Janet Edwards
Earth Girl. Die Begegnung
Roman
Aus dem Englischen von Julia Walther
Rowohlt E-Book
Janet Edwards hat in Oxford Mathematik studiert und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nähe von Birmingham.
Weitere Veröffentlichung:
Earth Girl. Die Prüfung
Sie träumt von den Sternen. Doch ihr Kampf gilt der Erde.
Als «Earth Girl» gehört Jarra zu den Ausgestoßenen, den Menschen ohne Wert. Mit diesem Schicksal wollte sich die streitlustige junge Frau noch nie abfinden. Doch an einer Tatsache kann auch Jarra nichts ändern: Sie gehört zu den wenigen, die aufgrund eines Gendefekts nicht teleportieren können. Während der Rest der Menschheit fremde Galaxien entdeckt, bleibt für sie nur ein Ort: der blaue Heimatplanet. Der allerdings ist in höchster Gefahr. Der erste Kontakt mit außerirdischem Leben steht bevor. Und die Fremden drohen mit der Vernichtung der Erde ... Um Jarra und ihre Freunde sammelt sich eine Widerstandsgruppe, aber ist der Rest der Menschheit ebenfalls bereit, für den Planeten der Zurückgelassenen zu kämpfen?
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Earth Star» bei Voyager/HarperCollins Publishers, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Earth Star» Copyright © 2013 by Janet Edwards
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Redaktion Jan Henrik Möller
Umschlaggestaltung und Motiv Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-25934-0 (1. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-48881-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-48881-6
Issette meint, dass ich manchmal ein bisschen durchdrehe. Wir sind jetzt beide achtzehn, waren schon zusammen in Nursery und hatten während Home und Next Step unsere Zimmer immer nebeneinander. Issette weiß also über all die verrückten Dinge Bescheid, die ich getan habe, seit ich mit zwei Jahren die gemeine Schwester Cass in den Wäschespeicher eingesperrt habe.
Anfang 2789 habe ich einige ziemlich krasse Sachen angestellt. Hinterher habe ich dann ein Buch darüber geschrieben, damit die Norms, die auf jede beliebige Welt in allen Sektoren teleportieren können, eine Vorstellung davon bekommen, wie es ist, ich zu sein. Ich gehöre zu dem Tausendstel der Bevölkerung, das beim genetischen Würfelspiel verloren hat. Wir sind eine Minderheit von Behinderten, deren Immunsystem nirgendwo anders als auf der Erde funktioniert. Und damit wir überleben, teleportiert man uns nach der Geburt sofort hierher. In 92 Prozent solcher Fälle kehren die Eltern ihrem Ausschusskind den Rücken und überlassen es der Obhut von Hospital Earth. Wir sind Gefangene, und es handelt sich um eine lebenslange Strafe.
Ich habe jetzt das Wort ‹Behinderte› benutzt. Weniger höfliche Menschen bezeichnen uns als Affen, Neander oder Zurückgebliebene. Wir Behinderte haben auch ein Schimpfwort für die Norms. Wir nennen sie Exos, in Anspielung auf die Menschen, die während des Exodus-Jahrhunderts zu den Sternen aufgebrochen sind und die Erde dem Verfall überlassen haben.
Ich habe also ein Buch darüber geschrieben, wie ich mich in einen Kurs aus Vorgeschichtsstudenten von anderen Welten eingeschlichen habe, die auf der Erde das vorgeschriebene Ausgrabungsjahr in den Ruinen der alten Städte absolvierten. Während ich ihnen erfolgreich vorspielte, ich sei ein Norm wie sie, habe ich mich verliebt und wurde außerdem in die Rettung eines Militärraumschiffes verwickelt, das während eines Super-Sonnensturms verunglückt war. Dafür wurde ich mit dem Artemis-Orden ausgezeichnet.
Als ich mitten in der Earth Olympic Arena stand, den Artemis-Orden an der Schulter, dachte ich, dies wäre das Ende meiner Geschichte, aber wie sich herausstellte, fing sie erst richtig an. Der Militärische Sicherheitsdienst hat mein erstes Buch gestohlen und in irgendeinem Hochsicherheitstrakt für Militärakten weggeschlossen. Vielleicht wird irgendwann mal beschlossen, dass man es doch der Öffentlichkeit zugänglich machen kann, aber die volle Wahrheit darüber, was anschließend alles passiert ist, werden sie den Menschen ganz sicher nie sagen. Aufschreiben werde ich sie aber trotzdem.
Ich weiß schon, es klingt völlig bekloppt, meine Zeit mit etwas zu vergeuden, das außer irgendwelchen verstaubten Generälen niemand je wird lesen dürfen, aber ich bin Geschichtsstudentin, und das Geschehene ist jetzt ein Teil der Geschichte. In ein paar Jahrhunderten liest vielleicht ein anderer Historiker meine Aufzeichnungen und erfährt dadurch endlich die ganze Wahrheit, die hinter den beschwichtigenden offiziellen Pressemeldungen steckt, und entdeckt die echten Menschen hinter den Namen.
Ich heiße Jarra Tell Morrath, ich bin ein Mädchen von der Erde, und das hier ist meine Geschichte.
Jarra, Jarra, Jarra!» Issettes Gesicht erschien auf dem Display meines Lookups und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, ihre typische erstaunte Miene, die sie schon in Nursery einstudiert hatte. «Warum rufst du um diese Zeit an? Ist es in Amerika nicht gerade mitten in der Nacht?»
Kichernd stellte ich den Lookup so ein, dass ihr Bild wie ein Hologramm in der Luft schwebte, und setzte mich ihr gegenüber auf die Bettkante. Ich konnte zwar nur Issettes Kopf und ihre Schultern sehen, aber das reichte, um zu erkennen, dass sie einen knappen Schlafanzug mit glitzerndem Spitzenbesatz trug. Issette absolvierte einen Medizin-Grundkurs auf einem Campus in Europa, wo die interstellare Green-Time-Standardzeit galt. Demnach war es dort kurz vor acht Uhr morgens.
«Ich bin nicht mehr auf dem Ausgrabungsgelände von New York. Meine Klasse ist gerade nach Afrika umgezogen, ich bin eurer Green Time um zwei Stunden voraus.»
Issette gähnte. «Warum hast du dir für deinen Grundstudiumskurs nicht irgendwas Normales ausgesucht? Dann könntest du an einem Ort bleiben und in einer anständigen Unterkunft wohnen, statt von einer Grabungsstätte zur nächsten zu ziehen und dich mit einem Dozenten und neunundzwanzig anderen Studenten in primitive Kuppelbauten zu quetschen. Ihr müsst euch ja sogar das Bad teilen. Das ist echt total unhygienisch!»
