Françoise Sagan
In einem Monat,
in einem Jahr
Roman
Aus dem Französischen
von Helga Treichl
Titel der Originalausgabe: »Dans un mois, dans un an«
Copyright © Editions Julliard, Paris, 1957
Copyright © der deutschen Übersetzung 1958 by Ullstein Buchverlage, Berlin
Erschienen im Ullstein Verlag
Copyright © dieser Ausgabe bei Eder & Bach GmbH, 2015
Umschlaggestaltung: hilden_design, München
Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-945386-24-8
Guy Schoeller gewidmet
Dieser Taten muss
Man so nicht denken; so macht es uns toll.
Macbeth II. Akt
ERSTES KAPITEL
Bernard betrat das Café, zögerte einen Moment unter den Blicken einiger Gäste, die im Neonlicht entstellt aussahen, und drehte sich wieder zur Kassiererin um. Er liebte die Kassiererinnen von Cafés, üppig, würdevoll und in einen Traum versunken, der nur von Kleingeld und Zündhölzern unterbrochen war. Sie reichte ihm seinen Telefongroschen, ohne Lächeln, mit einer müden Geste. Es war fast vier Uhr früh. Die Telefonkabine war schmutzig und der Hörer feucht. Er wählte Josées Nummer und wurde sich klar darüber, dass sein nächtlicher Gewaltmarsch durch Paris ihn zu nichts anderem geführt hatte: nur zu dem Augenblick, da er müde genug sein würde, diese Bewegungen mechanisch auszuführen. Es war außerdem dumm, ein junges Mädchen um vier Uhr früh anzurufen. Sicher, sie würde diese Ungezogenheit mit keinem Wort erwähnen, aber sein Verhalten hatte einen Beigeschmack von »enfant terrible«, den er verabscheute. Er liebte sie nicht, das war zweifellos das Schlimmste, aber er wollte doch wissen, was sie machte, und dieser Gedanke hatte ihn den ganzen Tag verfolgt.
Das Telefon läutete. Er lehnte sich an die Wand, schob die Hand in die Tasche und tastete nach seinen Zigaretten. Das Signal verstummte, und eine verschlafene Männerstimme sagte: »Hallo.« Dann sofort die Stimme von Josée: »Wer spricht?«
Bernard erschrak, rührte sich nicht. Wenn sie erriet, dass er es war, wenn sie ihn dabei ertappte, dass er sie ertappte! Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dann zog er seine Zigaretten aus der Tasche und legte den Hörer auf. Wieder wanderte er die Kais entlang und murmelte Grobheiten vor sich hin. Und zugleich beruhigte ihn eine innere Stimme, die er verabscheute: »Schließlich ist sie dir ja nichts schuldig. Du hast nichts von ihr verlangt, sie ist reich, frei, du bist nicht ihr offizieller Liebhaber.« Doch er spürte schon all die Qual und Unruhe in sich, die ihm bevorstand, dieses Drängen zum Telefon, diese Besessenheit, die künftig alles überschatten würde.
Er hatte den jungen Mann gemimt, hatte mit Josée über das Leben gesprochen, über Bücher, hatte eine Nacht mit ihr verbracht, und alles war in einer geschmackvollen, etwas zerstreuten Form geschehen, zu der sich Josées Wohnung ausgezeichnet eignete. Jetzt würde er nach Hause gehen, würde auf seinem Schreibtisch verstreut seinen schlechten Roman und in seinem Bett seine schlafende Frau vorfinden. Sie schlief immer um diese Zeit, ihr kindliches, blondes Gesicht zur Tür gewandt, als fürchte sie, er werde nie nach Hause kommen. Sie wartete auf ihn im Schlaf, so wie sie immer, den ganzen Tag auf ihn wartete, ängstlich, unruhig.
*
Der junge Mann legte den Hörer wieder auf, und Josée unterdrückte ihren Zorn. Es hatte sie geärgert, ihn das Telefon abheben und antworten zu sehen, als sei er zu Hause.
»Ich weiß nicht, wer es ist«, sagte er mürrisch, »er hat abgehängt.«
»Warum denn ›er‹?«, fragte Josée.
»Wenn jemand nachts eine Frau anruft und dann abhängt«, sagte der junge Mann gähnend, »ist es immer ein Mann.«
Sie blickte ihn neugierig an und fragte sich, was er hier zu suchten habe. Sie verstand nicht, warum sie zugelassen hatte, dass er sie nach dem Essen bei Alain nach Hause brachte und dass er dann zu ihr heraufkam. Er sah ganz gut aus, aber er war gewöhnlich und uninteressant. Viel weniger intelligent als Bernard, in gewisser Weise sogar weniger anziehend. Er setzte sich im Bett auf und griff nach seiner Uhr.
