Die Amoktat von Winnenden
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Der Text folgt der neuen Rechtschreibung (Stand August 2006).
Originalausgabe: © 2010, Militzke Verlag GmbH, Leipzig
eBook: © 2015, Militzke Verlag GmbH, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Julia Lössl
Umschlaggestaltung: Ralf Thielicke
Titelfoto: © alptraum / istockphoto
ISBN 978-3-86189-975-4 (eBook)
ISBN 978-3-86189-828-3 (Hardcover)
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Am 11.März 2009 begann mein Arbeitstag um 7.23 Uhr. Pünktlich rollte der ICE aus dem Münchner Hauptbahnhof, drei Stunden später erreichte der Zug Mannheim, wo ich ausstieg, um auf die Weiterfahrt nach Baden-Baden zu warten. Dort, so mein Plan, würde ich das Gepäck ins Hotel bringen und einige Gesprächspartner treffen: den Oberbürgermeister, einen Polizisten, einen Bundeswehrmann. Für den nächsten Tag hatte ich einen Termin mit Friedensaktivisten vereinbart, die gerade dabei waren, ihren gar nicht so friedlichen Protest gegen den bevorstehenden Nato-Gipfel zu organisieren. Das Nachrichtenmagazin Focus, für das ich seit 2002 arbeite, wollte in der nächsten Ausgabe einen Bericht über die Sicherheitslage in Baden-Baden bringen. Aus dem Artikel wurde nichts, meine Gesprächspartner warteten vergeblich.
Etwa zwanzig Minuten, bevor mein Zug die Kurstadt erreichte, klingelte das Telefon. Die Nummer im Display verriet, Markus Krischer will mich sprechen, der stellvertretende Leiter des Ressorts Deutschland. In knappen Worten erklärte er meine Dienstreise für beendet. Nahe Stuttgart sei ein Jugendlicher Amok gelaufen. An seiner früheren Schule habe er mehrere Menschen erschossen. Ich nahm meinen Schreibblock aus der Tasche und notierte mir den Namen eines Ortes, von dem ich nie zuvor gehört hatte: Winnenden. Ich riss die Seite aus dem Block, faltete sie und stopfte sie in die Hosentasche. Vom Bahnhof aus rannte ich einige hundert Meter bis zur nächstgelegenen Autovermietung. Leider sei kein Auto frei, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, morgen hätte ich vielleicht mehr Glück. Nachdem ich ihr den Ernst der Lage erklärt hatte, überließ sie mir den für einen anderen Kunden reservierten Wagen. Am frühen Nachmittag erreichte ich Winnenden.
Zusammen mit zwei Kollegen, Axel Spilcker aus der Münchner Redaktion und Marco Wisniewski aus dem Büro in Frankfurt am Main, recherchierte ich an diesem und den folgenden Tagen für die Focus-Titelgeschichte der nächsten Woche. Begleitet wurden wir von dem renommierten Stuttgarter Fotografen Christoph Püschner. Einige seiner Aufnahmen sind in diesem Buch erstmals zu sehen. Jeder von uns Reportern hat über große Unglücke und bedeutende Kriminalfälle berichtet. Ein Verbrechen wie dieses geht selbst erfahrenen Journalisten sehr nahe.
Blaulichter, Sirenen, bewaffnete Polizisten, Notärzte und Sanitäter, weinende Schüler, geschockte Eltern, Leichenwagen – die Szenen vor der Albertville-Realschule wirkten wie eine Kopie der Ereignisse vom 26. April 2002. An jenem Freitag erschoss Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst. Damals gehörte ich zu den Reportern, die über Wochen und Monate aus Thüringen berichteten. Wir sprachen mit Zeugen des Verbrechens und Menschen, die den Amokläufer kannten. Mit dem Hausmeister, der die Toten identifizierte. Mit dem Geschichtslehrer, der den Täter am Ende in einen Raum sperrte. Mit der Rektorin, nach der sich Steinhäuser beim Betreten der Schule erkundigt hatte. Mit dem Streifenpolizisten, der sich einen Schusswechsel mit dem 19-Jährigen geliefert hatte. Mit dem Einsatzleiter der Polizei, dessen Vorgehen nicht immer nachvollziehbar war. Mit Gerichtsmedizinern, die ihre Arbeit fast im Akkord verrichten mussten. Mit den Eltern von erschossenen Schülern und Lehrern, auch mit den Eltern des Täters. Wir sprachen mit dem Staatsanwalt, der das Verfahren nach monatelangen Ermittlungen zu einem möglichen Mittäter einstellte. Wir interviewten Amokforscher, Psychologen, Seelsorger, Trauma-Experten, Erziehungswissenschaftler und Soziologen. Wir sammelten Argumente von Waffenlobbyisten, Sportschützen und Computerspielern. Schrieben auf, was Politiker zu sagen hatten.
Sieben Jahre später glichen sich die Gesprächspartner – und die Fragen. Wieder trafen wir Eltern, die um ihre Kinder trauerten und die verzweifelt versuchten, ihrem aus den Fugen geratenen Leben noch einen Sinn zu geben. Bis zum 11. März 2009 war ihre Welt geordnet, friedvoll und irgendwie normal. Sie hatten Aufgaben, Termine, Pläne, Träume. All das fiel mit einem Mal weg. Viele Mütter und Väter waren noch Monate nach dem Verlust ihrer Kinder krankgeschrieben. Sie fühlten sich leer und lustlos, hatten keinen Appetit und keinen Geschmack, waren wie gelähmt. Manche drohte der Lebensmut zu verlassen.
