Umschlag

Sabine Schulze Gronover, Jahrgang 1969, arbeitet als Diplompädagogin und Kunsttherapeutin in Kliniken in Münster und Hamm. Sie lebt in Drensteinfurt, ist verheiratet und hat eine Tochter. Im Emons Verlag erschienen ihre Westfalen Krimis »Todgeweiht im Münsterland« und »Luzifer und der Küster«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
 
Im Roman wird mehrfach eine überlebensgroße Bison-Skulptur erwähnt, die aus Schrottteilen zusammengesetzt wurde. Dieses Kunstwerk existiert tatsächlich. Es stammt von dem 1962 geborenen Blackfeet-Indianer Jay Laber und erzählt die Geschichte der Reservation. Das Kunstwerk steht im LWL-Naturkundemuseum Münster.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.de/andreafleischer
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-306-4
Westfalen Krimi
Originalausgabe

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Für meinen Mann Michael, der das Equipment eines Autors so wichtig nimmt wie der Autor seine Ideen. Danke dafür.
Und für meine Eltern, Werner und Barbara Schwienhorst.

 

»Wir müssen von Zeit zu Zeit eine Rast einlegen und warten, bis uns unsere Seelen wieder eingeholt haben.«

Indianische Weisheit

Prolog

Seine Haare waren klebrig, das bemerkte er, als er sich über den Kopf strich. Vorsichtig schlug er die Augen auf, blinzelte kurz und schloss sie sofort wieder. Tiefe Enttäuschung, nein Verzweiflung machte sich in ihm breit. Jedes Mal hoffte er, er hätte die letzten Tage und Stunden nur geträumt.

So etwas passierte doch nicht hier in Münster! Und warum er? Er hatte keine Feinde, keinen gefährlichen Beruf, was sollte das? Was tat er hier? Sein Rücken schmerzte von dem harten Betonfußboden, und die Übelkeit nahm stetig zu. Anfangs waren es nur Magenschmerzen gewesen, ein leichtes Ziehen, doch mittlerweile fühlte er sich ganz schwach und elend. Zwei große Flaschen mit Leitungswasser hatten in seiner Reichweite gestanden, als er mit schrecklichen Kopfschmerzen und trockenem Mund aufwachte und sich in diesem Kellerraum wiederfand. Er hatte nur eine vage Erinnerung daran, wie er seine Autotür aufschloss – was danach geschehen war, lag im Dunkeln.

Zuerst war er mit dem Wasser großzügig umgegangen, hatte es sogar zum Waschen benutzt. Doch die Stunden und Tage vergingen, und nun neigte sich der Vorrat dem Ende zu. Sein linker Arm war an das Treppengeländer gekettet, sodass er sich zum Schlafen und um sich zu wärmen nur mühsam zusammenrollen konnte.

Er schätzte, dass er bereits den dritten Tag hier unten verbrachte. Tränen schossen ihm in die Augen, als er daran dachte, was er für diese Zeit alles vorgehabt hatte, und er schämte sich deshalb nicht. Nun wünschte er sich nur noch körperliches Wohlbefinden. Er wollte, dass die Übelkeit verschwand, dass er sich wieder ausstrecken und frisches Wasser trinken konnte und nicht länger neben seinem eigenen Urin liegen musste.

Er fuhr auf, als sich ein Schlüssel in einem Schloss drehte. Hart hallte das Geräusch in seinen Ohren. Die Kellertür oberhalb der Treppe öffnete sich. Endlich! Panisch und dennoch hoffnungsvoll starrte er hinauf, bis seine Augen trocken waren und brannten.

Langsam kam jemand die Treppe herunter, jemand, der ihm völlig unbekannt war. Doch die Augen funkelten hasserfüllt, wie er erstaunt feststellte. Er konnte nicht begreifen, dass ihm eine unbekannte Person so feindselig gesinnt war. Die fremde Hand umklammerte einen Gegenstand. Zu klein für eine Waffe, dachte er erleichtert. Vielleicht durfte er nun endlich reden, konnte erklären, dass hier ein Missverständnis vorliegen musste. Seitdem er in diesem schmutzigen Loch lag, hatte keine Menschenseele zu ihm gesprochen.