»Vier Uhr«, sagte er. »Das ist eine scheußliche Tageszeit.«
»Warum eine scheußliche Tageszeit?«
Er antwortete nicht, sondern drehte sich zu ihr um und sah sie über die Schulter an, unverwandt. Sie erwiderte seinen Blick, dann versuchte sie, ihre Bettdecke wieder hinaufzuziehen. Aber sie blieb mitten in der Bewegung stecken.
Sie erriet seine Gedanken. Er hatte sie nach Hause gebracht, hatte sie brutal genommen und war an ihrer Seite eingeschlafen. Er blickte sie ruhig an. Es kümmerte ihn wenig, wie sie war und was sie über ihn dachte. Jetzt, in dieser Sekunde, gehörte sie ihm. Und sie empfand weder Ärger über seine Sicherheit noch Zorn, sondern eine ungeheure Demut.
Er hob die Augen zu ihrem Gesicht und befahl ihr mit ernster Stimme, die Bettdecke wieder wegzuschieben. Sie gehorchte, und er betrachtete sie eingehend und voller Gelassenheit. Sie schämte sich und konnte sich nicht rühren, und ihr fiel nicht eine jener ungezwungenen Redensarten ein, die sie zu Bernard oder zu einem anderen gesagt hätte, während sie sich auf den Bauch herumdrehte. Er hätte nicht verstanden, nicht gelacht. Sie ahnte, dass er eine fertige, ursprüngliche und unveränderliche Vorstellung von ihr hatte, die er nie aufgeben würde. Ihr Herz klopfte in starken Schlägen, sie dachte: Ich bin verloren, mit einem Gefühl von Triumph. Der Mann neigte sich zu ihr, auf seinen Lippen lag ein geheimnisvolles Lächeln. Mit starren, reglosen Augen sah sie ihn näher kommen.
»Zu irgendetwas muss das Telefon ja gut sein«, sagte er und ließ sich hastig, ungestüm auf sie niederfallen. Sie schloss die Augen.
Ich werde nie mehr darüber scherzen können, dachte sie, es wird nie mehr diese leichte nächtliche Sache sein, immer wird es mit diesem Blick verbunden sein, mit irgendetwas in diesem Blick.
*
»Du schläfst nicht?«
Fanny Maligrasse stieß einen Seufzer aus.
»Mein Asthma! Alain, sei lieb, bring mir eine Tasse Tee.«
Alain Maligrasse kletterte mühevoll aus dem Doppelbett heraus und hüllte sich sorgfältig in einen Schlafrock. Die Maligrasse waren viele Jahre lang, bis zum Krieg von 1940, ein recht gut aussehendes und verliebtes Paar gewesen. Dann, als sie sich nach vierjähriger Trennung wieder sahen, waren sie beide sehr verändert und trugen beide die Spuren ihrer fünfzig Jahre. Und das hatte, unbewusst, eine recht rührende Schamhaftigkeit in ihnen erweckt – jeder wollte vor dem anderen die Spuren der vergangenen Jahre verbergen – und zugleich auch ein sehr lebhaftes Interesse für die Jugend. Sie lieben die Jugend, sagte man wohlwollend von den Maligrasse, und dieses Wohlwollen war ausnahmsweise berechtigt. Denn sie liebten die Jugend nicht, weil sie ihnen Zerstreuung bot und sie ihr unnütze Ratschläge geben konnten, sondern weil sie sie mehr interessierte als das reife Alter. Und keiner von beiden zögerte, dieses Interesse in die Tat umzusetzen, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, denn die Freude an der Jugend ist immer von einer natürlichen Zärtlichkeit für das frische, junge Fleisch begleitet.
Fünf Minuten später stellte Alain das Tablett auf das Bett seiner Frau und blickte sie mitleidig an. Ihr kleines Gesicht, mager und schwermütig, war gespannt vor Müdigkeit, nur die Augen blieben unverändert schön, lebhaft, funkelnd, von einem herzzerreißenden Blaugrau.
