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Alberto Moravia

Die Gleichgültigen

Roman

Aus dem Italienischen
von Tobias Eisermann

Titel der Originalausgabe: »Gli Indifferenti«

Copyright © Bompiani / RCS Libri S.p.A., Milan 1949-2015

Copyright © Die Rechte der deutschen Übersetzung von Tobias Eisermann liegen beim btb Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015

Umschlaggestaltung: hilden_design, München

Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-945386-22-4

KAPITEL 1

Carla kam herein. Sie trug ein braunes Wollkleid, dessen Rock so kurz war, dass schon die Bewegung, mit der sie die Tür schloss, ihn eine Handbreit über die Strümpfe hochrutschen ließ, die an ihren Beinen Falten schlugen. Aber sie bemerkte es nicht und trat vorsichtig und mit unergründlicher Miene näher, unsicher, fast schlaksig. Nur eine Lampe brannte und beleuchtete die Knie von Leo, der auf dem Sofa saß. Ein gräuliches Halbdunkel schloss den Rest des Zimmers ein.

»Mama zieht sich an«, sagte sie jetzt, »und kommt gleich runter.«

»Dann werden wir gemeinsam auf sie warten«, sagte er und beugte sich vor. »Komm her, Carla, setz dich hierher.« Doch Carla nahm das Angebot nicht an. Sie blieb bei dem Lampentisch stehen und richtete den Blick auf den Lichtkegel, in dem der Nippes und das ganze Zeug in all ihrer Farbenpracht und Beständigkeit leuchteten, während die anderen Gegenstände tot und gestaltlos im Schatten des Salons verstreut waren. Sie tippte mit dem Finger an den beweglichen Kopf einer chinesischen Porzellanfigur. Es war ein schwer beladener Esel, auf dem zwischen zwei Körben eine Art rustikaler Buddha saß, ein Bauer mit fettem Wanst, der in einen blumengemusterten Kimono gehüllt war. Der Kopf des Esels wippte rauf und runter, und Carla schien, den Blick gesenkt, die Wangen gerötet und die Lippen zusammengepresst, ganz eingenommen von diesem Anblick.

»Bleibst du zum Abendessen?«, fragte sie schließlich, ohne den Kopf zu heben.

»Sicher«, antwortete Leo und zündete sich eine Zigarette an. »Willst du mich lieber nicht hierhaben?« Vorgebeugt auf dem Sofa, beobachtete er das Mädchen mit gieriger Aufmerksamkeit. Ihre Beine mit den krummen Waden, ihr flacher Bauch, das kleine schattige Tal zwischen den großen Brüsten, die schmalen Schultern mit den dünnen Armen und der runde, fast zu schwere Kopf auf dem schlanken Hals. »Was für ein hübsches Mädchen«, wiederholte er in Gedanken, »was für ein hübsches Mädchen.« Seine Begierde, die sich im Laufe des Nachmittags gelegt hatte, flammte wieder auf, das Blut schoss ihm in den Kopf, und er hätte vor Verlangen schreien mögen.

Sie verpasste dem Kopf des Esels noch einen Stoß: »Ist dir aufgefallen, wie nervös Mama heute beim Tee war? Sie haben uns alle angeschaut.«

»Ihre Sache«, sagte Leo, beugte sich vor und hob, als wäre es nichts, ihren Rock etwas an:

»Weißt du, dass du schöne Beine hast?«, sagte er mit erregter, dummdreister Miene und versuchte sich vergeblich ein leutseliges Lächeln abzuringen. Carla errötete weder, noch antwortete sie; sie schlug nur mit einer knappen Handbewegung den Rock herunter.

»Mama ist eifersüchtig«, sagte sie und schaute ihn an. »Deshalb vergällt sie uns allen das Leben.« Leo machte eine Geste, als wollte er sagen: »Und was kann ich dafür?« Dann lehnte er sich wieder im Sofa zurück und schlug die Beine übereinander.

»Mach’s doch so wie ich«, sagte er kühl. »Wenn ich spüre, dass ein Donnerwetter losbricht, sag ich einfach nichts mehr … Es legt sich, und alles ist vorbei.«

»Vorbei für dich«, sagte sie leise, und es schien, als würden seine Worte eine blinde, alte Wut in ihr wieder entfachen. »Für dich …, aber für uns …, für mich«, brach es aus ihren zitternden Lippen hervor, ihre Augen weiteten sich vor Zorn, und sie zeigte mit dem Finger auf sich. »Für mich, die ich mit ihr leben muss, ist gar nichts vorbei.« Ein Augenblick des Schweigens. Nach einer Weile fuhr sie, immer noch mit leiser Stimme, fort. »Wenn du wüsstest …«, entfuhr es ihr dann im Tonfall jener gedämpften Wut, die den Worten Nachdruck verleiht und einen fast ausländischen Klang, »wenn du wüsstest, wie bedrückend, wie erbärmlich, wie elend es ist, all das jeden Tag mitzuerleben, jeden Tag …« Die träge Welle des Zorns löste sich aus dem Schatten, in den der hintere Teil des Salons gehüllt war, schlug gegen Carlas Brust und verebbte schwarz und schaumlos. Das Mädchen hatte die Augen aufgerissen und verstummte atemlos vor dieser Flut von Hass.

Die beiden blickten sich an. »Verdammt«, dachte Leo, ein wenig verwundert über diese Heftigkeit, »die Sache ist ernst.« Er beugte sich vor, um ihr das Etui hinzuhalten, und fragte freundlich: »Zigarette?« Carla nahm eine, zündete sie an und trat durch eine Wolke von Rauch hindurch einen Schritt näher. »Und somit«, fragte er, sie von unten herauf musternd, »hältst du es fast nicht mehr aus?« Er sah, wie sie nickte, ein bisschen verlegen ob des vertraulichen Tons, den ihre Unterhaltung annahm. Dann fügte er hinzu: »Und weißt du auch, was man macht, wenn man etwas nicht mehr aushält? Man ändert etwas.«

»Das werde ich am Ende auch tun«, sagte sie mit einer gewissen theatralischen Entschlossenheit. Doch es kam ihr vor, als spiele sie eine falsche, lächerliche Rolle. War dies also der Mann, zu dem sie ihre Verzweiflung schließlich hinführen würde? Sie betrachtete ihn: Er war nicht besser und nicht schlechter als die anderen, besser vielmehr, ohne jeden Zweifel. Darüber hinaus hatte ihn eine gewisse Schicksalhaftigkeit auserkoren, zehn Jahre lang zu warten, bis sie alt genug war, reif genug, um ihr jetzt, an diesem Abend, in diesem dunklen Salon nachstellen zu können.