Statt zu antworten streckte ich ihr bloß die Zunge raus. Issette war meine beste Freundin, und ich hatte ihr schon hundertmal erklärt, wie sehr ich Geschichte liebte, vor allem Vorgeschichte, also die Zeit, als die Menschheit noch ausschließlich hier auf der Erde lebte, statt über Tausende von Planeten in sechs verschiedenen Sektoren verstreut zu sein. Ich hatte ihr beschrieben, wie unglaublich aufregend es war, die Ruinen der alten Städte auszugraben und dabei nie zu wissen, ob man eine Stasisbox finden würde, in der sich Schätze aus der Vergangenheit befanden. Oder auch Hinweise auf das Wissen und die Technik, die der Menschheit während des Exodus-Jahrhunderts verloren gegangen waren, als alle überstürzt die Erde verließen, woraufhin das Datennetz der Erde zusammenbrach. Das alles hatte Issette nie wirklich verstanden, genauso wenig, wie ich ihr Interesse an Medizin nachvollziehen konnte.
Sie stöhnte. «Ich weiß, ich weiß. Du bist besessen von Geschichte und Grabungsorten. Das warst du schon immer und … Aber warte mal. Wenn es bei euch jetzt zehn Uhr ist, solltest du dann nicht gerade irgendwelche grässlich gefährlichen, anstrengenden Ausgrabungen machen oder einer langweiligen Vorlesung lauschen? Du sagst doch immer, euer Dozent ist ein totaler Sklaventreiber.»
Ich grinste. «Sollten wir eigentlich, aber Playdon musste den Vorlesungsbeginn verschieben. Ihm sind sechsundzwanzig Leute aus dem Kurs abhanden gekommen.»
Eine körperlose Hand tauchte im Holo-Bild auf und reichte Issette ein Glas Frujit. Sie trank es in einem Zug leer. Die Hand verschwand und wurde durch Keons Kopf ersetzt.
«Wie kommen einem Dozenten denn sechsundzwanzig Studenten abhanden?», wollte er wissen. «Ich weiß ja, dass deine Kommilitonen alle von anderen Welten sind, aber sie sollten doch trotzdem in der Lage sein, durch ein interkontinentales Portal nach Afrika zu spazieren, ohne sich dabei zu verlaufen.»
Keons Anblick haute mich um. Er und Issette gehörten zu meiner Ersatzfamilie: Zu neunt hatten wir gemeinsam Nursery, Home und Next Step durchlaufen, nachdem unsere Eltern uns wegen unserer Behinderung nach der Geburt abgegeben hatten. Am letzten Year Day waren wir alle achtzehn geworden. Keon und Issette hatten inzwischen einen Paaringsvertrag, deshalb überraschte es mich nicht, dass die beiden morgens zusammen waren. Erstaunlich war vielmehr, was Keon anhatte.
«Wie kommt es, dass der für seine Faulheit berüchtigte Keon Tanaka schon vor acht Uhr morgens wach und angezogen ist?», wollte ich wissen. «Das sind doch neue Klamotten, oder? Und du hast dir sogar die Haare gekämmt!»
Er stöhnte. «Daran bist du schuld, Jarra. Issette will, dass ich jemandem meine Lichtskulpturen zeige.»
Ich runzelte die Stirn. «Aber wieso soll das meine Schuld sein?»
«Sie hat angefangen, die Leute herumzukommandieren, genau wie du. Da war es weniger Aufwand nachzugeben, als endlos mit einer Jarra-Kopie herumzustreiten. Wie hält dein Freund das nur aus?!»
«Ich kommandiere niemanden herum, und Fian schon gar nicht!», protestierte ich.
«Natürlich tust du das, und jetzt beantworte mal meine Frage.»
Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass es keine gute Idee ist, sich mit Keon zu streiten. Die meiste Zeit ignoriert er dich einfach, und wenn nicht, dann bringt er dich mit einem einzigen Satz zum Schweigen, und du merkst, dass er ungefähr zehnmal so schlau ist wie du. Wie damals, als unsere furchteinflößende Physiklehrerin eine geschlagene Viertelstunde lang wegen nicht gemachter Hausaufgaben mit ihm geschimpft hat. Irgendwann gähnte Keon und meinte, ihn habe einfach diese Diskrepanz verwirrt zwischen der Portalgrundgleichung, wie Wallam-Crane sie im Jahr 2200 aufgestellt hat, und derjenigen, die am Anfang der Hausaufgabe stand. Dann erkundigte er sich höflich, ob es sich dabei bloß um einen Fehler handle oder ob sie womöglich eine entscheidende Entdeckung gemacht habe, die sämtliche Portaltheorien widerlege, die seit bald sechshundert Jahren von allen Wissenschaftlern akzeptiert würden.
Es macht viel mehr Spaß, solche Situationen zu beobachten, als selbst Keons Zielscheibe zu sein, deshalb ließ ich die Sache auf sich beruhen. Allerdings brauchte ich eine Sekunde, bis mir wieder einfiel, was seine Frage gewesen war. «Ach, die verlorenen Studenten. Als wir New York verließen, hatten wir vier Tage frei, bevor die Arbeit hier beginnen sollte. Also haben die meisten die Erde verlassen, um ihre Familie zu besuchen. Eigentlich sollten wir uns nach hiesiger Zeitrechnung alle zwischen gestern Abend um sieben und heute Morgen um zehn hier an unserem neuen Grabungsort einfinden. Fian und ich waren die Einzigen, die gestern schon ankamen, und heute sind bisher nur Lolia und Lolmack aufgetaucht. Irgendwie seltsam. Als Fian und ich zum Frühstück in den Saal kamen, hatten wir erwartet, alle zu treffen, aber es war genau wie auf der Marie Celeste.»
«Auf der was?», wollte Issette wissen.
«Ein berühmter ungelöster Fall aus der Vorgeschichtszeit. Vor etwa neunhundert Jahren hat man mitten im Ozean ein Schiff gefunden, die Marie Celeste. Es war perfekt in Schuss, aber die Besatzung fehlte und …» Ich brach ab, da Issette sich die Ohren zuhielt.
«Böse, böse Jarra», sagte sie. «Keine Geschichtsvorlesung!»
Ich seufzte. «Ich hab doch gar keinen Vortrag gehalten, sondern nur etwas erklärt. Aber egal. Playdon sagt, er kann mit dem Unterricht frühestens in zwei Stunden beginnen. Fian ist in den Lagerraum gegangen, um sich den besten Schutzanzug in seiner Größe rauszusuchen, bevor die anderen antanzen. Ich habe ja meinen eigenen Anzug, deshalb dachte ich, ich ruf dich ausnahmsweise mal richtig an, weil wir uns doch sonst immer nur Nachrichten schicken. Und ich konnte es nicht auf später verschieben, weil du dann sicher mit irgendwelchen schrecklichen Medizindingen beschäftigt bist.»
Issette nickte. «Bei uns hat die dreiwöchige praktische Einführung in die Regenerations- und Verjüngungsmethoden angefangen. Gestern haben sie uns jemanden in einem Regenerationstank gezeigt, und ich bin ohnmächtig geworden. Man hat seine Nieren nachwachsen lassen, deshalb war sein Bauch geöffnet und …»
Ich schüttelte mich und wandte Issettes Beschwerderitual gegen sie selbst an: «Schluss! Keine blutrünstigen medizinischen Vorträge. Böse, böse Issette.»