Nun ragten zwei Füße ganz dicht vor ihm auf, aber er brachte kein einziges Wort heraus. Dabei musste er sich doch so dringend erklären! Er zitterte und zwang sich, nach der herabhängenden Hand zu greifen, sie an sich zu ziehen. Plötzlich wurde ihm mit einer gewaltigen Wucht etwas in die Kehle gestoßen. Der Schmerz war kurz und heftig, er bekam keine Luft mehr. Er versuchte zu schreien, doch nur ein Rasseln entrang sich ihm.

Und so starrte er panisch auf die mitleidslos blickenden Augen seines Gegenübers, ein Traum, ganz bestimmt ein schrecklicher Traum, und alles verschwamm.

EINS

So einfach war das also. Müde starrte Christine auf den akkurat gefalteten Bogen mit den handgeschriebenen Zeilen, die bei längerem Hinschauen vor ihren Augen verschwammen. Natürlich handgeschrieben. In solchen Dingen wahrte Achim die Form. Persönliche Briefe schrieb er mit der Hand, und eine Beziehung beendete er mit Anstand und einer schriftlichen Erklärung, wobei er sich selbst auch noch großzügig als Tröster anbot. Eine derartige Gefühllosigkeit kannte sie sonst nur von ihrem Lateinlehrer, und das war lange her.

Nun hatte sie es also schriftlich, das Ende ihrer dreijährigen Beziehung. Am vergangenen Wochenende hatte es einen heftigen Streit gegeben. Christine hatte sich aufgeregt, ihn angeschrien, während Achim ruhig lächelnd auf der Couch saß und sie auf eine Art zu beruhigen versuchte, wie es nicht einmal mehr ihre Mutter wagte.

Christine zerknüllte den Zettel und warf ihn treffsicher ins Spülbecken. Der ganze Brief erinnerte an das Gutachten eines Psychiaters: Aus vielerlei Gründen als Partnerin eines verantwortungsvollen Arztes der hiesigen Klinik nicht geeignet. Was bildete er sich eigentlich ein?

Sie schob sich eine rotblonde Haarsträhne hinter das Ohr und überlegte, ob der heutige Tag einen folgenschweren Einschnitt in ihrem Leben markierte.

Gehörte sie nun auch zu den Frauen, die sich vom spleenigen Single in einen zunehmend verbitterten Menschen verwandelten, für die Dessous etwas aus schlüpfrigen Filmen waren und die spätestens mit fünfzig wie einsame Gouvernanten aussahen?

Sicher, es gab Schlimmeres. Geschieden, verarmt, sitzen gelassen mit drei Kindern, deren Vater ein Krimineller war. Schlimmer ging immer.

Andererseits war sie gerade mal neunundzwanzig Jahre alt und keineswegs so hässlich, dass sich nie wieder ein Mann für sie interessieren würde. Vielleicht fand sie bald einen viel wunderbareren Mann als Achim. Ganz bestimmt sogar.

Sie dachte an die Worte einer geschiedenen Bekannten. In einem bestimmten Alter – und dabei hatte sie vielsagend über den Rand ihrer Lesebrille geäugt – wird das Angebot auf dem Markt rar. Entweder trifft man auf geschiedene Männer, die nun mal nicht ohne Grund eine gescheiterte Beziehung hinter sich haben. Oder man begegnet Witwern, die sich zwar tapfer auf eine neue Partnerschaft einlassen, aber ständig das Foto der Ehefrau bei sich tragen und dich mit ihren Erinnerungen in existenzielle Selbstzweifel stürzen, weil die Verstorbene mit dem Tod plötzlich perfekt wurde. Oder du lernst echte Singles kennen und beginnst dich nach der ersten Freude zu wundern, warum die eigentlich noch immer allein sind. Und dann stellst du fest, dass sie noch bei ihrer Mutter wohnen oder Hirschgeweihe sammeln und Katzen totschießen. Sie schüttelte sich in Gedanken angesichts dieser trübseligen Aussichten.

Mit einem Blick zur Uhr stellte sie fest, dass die weitere Lebensplanung warten musste. Heute fand die schon lang angekündigte Eröffnung einer Indianerausstellung im Naturkundemuseum statt. Sie zeigte das frühere und heutige Leben der Prärie-Indianer, die Indianerkriege und ihre zeitgenössische Kunst. Einige der indianischen Künstler würden sogar persönlich anwesend sein und die Ausstellung einige Zeit begleiten, Fragen beantworten und vielleicht sogar das eine oder andere Kunstwerk verkaufen.