»Ich finde, dass es ein hübscher Abend war«, sagte sie und nahm ihre Tasse. Alain sah zu, wie der Tee durch ihre ein wenig schlaffe Kehle rann, und dachte an gar nichts. Er gab sich einen Ruck:
»Ich verstehe nicht, warum Bernard immer ohne seine Frau kommt«, sagte er. »Man kann nicht leugnen, dass Josée im Augenblick sehr verführerisch ist.«
»Béatrice auch«, sagte Fanny mit einem Lachen.
Alain lachte mit ihr. Seine Bewunderung für Béatrice war für ihn und seine Frau immer ein Anlass zum Scherzen. Und sie konnte nicht wissen, welche Qual dieser Scherz für ihn geworden war. Jeden Montag, nach ihrem – wie sie ihn im Spaß nannten – »Montagsempfang«, ging er fiebernd zu Bett! Béatrice war schön und ungestüm; wenn er an sie dachte, drängten sich ihm diese beiden Eigenschaftsworte auf, und er konnte sie sich endlos wiederholen. »Schön und ungestüm«: Béatrice, die ihr schwermütiges, tragisches Gesicht verbarg, wenn sie lachte, weil Lachen ihr nicht stand, Béatrice, die voll Zorn von ihrem Beruf redete, weil sie noch keinen Erfolg hatte, Béatrice, die ein wenig törichte, wie Fanny sagte. Töricht, ja, sie war ein wenig töricht, aber mit Poesie. Alain arbeitete seit zwanzig Jahren in einem Verlag, er war schlecht bezahlt, kultiviert und seiner Frau sehr verbunden. Wie hatte »der Scherz Béatrice« zu diesem ungeheuren Gewicht werden können, unter dessen Last er sich jeden Morgen erheben musste, zu diesem Gewicht, das er Tag für Tag, bis zum Montag, mit sich herumschleppte? Denn am Montag kam Béatrice zu dem reizenden alten Ehepaar, zu Fanny und ihm, und er spielte seine Rolle als zarter, geistvoller und zerstreuter Fünfziger. Er liebte Béatrice.
»Béatrice hofft, in dem nächsten Stück von X eine kleine Rolle zu bekommen«, sagte Fanny. »Reichten die Sandwiches?«
Um ihren Montagsempfang zu sichern, mussten die Maligrasse finanzielle Gewaltakte vollbringen. Als Whisky Mode wurde, bedeutete das für sie eine Katastrophe.
»Ich glaube«, sagte Alain. Er blieb auf dem Bettrand sitzen, seine Hände hingen zwischen den mageren Knien herab. Fanny betrachtete ihn voller Zärtlichkeit und Mitleid.
»Dein kleiner Vetter aus der Normandie kommt morgen«, sagte sie. »Ich hoffe, dass er ein reines Herz hat, eine große Seele, und dass Josée sich in ihn verliebt.«
»Josée verliebt sich in niemanden«, sagte Alain. »Vielleicht könnten wir versuchen, zu schlafen?«
Er nahm das Tablett von den Knien seiner Frau, küsste sie auf die Stirn, auf die Wange und legte sich wieder hin. Er fror trotz der Zentralheizung. Er war ein alter Mann, der fror. Und die ganze Literatur nützte ihm nichts.
*
»In einem Monat, in einem Jahr,
wie werden wir leiden!
Herr, dass so viele Meere mich von Euch scheiden!
Dass der Tag beginne, der Tag wieder gehe
Und Titus gleichwohl Bérénice nicht sehe.«
Béatrice stand im Morgenrock vor dem Spiegel und betrachtete sich. Die Verse fielen aus ihrem Munde wie Blumen aus Stein (»Wo habe ich das nur gelesen?«), und sie fühlte, wie unendliche Traurigkeit sie überkam. Zugleich mit einem gesunden Zorn. Schon fünf Jahre lang rezitierte sie Bérénice; erst für ihren Ex-Gatten und seit Kurzem für ihren Spiegel. Sie hätte gern vor diesem dunklen, schäumenden Meer, dem Zuschauerraum eines Theaters, gestanden, nur um zu sagen: »Madame, es ist angerichtet«, wenn es wirklich nichts anderes für sie geben sollte.
»Dafür würde ich alles tun«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, und das Spiegelbild lächelte ihr zu.
*
Der Cousin aus der Normandie aber, der junge Edouard Maligrasse, bestieg eben den Zug, der ihn in die Hauptstadt bringen sollte.
