händlern empfangen.
„Wie lange sollen wir denn noch warten?“
„Wisse Sie, was mich des do koscht?“
„Wann wir kommen in Halle hinein?“
Eine attraktive, vielleicht etwas zu auffällig geschminkte Frau in grüner Schürze stellte sich Schwaner in den Weg. „Guten Tag. Mein Name ist Freiser. Ich bin Sprecherin der Händler hier aus der Kleinmarkthalle. Wir würden alle gerne wissen, wann wir wieder in die Halle können?“
„Schwaner, Mordkommission“, stellte sich der Hauptkommissar automatisch vor. „Es tut mir leid, es wird noch dauern. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie lange. Sie könnten uns aber helfen, indem Sie Ihre Kollegen zusammenrufen und fragen, wer Herrn Kazikis am vergangenen Samstag gesehen hat.“
„War es denn ein Unfall?“, wollte Frau Freiser wissen.
„Nein, es war kein Unfall. Alles andere als ein Unfall. Herr Kazikis ist ermordet worden, ziemlich kaltblütig sogar.“
Die Markthändlerin hielt sich die Hand vor den Mund „Aber der Alex war doch so ein beliebter Kerl. Ein wirklich netter. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, wer so etwas tut. Das ist …“
Martin Schwaner unterbrach sie. „Entschuldigen Sie bitte, ich muss zu meinen Kollegen, damit wir mit unserer Arbeit fertig werden. Bitte rufen Sie Ihre Kollegen und fragen Sie sie, worum ich gebeten habe. Alle Angaben sind wichtig. Wir nehmen alle auf.“ Damit drängte sich Martin Schwaner vorbei und ging zu der Traube von Polizeibeamten. „Kollegen, die Halle ist für uns jetzt frei. Ich bitte Sie, mit mir hineinzukommen, damit ich Ihnen ein Lagebild geben und sagen kann, wonach wir suchen.“
Sven Beck saß mit einigen Kollegen aus dem Innendienst nun schon seit einer Viertelstunde im Besprechungsraum. Zwar hatte sich Martin Schwaner gemeldet, hätte aber schon längst hier sein müssen. Günther Messner war schon vor zehn Minuten eingetroffen. Die Tür ging auf.
„Entschuldigt, der Chef hat mich noch aufgehalten. Einer der Händler aus der Kleinmarkthalle hatte sich bei ihm beschwert. Die scheinen ja Gott und die Welt zu kennen. Aber lassen wir uns dadurch nicht aus der Ruhe bringen.“
Schwaner gab einen Überblick über die Geschehnisse dieses Vormittages in der Kleinmarkthalle und fasste seine gemeinsam mit Messner erstellten Überlegungen zusammen.
„Wir gehen also im Moment von einem Raubdelikt mit Todesfolge aus. Der Tod des Opfers wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, er sollte mit absoluter Sicherheit eintreten. Die Kollegen suchen zurzeit noch am Tatort nach Hinweisen und natürlich nach der möglichen Tatwaffe. Wir hier werden versuchen weitere Hintergründe zu ermitteln, in der üblichen Aufteilung. Was gab es bei dir, Sven?“
„Der Tote im Main ist ein gewisser Mirko Leininger, nach erst’n Erkenntniss’n ein Koch und Restaurantbesitzer hier in Frankfurt.“