Christine war Journalistin, doch im Moment stand ihr wirklich nicht der Sinn danach, sich mit dem künstlerischen Schaffen irgendwelcher Indianer zu beschäftigen. Außerdem machten sie ihre schlechten Englischkenntnisse nervös.

Christine zuckte zusammen, als das Telefon schellte.

»Hi, Chris. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.« Christine hörte Birgit leise lachen. »Mein kleiner Neffe bat mich, mir beschreiben zu lassen, wie man jemanden skalpiert.«

Christine und Birgit waren Journalistinnen, aber bei unterschiedlichen Zeitungen beschäftigt, darum hatten sie beschlossen, den Termin gemeinsam wahrzunehmen.

Unverblümt teilte Christine ihrer älteren Kollegin und Freundin mit: »Achim hat unsere Beziehung beendet.«

Birgit rief spontan: »Was? Das glaube ich nicht.«

»Ich habe eben seine wohlformulierten Ratschläge erhalten, damit ich in naher oder auch ferner Zukunft nicht als spleeniger Single ende. Das klingt kein bisschen nach einem Scherz. Sag mal, findest du mich stur oder exzentrisch?«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war ganz sicher nicht böse gemeint, sprach aber für sich selbst.

Schon von Weitem lockten die monotonen, aber angenehmen Töne rhythmischer Trommelschläge.

»Chris, hier sieht es ja aus wie bei den Karl-May-Festspielen in Elspe. Schau dir nur mal die Kostüme der Leute an!«

»Ja. Aber statt des riesigen Dinosauriers vor dem Eingang wäre eine kleine Bisonherde aus dem Zoo nebenan passender gewesen.« Christine sah sich um. Eine Gruppe von Frauen und Männern in reich verzierten indianischen Kostümen führte gerade traditionelle Tänze auf, im Takt der Trommeln bewegten sie sich mit kleinen Schritten anmutig im Kreis. Die Glöckchen an den Beinkleidern schwangen melodisch mit. Ihre langen schwarzen Haare waren mit Federn geschmückt und glänzten in der Sonne wie fließende Seide.

Die Aprilsonne strahlte freundlich, als wollte auch sie ihren Beitrag zur Völkerverständigung leisten, und Christine spürte, wie sich ihre Stimmung etwas aufhellte. Allerdings wäre sie lieber als stille Beobachterin hier gewesen und nicht in beruflichem Auftrag. Seufzend sah sie, dass Birgit bereits die Kamera in Position hielt und ihren Notizblock aus der Tasche kramte. Die Augen ihrer Kollegin leuchteten, und sie bewegte sich schwungvoll durch die Menge. Sie würde mit ihrer Begeisterungsfähigkeit, ihrer herzlichen Art und natürlich mit ihren perfekten Englischkenntnissen bestimmt gleich hochinteressante Gespräche führen.

Keine der beiden Journalistinnen ahnte, dass ein von Hass und Leidenschaft beseelter Charakter bereits seine ganz eigenen Vorbereitungen traf.

Die Führung durch die Ausstellung gefiel Christine gut. Sie bestaunte die handwerklichen Fähigkeiten der indianischen Frauen und ihre Gabe, der Natur alles Lebensnotwendige abzutrotzen. Sie sah Bilder von stolzen Kriegern und fühlte sich betroffen von den Berichten über zahlreiche Kämpfe, über Landbetrügereien und die systematische Vernichtung ganzer Stämme.

Ein besonders trauriges Kapitel behandelte die Umerziehung indianischer Kinder, die man ihren Eltern weggenommen hatte, um sie in Internate der Weißen zu stecken. Dort sollten sie ihre indianische Herkunft vergessen. Es war ihnen unter Strafe verboten, in der Muttersprache zu reden.