ZWEITES KAPITEL
Bernard erhob sich zum zehnten Mal an diesem Morgen von seinem Stuhl, ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Er konnte nicht mehr. Schreiben demütigte ihn. Das, was er schrieb, demütigte ihn. Als er die letzten Seiten noch einmal durchlas, überkam ihn ein unerträgliches Gefühl der Zwecklosigkeit. Da stand nichts von dem, was er sagen wollte, nichts von dem, was er manchmal als wesentlich zu erkennen glaubte. Bernard verdiente sich sein Leben mit Kritiken für Zeitschriften und mit Lektoraten für ein paar Zeitungen und für den Verlag, in dem Alain arbeitete. Er hatte vor drei Jahren einen Roman veröffentlicht, den die Kritik als »farblos, mit gewissen psychologischen Qualitäten« bezeichnet hatte. Er wünschte sich zwei Dinge: einen guten Roman zu schreiben und, seit Kurzem, Josée. Jedoch die Worte ließen ihn weiterhin im Stich, und Josée war verschwunden. Manchmal packte sie plötzlich irgendeine Neigung für ein Land oder für einen Burschen – wofür, wusste man nie genau –, und sowohl das Vermögen ihres Vaters als auch ihr Charme erlaubten ihr eine umgehende Befriedigung ihrer Launen.
»Geht’s nicht?«
Nicole war hinter ihn getreten. Er hatte sie gebeten, ihn arbeiten zu lassen, aber unter dem Vorwand, dass sie ihn nur vormittags sehe, kam sie ununterbrochen in sein Arbeitszimmer, sie konnte nicht anders. Er wusste es, begriff aber nicht, dass sie ihn sehen musste, um leben zu können, dass sie ihn, nach drei Jahren, täglich mehr liebte – es erschien ihm fast ungeheuerlich. Denn sie zog ihn nicht mehr an. Nur an das Bild, das er von sich selber aus der Zeit ihrer Liebe in Erinnerung hatte, dachte er gern und an die merkwürdige Entschlossenheit, sie zu heiraten. Entschlossenheit bei ihm, der seither nie mehr irgendeinen festen Entschluss hatte fassen können!
»Nein, es geht überhaupt nicht. So, wie ich die Sache anfange, besteht auch wenig Aussicht, dass es je gehen wird.«
»O doch, ich bin überzeugt davon.«
Dieser zärtliche Optimismus in Bezug auf seine Person reizte ihn mehr als alles andere. Wenn Josée das gesagt hätte oder Alain, hätte es ihm vielleicht ein gewisses Selbstvertrauen gegeben. Aber Josée verstand nichts von Büchern, wie sie selber zugab, und Alain ermutigte ihn zwar, tat aber sehr keusch mit der Literatur. »Das Wesentliche ist das, was man nachher sieht«, sagte er. Was sollte das um alles in der Welt heißen? Bernard tat, als ob er es verstünde. Aber dieses ganze Gefasel ärgerte ihn. »Schreiben bedeutet ein Blatt Papier, einen Federhalter und den Schatten einer Idee für den Beginn«, sagte Fanny. Er hatte Fanny sehr gern. Er hatte sie alle sehr gern. Er liebte niemanden. Josée reizte ihn. Er musste sie haben. Das war alles. Genug, um sich umzubringen.
Nicole war immer da. Sie machte Ordnung, sie verbrachte ihre Zeit damit, die sehr kleine Wohnung, in der er sie den ganzen Tag allein ließ, aufzuräumen. Sie kannte weder Paris noch die Literatur; beide erweckten in ihr Bewunderung und Schaudern. Ihr einziger Schlüssel zu all diesen Dingen war Bernard, und er entglitt ihr. Er war intelligenter als sie und anziehender. Man bemühte sich um ihn. Und sie konnte gegenwärtig keine Kinder bekommen. Sie kannte nur Rouen und die Apotheke ihres Vaters. Bernard hatte ihr das einmal gesagt, und dann hatte er sie angefleht, ihm zu verzeihen. In solchen Augenblicken war er schwach wie ein Kind, den Tränen nahe. Aber seine überlegten Grausamkeiten waren ihr lieber als die große, tägliche Grausamkeit, wenn er nach dem Mittagessen fortging, sie zerstreut küsste und erst sehr spät wieder nach Hause kam. Bernard und seine Ruhelosigkeit waren für sie immer ein erstaunliches Geschenk gewesen. Man heiratet keine Geschenke. Sie konnte ihm deshalb nicht böse sein.
Er blickte sie an. Sie war recht hübsch, recht traurig.
»Willst du heute Abend mit mir zu den Maligrasse gehen?«, sagte er weich.
»Ja, gern«, sagte sie.