Den Tatort aufzusuchen oder Ermittlungsakten zu lesen, schien den meisten Hinterbliebenen am Anfang unmöglich. Erst allmählich entwickelten sie den Wunsch, sich Gewissheit zu verschaffen. Sie wollten erfahren, wie ihre Kinder gestorben sind – ob sie leiden mussten, ob sie eine Überlebenschance hatten. Sie wollten wissen, wie der Täter vorging und warum der 17 Jahre alte Tim K. zum Mörder wurde. Vor allem aber interessierte sie, warum seine Eltern ihn nicht aufhielten. Warum sie nichts unternahmen, obwohl sie doch wissen mussten, dass er psychisch labil war. Warum die Mutter ihm virtuelle Waffen beschaffte und der Vater ihn lehrte, mit echten Waffen zu schießen, all das wollten die Hinterbliebenen wissen.
Die Fragen haben Ute und Jörg K. nie beantwortet. Zwei Briefe schrieben sie den Familien der Opfer, einen offenen und einen persönlichen. Mit keinem Wort deuteten sie an, dass sie womöglich eine Mitschuld oder Mitverantwortung treffen könnte. An keiner Stelle gingen sie auf die Umstände ein, unter denen ihr Sohn aufgewachsen ist. Das Wort Entschuldigung taucht nirgends auf. Die Eltern des Täters leben seit dem Massaker an einem geheim gehaltenen Ort. Sie schotten sich ab. Wegen zum Teil massiver Drohungen mussten Tims Mutter und seine Schwester neue Identitäten annehmen. Jörg K. untersagten die Behörden, den Namen zu wechseln und ein neues Leben zu beginnen. Sein »altes Leben« ist nämlich noch nicht abgeschlossen. Wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen muss er sich demnächst vor Gericht verantworten. Die zentrale Frage lautet: Hätte er seine Waffe besser sichern müssen, weil er um die Psyche seines Sohnes und die damit verbundenen Risiken wusste?
Dass die Stuttgarter Staatsanwaltschaft den Vater des Amokschützen – entgegen ihrer ursprünglichen Absicht – angeklagt hat, empfinden die Familien der Ermordeten als Erfolg, manche sogar als lebenswichtig. Lange hatten sie fürchten müssen, dass Jörg K. mit einem Strafbefehl davonkommt und die Bluttat womöglich nie vollständig aufgeklärt wird. Diese Sorge, diese Last sind sie los. Vielleicht auch deshalb, weil sie immer darauf aufmerksam gemacht haben, wie wichtig dieser Prozess ist, nicht nur für sie selbst, sondern für alle. Es geht ihnen um ein Zeichen, ein Signal an die Gesellschaft: Seht her, was passiert, wenn wir nicht auf unsere Kinder achten!
Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger, der den Weg für einen Prozess erst frei gemacht hat, will noch etwas anderes. Er will, dass ein juristischer Grundsatz, den es längst gibt, stärker ins Bewusstsein der Menschen rückt, der vielen Sport- und Freizeitschützen jedoch fremd zu sein scheint. Der Grundsatz lautet: Wer seine Waffe so ungesichert und frei zugänglich aufbewahrt, dass ein anderer damit einen Mord begehen kann, macht sich der fahrlässigen Tötung schuldig. Eine solche Konstellation, glaubt Pflieger, liegt im Fall Winnenden vor. Auch deshalb bestand er auf einer Anklage.
In einer Weise, wie es sie zuvor bei Verbrechen nicht gegeben hat, kämpfen die Hinterbliebenen von Winnenden darum, das Vermächtnis der Toten zu bewahren. Mehrere Familien schlossen sich zu einem Bündnis zusammen und gründeten eine Stiftung. Sie fordern strengere Waffengesetze, weniger Gewalt in den Medien und besser geschützte Schulen. Der Schritt von passiven zu aktiven Opfern brachte den Angehörigen Anerkennung ein, aber auch Unverständnis und Anfeindungen. Davon wird auf den folgenden Seiten die Rede sein.
»Normal«. Dieses Wort findet sich in den Aussagen vieler Zeugen, die rückblickend über das Leben des Täters und das seiner Eltern berichten. »Sie waren eine ganz normale Familie«, meint ein Schützenkamerad des Vaters. »Für mich war er ein ganz normaler Jugendlicher«, sagt ein Freund der Familie über Tim. Ute K. beschreibt das Verhältnis zu ihrem Sohn als »normal«. Jörg K. verwendet, wenn er über seine Beziehung zu Tim spricht, das Wort »normal«. Als er einschätzen soll, wie sich Tim und seine Schwester vertragen haben, sagt er, sie seien »normal« miteinander umgegangen. Wenn aber alles so »normal« war in dieser Familie, wie konnte dann geschehen, was geschehen ist?
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Amoklaufs von Winnenden so, wie sie die Ermittler rekonstruiert und wie sie Zeugen beschrieben haben. Konnten bestimmte Abläufe nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden, habe ich mich für jene Variante entschieden, die auch den Fahndern am plausibelsten erschien.
Um die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen zu wahren, verzichte ich grundsätzlich auf die Nennung von Namen. Ein Notarzt bleibt ein Notarzt, ein Schüler ein Schüler, ein Zeuge ein Zeuge. Gleiches gilt für die Schwester des Täters. Lediglich in abgekürzter Form verwende ich den Nachnamen des Amokläufers, seiner Eltern sowie des von Tim K. entführten Familienvaters. Mit vollem Namen tauchen nur Personen des öffentlichen Lebens auf oder Menschen, die sich damit einverstanden erklärt haben. Keine der im Buch erwähnten Personen ist erfunden. An wenigen Stellen habe ich Begebenheiten, die in den Akten sehr nüchtern dargestellt sind, aus erzählerischen Gründen anschaulicher geschildert. Etwa die Szene, in der TimK. am Tattag frühstückt oder der Dialog zwischen seinem Vater und dem Verkäufer im Waffengeschäft.