Sie kicherte. «Der halbe Kurs ist ohnmächtig geworden. Unser Dozent meinte, wir würden uns schon noch daran gewöhnen.» Dann wandte sie sich an Keon. «Du solltest besser in dein Zimmer gehen und deine Laserlichtskulpturen aufbauen. Du darfst dich damit nicht verspäten.»
Keon seufzte. «Arbeit, Arbeit, Arbeit. Ich weiß echt nicht, weshalb ich einen Paaringsvertrag mit dir unterschrieben habe.»
Mit einem anzüglichen Grinsen erwiderte sie: «Geh und sei nett zu diesem Mann. Denk daran, was ich dir als Belohnung versprochen habe, wenn du das jetzt durchziehst.»
Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, worum es sich dabei handeln könnte, aber es musste wohl etwas Gutes sein, denn Keon tat tatsächlich wie geheißen. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, wandte Issette ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu.
«Und was hast du dann während deiner vier freien Tage gemacht?», erkundigte sie sich schmollend. «Nachdem du uns offensichtlich nicht besucht hast.»
Ich stöhnte. «Ich konnte nicht. Du erinnerst dich doch, dass Fians Eltern wegen der Ordensverleihung letzte Woche auf die Erde gekommen sind?»
«Ja. Ich habe gesehen, wie sie sich anschließend mit dir und Fian unterhalten haben.»
«Tut mir leid, dass ich gar keine Gelegenheit hatte, auch mit dir zu quatschen.»
«Na, du musstest ja auch noch für die Vid-Bienen posieren, damit die Earth Rolling News ihre Aufnahmen machen konnten», erwiderte sie grinsend. «Ich war echt total von den Socken! Du hast mir gesagt, dass alle Archäologen, die an der Rettung des Militärs aus dem verunglückten Raumschiff beteiligt waren, eine neue Medaille – den Earth Star – bekommen würden. Deshalb wusste ich, dass man auch Fian und dich auszeichnen würde, aber du hast kein Wort vom Artemis-Orden gesagt! Warst du zur Geheimhaltung verpflichtet?»
«Zur Geheimhaltung verpflichtet? Ich hatte keinen Schimmer! Als Fian und ich auf die Bühne gingen, um unseren Earth Star in Empfang zu nehmen, dachte ich, das war’s. Als das Militär dann die verletzten Tagger wieder aufs Podest rief, um uns mit dem Artemis-Orden auszuzeichnen … Also, wenn du schon von den Socken warst, dann stell dir mal vor, wie es mir ging.»
«Das war echt total klasse!» Issette strahlte vor Freude.
«Stimmt.» Einen Moment lang erlaubte ich mir, in der Erinnerung zu schwelgen. Der Artemis-Orden, die höchste militärische Ehre, war zum ersten Mal an Zivilisten verliehen worden. Ich gehörte zu den verachteten Behinderten, die wegen ihres fehlerhaften Immunsystems nur auf der Erde existieren konnten, aber gleichzeitig war ich eine von nur elf lebenden Personen, die den Artemis-Orden tragen durften. Das war ein Wahnsinnsgedanke.
«Wie dem auch sei», fuhr ich schließlich fort, «Fians Eltern meinten, sie würden bis zu unserem Vier-Tage-Urlaub auf der Erde bleiben, damit er anschließend mit ihnen zurück nach Herkules reisen könnte. Als Fian verkündet hat, dass er mit mir auf der Erde bleiben will, waren sie total enttäuscht.»
Issette runzelte die Stirn. «Und was ist dann passiert? Ist er mitgegangen oder …?»
«Er ist bei mir geblieben. Fian kann unglaublich stur sein.»
Ihre Miene entspannte sich wieder. «Prima.»
«Leider nicht ganz», widersprach ich. «Seine Eltern haben darauf nämlich beschlossen, ebenfalls hier bei uns zu bleiben.»
«Neeeeiiiin!» Issette fuhr sich mit den Fingern durch ihr krauses Haar. «War es schlimm?»
«Na ja, sie haben sich schon bemüht, freundlich zu sein …»
«Aber?»
Ich seufzte. «Sie waren die ganze Zeit viel zu angestrengt höflich, und es gab eine Menge ungemütlicher Schweigemomente. Sie haben mir zwar einige nette Dinge gesagt, aber …»
Issette rümpfte die Nase. «Aber du glaubst, sie haben es nicht wirklich so gemeint?»
Ich versuchte fair zu sein: «Es ist ja kaum überraschend, dass sie nicht gerade glücklich darüber sind, dass ihr Sohn eine behinderte Freundin hat. Weil ich die Erde nicht verlassen kann, ist Fian auch an die Erde gebunden.»
«Fian scheint das doch aber gar nicht zu stören», gab Issette zu bedenken. «Er sagt, er will sich auf Vorgeschichte spezialisieren und wird deshalb sowieso die meiste Zeit auf der Erde bleiben.»
«Das mag Fians Einstellung sein, aber seine Eltern haben bestimmt trotzdem das Gefühl, dass es schon jetzt zu Schwierigkeiten führt. Wenn ich ein Norm wäre, hätten wir alle gemeinsam die Tage auf Herkules verbringen können. Und es geht ja nicht nur um die praktischen Aspekte, sondern auch um die öffentliche Schande. Fians Eltern bezeichnen mich zwar höflich als Behinderte, aber was sagen ihre Freunde zu ihnen? Ihr Sohn hat einen Paaringsvertrag mit einem Affen, einem Neander, einer Zurückgebliebenen. Das muss schrecklich peinlich für sie sein, deshalb ist es kein Wunder, wenn sie sich wünschen, er hätte sich stattdessen ein normales Mädchen ausgesucht.»
Issette verzog das Gesicht. «Und was habt ihr dann während der Urlaubstage gemacht? Musstest du die ganze Zeit mit Fians Eltern zusammenhocken?»
Ich nickte. «Wir haben zu viert eine Menge Orte besucht. Stonehenge, Pompeji, das Spirit-of-Man-Monument, das Naturwissenschaftliche Museum Wallam-Crane, die Green-Time-Ausstellung in Greenwich.»
«Das klingt ja wie eine Liste unserer langweiligsten Schulausflüge», stöhnte Issette.
«Gegen Stonehenge und Pompeji hatte ich nichts einzuwenden, aber wir haben einen ganzen Tag im Wallam-Crane-Museum verbracht und davon allein vier entsetzliche Stunden vor den technischen Darstellungen der Portal-Entwicklungsgeschichte. Fians Eltern arbeiten an der Universität von Herkules in der Forschung, deshalb waren sie total fasziniert. Fian schien auch alles zu kapieren, aber du weißt ja – ich und Physik.»
Sie nickte. Issette wusste genau, wie sehr ich die Physikstunden in der Schule gehasst hatte, weil sie damals neben mir saß und mein Dauerjammern hatte ertragen müssen. «Meine arme Jarra.»