»Ändere etwas«, wiederholte er, »zieh zu mir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt …«

»Los!« Leo beugte sich vor und packte sie am Kleid: »Wir werden es deiner Mutter zeigen, wir werden sie zum Teufel schicken, und du sollst alles bekommen, was du willst, Carla …« Er zog das Kleid hoch; sein Blick wanderte von ihrem erschrockenen und zögernden Gesichtsausdruck hinab zu dem Stück nackten Beins, das oberhalb der Strümpfe zu sehen war. »Sie jetzt nach Hause mitnehmen«, dachte er, »sie besitzen …« Ihm stockte der Atem: »Alles, was du willst …, Kleider, ja, viele Kleider, und Reisen …; wir werden zusammen verreisen; es ist doch eine Schande, dass ein hübsches Mädchen wie du sich so aufopfert …, komm, zieh zu mir, Carla!«

»Aber das ist doch alles nicht möglich«, antwortete sie und versuchte vergeblich, sich zu befreien. »Mit Mama ist das doch alles nicht möglich.«

»Die schicken wir zum Teufel«, sagte Leo wieder und griff ihr jetzt um die Taille; »die soll doch hingehen, wo der Pfeffer wächst, es ist wirklich an der Zeit! Und du ziehst zu mir, nicht wahr? Du ziehst zu mir, deinem einzigen wahren Freund, dem einzigen, der dich versteht und der weiß, was du willst.« Er zog sie näher an sich heran, trotz ihrer verzweifelten Befreiungsversuche. »Jetzt bei mir zu Hause sein«, dachte er – und diese Gedanken entluden sich wie Blitze im Sturm seiner Begierde, »dann würde ich ihr schon zeigen, was sie wirklich will.« Er hob die Augen, blickte in ihr verwirrtes Gesicht, und ihn überkam der Wunsch, ihr irgendetwas Sanftes zu sagen, um sie zu beruhigen: »Carla, mein Liebling …«

Wieder versuchte sie vergeblich, ihn zurückzustoßen, aber dieses Mal noch unentschlossener als zuvor, denn allmählich erfasste sie eine Art Ergebenheit. Weshalb sollte sie Leo abweisen? Diese Tugendhaftigkeit würde sie bloß in den Überdruss und den elenden Ekel der Gewohnheit zurückwerfen. Außerdem schien ihr aufgrund einer fatalistischen Vorliebe für moralischen Ausgleich diese sozusagen innerfamiliäre Affäre der einzig angemessene Epilog zu sein, den ihr bisheriges Leben verdiente. Anschließend würde sich alles erneuern, das Leben, sie selbst; sie betrachtete das Gesicht dieses Mannes dort, der sie erwartungsvoll ansah, und dachte: »Schluss machen, alles ruinieren …« Jetzt schwirrte ihr der Kopf wie jemandem, der sich kopfüber in die Tiefe zu stürzen gedenkt.

Stattdessen flehte sie: »Lass mich« und versuchte erneut sich loszureißen. Flüchtig kam ihr der Gedanke, Leo zunächst zurückzuweisen und ihm später nachzugeben. Sie wusste nicht, warum, vielleicht um etwas Zeit zu gewinnen, das ganze Risiko, auf das sie sich einließ, noch einmal überdenken zu können, vielleicht auch aus einem Rest Koketterie heraus. Sie sträubte sich vergeblich. Ihre leise, verängstigte und mutlose Stimme wiederholte hastig die unnütze Bitte: »Bleiben wir gute Freunde, Leo, ja? Gute Freunde, wie bisher.« Doch der eingezwängte Rock entblößte ihre Beine, und in ihrem ganzen kratzbürstigen Verhalten, in den Bewegungen, die sie machte, um sich zu bedecken und zu verteidigen, in dem hastigen Geplapper, das ihr die hemmungslosen Umarmungen des Mannes entlockten, lagen eine Scham und eine Schande und eine Ehrlosigkeit, die kein Entwinden mehr ungeschehen machen konnte.

»Beste Freunde«, sagte Leo wieder, beinahe fröhlich, und zerknitterte ihr wollenes Kleidchen in seiner Faust, »beste Freunde, Carla …« Er presste die Zähne aufeinander, all seine Sinne entbrannten bei der Berührung dieses begehrten Körpers. »Endlich hab ich dich«, dachte er und wand sich auf dem Sofa, um dem Mädchen Platz zu machen. Er war schon drauf und dran, ihren Kopf von dort über der Lampe herunterzuziehen, als ihn das Klirren der Glastür im Dunkel des Salons warnte, dass jemand hereinkam.

Es war die Mutter. Die Verwandlung, die ihre Gegenwart in Leos Verhalten hervorrief, war überraschend. Er setzte sich sofort aufrecht gegen die Lehne des Sofas, schlug die Beine übereinander und betrachtete das Mädchen mit vollkommener Gleichgültigkeit. Ja, er trieb die Täuschung so weit, dass er in gewichtigem Tonfall, wie um eine Unterhaltung zu beenden, sagte: »Glaub mir, Carla, es gibt keine andere Möglichkeit.«

Die Mutter kam herein. Sie hatte sich nicht umgezogen, aber frisiert und reichlich gepudert und geschminkt. Jetzt trat sie mit ihrem unsicheren Schritt näher, und im Halbschatten wirkte ihr regloses Gesicht mit den unentschlossenen Zügen und den grellen Farben wie eine dumme, pathetische Maske.

»Habe ich euch lange warten lassen? Wovon habt ihr gerade gesprochen?«

Leo wies mit einer ausladenden Geste auf Carla, die aufrecht in der Mitte des Raumes stand. »Ich sagte gerade Ihrer Tochter, dass es heute Abend nichts anderes zu tun gibt, als zu Hause zu bleiben.«

»In der Tat«, pflichtete die Mutter bei und setzte sich gravitätisch in einen Sessel ihrem Geliebten gegenüber. »Im Kino waren wir heute bereits, und im Theater geben sie auch nur Stücke, die wir schon gesehen haben. Ich wäre gerne zu ›Sechs Personen suchen einen Autor‹ gegangen, mit der Truppe von Pirandello, aber ehrlich gesagt, was haben wir da zu suchen? Das ist schließlich eine Vorstellung fürs Volk!«

»Ich versichere Ihnen, dass Sie da nichts verpassen.«

»Das stimmt nun doch nicht ganz«, protestierte die Mutter schwach, »Pirandello hat gute Ideen – wie hieß doch gleich die Komödie, die wir neulich sahen? Warten Sie, ach ja, ›Die Maske und das Gesicht‹, da habe ich mich sehr gut amüsiert.«

»Mag schon sein«, sagte Leo und machte es sich auf dem Sofa bequem; »ich habe mich bei Pirandello immer zu Tode gelangweilt.« Er steckte die Daumen in die Taschen seiner Weste und schaute erst die Mutter, dann Carla an.

Das Mädchen, das aufrecht hinter dem Sessel der Mutter stand, wurde durch den ausdruckslosen und schweren Blick in ihrer gläsernen Starre erschüttert. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie schäbig, gewöhnlich und jämmerlich die Szene vor ihren Augen war: Die Mutter und ihr Geliebter saßen sich gegenüber und betrieben Konversation; die Lampe, der Schatten, die dummen, leblosen Gesichter und sie selbst, wie sie freundlich an den Rücken des Sessels gelehnt zuhörte und sich beteiligte. »Das Leben verändert sich nicht«, dachte sie, »es will sich nicht verändern.« Sie hätte schreien mögen. Sie ließ die Hände sinken und wand sie so heftig vor ihrem Bauch, dass ihr die Gelenke schmerzten.