Im Gegensatz zu den Eltern des Erfurter Amokläufers blocken Ute und Jörg K. Anfragen von Journalisten konsequent ab. Ich selbst habe bis zur Drucklegung dieses Buches Ende Januar 2010 mehrfach versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Vergeblich. Vor Beginn des Prozesses, so sagte mir Jörg K.s Verteidiger Hans Steffan, werde sich sein Mandant eventuell öffentlich erklären. Man darf annehmen, dass der passionierte Sportschütze wiederholen wird, was er bereits gegenüber Polizisten und einem Psychiater mitgeteilt hat.
Seine Aussagen geben, so wie die seiner Frau und seiner Tochter, tiefe Einblicke in das Leben einer Familie, die wohl nur nach außen intakt und harmonisch war. Tatsächlich scheint sie voller Widersprüche und Merkwürdigkeiten. Davon handelt dieses Buch. Es beschreibt, in welchen Verhältnissen der Amokläufer von Winnenden aufwuchs und welche Ereignisse und Personen ihn prägten. Es erzählt die Geschichte von ehrgeizigen, erfolgsverwöhnten Eltern, die glaubten, immer für ihren Sohn da zu sein, ihn in entscheidenden Momenten jedoch allein ließen.
Tim K. tötete nicht spontan. Er bereitete seine Tat akribisch vor, führte sie kühl und überlegt aus. Das Buch zeichnet beide Phasen nach. Ebenso beschreibt es die dramatische Fahndung nach dem Mörder sowie die verzweifelten Versuche von Ärzten und Sanitätern, Leben zu retten. Es wird deutlich, unter welch hohem persönlichen Risiko einfache Streifenpolizisten versuchten, den Täter zu stoppen – und dabei immer Gefahr liefen, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Dass der Einsatz zum Teil chaotisch verlief, bezeugen bislang unveröffentlichte Funkprotokolle und Mitschnitte von Gesprächen zwischen Polizisten. Die Leser erfahren, welche Spuren die Kriminalbeamten nach der Tat verfolgten, wen sie als Mitwisser verdächtigten, was sie über die Besuche des späteren Amokläufers in einer Psychiatrischen Klinik herausfanden und wie sie den Beweis erbrachten, dass nicht nur die Tatwaffe vom Vater stammte, sondern auch die Munition. Es wird klar, wie brisant Tim K.s Computereinträge sind und welch wichtige Rolle ein Zettel spielt, den er im Tresor seines Schlafzimmerschrankes hinterlegt hatte. Die letzten Kapitel beschreiben die Schwierigkeiten der Strafverfolger, die Rolle von Tims Vater juristisch zu bewerten sowie die Probleme von Fachleuten, Tims Tat zu erklären.
Dieses Buch kann, ebenso wenig wie Ermittlungsakten selbst oder Schilderungen von Zeugen, Anspruch auf die volle Wahrheit erheben. Es muss der Versuch bleiben, ihr möglichst nahe zu kommen.
Göran Schattauer
München, 20. Januar 2010
Vor etwa drei Stunden hatte es im Raum 305 der Albertville-Realschule in Winnenden begonnen, nun ist es vorbei, endlich vorbei. Er geht in die Knie, hebt seinen rechten Arm und schießt sich in die Stirn. Das Geschoss tritt am Hinterkopf aus und schlägt in die Fassade einer Firma ein. Eine knappe Minute vergeht, bis sich ein Polizeibeamter dem Schützen nähert. Reglos liegt er auf dem Teer. Die silberne Pistole schräg auf der Brust. Auf der Pistole die Hand. Der 52 Jahre alte Polizist, der von einem Kollegen mit Maschinenpistole gesichert wird, schreit: »Waffe weg!«
Der Oberkommissar macht einen Schritt nach vorn. Mit der Schuhspitze kickt er die Pistole vom Körper. Sie schlittert zwei, drei Meter über den Asphalt. Dann streift er Handschuhe über und beugt sich über den Liegenden. Für einen Moment bildet er sich ein, dass der junge Mann noch lebt. Seine Augen sind geöffnet. Er scheint die Lippen zu bewegen. Worte sind nicht zu hören. Nein, er muss tot sein, denkt der Polizist, ganz sicher ist er tot. Er will nachschauen, ob in der Jacke ein Ausweis steckt. Er greift in die rechte Brusttasche. Er fischt mehrere goldglänzende Patronen heraus. In der linken Brusttasche und in der unteren rechten Tasche findet er weitere Munition. Er tastet Arme und Rumpf des Mannes ab, dann Beine und Füße. Papiere findet er nicht.
Ein zweiter Beamter kommt näher und fotografiert den Toten, unter dem sich eine Lache gebildet hat, mit dem Mobiltelefon. Die Aufnahmen sendet er per MMS an die Polizeiführung. Weitere Uniformierte treten hinzu. Sie ziehen ein rot-weißes Absperrband um den Tatort, später markieren sie die Umrisse des Körpers mit Sprühfarbe. Immer mehr Menschen schauen aus den umliegenden Firmengebäuden im Industriegebiet Wendlingen. Ein Beamter will verhindern, dass sie Fotos vom Toten machen. Deshalb holt er aus einem Krankenwagen eine Rettungsdecke, mit der normalerweise Verunglückte vor Nässe und Wind geschützt werden. Er zieht die Goldfolie über den Leichnam. Die Ränder der Folie beschwert er mit Steinen. Wind kommt auf.
Zwanzig Minuten vor zwei schlägt ein Notarzt die Abdeckung zurück, um die Leichenschau durchführen zu können. Anschließend stellt ein Rechtsmediziner den Totenschein aus. Als Todesursache gibt er Verbluten/Schussbeibringung an. Den Sterbezeitpunkt lässt er offen. Er benutzt das Feld »Falls Sterbezeitpunkt nicht bestimmbar, Datum der Leichenauffindung«. Er trägt ein: 11.März 2009, 13.30 Uhr. Tatsächlich, das wird die spätere Rekonstruktion durch die Kriminalpolizei ergeben, verfeuerte der Täter seine letzte Kugel um 12.27 Uhr und 54 Se kunden.