«Wenn ich je an eine Zeitmaschine kommen sollte …»
«Ich weiß. Dann würdest du direkt ins Jahr 2142 reisen und Wallam-Crane direkt nach der Geburt erwürgen, damit er das Portal nicht erfinden kann. Das sagst du schon ewig. Aber das ist doch eine bescheuerte Idee, du Schrumpfhirn! Würdest du denn wirklich überall mit den Schwebeschlitten hinfahren wollen, statt einfach blitzschnell von einem Portal auf der Erde zum anderen zu reisen?»
Ich kicherte. «Nicht unbedingt. Gegen normale Portale habe ich ja auch nichts einzuwenden. Nur die interstellaren, die … Egal. Das Schlimmste war jedenfalls der Aufenthalt im Hotel.»
«Was ist denn so schlimm an einem Hotel? Es war doch sicher schön, zur Abwechslung mal ein eigenes Badezimmer zu haben.»
«Ich mag ja verrückt nach Geschichte sein, aber seit du deinen Medizinkurs machst, bist du geradezu besessen von Badezimmern.»
«Die sind aber auch wichtig», meinte sie. «Weißt du, wie viele verschiedene Bakterienarten im menschlichen Verdauungstrakt leben?»
«Nein, und wage ja nicht, es mir zu sagen! Das Problem mit dem Hotel war, dass Fian von einem Planeten im Delta-Sektor stammt.»
Es war Issettes Miene deutlich anzusehen, dass sie nicht kapierte, was ich meinte. «Ja, und?»
«Wie jeder weiß, sind die Planeten im Beta-Sektor sexuell am freizügigsten. Im Gamma-Sektor ist es ähnlich wie auf der Erde, aber im Delta-Sektor sind sie echt streng.»
Nun fiel bei Issette der Groschen. «Du durftest dir also mit Fian kein Zimmer teilen?»
«Ein Zimmer teilen? Ich war ja schon überrascht, dass seine Eltern überhaupt erlaubt haben, dass wir im selben Hotel übernachten! Wir durften uns noch nicht mal umarmen.»
«Aber so prüde können sie doch in Delta nicht sein. Fian schien dir gegenüber immer ziemlich … anschmiegsam.»
«Fian ist ein Delta mit unglaublich schlechten Manieren», erwiderte ich grinsend, «aber seine Eltern sind da ganz traditionell. Weil das erst unser erster Dreimonatsvertrag ist, war für sie Händchenhalten eigentlich schon zu viel. Fian meinte, wir würden uns Streit ersparen, wenn wir uns an ihre Regeln halten, solange sie da sind.»
Issette verdrehte die Augen und sah mich zweifelnd an. «Und damit warst du zufrieden?»
«Nicht gerade zufrieden, aber ich will ja auch keinen Ärger zwischen Fian und seinen Eltern stiften. Schließlich habe ich keine Ahnung, wie es ist, eine echte Familie zu haben. Es ist schwierig, das mit Fian zu besprechen, weil …» Ich schüttelte den Kopf. «Du weißt schon.»
Issettes Miene drückte Mitgefühl aus. Das Thema Eltern war für sie emotional genauso belastet wie für mich. Einige mutige Eltern siedeln auf die Erde um, damit sie bei ihrem behinderten Kind bleiben können, aber die meisten ziehen das nicht einmal in Betracht. Sie übergeben ihren misslungenen Nachwuchs einfach der Obhut von Hospital Earth und vergessen die ganze peinliche Angelegenheit.
Kinder wie Issette und ich wachsen mit dem Wissen auf, dass wir von unseren Eltern verstoßen wurden, und wir beneiden die Kinder in den Vids aus anderen Welten, die richtige Familien haben. Während der Zeit in Home träumen die meisten von uns von dem Tag, an dem wir vierzehn werden und die Möglichkeit bekommen, Informationen über unsere Eltern abzufragen und den Kontakt mit ihnen zu suchen. Dabei malen wir uns völlig unrealistische Szenen aus, wie sehr sie bereuen, uns weggegeben zu haben, und dass sie uns jetzt unbedingt zurückhaben wollen. Wenn wir schließlich vierzehn werden, wissen wir ganz genau, wie unwahrscheinlich es ist, dass dieser Traum in Erfüllung geht, aber die meisten von uns können sich trotzdem nicht von ihm verabschieden und wagen eine Kontaktaufnahme.
Issette war ein klassischer Fall. Weil sie sich verzweifelt nach Anerkennung und einer richtigen Familie sehnte, meldete sie sich bei ihren Eltern, aber sie erfuhr nur noch mehr Zurückweisung. Ich wiederum war das extreme Gegenteil und mit vierzehn viel zu bitter gewesen, um Gebrauch von dieser Möglichkeit zu machen. Ich wollte keine Anerkennung von meinen Eltern, sondern mich für die Art und Weise rächen, wie sie mich verlassen hatten. Mit achtzehn beschloss ich, mir diese Rache zu holen, indem ich so tat, als wäre ich ein Norm, und mich heimlich unter Geschichtsstudenten aus den anderen Welten mischte, die zu Studienzwecken ein Jahr auf der Erde verbrachten. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich genauso gut war wie sie, bevor ich ihnen eröffnete, dass ich ein Affenmädchen war. Ich wollte ihre ungläubigen Gesichter sehen, ihnen meinen Ärger entgegenschleudern und dann abhauen. Das funktionierte aber nicht wie geplant, weil ich feststellte, dass die Exos gar nicht so schlimm waren, wie ich gedacht hatte.
Zu diesem Zeitpunkt machte ich schließlich von meiner Option Gebrauch, Informationen über meine Eltern abzufragen. Ich fand heraus, dass sie zum Militär gehörten, und darum hatten sie bei meiner Geburt entscheiden müssen, ob sie ihre Militärkarriere aufgeben wollten, um mit mir auf die Erde zu ziehen. Ich weiß nicht, was sie getan hätten, wenn ich ihr erstes Kind gewesen wäre, aber sie hatten bereits zwei ältere Kinder, deshalb …
Ja, deshalb haben sie mich einfach weggegeben, aber als ich dann Kontakt mit ihnen aufgenommen habe … Achtzehn Jahre Wut über ihre Zurückweisung. Achtzehn Jahre, in denen ich mir die schrumpfhirnigen Hoffnungen der anderen Kinder verbot. Achtzehn Jahre, in denen ich so getan hatte, als wäre es mir egal. All das hatte seinen Höhepunkt in genau dem Happy End gefunden, von dem alle Affenkinder träumen, das aber so wenige tatsächlich erleben. Meine Eltern wollten mich kennenlernen und auf die Erde kommen, um mich zu treffen. Es war mehr als unglaublich gewesen, der absolute Wahnsinn. Doch dann zerplatzte der Traum mit dem Anruf eines Militärgenerals, der mir mitteilte, dass die beiden beim Versuch, eine neue Koloniewelt für die Menschheit zu erschließen, ums Leben gekommen waren.