»Wir können zu Hause bleiben«, fuhr die Mutter fort, »umso mehr, da wir für den ganzen Rest der Woche schon Verpflichtungen haben – morgen ist Tanztee für die Waisenkinder, übermorgen der Maskenball im Grand Hotel, und an den anderen Tagen sind wir auch hier und da eingeladen. Übrigens, Carla, heute habe ich Signora Ricci gesehen … Ganz schön alt ist sie geworden, ich habe sie genau beobachtet. Zwei tiefe Falten hat sie im Gesicht, von den Augen bis zu den Mundwinkeln hinab. Bei ihren Haaren weiß man wirklich nicht mehr, welche Farbe das ist, grauenhaft!« Sie verzog den Mund und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

»So schlimm ist es ja nun auch nicht«, sagte Carla, kam hinter dem Sessel hervor und setzte sich neben den Mann. Sie quälte eine leichte schmerzliche Ungeduld, zumal sie voraussah, wie ihre Mutter nun auf verwickelten Umwegen dahin gelangen würde, ihrem Geliebten die übliche kleine Eifersuchtsszene zu machen, wann und wie, wusste sie nicht, aber sie war sich ihrer Sache so sicher wie der Sonne, die am nächsten Tag wieder aufgehen, und der Nacht, die darauf folgen würde. Diese Klarsicht machte ihr Angst. Es gab kein Heilmittel, alles stand unverrückbar fest und war einem armseligen Schicksal unterworfen.

»Sie hat endlos auf mich eingeschwätzt«, fuhr die Mutter fort, »hat erzählt, dass sie den alten Wagen verkauft und sich einen neuen angeschafft haben, einen Fiat … ›Wissen Sie‹, meinte sie zu mir, ›mein Mann ist die rechte Hand von Paglioni in der Nationalbank geworden … Paglioni weiß gar nicht mehr, was er ohne ihn machen soll; er behandelt ihn wie seinen möglichen Teilhaber‹; Paglioni hier, Paglioni da, einfach würdelos!«

»Wieso würdelos?«, warf Leo ein und beobachtete sie durch seine halb geschlossenen Augenlider. »Was ist an all dem so würdelos?«

»Aber Sie wissen doch«, entgegnete die Mutter und sah ihn scharf an, als wollte sie ihn ermuntern, ihre Worte gut abzuwägen, »dass Paglioni und Signora Ricci befreundet sind, nicht wahr?«

»Das weiß jeder«, sagte Leo, und sein stumpfer Blick legte sich schwer auf die sinnierende, resignierte Carla.

»Wissen Sie auch«, insistierte Mariagrazia und betonte jedes Wort einzeln, »dass die Riccis, bevor sie Paglioni kennenlernten, nicht eine müde Lira hatten, und jetzt besitzen sie ein Automobil?«

Leo wandte den Kopf und rief: »Ach, daher weht der Wind. Was ist denn Schlimmes dabei? Arme Leute, die sehen müssen, wo sie bleiben.«

Das war, als hätte er eine sorgfältig vorbereitete Lunte entzündet.

»Ah, so ist das also«, sagte die Mutter spöttisch und riss die Augen weit auf, »Sie rechtfertigen diese dreiste Person, die nicht einmal schön ist, ein wahres Knochengestell ist sie und beutet schamlos ihren Freund aus, um sich Autos und Kleider zu kaufen. Jetzt schafft sie es noch, ihren Mann protegieren zu lassen, von dem man nicht weiß, ist er dämlich oder zu schlau? Solche Prinzipien haben Sie also? Das ist ja wirklich wunderbar. Dazu gibt’s nichts mehr zu sagen. Das erklärt einiges … Solche Frauen gefallen Ihnen offensichtlich …«

»Da haben wir’s«, dachte Carla. Ihren Körper durchlief ein leichtes Zittern innerer Abwehr. Sie senkte die Lider und nahm ihren Kopf in den Schatten zurück, entriss ihn diesem Licht und diesem Gerede.

Leo lachte: »Nein, ehrlich gesagt gefallen mir solche Frauen nicht.« Er warf einen kurzen begierigen Blick auf das Mädchen an seiner Seite; die üppige Brust, die glühenden Wangen, dieser jugendliche Körper: »Das sind die Frauen, die mir gefallen«, hätte er seiner Geliebten gerne ins Gesicht geschrien.

»Das sagen Sie jetzt«, beharrte die Mutter, »das sagen Sie jetzt …, aber wer abfällig über die Ware spricht, will kaufen. Wenn Sie in ihre Nähe kommen, so wie neulich etwa, bei den Sidolis, dann überhäufen Sie sie mit Komplimenten und einer Menge Albernheiten. Ach, gehen Sie, ich kenne Sie! Wissen Sie, was Sie sind? Ein Lügner!«

»Na bitte«, dachte Carla; das konnte noch eine Weile so weitergehen. Doch sie hatte wieder einmal erfahren, dass dieses gewohnte Leben nicht zu ändern war, und das genügte ihr. Sie stand auf. »Ich ziehe mir einen Pullover über, dann komme ich zurück«, und ohne sich noch einmal umzudrehen, denn sie spürte Leos Blicke wie zwei Blutegel auf ihrem Rücken haften, ging sie hinaus.

Im Flur begegnete ihr Michele. »Ist Leo drin?«, fragte er. Sie schaute ihren Bruder an: »Ist er.«

»Ich komme gerade von Leos Verwalter«, entgegnete der Junge ruhig. »Ich habe einen Haufen Dinge erfahren. Vor allem, dass wir ruiniert sind.«

»Das heißt?«, fragte das Mädchen versteinert.

»Das heißt«, erklärte Michele, »dass wir Leo bald die Villa abtreten müssen, um die Hypothek zu bezahlen, dann müssen wir ausziehen, ohne eine Lira, und sehen, wo wir bleiben.«

Sie schauten sich an. Ein bemühtes jämmerliches Lächeln lief über sein Gesicht. »Warum lächelst du?«, fragte sie. »Ist das für dich ein Grund zu lächeln?«

»Warum ich lächele?«, wiederholte er. »Weil mir das alles gleichgültig ist. Es bereitet mir sogar fast Vergnügen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Und ob das wahr ist«, entgegnete er, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, trat in den Salon und ließ sie erstaunt und etwas erschrocken zurück.

Die Mutter und Leo stritten immer noch. Michele hörte gerade noch ein »Du« sich in ein »Sie« verwandeln, als er eintrat, und er lächelte in verächtlichem Mitleid.