Am Abend erscheinen mehrere Ermittlungsbeamte in der Leichenhalle des Wendlinger Friedhofs. Sie betrachten den Toten. Ein Beamter macht Notizen. In einfachen Worten schreibt er auf, was Gerichtsmediziner später sehr viel genauer analysieren werden, etwa, dass die Kopfschwarte sternförmig aufgeplatzt ist, und dass ein Riss durch das Schädeldach geht. Ins Protokoll kommt ebenfalls, dass der Tote keine Koteletten hat, aber einen Dreitagebart. Er trägt braune Lederschuhe, Größe 45, an deren Sohlen Blut klebt. Dunkelrote Flecken finden sich auch an der Jacke, dem Hemd und dem T-Shirt. Der Stoff seiner Jeans ist an den Waden aufgerissen. Mit den Wollsocken stimmt etwas nicht. Beide sind von schwarzer Farbe. Eine stammt von Adidas, die andere von Nike. Der Mann muss es beim Anziehen eilig gehabt haben. Oder er war mit seinen Gedanken woanders.
Die Gedankenwelt des jungen Mannes beschäftigt Kriminalpolizisten noch Wochen und Monate später, und nicht nur sie. Psychologen und Psychiater, Staats- und Rechtsanwälte, viele Familien aus dem Raum Winnenden, Millionen Deutsche fragen sich: Wer war der 17-Jährige, der sich in Wendlingen mit einem Kopfschuss das Leben genommen hat? Und warum richtete er in den drei Stunden zuvor so viel Leid an?
Tim K. kommt am 26. Juli 1991 um 8.32 Uhr im Kreiskrankenhaus Waiblingen zur Welt. Knapp ein Jahr später kauft sein Vater in einem Waffengeschäft in Backnang eine Pistole vom Kaliber 9 Millimeter. Jörg K. kennt Maße und Material. Er kennt die Energie, die beim Abfeuern entsteht. Er kennt die Durchschlagskraft. Er schätzt die gute Verarbeitung und den verhältnismäßig sanften Rückstoß. Er berührt sie jeden Abend vor dem Schlafengehen.
Mit dieser Waffe, einer Beretta 92 FS, läuft sein 17-jähriger Sohn am 11. März 2009 Amok. Er tötet 15 Menschen. Dann schießt er sich in die Stirn. Ein Psychiater wird nach Tims Tod feststellen: »Keiner wusste wirklich, wer er war und wie er lebte.« Selbst jene beiden Menschen, die ihn von Geburt an kannten, die um seine hellen und seine düsteren Seiten wussten, die ihm bedingungslos vertrauten und nichts versagten, was käuflich war, selbst sie wussten es nicht.
Der 32 Jahre alte Geschäftsmann Jörg K. und seine zwei Jahre jüngere Frau, Betriebswirtin von Beruf, sind glücklich. Vor einem Jahr haben sie geheiratet. Tim ist ihr erstes Kind. Die Geburt verläuft problematisch, weil der Junge im Mutterleib mit dem Kopf nach oben liegt. Er wird per Kaiserschnitt geholt. Tim weint häufig, besonders nachts. Mit elf Monaten lernt er laufen. Im Alter von zwei Jahren spricht seine ersten Worte, mit drei ist er trocken. Er bekommt eine Schwester.
Der Vater führt eine Firma und kommt oft erst spät nach Hause. Dann schlafen die Kinder meist schon. Ute K. beginnt direkt nach dem Mutterschutz wieder zu arbeiten. An zwei Tagen der Woche erledigt sie die Buchführung einer Firma. Zusätzlich kümmert sie sich im Unternehmen ihres Mannes um den Papierkram. Auf dem Grundstück und am Haus in der Gemeinde Leutenbach, Ortsteil Weiler zum Stein, gibt es immer viel zu tun. Oft überlassen Jörg K. und seine Frau ihre Kinder den Großeltern. Tim spielt mit ihnen gern Mensch ärgere Dich nicht oder Ball. Er steht dann immer an der obersten Stufe der Kellertreppe und wirft seiner Oma den Ball zu. Er liebt ihre handgeriebenen Spätzle.
Von schlimmeren Krankheiten bleibt Tim verschont. Im vierten Lebensjahr wird er einem Logopäden vorgestellt, denn es fällt ihm schwer, L und ST auszusprechen. Als Sechsjähriger muss er zur Beschneidung. Der Eingriff erfolgt ambulant. Es kommt zu Komplikationen, weshalb er in eine Klinik geschafft wird. Es ist kein Bett frei. Tim und seine Mutter schlafen in einem Abstellraum. Am nächsten Tag hört die Mutter ihren Sohn vor Angst und Schmerzen durch die geschlossene Tür des Operationsraumes schreien.
Obwohl er selbst nicht unmittelbar betroffen ist, so spielen gesundheitliche Beschwerden in Tims Leben doch eine sehr große Rolle. In seiner Kindheit und frühen Jugend trüben bedrohliche Krankheiten der Eltern und Großeltern das Glück der Familie. Sie fallen in eine für Tims Entwicklung wichtige Zeit: Die letzten Monate in der Grundschule und die erste Zeit auf der Albertville-Realschule in Winnenden. Die Leiden innerhalb der Familie, darunter der Tod seines geliebten Großvaters im März 2003, machen Tim zu schaffen. Anmerken lässt er sich angeblich nichts. Jene, die ihn kannten, sagen, er sei keiner gewesen, der Gefühle zeigt. Nicht als Kind und auch nicht später.