Jede Erwähnung meiner Eltern löste noch immer ein Chaos unverarbeiteter Gefühle aus, die in mir tobten. Nicht nur wegen ihres Todes und des Traums von einer Familie, der mit ihnen gestorben war, sondern auch wegen meiner Behinderung und der Militärkarriere, die ich nie würde machen können, weil ich die Erde nicht verlassen konnte. Fian und ich mieden das Thema deshalb sorgfältig. Ich war noch nie gut darin gewesen, über Gefühlsdinge zu sprechen, und nach meinen Reaktionen in der Vergangenheit schien Fian Angst zu haben weiter nachzubohren.
Mit Issette wollte ich genauso wenig darüber reden wie mit Fian, deshalb war ich erleichtert, als in diesem Moment die Tür aufging. Fian kam herein, im Arm einen schwarzen Schutzanzug. So verwuschelt, wie seine blonden Haare waren, hatte er vermutlich ein halbes Dutzend Anzüge anprobiert, um herauszufinden, welcher am besten passte. Als er das schwebende Holo-Bild meiner Freundin entdeckte, hielt er inne und winkte.
«Hallo, Issette.»
Issette winkte zurück. «Ich muss jetzt sowieso los. Ich muss mich anziehen und dann nachsehen, ob Keon alles für seine Vorführung vorbereitet hat. Drückt uns die Daumen.»
«Machen wir», versprachen Fian und ich im Chor.
Issettes Bild verschwand, als sie das Gespräch beendete, und Fian sah mich fragend an. «Daumen drücken wofür?»
«Weiß auch nicht so genau. Issette hat Keon überredet, irgendjemandem seine Lichtskulpturen zu zeigen.»
Nach einem Schulterzucken wechselte Fian das Thema. «Dalmora ist angekommen.»
Fian und ich gehörten beide zum Grabungsteam 1 in unserem Kurs, und die anderen drei Mitglieder – Dalmora, Amalie und Krath – waren unsere engsten Freunde. «Was ist mit Amalie und Krath?», erkundigte ich mich.
«Dalmora ist bisher die Einzige.»
Fian hängte seinen Schutzanzug auf und kämmte seine Haare wieder halbwegs glatt. Dann verließen wir unser Zimmer mit den grauen Flexiplas-Wänden und gingen durch den grauen Flexiplas-Korridor zum grauen Flexiplas-Saal, der als einziger Raum im Kuppelbau Platz für mehr als sechs Leute bot. Dort trafen wir auf Dalmora, die sich aufgeregt bei unserem Dozenten Playdon entschuldigte. Ihre schönen, taillenlangen schwarzen Haare waren ungewöhnlich zerzaust.
«Normalerweise kann ich ganz einfach zur Off-World-Station von Danae teleportieren, zu einem interstellaren Portal spazieren und ‹Erde› eingeben. Aber heute Morgen gab es endlose Schlangen. Für die beliebtesten Planetenziele waren Gruppenteleporte zu bestimmten Zeiten angesetzt, aber nicht für die Erde, deshalb musste ich drei Stunden lang in der Hauptschlange warten, bevor ich endlich …»
Playdon gab es auf, darauf zu warten, dass sie vielleicht mal Luft holte, und unterbrach sie nachdrücklich: «Beruhigen Sie sich, Dalmora. Ich habe die Nachricht erhalten, in der Sie mir die Verspätung erklärt haben. Außerdem sind Sie sowieso die Erste.»
«Wirklich? Aber ich bin im Flur Lolia begegnet.»
«Lolia und Lolmack sind auf der Erde geblieben, um Zeit mit ihrem behinderten Baby zu verbringen», erklärte Playdon. «Fian und Jarra waren natürlich auch hier, und ich habe Freunde auf der Grabungsstätte New Tokio besucht. Sie sind die Erste, die von einem anderen Planeten zurückkommt. Anscheinend gibt es erhebliche Verspätungen im gesamten interstellaren und sektorübergreifenden Verkehr.»
«Oh.» Dalmora schien sich ein wenig zu entspannen.
«Die Erde ist das Zentrum des Alpha-Sektors, deshalb brauchten Sie nur ein interstellares Portal», fuhr Playdon fort. «Der Rest der Studenten kommt von Planeten in anderen Sektoren und wird deshalb zuerst zum Alpha-Sektor reisen müssen. Amalie muss von Epsilon aus gleich zweimal den Sektor wechseln, deshalb habe ich ihr eine Nachricht geschickt, dass ich schon mit ihrer erheblichen Verspätung rechne und Verständnis dafür habe.»
Dalmora machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer, gefolgt von einer Schar hüpfender Schwebekoffer, während Playdon sich der riesigen Vid-Wand am Ende des Raumes zuwandte. Der Schriftzug der Earth Rolling News erschien über einer Aufnahme des Raumschiffes Solar 5, das auf dem Grund eines riesigen Kraters lag. Zwischen all dem Geröll konnte man die Schutzschilde leuchten sehen. Dann erloschen sie plötzlich, die Fluchtluken öffneten sich, und Menschen in blauen Militärschutzanzügen kletterten heraus.
Ich stöhnte. «Nicht schon wieder! Der Super-Sonnensturm und die Rettungsaktion sind jetzt fünf Wochen her. Ich weiß, die Earth Rolling News bekommen nicht oft eigene aufregende Nachrichten, sondern müssen sie meistens von den Newzies der Sektoren aufschnappen, aber so langsam …»
Playdon lachte. «Nach der Ordensverleihung haben sie angefangen, das ganze Filmmaterial der Rettungsaktion wieder zu zeigen. Haben Sie sich denn nicht in den Newzies gesehen, Jarra?»
«Ich habe einen Bogen darum gemacht, Sir. Das ist so peinlich.» Auf der Vid-Wand wurde nun ein Bild der Earth Olympic Arena gezeigt. Ich verzog das Gesicht. Zuerst schwenkte die Kamera über die Zuschauermenge, ehe man fünf Personen sah, die alle den Artemis-Orden an der Schulter trugen. Ich stand ganz links und versuchte vergeblich, mich vor den Vid-Bienen zu verstecken. «Können wir bitte den Sender wechseln?»
Playdon wirkte belustigt, aber er schaltete auf die Gamma-Sektor-Nachrichten um. Nach einer Sportberichterstattung wurden dort endlose Menschenschlangen gezeigt.
«Weiterhin heftige Staus an allen Off-World- und sektorübergreifenden Transitstationen. Die Portalnetzwerkverwaltung bittet um Entschuldigung für die Portalverspätungen, die aufgrund eingeschränkter Verkehrskapazität während eines Upgrades der Relaiszentren unvermeidbar sind. Die Bevölkerung wird gebeten, Reisen wenn möglich zu verschieben.»