»Ich glaube, es ist Zeit fürs Abendessen«, sagte er zu seiner Mutter, ohne den Mann zu grüßen, ja ohne ihn auch nur anzuschauen. Aber Leo ließ sich durch die demonstrative Kälte nicht beeindrucken: »Ach, wen haben wir denn da«, rief er in seiner üblichen leutseligen Art, »unser Michele, komm her, Michele, lange nicht gesehen.«

»Ganze zwei Tage«, sagte der Junge und blickte ihn starr an. Er gab sich Mühe, heftig und kalt zu erscheinen, doch er fühlte nur Gleichgültigkeit. Am liebsten hätte er hinzugefügt: »Je weniger wir uns sehen, desto besser«, oder etwas dergleichen, aber er war weder schlagfertig noch aufrichtig genug.

»Du meinst, das sei nichts, zwei Tage? In zwei Tagen kann man viel tun.« Er beugte sein breites, selbstherrliches Gesicht nach vorn ins Licht und rief: »He, was für einen schönen Anzug du hast … Wer hat dir den denn gemacht?«

Es war ein gut geschnittener, aber viel getragener dunkelblauer Anzug, den Leo schon mindestens hundertmal an ihm gesehen haben musste. Aber die unverhohlene Attacke auf seine Eitelkeit traf ihr Ziel, und Michele vergaß im Nu all seine kalten, hasserfüllten Vorsätze.

»Findest du?«, fragte er und konnte ein geschmeicheltes Lächeln nicht unterdrücken. »Das ist ein alter Anzug, ich trag ihn jetzt schon sehr lange. Nino hat ihn gemacht, weißt du …« Instinktiv drehte er sich um, damit Leo den Rücken sehen konnte, und zog mit den Händen den Saum der Jacke herunter, bis sie perfekt am Oberkörper anlag. Er konnte sich im venezianischen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen. Der Schnitt war zweifellos perfekt, aber seine Haltung schien ihm lächerlich und starr und dümmlich, wie jene der herausgeputzten Kleiderpuppen, die mit Preisschildern auf der Brust im Schaufenster stehen. Eine leichte Unruhe machte sich in seinen Gedanken breit.

»Gut …, wirklich gut.« Leo beugte sich vor und befühlte den Stoff. Dann richtete er sich wieder auf und sagte laut: »Toll, unser Michele.« Dabei klopfte er ihm auf den Arm. »Immer untadelig. Er amüsiert sich und macht sich keinerlei Gedanken.« Zu spät merkte Michele am Ton dieser Worte und an dem Lächeln, das sie begleitete, dass er von Leo listig verleitet und zweifellos zum Narren gehalten worden war. Wo blieben die Entrüstung und der Groll, die er sich in Gegenwart seines Feindes zu empfinden eingebildet hatte? Irgendwo im Schattenreich seiner guten Vorsätze. Entsetzlich verlegen ob seines eitlen Verhaltens schaute er seine Mutter an.

»Schade, dass du heute nicht mit uns warst«, erklärte sie. »Wir haben einen wunderbaren Film gesehen.«

»Ach ja?«, sagte der Junge, und dann, an Leo gerichtet, mit der schärfsten und härtesten Stimme, die ihm geboten war: »Ich bin bei deinem Verwalter gewesen …«

Aber der andere unterbrach ihn sofort mit einer deutlichen Geste: »Nicht jetzt …, ich habe verstanden …, wir sprechen nachher darüber …, nach dem Abendessen. Alles zu seiner Zeit.«

»Wie du willst«, sagte der Jüngere in instinktiver Nachgiebigkeit und begriff sofort, dass er schon zum zweiten Mal unterlegen war. »Ich hätte sagen müssen: sofort«, dachte er, »jeder andere hätte das gemacht, gleich gestritten und den anderen womöglich beschimpft.« Er hätte vor Wut schreien mögen. Eitelkeit und Gleichgültigkeit, binnen weniger Minuten hatte Leo es verstanden, ihn in beide erbärmliche Abgründe stürzen zu lassen.

»Ich habe Appetit«, sagte Leo und knöpfte sich die Jacke zu, »ganz schönen Appetit.« Die Mutter lachte jetzt, und Michele folgte den beiden mechanisch. »Aber nach dem Abendessen kommst du mir nicht so leicht davon«, dachte er und versuchte vergeblich, etwas Schärfe in seine zerstreuten Gedanken zu bringen.

An der Tür hielten sie inne: »Bitte«, sagte Leo, und die Mutter ging hinaus. Die beiden, der Mann und der Jüngere, standen einander jetzt gegenüber und schauten sich an. »Na los«, insistierte Leo übertrieben und legte ihm eine Hand auf die Schulter, »der Hausherr hat den Vortritt …« Mit väterlicher Geste und einem so freundschaftlichen Lächeln, dass es schon spöttisch wirkte, stieß er Michele sanft durch die Tür. »Der Hausherr«, dachte der ohne eine Spur von Zorn, »nicht schlecht …: Der Hausherr bist du.« Aber er sagte nichts und trat hinter seiner Mutter in den Flur.

KAPITEL 2

Unter dem dreiarmigen Kronleuchter funkelten im Schein dreier kleiner Lichtkegel der weiße Block des Tisches, das Geschirr, die Gläser, die Karaffen, einem Marmorklotz gleich, der von den Steinmetzen noch kaum bearbeitet wurde. Hier und dort ein wenig Farbe, der Wein war rot, das Brot braun, eine grüne Suppe dampfte in den Tellern. Aber das strahlende Weiß machte das alles zunichte und glänzte makellos zwischen den vier Wänden, wo sich die übrigen Dinge, die Möbel und die Bilder, in einem einzigen matten Halbdunkel verloren. Carla saß schon an ihrem Platz, den abwesenden Blick starr in den Dampf der Speise gerichtet, und wartete ohne jede Ungeduld.

Als Erste von den dreien trat die Mutter herein; den Kopf zu Leo zurückgewandt, der hinter ihr ging, erklärte sie gerade in exaltiert ironischem Tonfall: »Man lebt nicht, um zu essen, sondern man isst, um zu leben … Sie hingegen tun das Gegenteil, Sie Glücklicher.«

»Aber nicht doch …«, erklärte Leo beim Hereinkommen und berührte mit einer misstrauischen Geste und aus reiner Neugier den bestenfalls lauwarmen Heizkörper, »Sie haben mich falsch verstanden, ich sagte, wenn man etwas tut, darf man dabei nicht an etwas anderes denken; wenn ich arbeite, zum Beispiel, dann denke ich nur ans Arbeiten, und wenn ich esse, nur ans Essen und so weiter, dann ist alles in Ordnung …«

»Und wenn du stiehlst?«, hätte Michele gern gefragt, der nach ihm kam. Aber er konnte einen Mann, den er gegen seinen Willen beneidete, nicht hassen. »Im Grunde hat er recht«, sagte er sich, während er zu seinem Platz ging, »ich denke zu viel.«

»Sie Glücklicher«, wiederholte die Mutter sarkastisch, »bei mir hingegen läuft alles schief.« Sie nahm Platz, setzte eine würdevolle Leidensmiene auf und rührte mit gesenktem Blick in der Suppe, um sie abkühlen zu lassen.