Die ersten zwei, drei Wochen im Kindergarten sind nicht einfach für Tim. Der Vierjährige weint, wenn seine Mutter aus der Tür ist. Mit der Zeit überwindet er seine Trennungsängste und gewöhnt sich ein. Trotzig oder aufbrausend ist er nie. Ein Nachbarsjunge, der denselben Kindergarten besucht, spielt mit Tim fast jeden Tag auf der Straße Fangen, Federball, Tischtennis. Manchmal kommt Tims kleine Schwester dazu. Die Mutter bietet den Kindern etwas zu essen und zu trinken an. Bei Tim zu Hause, im Keller, steht eine große Modelleisenbahn. Sie gehört dem Vater. Tims Freund findet die Anlage faszinierend. Auch andere Kinder, die bei Tim zu Besuch sind, fühlen sich wohl. Alle sind freundlich zueinander, es fällt kein böses Wort, eine richtig nette und liebenswerte Familie eben.
Die Mutter sieht, wenn sie heute an den kleinen Tim zurückdenkt, einen munteren, wuseligen Jungen, der manchmal ein bisschen schüchtern ist. Er traut sich nicht recht, auf ältere Kinder zuzugehen. Die Eltern müssen immer etwas nachhelfen, bis Tim mit den anderen spielt. Der Vater erinnert sich, dass Tim richtig lebenslustig war, freundlich, aufgeschlossen, sogar überaktiv. Er habe viel gespielt, sei wild mit seinem Traktor gefahren. Im Kindergarten habe er Freunde gehabt.
Mit sieben Jahren kommt Tim in die Grundschule Weiler zum Stein. Eine Lehrerin schwärmt von dem »fröhlichen Kerlchen«. An seinem achten Geburtstag mieten die Eltern eine Go-Kart-Bahn. Alle Kinder seiner Klasse sind eingeladen. Vor einem Rennen tuscheln sie. Tim soll als Erster durch das Ziel kommen. Er kann sich so herrlich freuen. Nach dem Sieg im Geburtstagsrennen strahlt er den ganzen Tag. Kurz nach der Schuleinführung bemerkt die Mutter, dass ihr Sohn sich für andere Dinge interessiert als gleichaltrige Kameraden. Alle spielen sie gern mit Lego-Steinen. Tim macht sich nichts aus Lego. Er beschäftigt sich mit anderen Sachen.
Auf dem Hof der Grundschule steht diese klobige Tischtennisplatte aus Beton. Hier verbringt Tim viel Zeit. Wenn er jemanden findet, spielt er wie besessen. Nachmittags trainiert er beim TSV Leutenbach, an den Wochenenden kämpft er um Punkte. Tim entwickelt einen für ihn untypischen Ehrgeiz. Bei Niederlagen weint er. Die meisten Spiele gewinnt er freilich. Jeden Montag berichtet er im Erzählkreis der Schule über seine Tischtenniserfolge. Seiner Klassenlehrerin fällt auf, dass Tim dabei keine rechte Begeisterung zeigt. Er rattert die Spielausgänge wie am Fließband herunter. Die Mitschüler hören ihm höflich zu. Aber es ist nicht so, dass sie Tim aufgrund seiner Siege besondere Anerkennung schenken oder ihn bewundern. Diese Anerkennung ist es, um die Tim in den folgenden Jahren immer erbitterter kämpfen wird.
Seine Eltern sind von seinem neuen Hobby begeistert. Tim hat offenbar Talent. Sie glauben, er könne im Tischtennis Karriere machen, und sie tun alles, um ihn zu fördern. In seiner Mannschaft gehen ihm schon bald die Gegner aus. Er fühlt sich unterfordert. 2002, im Alter von elf Jahren, wechselt er den Verein. Unter Anleitung eines kroatischen Spitzenspielers trainiert er nun bis zu vier Mal in der Woche. Tim gewinnt ein Turnier nach dem anderen. Mit 14 Jahren spielt er bei den Herren in der Bezirksliga. Sein Doppelpartner ist 60 Jahre alt. Seine Gemeinde ehrt ihn als herausragenden Sportler. Tischtennis sei damals Tims Ein und Alles gewesen, berichtet seine Mutter rückblickend. Er habe sich sehr wohl gefühlt in dem Verein. Er sei immer mit Ehrgeiz und Einsatz dabei gewesen.
Wie leidenschaftlich und dominant Tim spielt, ist nicht zu übersehen. Ebenso wenig allerdings, wie seltsam er mit seinen Erfolgen umgeht. Tim nimmt seine Urkunden und Pokale teilnahmslos entgegen. Lobt ihn jemand wegen seines Spiels, zeigt er keine Regung. Das jedenfalls will dem Vater eines Nachwuchsspielers schon damals aufgefallen sein.
Tims Eltern stecken viel Zeit und Geld in die Tischtennis-Laufbahn ihres Sohnes. Jörg K. sponsert mit seiner Firma den Verein, arbeitet im Vorstand mit und organisiert Turniere. Ute K. kümmert sich als Kassiererin um die finanziellen Dinge. Der Vater bringt seinen Sohn zum Training und zu Wettkämpfen, sie fahren mehr als 20000 Kilometer durch halb Deutschland. 2004 reist Tim mit seinem Team ins Trainingslager nach Poreč in Kroatien. Seine Eltern begleiten ihn. Eines Abends unterhält sich der Vater mit dem Funktionär einer baden-württembergischen Mannschaft, die zufällig auch dort Station macht. Man spricht über den Trainer des Teams. Jörg K. will wissen, ob er gut ist. Und er stellt klar, für seinen Tim komme nur der beste Trainer in Frage.