Die Berichterstattung zeigte einige Leute, die sich bitter darüber beschwerten, wie lange sie schon warten mussten. Playdon schaltete gerade den Ton ab, als eine Gruppe Studenten von Asgard im Gamma-Sektor den Saal betrat, ebenfalls gefolgt von einer ganzen Flotte Schwebegepäck. Unser Kurs wurde von der Asgard University veranstaltet, deshalb nahmen eine Menge Studenten von diesem Planeten teil.
Krath führte die Gruppe an und ließ sofort eine Schimpftirade vom Stapel. «Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie lange wir an der Off-World-Station von Asgard warten mussten. Vier geschlagene Stunden! Unsere Portalzeit wurde zweimal verlegt, weil die Anschlussstelle 6 vom Gamma-Sektor überlastet war, und als wir endlich dort ankamen, war das Transitportal nach Alpha …» Schließlich bemerkte er die Bilder auf der Vid-Wand und verstummte enttäuscht. «Ach, das wissen Sie schon.»
Playdon nickte. «Ich würde vorschlagen, Sie gehen jetzt auspacken. Ich werde mit dem Unterricht erst beginnen, wenn alle da sind, also haben Sie jede Menge Zeit.»
Die Neuankömmlinge taten wie geheißen. Fian nahm seinen Lookup heraus. «Ich rufe mal schnell meine Eltern an und frage, ob sie gut auf Herkules angekommen sind.»
«Mach das», erwiderte ich. «Ich gehe in der Zwischenzeit weiter auspacken.»
Ich eilte davon. Mit meinem Gepäck war ich zwar längst fertig, aber nach vier endlosen Tagen mit Fians Eltern wollte ich nicht auch noch brav lächelnd neben ihm sitzen, während er mit ihnen sprach. Draußen im Flur stieß ich beinahe mit einer der gerade angekommenen Studentinnen aus Asgard zusammen. Sie warf mir einen angewiderten Blick zu.
«Wie ich sehe, ist das Affenmädchen schon zurück. Deshalb stinkt es hier auch so.»
Ich biss mir auf die Zunge. Zu Beginn des Kurses war mir Petra kaum aufgefallen, aber das hatte sich schlagartig geändert, als meine Kommilitonen herausfanden, dass ich behindert bin. Nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatten, behandelten mich die meisten genau wie zuvor, als sie mich für normal hielten. Nicht so Petra. Nach und nach hatte sie einige ihrer Freunde von Asgard dafür gewinnen können, mich ebenfalls heimlich zu beschimpfen. Sie wollte die zurückgebliebene Studentin dazu bringen, den Kurs zu verlassen, aber ich würde mich von ein paar hässlichen Worten nicht vertreiben lassen. Stattdessen versuchte ich, das Problem möglichst klein zu halten, indem ich der Affenhasser-Clique aus dem Weg ging. So versuchte ich auch jetzt Petra auszuweichen.
Doch prompt trat auch sie einen Schritt zur Seite, um mir den Weg zu versperren. «Du hast hier nichts zu suchen. Du solltest in einem Grundlagenkurs der University Earth sein, wie deine Artgenossen!»
Ich versuchte, auf der anderen Seite an ihr vorbeizukommen, aber Petra hielt mich wieder auf. Wenn ich mich nun umdrehte, um zurück in den Saal zu gehen, würde sie mich verhöhnen, weil ich wegrannte. Also gab ich meine schrumpfhirnigen Ausweichversuche auf und sah ihr direkt ins Gesicht.
«Ich habe genauso ein Recht darauf, diesen Kurs zu besuchen, wie du. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass mein Immunsystem in anderen Welten nicht funktioniert. Aber das spielt keine Rolle, weil dieser Kurs das gesamte Jahr hier auf der Erde stattfindet.»
«Ja, wegen der verdammten Vorschriften fürs Geschichtsstudium muss ich ein Jahr hier auf der Erde vergeuden, bevor ich endlich die eigentlich wichtige moderne Geschichte studieren darf. Das ist schon schlimm genug, ohne dass ich mir auch noch das Quartier mit einem von euch Untermenschen teilen muss!»
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, aber so langsam verlor ich die Geduld. «Seltsam, dass dir mein untermenschliches Aussehen und meine untermenschliche Intelligenz am Anfang des Kurses nie aufgefallen sind. Du hast mich für normal gehalten, bis du erfahren hast, dass ich behindert bin. Dieser Kurs steht unter dem moralischen Code des Gamma-Sektors, der vorschreibt, dass man seine Mitstudenten respektvoll behandeln soll. Also sei ein braves Gamma-Mädchen und lass mich in Frieden. Wenn Playdon mitkriegt, wie du dich benimmst, erteilt er dir eine ganze Latte offizieller Verwarnungen.»
«Dich sollte er verwarnen!», zischte Petra. «Schließlich hast du uns belogen. Hast so getan, als wärst du auf einer Militärschule gewesen und als wärst du ein Mensch wie wir anderen. Du hattest ja noch nicht mal den Mut, uns selber die Wahrheit zu sagen. Das musste Fian für dich tun.»
«Das war nicht meine Idee.»
Petra hatte einen wunden Punkt getroffen. Während ich nach der Solar-5-Rettungsaktion im Krankenhaus lag, wo mein Bein im Regenerationstank geheilt wurde, hatte Fian beschlossen, unseren Mitstudenten zu erzählen, dass ich behindert bin. Er hatte sich geweigert, mir im Detail zu berichten, was anschließend passiert war, aber die anderen waren bestimmt geschockt und wütend gewesen wegen der Lügen, die ich verbreitet hatte. Vermutlich hatte Playdon für Ordnung gesorgt, aber trotzdem …
Fian war also damals an meiner Stelle der Klasse gegenübergetreten, was wirklich unglaublich toll von ihm war, aber ich gehöre nun mal zu den Menschen, die ihre Kämpfe lieber selber ausfechten, statt sich hinter anderen zu verstecken. Deshalb hatte ich ihm bisher auch nichts vom Petra-Problem erzählt. Wenn er wüsste, was da ablief, würde er sich einmischen wollen, was nur zu Streit zwischen uns führen würde. Ich befand mich nicht länger im Regenerationstank, und Petra war mein Problem, nicht das von Fian. Ich würde mich selbst mit ihr auseinandersetzen.
«Es überrascht mich, dass du dich noch nicht bei Playdon ausgeheult hast», fuhr Petra fort. «Er hat ja schon deutlich gemacht, dass er ein Affenfreund ist. Aber natürlich, wenn du dich bei ihm beklagst, dann steht bloß dein Wort gegen das von uns und …»
Sie brach ab und drehte sich um. Ich sah, dass Joth auf uns zukam, und entspannte mich. Petra war viel zu schlau, um irgendetwas Fieses vor jemandem zu sagen, der nicht zu ihrer Clique gehörte, also würde sie jetzt die Klappe halten müssen.
Als Joth uns erreichte, lächelte Petra ihn an. «Irgendwie stinkt es hier, findest du nicht? Warum sagst du dem Neanderweibchen nicht, dass es uns Platz machen soll?»