»Und warum läuft alles schief?«, fragte Leo, als er sich seinerseits setzte. »Ich an Ihrer Stelle wäre doch glücklich: eine hübsche Tochter, ein intelligenter Sohn mit aussichtsreicher Zukunft …, ein schönes Haus …, was will man mehr?«

»Sie verstehen mich schon richtig«, entgegnete die Mutter mit einem schwachen Seufzer.

»Ich? Nein, selbst auf die Gefahr hin, von Ihnen für dumm gehalten zu werden, muss ich gestehen, dass ich überhaupt nichts verstehe.« Die Suppe war alle. Leo legte seinen Löffel ab: »Außerdem seid ihr alle unzufrieden …, glauben Sie nicht, Signora, Sie seien die Einzige. Soll ich es Ihnen beweisen? Nun, Carla, sag die Wahrheit, bist du zufrieden?«

Das Mädchen hob die Augen; dieser leutselige, Gutmütigkeit heuchelnde Ton verschärfte ihre Ungeduld. Hier saß sie wie all die anderen Abende an der Familientafel, die üblichen Diskussionen, die üblichen Themen, je länger, desto unerträglicher, und vor allem dieses übliche illusionslose und hoffnungslose Licht, so gewöhnlich, so abgenutzt wie der Stoff eines viel getragenen Kleidungsstücks und so untrennbar von den gewohnten Gestalten, dass sie manchmal, wenn das Licht über dem Tisch plötzlich angeschaltet wurde, schon die vier Gesichter im trüben Lichtkreis zu sehen meinte, das ihrer Mutter, das des Bruders, das von Leo und ihr eigenes. Da waren sie, die ewigen Begleiter ihrer Langeweile, und nun kam Leo daher und traf sie, wo ihre Seele besonders schmerzte. Doch sie beherrschte sich: »Es könnte in der Tat besser gehen«, gab sie zu und senkte erneut den Kopf.

»Na also«, rief Leo triumphierend, »habe ich es Ihnen nicht gesagt …? Auch Carla …, aber damit nicht genug …, selbst Michele, keine Frage … Nicht wahr, Michele, bei dir läuft doch ebenfalls alles schief?«

Auch der Junge sah ihn zuerst an, bevor er antwortete. »Jetzt müsste man ihm ordentlich Bescheid sagen, ihn beschimpfen, einen richtigen Streit vom Zaun brechen und sich am Ende mit ihm überwerfen.« Jedoch fehlte ihm die Aufrichtigkeit; bloß tödliche Ruhe, Ironie, Gleichgültigkeit.

»Könntest du es nicht einfach lassen«, sagte er ruhig, »du weißt doch besser als ich, wie die Dinge laufen.«

»Ach, der Schlaumeier«, rief Leo, »der Schlaumeier Michele will sich um eine Antwort drücken, dabei ist es offensichtlich, dass auch du unzufrieden bist. Sonst würdest du nicht ein Gesicht machen wie sieben Tage Regenwetter.« Er bediente sich aus der Schale, die ihm das Mädchen reichte, und fuhr fort: »Ich hingegen, meine Herrschaften, möchte betonen, dass es mir gut geht, sehr gut vielmehr, und dass ich äußerst zufrieden bin, sogar mehr als zufrieden. Sollte ich wiedergeboren werden, dann wollte ich als kein anderer wiedergeboren werden als der, der ich bin, mit exakt meinem Namen: Leo Merumeci.«

»Glücklicher Mensch!«, rief Michele in ironischem Ton; »aber sag uns wenigstens, wie du das machst.«

»Wie ich das mache?«, sagte Leo mit vollem Mund; »einfach so …, aber wollt ihr nicht vielmehr wissen«, fügte er hinzu, während er sich einschenkte, »warum ihr drei nicht so seid wie ich?«

»Warum?«

»Weil ihr euch über Dinge aufregt, die es nicht wert sind …« Er schwieg und trank; es folgte eine Minute des Schweigens; alle drei, Michele, Carla und die Mutter, fühlten sich in ihrer Eigenliebe gekränkt. Der Junge sah deutlich, wie er war, erbärmlich, gleichgültig und mutlos. Er sagte sich: »Ach, ich möchte dich einmal in meiner Lage erleben.« Carla dachte an das Leben, das sich nicht ändert, und an die Hintergedanken des Mannes. Sie hätte gern gerufen: »Ich habe wirklich Gründe«, aber von allen dreien war es schließlich die impulsive und redselige Mutter, die sprach.

In dieser allgemeinen Neigung zur Unzufriedenheit mit ihren Kindern auf eine Stufe gestellt zu werden, traf sie, bei der hohen Meinung, die sie von sich hatte, wie ein Verrat. Ihr Geliebter verließ sie nicht nur, sondern machte sich auch noch über sie lustig: »Von mir aus«, unterbrach sie endlich das Schweigen in jenem ironischen und hämischen Tonfall, mit dem man einen Streit anzettelt; »aber ich, mein Lieber, habe gute Gründe, nicht zufrieden zu sein.«

»Ich zweifle nicht daran«, sagte Leo.

»Wir zweifeln nicht daran«, wiederholte Michele.

»Ich bin kein Kind mehr wie Carla«, fuhr die Mutter mit zornbewegter Stimme fort, »ich bin eine Frau mit Erfahrungen, und zwar schmerzhaften Erfahrungen, oh ja, sehr schmerzhaften Erfahrungen«, wiederholte sie, erregt durch ihre eigenen Worte. »Eine Frau, die viele Unannehmlichkeiten und Probleme überstanden und es dennoch immer geschafft hat, ihre Würde zu bewahren und ihre Überlegenheit über die anderen, oh ja, mein lieber Merumeci«, brach es mit bitterem Sarkasmus aus ihr hervor, »alle anderen, Sie eingeschlossen …«

»Ich hatte nie daran gedacht …«, hob Leo an; nun begriffen alle, dass die Eifersucht der Mutter ihren Weg gefunden hatte und ihn auch bis zum Ende gehen würde; sie alle erkannten unwillig und angeekelt das jämmerliche Unwetter, das sich im ruhigen Licht des Abendessens zusammenbraute:

»Sie sind es, mein lieber Merumeci«, fuhr Mariagrazia fort und fixierte den Geliebten mit bohrenden Blicken, »der vorhin so leicht dahergeredet hat … Ich bin nicht eine ihrer eleganten und skrupellosen Freundinnen, die einzig ihr Amüsement im Kopf haben und sich so recht und schlecht durchschlagen, heute diesen, morgen jenen … Nein, Sie täuschen sich … ich fühle mich sehr, aber auch sehr verschieden von diesen Damen …«

»Das wollte ich nicht sagen …«

»Ich bin eine Frau«, fuhr die Mutter in wachsender Erregung fort, »die Ihnen und vielen Ihresgleichen Lebensart beibringen könnte, die jedoch das seltene Zartgefühl besitzt oder die Dummheit, sich nicht in den Vordergrund zu drängen und wenig von sich selbst zu reden, und deshalb fast immer verkannt und missverstanden wird … Aber darum«, und hier erhöhte sie die Frequenz ihrer Stimme noch einmal, »und weil ich zu gut, zu diskret, zu großzügig bin, aus all diesen Gründen, ich kann es nur wiederholen, habe ich nicht weniger als die anderen das Anrecht, mir zu verbitten, wann auch immer von wem auch immer beleidigt zu werden …« Sie warf noch einmal einen wütenden Blick in Richtung des Geliebten, senkte daraufhin die Augen und begann mechanisch, das vor ihr platzierte Geschirr und die anderen Gegenstände hin und her zu schieben.