Der richtige Trainer, so hofft Jörg K., werde aus seinem Jungen einen Spitzenspieler formen, einen Star. Doch davon ist Tim weit entfernt, als er die ersten Male im neuen Verein an der Platte steht. Sein kroatischer Übungsleiter erinnert sich, dass Tim schlecht verlieren konnte. Er habe selbst gegen ihn gespielt. Nach der Niederlage habe Tim seiner Mutter erzählt, sein mieser Schläger sei Schuld. »Am nächsten Tag kam er mit einem neuen Schläger – dasselbe Modell wie meines.«
Natürlich muss Tim einen guten Schläger bekommen. Ein Spieler, der zu den Besten zählen will, braucht so eine Kelle. Das ist doch klar. Warum sollten ihm die Eltern einen solchen Wunsch verwehren? Andere kaufen ihren Söhnen die neuesten Fußballschuhe oder die modernste Skiausrüstung. Aber irgendwie muss es da noch etwas geben. Etwas, womit sich Tim und vor allem sein Vater von der Masse abheben können. Tim wünscht sich ein Spiel gegen Timo Boll. Er ist zehn Jahre älter und international schon eine große Nummer. Als Tims Trainer erfährt, dass Jörg K. den Wunsch seines Sohnes erfüllen will, denkt er: Was für ein Spinner! Er fährt in die Weihnachtsferien nach Zagreb. Dort erreicht ihn ein Anruf von Tims Vater. »Er hatte einen Rückflug für mich gebucht und ein Match zwischen Tim und Timo organisiert. Da habe ich begriffen, dass Tim alles kriegte, was er wollte«, sagt der Trainer später einem Journalisten. Jörg K. zeichnet das Spiel gegen Timo Boll mit seiner Videokamera auf. Die Kassette stellt er wie eine Trophäe in den Wohnzimmerschrank.
Unter normalen Umständen könnte man Begebenheiten wie diese als Anekdoten eines begabten Sportlers und seines ehrgeizigen Vaters verbuchen. Im Nachhinein betrachtet, erscheinen sie vielen als bedeutsam und unheimlich.
Der Trainer will ein gutes Team bilden. Tim soll zusammen mit zwei gleich starken Jungen antreten. Er sperrt sich. Er sagt: »Ich bin doch viel besser!« Der Trainer findet das merkwürdig. Aber Tims Mutter meint, wenn Tim das so sehe, habe er recht. 2005 verliert der Trainer seinen Job. Er ist frustriert. Er hat Wut. Vor allem auf Tims Vater. Dieser hatte den Verein lange gesponsert und ihm die Stelle als Coach finanziert. Damit ist jetzt Schluss. Trainer und Vater streiten heftig. Tim steht daneben. Er bekommt mit, dass die Eltern keine Lust haben, den Verein länger zu unterstützen, weil sie ihn für ein Fass ohne Boden halten. Tims Mutter, die über die Finanzen des Vereins wacht, wusste es längst. Jetzt hat es endlich auch ihr Mann eingesehen.
Im Juli 2005 verlässt Tim die Mannschaft. Er scheint Glück zu haben. Ein neues Team will ihn verpflichten. Der 14-Jährige bekommt einen Vertrag. Darin steht, dass er bei den Herren spielen darf. Tim freut sich. Doch drei Monate später wird er in die Jugendmannschaft eingeteilt. Für die Herren sei er zu schwach, heißt es. Tims Welt fällt zusammen. Er, der Superspieler, zu schwach? Nur noch zweite Wahl? Er versteht es nicht. Er merkt, dass auch seine Eltern ihm nicht helfen können – oder wollen. Stets hatten sie sich für ihn aufgeopfert. Nun scheinen sie zu resignieren. Hat er sie enttäuscht? Glauben sie nicht mehr an ihn? Trauen sie ihm nicht zu, dass er abseits der Schule erfolgreich sein und sich eine Existenz als Sportler aufbauen kann? Immer wieder hatte der Vater ihn ermuntert, er solle kämpfen, solle nach Niederlagen aufstehen und weitermachen, dann werde er es schon schaffen. Die Eltern hatten ihm vermittelt, er sei etwas Besonderes, er sei der Beste. Und solange sie ihn unterstützten, vor allem finanziell, solange glaubte er daran. Nun fühlt er sich bedeutungslos. Seine bisherige Stärke, und sei es die vom Vater eingeredete – verflogen. Seine Erfolge – entwertet. Seine Träume – geplatzt. Jörg K. bemerkt, dass Tim ab diesem Zeitpunkt nicht mehr so leidenschaftlich spielt. Allerdings unterschätzt er, wie sehr die Degradierung seinen Sohn wirklich kränkt.
Tims Schwester sieht sehr wohl, dass sich ihr Bruder nach dem Tischtennis-Debakel zunehmend verschließt. Sie konnte ihn schon immer schwer durchschauen, richtig warm wurde sie mit ihm nie. Sie hatte sich damit abgefunden. Doch jetzt, nach der Sache mit der Zurück -stufung, wirkt er auf sie noch entrückter, noch wundersamer. Kommen ihre Freundinnen ins Haus, würdigt er sie keines Blickes, er grüßt nicht einmal. Die Schwester wird Kripobeamten später erzählen, schon damals habe sie vermutet, dass mit Tim etwas nicht stimmen könne. Er schien ihr voller dunkler Gedanken, die er nicht preiszugeben bereit war.
Im Juni 2006 heuert Tim bei einem neuen Verein an. Er gewinnt wieder. Er führt die Rangliste an. Er bleibt ein Einzelkämpfer. Mitspielern gegenüber verhält er sich unterkühlt und steif. Am 28. März 2008 schreibt er einem Kameraden eine E-Mail. Keine Anrede, kein Gruß, nichts. Nur: »Um wie viel Uhr spielen wir morgen? 9.30 oder 10.30 Uhr?«
Ab September 2008 darf Tim in der zweiten Herrenmannschaft ran. Er trainiert weniger als früher, nur noch ein Mal pro Woche. Nach dem Training trinken die Jungen in der Kabine Bier, flachsen, lachen. Tim ist nicht dabei. Er verschwindet meist wortlos und ohne zu duschen. Ein Sportkamerad wundert sich. Obwohl er mit Tim seit langem in einer Mannschaft spielt, ist er ihm völlig fremd. Keine fünf Sätze hat er mit ihm bisher gewechselt.