Ich starrte sie ungläubig an und sah, wie ihr Lächeln breiter wurde. Was ging denn hier ab? Ich drehte mich zu Joth um, doch er wich meinem Blick aus.
«Verzieh dich, Affe», sagte er. «Man sollte dich draußen in einem Käfig halten, damit normale Menschen nicht unter deinem Gestank leiden müssen.»
Er schob sich an mir vorbei und eilte den Flur hinunter. Fassungslos sah ich ihm nach. Ganz am Anfang unseres Kurses hatte Joth während einer Ausgrabung etwas unglaublich Dummes getan, wobei ich fast verletzt worden wäre. Nachdem mir aber klargeworden war, dass er kein gemeingefährlicher Irrer war, der mich umbringen wollte, sondern dass er einfach nur keine Ahnung von praktischen Dingen hatte, waren wir Freunde geworden, obwohl ich ihm immer noch nicht zutraute, Messer und Gabel am sicheren Ende anzufassen. Joth war auch dann noch mein Freund geblieben, als er herausgefunden hatte, dass ich behindert bin, aber jetzt hatte er …
Mein Gesicht spiegelte wohl meine verletzten Gefühle wider, denn Petra stieß ein triumphierendes Lachen aus. «Joth hat mich gefragt, ob ich einen Paaringsvertrag mit ihm abschließen will.»
Sie lief Joth hinterher, und er legte ihr den Arm um die Schultern. Nun war die Sache wirklich klar. Joth und Petra waren die Schwerlastlifter von Team 4. Sie verbrachten eine Menge Zeit zusammen, und jetzt hatte Joth sich mit ihr eingelassen. Entweder war er zu blöd, um zu kapieren, wie gemein Petra war, oder er wusste Bescheid, aber es war ihm egal, solange er nur mit ihr balgen durfte. Für mich machte es im Grunde ja auch keinen Unterschied. Petra wollte, dass Joth mich beschimpfte, also hatte er es getan. Soeben war aus einem Freund ein Feind geworden.
Ich zog mich ins nächstgelegene Bad zurück, stieg aus meinen Kleidern und stellte mich unter die Dusche. Warmes Wasser strömte wohltuend über meinen Körper, während ich über die ganze Sache nachdachte. Wenn Petra und Joth ein Paar waren, bestand keine Hoffnung, Joth als Freund zurückzugewinnen. Ich musste die Situation einfach akzeptieren. Die vertrauten Beleidigungen würden zwar besonders weh tun, wenn sie von Joth kamen, aber damit würde ich klarkommen. Schließlich war ich an Beschimpfungen gewöhnt. Mein ganzes Leben lang hatte ich Vids aus den Sektorwelten angeschaut und dabei stets damit rechnen müssen, dass eine der Figuren plötzlich einen Witz über dumme Affen wie meinesgleichen machen würde.
Ich musste Joth einfach vergessen. Er war eben auch bloß einer jener jämmerlichen Menschen, die meinten, mich beschimpfen zu müssen. Stattdessen würde ich mich auf die positiven Dinge konzentrieren, auf die Freunde, die zu mir gehalten hatten, als sie erfuhren, dass ich behindert bin. Grabungsstätten sind gefährliche Orte, und ich war Taggerin für Team 1 – also diejenige, die mitten auf der Grabungsfläche stand und dem größten Risiko ausgesetzt war. Es war überlebenswichtig, den anderen Teammitgliedern vertrauen zu können, und ich hatte mit allen vieren großes Glück.
Ich schaltete die Dusche auf Abtrocknen, und während warme Luftströme mich umhüllten, richtete ich meine Gedanken auf all die Menschen, die mir meine Lügen verziehen und mich akzeptiert hatten, als wäre ich so normal wie sie. Dalmora, unsere Sensorschlittenführerin, kam als Einzige in unserem Kurs aus dem Alpha-Sektor. Als wir uns das erste Mal begegneten, hatte ich erwartet, dass sie sich als verwöhnte Göre entpuppen würde, weil sie die Tochter von Ventrak Rostha war, dem berühmten Geschichtsvid-Macher. Doch stattdessen war sie einer der nettesten, aufmerksamsten Menschen überhaupt.
Amalie und Krath bedienten die Schwerlastschlitten. Amalie war eine ruhige und absolut verlässliche Studentin aus einer Grenzwelt im Epsilon-Sektor. Und Krath … nun ja, in zwischenmenschlichen Dingen konnte er ein ziemliches Schrumpfhirn sein, aber alles Praktische konnte er echt gut, und er war ein erstklassiger Lifter.
Dass Dalmora und Amalie mir eine Chance geben würden, wenn sie erfuhren, dass ich behindert bin, hatte ich erwartet, aber bei Krath hatte ich mit dem Schlimmsten gerechnet. Sein Vater arbeitete bei einem Amateur-Vid-Sender namens Wahrheit gegen Unterdrückung, und Krath hatte ständig dessen bescheuerte Verschwörungstheorien und gemeinen Bemerkungen über Affen wiederholt. Nachdem die Klasse von meiner Behinderung erfahren hatte, war ich auf Beleidigungen von Krath eingestellt, doch überraschenderweise grinste er bloß und verkündete, dass Affen ja wohl doch ziemlich cool sein müssten, wenn Jarra einer sei. Wenn Krath es schaffte, selbst zu denken, statt die Meinung seines Vaters zu wiederholen, dann bestand eindeutig Hoffnung für ihn.
Außerdem gab es natürlich Fian, den Wichtigsten von allen. Nicht nur, dass wir einen Paaringsvertrag hatten, als mein Tagger Support hielt er zudem pausenlos die Augen nach Gefahrenquellen offen, um mich wenn nötig über seinen Rettungsleinenstrahl in Sicherheit zu ziehen. Fian hatte mich nicht nur akzeptiert, wie ich war, sondern sogar vorgeschlagen, wir könnten beide in einen Kurs der University Earth wechseln, falls unsere Kommilitonen zu sehr mit Vorurteilen belastet waren. Das wollte ich auf gar keinen Fall tun, weil es unser Studium durcheinanderbringen würde, aber es bewies, was für ein toller Kerl Fian war.
Inzwischen war ich trocken und trat aus der Dusche. Ja, es wäre schön, wenn mich alle als menschliches Wesen akzeptierten und ich nicht Zielscheibe für Beleidigungen wäre, wann immer ich alleine einen Flur entlangging, aber das würde nie passieren. Ich hatte mich selbst entschieden, in einen Kurs voller Norms hineinzuplatzen, und das noch dazu aus der allermiesesten Motivation heraus. In Anbetracht dessen war die aktuelle Situation besser, als ich es verdient hatte.
Ich zog mich an und ging zurück in den Saal. Als ich die Tür öffnete, sah ich als Erstes Krath, der vor der großen Vid-Wand stand. Er hatte wieder auf die Earth Rolling News umgeschaltet, und die zeigten gerade ein Bild von blendend weißen Funken, die über einem Geröllfeld aufblitzten. Ein Rettungsleinenstrahl riss ruckartig eine Person im Schutzanzug aus der Tiefe, während das Kreischen des Sensorschlittenalarms von einer lauten Explosion übertönt wurde. Menschen brüllten durcheinander, und eine weibliche Stimme schrie vor Schmerz auf. Diese Stimme gehörte mir.