Auf den Gesichtern der Beteiligten breitete sich die allergrößte Bestürzung aus: »Ich hatte doch nie im Leben daran gedacht, Sie zu beleidigen«, erklärte Leo ruhig; »ich sagte bloß, dass ich der Einzige unter uns bin, der nicht unzufrieden ist.«

»Versteht sich«, entgegnete die Mutter vielsagend, »dass Sie nicht unzufrieden sind.«

»Mama, jetzt sei doch vernünftig«, warf Carla ein, »er hat dich wirklich nicht beleidigt.« Nun, nach dieser letzten Szene, hatte das Mädchen eine entsetzliche Verzweiflung gepackt: Ein Ende machen, dachte sie mit Blick auf ihre kindische alte Mutter, die gesenkten Hauptes ihrer Eifersucht nachzuhängen schien, ein Ende mit alldem, um jeden Preis etwas verändern. Die absurdesten Lösungen schossen ihr durch den Kopf; weggehen, verschwinden, sich in der Welt verlieren, in Luft auflösen. Sie erinnerte sich der selbstgefälligen Worte von Leo: »Du brauchst einen Mann wie mich.« Das war das Ende: »Er oder ein anderer«, dachte sie, ihre Geduld war erschöpft. Ihr leidender Blick wanderte vom Gesicht der Mutter zu dem von Leo: Das waren die Gesichter ihres Lebens, hart, maskenhaft, verständnislos. Sie senkte die Augen auf ihren Teller, wo die Speisereste im geronnenen Fett der Soße erkalteten.

»Du«, befahl die Mutter, »hältst den Mund; du kannst das nicht verstehen.«

»Mein liebe, gnädige Frau«, protestierte der Geliebte, »ich habe genauso wenig verstanden.«

»Sie«, sagte die Mutter mit Nachdruck und zog die Augenbrauen hoch, »haben mich nur allzu gut verstanden.«

»Sei’s drum«, setzte Leo nach und zuckte mit den Schultern.

»Schweigen Sie doch, schweigen Sie doch endlich«, unterbrach ihn die Mutter verächtlich, »es ist besser, Sie sagen gar nichts mehr … An Ihrer Stelle würde ich versuchen, mich in Vergessenheit zu bringen, zu verschwinden.«

Stille; das Mädchen trat ein und trug das Geschirr ab. »So«, dachte Michele, als er den Zorn allmählich aus dem Gesicht seiner Mutter weichen sah, »der Sturm ist vorüber, jetzt wird das Wetter wieder schön.« Er hob den Kopf. »Und«, sagte er ohne jeden Anflug von Freude: »Ist die Angelegenheit jetzt erledigt?«

»Vollends«, entgegnete Leo bestimmt, »deine Mutter und ich, wir haben uns wieder vertragen.« Er wandte sich Mariagrazia zu: »Nicht wahr, wir haben uns vertragen?« Ein pathetisches Lächeln erschien auf dem Gesicht der Mutter; sie kannte diese Stimme und den einschmeichelnden Ton aus besseren Zeiten, als sie noch jünger und der Geliebte ihr treu gewesen war:

»Glauben Sie, Merumeci«, sagte sie und betrachtete eitel ihre Hände, »dass es so leicht ist zu verzeihen?«

Die Szene wurde sentimental; Carla zitterte leicht und senkte die Augen; Michele lächelte verächtlich. »Na bitte«, dachte er, »umarmt euch, und das war’s.«

»Verzeihen«, sagte Leo in possenhaft gravitätischem Ton, »ist die Pflicht eines jeden guten Christen.« (Der Teufel soll sie holen, dachte er unterdessen; zum Glück gibt es die Tochter, um mich für die Mutter zu entschädigen.) Er beobachtete das Mädchen unauffällig, ohne den Kopf zu wenden. Sinnlicher als ihre Mutter; rote, fleischige Lippen; sicher bereit, sich hinzugeben; nach dem Essen müsste er es versuchen; das Eisen schmieden, solange es heiß ist, nicht erst morgen.

»Nun«, sagte die Mutter, jetzt vollends beruhigt, »dann wollen wir christlich handeln und verzeihen.« Ihr bis dahin verhaltenes Lächeln breitete sich nun pathetisch und strahlend über zwei Zahnreihen von zweifelhaftem Weiß aus. Ihr ganzer verfallener Körper erschauerte: »Ach übrigens«, fügte sie in unerwarteter Mutterliebe hinzu, »wir dürfen nicht vergessen, dass Carla morgen Geburtstag hat.«

»Das feiert man doch jetzt nicht mehr«, sagte das Mädchen und hob den Kopf.

»Wir feiern ihn trotzdem«, antwortete die Mutter in gewichtigem Ton, »und Sie, Merumeci, können sich schon für morgen früh als eingeladen betrachten.« Leo deutete über dem Tisch eine Art Verbeugung an: »Es ist mir eine Ehre«, dann wandte er sich an Carla: »Wie alt wirst du?«

Sie schauten sich an. Die Mutter, die der Tochter gegenübersaß, hob zwei Finger und spitzte den Mund, als wollte sie »zwanzig«, sagen. Carla sah es, begriff und zögerte. Dann erfasste eine plötzliche Härte ihr Inneres: Sie will, dass ich mich jünger mache, damit sie nicht so alt erscheint. »Vierundzwanzig«, antwortete sie, den Gehorsam verweigernd, ohne rot zu werden. Enttäuschung glitt über das Gesicht ihrer Mutter.

»So alt schon?«, rief Leo in scherzhafter Verwunderung. Carla nickte und wiederholte: »So alt schon.«

»Das hättest du nicht sagen sollen«, hielt ihr die Mutter vor, und die bittere Orange, die sie zum Nachtisch aß, verstärkte noch ihren säuerlichen Gesichtsausdruck. »Man ist immer so alt, wie man aussieht, und du siehst nicht älter aus als neunzehn.« Dann schluckte sie das letzte Stück hinunter; die Orange war aufgegessen. Leo zückte sein Zigarettenetui und bot allen daraus an; fein erhob sich der bläuliche Qualm über den Resten der Tafel. Für einen Augenblick verharrten sie bewegungslos und schauten einander stumm in die Augen. Dann erhob sich die Mutter. »Gehen wir in den Salon«, sagte sie, und einer nach dem anderen verließen sie alle vier das Esszimmer.