Sein Vater begleitet Tim wie all die Jahre zuvor. Zum Training. Zu Wettkämpfen. Teamkollegen registrieren, wie ehrgeizig Tim ist – und vor allem sein Vater. Wenn Tim mal nicht so gut spielt, blafft Jörg K. ihn an: »Konzentriere Dich mal!« Nach Niederlagen kann es passieren, dass der Vater seinen Sohn Pfeife nennt. Nach misslungenen Aktionen schlägt Tim mit der Hand auf die Platte oder tritt gegen das Gestell. Gelingt ihm etwas, ballt er die Faust. Nach einem gewonnenen Ligaspiel lädt Jörg K. die Mannschaft in eine Gaststätte zum Essen ein. Tim bekommt für jedes gewonnene Einzel 20 Euro.
Sein letztes Spiel bestreitet Tim am 7. März 2009. Er verliert.
Im September 2005 schenken die Eltern Tim einen Computer. Jörg K. beauftragt einen Experten, den Rechner im Kinderzimmer anzuschließen. Während der Fachmann die Kabel verschraubt, sitzt der 14-jährige Tim schweigend in der Ecke. Die Mutter überwacht die Arbeiten. Sie habe, erinnert sich der Installateur später, »alles gemanagt«. Besonders wichtig sei ihr damals gewesen, dass der PC mit einer TV-Karte ausgestattet wird, damit Tim am Computerbildschirm fernsehen kann.
Als Tim 15 Jahre alt ist, kauft ihm seine Mutter über das Internet ein Spiel. Es ist ab 18 Jahren zugelassen. Es heißt Counter-Strike, zu Deutsch »Gegenschlag«. Tim sitzt fast jeden Abend am Computer. In der virtuellen Welt rüstet er sich am liebsten – wie später bei seinem realen Feldzug – mit einer Beretta-Pistole und einem Messer aus. Tim übernimmt stets die Rolle des Terroristen, einen Polizisten spielt er nie. Er zielt nicht auf die Beine seiner Opfer, er ist bestrebt, sie mit Kopfschüssen zu liquidieren. Jungen, die mit ihm spielen, verlieren schnell die Lust, weil sie gegen Tim keine Chance haben. Einzig ein Klassenkamerad kann ihm halbwegs Paroli bieten. Zweimal pro Woche treffen sie sich in einem Internetcafé. Der Mitspieler meint sich daran zu erinnern, dass Tim in der 9. und 10. Klasse süchtig nach Counter-Strike war.
Zu Weihnachten 2008 wünscht sich Tim das Computerspiel Far Cry 2. Seine Mutter besorgt es, wie zuvor schon Counter-Strike, über das Internet. Sie interessiert sich offenbar nicht dafür, worum es in den Spielen geht und warum Tim sie so faszinierend findet. Sie kauft die Spiele, weil Tim sie sich wünscht. So einfach ist das. Bei Far Cry 2 muss der Spieler einen Waffenhändler, den Schakal, in einem fiktiven Land in Ostafrika finden und ermorden. Für die Mission stehen ihm laut Hersteller zahlreiche Waffen zur Verfügung:
»Stürze dich mit deinem MG kopfüber in den Kampf, schlage mit der Machete eine Schneise der Verwüstung oder töte lautlos mit dem Scharfschützengewehr. Wenn dir die Atmosphäre dann immer noch zu unterkühlt erscheint, zünde deinen Flammenwerfer und lass deine Feinde die verzehrende Macht des Feuers spüren.«
Irgendwann hat Tim neben Far Cry 2 vier weitere Ego-Shooter-Spiele auf seinem Rechner installiert: Aquanox, Day of Defeat, Half-Life 2 und Tactical Ops. Überdies laufen drei Versionen von Counter-Strike: Counter-Strike, Counter-Strike: Source und Counter-Strike: Condition Zero. Sein Vater kennt die Spiele nicht. Er kennt auch seinen Sohn nicht. Nach dem Amoklauf fragt ihn ein Polizist, ob Tim sich für Spiele und Filme interessiert habe, in denen es um das Töten von Menschen ging. Jörg K. verneint. Im Fernsehen habe sich Tim häufig lustige Sachen angeschaut, sagt er.
Der Vater könnte es besser wissen. Er hätte sich nur die Mühe machen müssen, einmal in Tims Dachspitzzimmer zu gehen, wo der Fernseher steht. Action-, Gewalt- und Horrorfilme stapeln sich dort. Einige sind erst ab 18 Jahren freigegeben. Beim Überfliegen der Inhaltsangaben auf den Hüllen der Videos und DVDs wäre dem Vater vielleicht aufgefallen, wofür sein Sohn sich interessiert:
› The Hills Have Eyes – Hügel der blutigen Augen
(»Es beginnt eine Höllenfahrt in die Tiefen perverser Mordlust. Denn eine Rotte von Mutanten geht auf jede vorstellbare und unvorstellbare Art daran, den Gestrandeten die dünne Haut der Zivilisation vom Leib zu ziehen.«)
› 100 Tears. Er will doch nur spielen!