Eine Sekunde lang durchlebte ich wieder den Moment des Unfalls während der Rettungsaktion für Solar 5, der mir den Artemis-Orden eingebracht hatte. Ich spürte sogar einen stechenden Schmerz in meinem Bein. Ich riss mich zusammen, kehrte in die Gegenwart zurück und herrschte Krath an:
«Mach das aus!»
«Was denn?» Er sah mich gekränkt an. «Ich hab doch nur…»
«Schalten Sie es aus, Krath», wurde er von Playdon unterbrochen. «Jarra möchte nicht pausenlos an einen Vorfall erinnert werden, bei dem sie ernsthaft verletzt wurde.»
«Tut mir leid», meinte Krath. «Darüber habe ich gar nicht nachgedacht.»
Ich schüttelte den Kopf. «Nein, ich bin bloß schrumpfhirnig. Ich hab dieses Vid schon ein Dutzend Mal gesehen. Da sollte ich nicht mehr so reagieren.»
Die restlichen Studenten trudelten im Lauf des Nachmittags nach und nach im Kuppelbau ein. Alle beschwerten sich lautstark über die Warterei. Fian, Krath und ich verbrachten viel Zeit damit, Dalmora gut zuzureden. Sie machte sich immer noch Vorwürfe, weil sie zu spät gekommen war.
«Es war doch nicht deine Schuld», versicherte ihr Krath. «Warum machst du dir einen solchen Kopf deswegen?»
«Auf Danae wird Unpünktlichkeit als schwerwiegendes Fehlverhalten betrachtet», erwiderte sie. «Meine Familie wäre entsetzt, wenn sie erfahren würde, dass ich meinem Dozenten und meinen Mitstudenten gegenüber so respektlos war, zu spät zum Unterricht zu erscheinen.»
Wir erklärten Dalmora ungefähr zehnmal, dass Playdon genau wusste, dass es an den äußeren Umständen gelegen hatte, und sich deshalb auch nicht bei ihrer Familie beschweren würde. Schließlich gelang es uns, sie abzulenken, indem wir über die Unterschiede zwischen den Sektoren und Planeten sprachen.
«Ich habe einen Cousin auf Jason im Gamma-Sektor», erzählte Krath. «Als ich ihn besucht habe, hatte ich ein grünes Shirt an. Man hat mich von Jason nicht wieder ausreisen lassen, bevor ich mir nicht etwas anderes angezogen habe. Die glauben dort echt, dass Grün Unglück bringt.»
«Man sollte sich immer über die gesellschaftlichen Konventionen einer Welt informieren, bevor man sie bereist», meinte Dalmora. «Man kann so leicht einen Fehler machen und jemanden damit verärgern. Meinem Vater ist auf Persephone mal etwas furchtbar Peinliches passiert, als er …»
Sie brach ab und fing einen neuen Satz an. «Jarra, Fian, ich muss euch etwas fragen. Mein Vater hat vor, ein Vid über den Super-Sonnensturm und die Rettung von Solar 5 zu machen. Er würde gerne einige der Vid-Sequenzen verwenden, die währenddessen aufgezeichnet wurden, und da seid natürlich ihr beide zu sehen. Wäre das für euch in Ordnung? Ich könnte meinen Vater bitten, den Teil mit Jarras Unfall wegzulassen.»
«Du bist diejenige, die verletzt wurde, Jarra», erwiderte Fian. «Du entscheidest.»
Ich war völlig aus dem Häuschen. Seit Jahren war ich ein Fan von Ventrak Rosthas berühmter Serie Geschichte der Menschheit. Wie irre, dass ich nun in einem seiner Vids vorkommen würde.
«Dein Vater kann von den Aufzeichnungen verwenden, was er will, Dalmora», antwortete ich. «Wenn Ventrak Rostha den Unfall in eines seiner Geschichtsvids einbaut, ist das etwas ganz anderes, als die Bilder in Endlosschleife in den Newzies zu sehen. Es wäre mir eine Ehre, wenn …»
Krath unterbrach mich, indem er hastig aufstand und versuchte, seinen dichten braunen Haarschopf mit den Fingern in Form zu kämmen. «Amalie ist wieder da!»
Eine erhitzt und müde wirkende Amalie kam in den Saal gestürmt, was bedeutete, dass schließlich alle anwesend waren. Playdon gab ihr einige Minuten Zeit, um etwas zu trinken, ehe er uns anwies, die Stühle in ordentlichen Reihen aufzustellen. Dann nahm er seine Position vorne vor der Klasse ein.
«Willkommen in der afrikanischen Grabungsstätte Eden», begann er. «Ich möchte Ihnen heute wenigstens eine kurze Einführung geben, ehe wir den Unterricht zum Abend hin beschließen. Als Erstes will ich wiederholen, was ich zu Beginn dieses Kurses bereits an der Grabungsstätte New York gesagt habe. Alle Welten der Menschheit sind von den militärischen Planet-First-Teams sorgfältig ausgesucht und vorbereitet worden, damit sie gefahrlos kolonisiert werden konnten. Alle bis auf eine. Die Erde war selbst in den Zeiten vor dem Exodus-Jahrhundert nicht vollkommen sicher, aber inzwischen sind einige der verlassenen Gegenden in höchstem Maße gefährlich geworden.»
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, machte er eine rhetorische Pause, ehe er fortfuhr. «Die Bauweisen und Materialien verbesserten sich bis zu Beginn des Exodus-Jahrhunderts ständig, deshalb sind die Ruinen von Eden in einem deutlich besseren Zustand als die von New York, aber begehen Sie nicht den Fehler zu glauben, sie wären sicherer. Denn das sind sie nicht. Sie befinden sich außerdem in einer wesentlich gefährlicheren Gegend, da die Grenze des Regenwaldes Eden bereits vor vierzig Jahren erreicht hat. Es wird deshalb eine Reihe von Sicherheitseinweisungen geben, ehe Sie den Kuppelbau verlassen dürfen, aber ich werde mit einer kurzen Einführung über Eden selbst anfangen.»
Auf dem Vid-Bildschirm hinter ihm tauchte das Hologramm einer Stadt auf. Ein schimmernder Traum aus faszinierenden Wolkenkratzerspiralen, die durch Brücken hoch in den Lüften verbunden waren. Ich hatte in der Schule bereits Vids darüber gesehen, aber die Schönheit des Ortes zog mich immer noch in ihren Bann. Playdon ließ uns einen Moment Zeit, um den herrlichen Anblick zu genießen, ehe er weitersprach.
«Eden wurde vor fünfhundert Jahren erbaut. Es handelt sich um die letzte Stadt, die auf der Erde entstand, und die letzte, die im Exodus-Jahrhundert verlassen wurde, als …»