KAPITEL 3

Kurzer, aber quälender Weg durch den Flur. Carla schaute zu Boden und dachte flüchtig, dieser tägliche Gang müsse das Gewebe des alten Teppichs, der auf dem Fußboden lag, ganz abgenutzt haben; und auch die ovalen Spiegel, die an den Wänden hingen, dürften Spuren ihrer Gesichter und Gestalten bewahren, die sich seit vielen Jahren mehrmals täglich hier spiegelten, oh, nur für einen Augenblick, gerade mal so lange, dass ihre Mutter und sie die Schminke und Michele den Krawattenknoten kontrollieren konnten; in diesem Flur lauerten die Gewohnheit und die Langeweile und trafen jeden, der hier durchging, ins Innerste, als strömte ihr giftiger Geist direkt aus den Wänden. Alles blieb unverändert; der Teppich, das Licht, die Spiegel, die Glastür der Vorhalle zur Linken, das dunkle Treppenhaus rechts, alles wiederholte sich: Michele hielt einen Augenblick inne, um sich eine Zigarette anzuzünden, und blies das Streichholz aus, die Mutter erkundigte sich eitel bei ihrem Geliebten: »Nicht wahr, mein Gesicht sieht etwas müde aus heute Abend?« Leo antwortete gleichgültig, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen: »Aber nein, ich habe Sie nie so strahlend gesehen«, und sie selbst litt darunter; das Leben änderte sich nicht. Sie traten in das kalte Dunkel des rechteckigen Salons, den eine Art Bogen in zwei ungleiche Hälften unterteilte, und setzten sich in die Ecke gegenüber der Tür. Vorhänge aus dunklem Samt verhüllten die geschlossenen Fenster, einen Kronleuchter gab es nicht, sondern lediglich Lampen in Form von Kandelabern, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden hingen. Drei von ihnen leuchteten und verbreiteten gedämpftes Licht in der kleineren Hälfte des Raumes, die andere jenseits des Bogens blieb in finsteres Dunkel getaucht, in dem man nur mühsam den Widerschein der Spiegel und die längliche Form des Flügels zu unterscheiden vermochte. Für eine Weile sprachen sie nicht. Leo rauchte entnervt, die Mutter betrachtete mit trauriger Würde ihre lackierten Fingernägel, Carla hatte sich fast bis zum Boden gebückt, um die Lampe in der Ecke anzuzünden, und Michele sah Leo an. Dann, als die Lampe brannte und Carla sich setzte, begann Michele zu sprechen: »Ich bin bei Leos Verwalter gewesen, und er hat mich mit einer Menge Geschwätz aufgehalten; die Essenz des Ganzen ist: Wie es scheint, verfällt in einer Woche die Hypothek, und daher müssen wir ausziehen und die Villa verkaufen, um Merumeci zu bezahlen …«

Die Mutter riss die Augen auf: »Der Mann weiß doch nicht, was er sagt …, das stellt er sich so vor …, ich hab ja schon immer behauptet, der hat was gegen uns …«

Schweigen. »Der Mann hat die Wahrheit gesagt«, murmelte Leo schließlich ohne aufzuschauen.

Alle sahen ihn an. »Aber Merumeci«, bat die Mutter händeringend, »Sie werden uns doch nicht so mir nichts, dir nichts wegschicken? Gewähren Sie uns einen Aufschub!«

»Ich habe Ihnen schon zweimal einen Aufschub gewährt«, sagte Leo. »Das genügt. Es würde ohnehin den Verkauf nicht verhindern …«

»Wieso das?«, fragte die Mutter.

Leo hob schließlich die Augen und schaute sie an: »Das kann ich Ihnen sagen: Wenn es Ihnen nicht gelingt, achthunderttausend Lire aufzubringen, weiß ich nicht, wie Sie mich bezahlen könnten, ohne die Villa zu verkaufen …«

Die Mutter begriff. Bodenlose Angst öffnete sich vor ihren Augen wie ein Abgrund. Sie wurde blass und schaute den Geliebten an. Aber Leo, der ganz in die Betrachtung seiner Zigarre versunken war, beruhigte sie nicht.

»Das bedeutet«, sagte Carla, »dass wir aus der Villa ausziehen und uns eine Wohnung mit wenigen Zimmern nehmen müssen?«

»Ja«, antwortete Michele, »genau das.«

Schweigen. Das Entsetzen der Mutter wuchs ins Unermessliche. Sie hatte nie etwas von den Armen wissen wollen. Sie hatte nicht einmal ihre Namen kennen wollen. Sie hatte die Existenz von Menschen, die mühselig arbeiten und ein schäbiges Leben führen, schlichtweg ignoriert. »Sie leben besser als wir«, hatte sie immer gesagt; »wir sind sensibler und intelligenter; daher leiden wir mehr als sie …« Jetzt war sie auf einmal gezwungen, sich unter sie zu mischen und die Masse der Elenden zu vergrößern. Sie empfand das gleiche Gefühl von Ekel, Demütigung und Angst, das sich ihrer seinerzeit bemächtigt hatte, als sie in einem offenen und ziemlich niedrigen Automobil durch eine Menge bedrohlicher, schmutziger Streikender gefahren war. Nicht die Unbequemlichkeit und die Entbehrungen, denen sie entgegensah, erschreckten sie, sondern der brennende Schmerz bei dem Gedanken, wie man sie behandeln würde, was ihre Bekannten sagen würden, die alle reich waren, angesehen und elegant. Sie sah sich schon verarmt, allein mit ihren beiden Kindern und ohne Freunde, von aller Welt verlassen, ohne Amüsements, Bälle, Feste und Unterhaltungen: die völlige Düsternis, die nackte Dunkelheit.

Sie wurde noch blasser: »Ich müsste mit ihm alleine sprechen, ohne Michele und ohne Carla«, dachte sie und klammerte sich an die Vorstellung, sie könnte ihn verführen …, dann würde er begreifen.

Sie schaute ihren Geliebten an. »Gewähren Sie uns noch einen Aufschub, Merumeci«, schlug sie unsicher vor, »dann werden wir das Geld schon irgendwie aufbringen.«

»Irgendwie?«, fragte der Mann mit einem leicht ironischen Lächeln.

»Die Banken …«, schlug die Mutter tapfer vor.