(»Seit über 20 Jahren treibt der brutale Serienkiller ›Gurdy, der Clown‹ sein Unwesen in Florida. Dieser Mörder versteht es eindrucksvoll, seine Opfer mit einem gigantischen Fleischerbeil in Stücke zu hacken.«)
› The Hitcher. Du kannst ihm nicht entkommen …
(»Das College-Paar Grace und Jim begegnet […] dem mysteriösen Anhalter John Ryder, der sich als wahnsinniger Serienkiller entpuppt. Grace und Jim gelingt zunächst die Flucht, aber der Hitcher heftet sich hartnäckig an ihre Fersen und zieht eine blutige Spur hinter sich her.«)
› Doom. Hier kommt keiner lebend raus
(»Doch in den ausgestorbenen Korridoren lauert eine Legion blutrünstiger Mutanten, deren erbarmungslose Brutalität die jeder bekannten Lebensform übertrifft.«)
› Natural Born Killers
(»52 Tote in drei Wochen – auf ihrer Reise durch die USA hinterlässt das Killerpärchen Mickey und Mallory Knox eine blutige Spur […] die Killer werden zu gefeierten Stars […].«)
Die Tatsache, dass Tim am Computer hing wie an einem Tropf und mit virtuellen Waffen Menschen tötete, mag im Rückblick gespenstisch wirken. Auch seine Leidenschaft für Horrorfilme erscheint im Licht seines späteren Verbrechens fatal. Und doch lässt sich allein damit rein gar nichts erklären. Millionen Menschen auf der ganzen Welt begeistern sich für Ego-Shooter-Spiele, ohne dass aus ihnen Gewalttäter werden. Ein Computerspieler verfasst nach dem Amoklauf von Winnenden eine E-Mail. Er schickt sie an die Hinterbliebenen von Opfern, die ein Verbot so genannter »Killerspiele« fordern. Er schreibt:
»Wie bekloppt muss man sein, um zu glauben, dass Computerspiele dafür verantwortlich sind, wenn irgend so ein sozial vernachlässigter Spast ausrastet? … JA, ich habe mir CoD 6 (gemeint ist das Computerspiel Call of Duty: Modern Warfare 2 – d.A.) bestellt, und ich werde Unmengen an virtuellen Leichen produzieren. Und: NEIN, ich werde nicht danach auf die Straße gehen und Leute killen. Ich wurde vernünftig erzogen und bin in einem ordentlichen, sozialen Umfeld aufgewachsen. Und meine Eltern haben sich für mich interessiert!«
Der junge Mann, von dem diese Zeilen stammen, hat Tim nie gesehen. Er kannte auch Tims Eltern nicht. Und dennoch beschreibt er, indirekt und ohne es zu beabsichtigen, woran es dem Jungen gemangelt haben könnte. Die Ermittler werden später zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangen.
Tim schießt nicht nur am Computer. Er schießt auch mit Softair-Waffen. Sein Vater kauft sie ihm. Er ist Sportschütze. Dass sich Tim für sein Hobby begeistert, freut ihn. Die Softair-Waffen ähneln echten Pistolen oder Sturmgewehren, wie sie bei der Bundeswehr und der US-Army eingesetzt werden. Eines von Tims »Spielzeugen« gleicht einer Kalaschnikow. Eine Pistole ist der Beretta seines Vaters nachempfunden. Das Modell bekommt Tim 2004 geschenkt, da ist er 13 Jahre alt. Seine Mutter unterschreibt in einem Stuttgarter Geschäft den Kaufbeleg. Wie Medaillen hängt sich Tim die Waffen an die Wand. Statt echter Munition verfeuert man mit ihnen Kunststoffkugeln vom Kaliber 6 Millimeter. Sie krachen mit Geschwindigkeiten von bis zu 104,9 Metern pro Sekunde aus dem Lauf.
In einem Steinbruch liefert sich Tim mit Schulkameraden Gefechte. Manchmal schießen sie aus Spaß vom Balkon oder üben bei ihm zu Hause im Keller. Als Zielscheiben benutzen sie diese grünen Faserplatten, die man als Trittschalldämmung unter Parkett legt. Nach dem Amoklauf werden Polizisten eine solche von Kugeln gespickte Platte in einer Kellernische finden. Tim achtet darauf, dass jeder die Sicherheitsregeln einhält. Er verteilt Schutzbrillen. Er erklärt, dass man den Sicherungsriegel der Waffe umlegen und das Magazin entnehmen muss, bevor man zur Scheibe vorläuft.
Wenige Monate vor seinem 16. Geburtstag sieht Tim im Fernsehen erstmals Männern beim Pokern zu. Wortkarge Typen mit ausdruckslosen Gesichtern und starken Nerven, kühl, beherrscht, lässig. Sie imponieren ihm. Im Internet studiert Tim die Spielregeln und verfolgt einige Partien. Am 8. Mai 2007 sitzt er am Computer. Er öffnet das Programm Word und ruft ein Dokument mit dem Titel Poker Test 1 auf. Aufmerksam liest er die Fragen: Was versteht man unter einer Straddle? Was meint man mit Run it Twice oder Deal it Twice? Wo sind die Unterschiede zwischen Texas Hold’em und Omaha Hold’em? Tim findet die Antworten schnell. Wenn ihn etwas wirklich interessiert, bleibt er konsequent bei der Sache.
Im April 2008 meldet er sich bei einem Poker-Portal im Internet an. Er nennt sich, wie auch bei anderen Gelegenheiten, JawsPredator1. Seine Gegner sollen auf den ersten Blick erkennen, mit wem sie es zu tun haben: einem bissigen, aggressiven Spieler. Das englische Kunstwort setzt sich zusammen aus Jaws und Predator. Jaws lautet der Originaltitel des Filmes Der weiße Hai von Steven Spielberg. Predator heißt Raubtier und ist zugleich Titel eines Actionfilms mit Arnold Schwarzenegger. Den Streifen sieht sich Tim an seinem 13. Geburtstag zusammen mit einem Freund an. Im August 2008 vergisst Tim sein Passwort für die Pokerseite. Er muss eine Kontrollfrage beantworten: Wie lautet der Geburtsname Ihrer Mutter? Diese gibt ihm im Frühjahr 100 Euro für das Online-Pokerspielen. Tim gelingt es, den Betrag zu verdreifachen. Sein Vater rät ihm, sich die Hälfte des Geldes auszahlen zu lassen. Tim weigert sich. Nach einem Vierteljahr hat er alles verloren.