Leo lachte: »Oh, die Banken.« Er beugte sich vor und starrte der Geliebten ins Gesicht: »Die Banken«, erklärte er ihr, »verleihen Geld nur gegen Sicherheiten, und bei dem allgemeinen Geldmangel, der augenblicklich herrscht, verleihen sie überhaupt nichts; aber angenommen, sie würden es tun …: Welche Art von Garantie könnten Sie bieten, Verehrteste?«

»Tadellose Schlussfolgerung«, bemerkte Michele; gerne hätte er sich für diese lebenswichtige Frage ereifert und protestiert. »Schließlich«, dachte er, »handelt es sich um unsere Existenz; es kann sein, dass wir von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr wissen, wovon wir eigentlich leben sollen.« Aber trotz aller Anstrengung empfand er ihren Ruin als etwas Fremdes. Als sähe er jemanden ertrinken und schaute zu, ohne sich zu rühren.

Ganz anders die Mutter: »Gewähren Sie uns diesen Aufschub«, sagte sie stolz, in kerzengerader Haltung, und betonte jedes Wort, »und Sie können sich darauf verlassen, am Verfallstag kriegen Sie Ihr Geld, bis auf den letzten Centesimo, ohne jeden Zweifel.«

Leo lachte sanft, während er den Kopf neigte. »Das kann ja sein … Aber wozu dann der Aufschub? Warum nicht die Tricks, mit denen Sie das Geld in einem Jahr beschaffen wollen, jetzt gleich anwenden, um mich auszuzahlen?«

Das Gesicht gesenkt, wirkte er so ruhig und überlegen, dass der Mutter angst und bange wurde; ihre Augen irrten von Leo unentschlossen zu Michele und dann zu Carla; da waren sie, ihre beiden schwachen Kinder, die nun die Nöte der Armut erleben sollten; sie wurde plötzlich von übertriebener Mutterliebe erfasst: »Hören Sie, Merumeci«, begann sie in einschmeichelndem Tonfall, »Sie sind doch ein Freund der Familie, Ihnen kann ich alles sagen … Es geht ja nicht um mich, ich bitte nicht für mich um Aufschub; ich selbst wäre auch bereit, in einer Dachkammer zu hausen …« Sie hob den Blick zur Decke und fuhr fort: »Bei Gott, wenn ich an mich dächte …, aber ich muss doch Carla verheiraten … Sie kennen die Gesellschaft … An dem Tag, da ich die Villa verlassen und in irgendeine winzige Wohnung ziehen müsste, würden uns alle die kalte Schulter zeigen … Die Leute sind so … Finden Sie mir dann einen Mann für meine Tochter?«

»Ihre Tochter«, sagte Leo mit geheucheltem Ernst, »ist so schön, dass sie jederzeit Verehrer finden würde.« Er sah Carla an und zwinkerte ihr zu, aber eine tiefe, unterdrückte Wut erfüllte das Mädchen: »Wer soll mich denn heiraten«, hätte sie ihrer Mutter am liebsten ins Gesicht geschrien, »mit diesem Mann im Haus und bei deiner Verfassung?« Sie war gekränkt und verletzt durch die Unbefangenheit, mit welcher die Mutter, sonst nie sehr um sie bemüht, sie jetzt als nützliches Argument für ihre Zwecke ins Feld führte. Das alles musste ein Ende haben, sie würde sich Leo hingeben, und so würde niemand sie mehr zur Frau wollen. Sie schaute der Mutter in die Augen: »Lass mich aus dem Spiel, Mama«, sagte sie hart, »ich habe mit dieser Sache nichts zu tun, und so soll es auch bleiben.«

In diesem Augenblick ertönte aus der Ecke, wo Michele saß, ein bitteres und in seiner Falschheit schmerzliches Lachen; die Mutter wandte sich um. »Weißt du«, sagte er, wobei er sich anstrengte, seiner gleichgültigen Stimme einen sarkastischen Tonfall zu verleihen, »weißt du, wer uns als Erster verlassen wird, wenn wir aus der Villa ausziehen? Rate mal.«

»Ich weiß nicht.«

»Leo«, brach es aus ihm hervor, und er zeigte mit dem Finger auf den Mann, »unser Leo.«

Leo wollte protestieren. »Ach, Merumeci?«, entgegnete die Mutter beeindruckt und verunsichert, und sie blickte ihren Geliebten an, als wollte sie in seinem Gesicht lesen, ob er tatsächlich eines solchen Verrats fähig wäre. Dann plötzlich, mit pathetischem Sarkasmus in den Augen und im Lächeln, brach es aus ihr heraus: »Aber sicher …, natürlich, wie dumm von mir, dass ich nicht selbst draufgekommen bin …« An ihre Tochter gewandt wiederholte sie: »Natürlich, Carla, Michele hat recht … Der Erste, der so tun wird, als hätte er uns nie gekannt, natürlich erst, nachdem er das Geld kassiert hat, wird Merumeci sein … Nein, protestieren Sie nicht …« Ihr Lächeln wurde beleidigend: »Es ist ja nicht Ihre Schuld, so sind die Männer alle, ich könnte schwören, er wird mit einer seiner ach so reizenden und eleganten Freundinnen an mir vorbeistolzieren, und kaum sieht er mich, wird er den Kopf abwenden, natürlich, mein Lieber, dafür könnte ich die Hand ins Feuer legen …« Sie schwieg einen Augenblick. Dann schloss sie verbittert und resigniert: »Natürlich, schon Jesus wurde von seinen besten Freunden verraten.«

Unter diesem Schwall von Beschuldigungen legte Leo seine Zigarre ab: »Du bist ja noch ein Junge«, sagte er, an Michele gewandt, »deshalb nehme ich dich nicht ernst.« An die Mutter gewandt fuhr er fort: »Aber dass Sie, gnädige Frau, auf die Idee kommen, ich könnte wegen irgendeines Verkaufs meine besten Freunde verlassen, das hätte ich nicht erwartet, nein, wirklich, das nicht.« Er schüttelte den Kopf und griff wieder zu seiner Zigarre.

»Wie falsch er ist«, dachte Michele amüsiert. Dann wurde ihm plötzlich wieder klar, dass er der Bestohlene war, der Gefoppte, der Geschmähte, dass sein Erbe und seine Würde und die seiner Mutter auf dem Spiel standen. »Beschimpfen müsste man ihn«, dachte er, »eine Szene machen.« Er begriff, dass er an diesem Abend schon ein Dutzend besserer Gelegenheiten hatte verstreichen lassen, um einen Streit zu provozieren. Zum Beispiel, als Leo einen weiteren Aufschub verweigert hatte. Jetzt war es zu spät: »Das hättest du nicht erwartet, was?«, sagte er, lehnte sich im Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Er zögerte, dann fügte er ohne jede Regung hinzu: »Gauner.«

Alle wandten sich um, die Mutter überrascht, der Mann langsam, die Zigarre aus dem Mund nehmend: »Was hast du gesagt?«

»Ich will sagen«, hob Michele an und ergriff mit beiden Händen die Armlehnen seines Sessels, weil er in seiner Gleichgültigkeit nicht die Gründe fand, die ihn zu dieser vehementen Beschimpfung provoziert hatten. »Ich will damit sagen, dass Leo uns ruiniert hat und jetzt noch so tut, als wäre er unser Freund, obwohl er es nicht ist.«