Nun stand Christiane vor einer alten Fotografie von drei indianischen Mädchen in europäischer Tracht, die kummervoll in die Kamera schauten. Ihre Traurigkeit empfand Christine als eine einzige große Anklage. In diesem Moment vernahm sie hinter sich die Stimme eines älteren Mannes, der zu seinem Nachbarn sagte: »Sie hatten damals sicherlich keine geschulten Pädagogen, sonst hätte man den Kindern doch so viel beibringen können.«

Verständnislos runzelte Christine die Stirn. Sie kannte sich in der Geschichte der Indianerkriege nicht besonders gut aus, doch wenn eine Regierung Kinder von ihren Eltern trennte, um die Kultur und das Nationalbewusstsein eines Volkes zu zerstören, dann war das auch mit den besten Pädagogen der Welt nicht zu rechtfertigen.

Wütend drehte sie sich um und erkannte in dem Sprecher einen Professor der Universität. Trotz ihrer Empörung zwang sie sich zu einem leichten Lächeln und fragte: »Dann wäre es für Sie also in Ordnung, wenn man einen der besten … sagen wir mal … afghanischen Lehrer für die Erziehung Ihres Kindes beauftragte? Sie könnten Ihr Kind dann natürlich einige Jahre nicht sehen, da es bei dem Lehrer wohnen würde.« Und mit strenger Stimme fügte sie hinzu: »Die besten Pädagogen sind doch wohl meistens die eigenen Eltern.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie weiter. Sie hatte nicht bemerkt, dass zwei Meter weiter ein indianisch aussehender Mann stand, der sie beobachtet hatte.

Während Christine sich noch einige Notizen für ihren Artikel machte, drängte es Kollegin Birgit bereits zum großen Saal, wo der Rundgang endete und die zeitgenössischen Bilder und Objekte indianischer Künstler einen gelungenen Abschluss der Ausstellung bilden sollten.

Bei Sekt und Kaffee konnte man die Werke auf sich wirken lassen, und so stand Birgit, als Christine nachkam, bereits in einer Gruppe indianischer Künstler und Künstlerinnen und unterhielt sich angeregt. Christine zögerte kurz, wollte aber erst noch ein paar Fotos schießen.

Ein beinahe lebensgroßer, aus allerlei Schrottteilen zusammengebauter Büffel zog sie sofort in seinen Bann. Obwohl das Wesen nur aus Metallabfällen zusammengesetzt war, wirkte es ungemein kraftvoll und lebendig. Dem Begleittext entnahm sie, dass es sich bei diesen Schrottteilen um Müll handelte, der sich im Reservat angesammelt hatte.

Auf einmal bemerkte Christine zu ihrem Verdruss, dass der Objektivdeckel ihrer Kamera fehlte. Sie musste sich wohl oder übel in den Gängen des Museums auf die Suche danach machen.

Langsam ging sie los, den Blick immer auf den Boden gerichtet, um das kleine runde schwarze Teil zu entdecken. Anfangs traf sie vereinzelt auf einige Nachzügler, die noch immer diskutierend vor den Schaukästen standen. Ein älterer, sehr großer und stabil gebauter Indianer, den Christine zu Beginn der Eröffnung als einen Cheyenne-Chief kennengelernt hatte, lachte gerade amüsiert und lautstark los, als hätte sein Gegenüber eine besonders törichte Frage gestellt. Dabei entblößte er einige blitzende Goldzähne.

Zwei Räume weiter war es dagegen bereits verlassen und still. Ein großes Tipi zeigte das nomadenhafte Lagerleben der Prärie-Indianer, und die zwei ausgestopften Indianerponys davor wirkten so echt, dass Christine zusammenzuckte.

In den Schaukästen lagen aufwendig verzierte Lederhemden und Beinlinge und wunderschöne Mokassins, umrahmt von einigen Waffen. Die dazugehörigen Schilder waren individuell gestaltet, jedes ein faszinierendes Unikat mit Symbolwirkung. Als sie sich vorbeugte, um die Stickereien genauer zu betrachten, fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Zu sehen war niemand, aus der Ferne tönten lediglich die Stimmen der anderen Besucher. Nervös schob sich Christine eine rotblonde Haarlocke hinters Ohr und ging langsam weiter. Lachhaft, dachte sie, angesichts dieser Menschenansammlung im Museum. Zügig ging sie in den nächsten Raum.

Bedauerlicherweise können zuweilen selbst imposante Menschenmassen nicht verhindern, was ein einzelner Kopf heimlich plant. Das Letzte, was Christine sah, war eine Fotografie des großen Comanchenhäuptlings Quanah Parker, der in einer beeindruckenden Pose an der Wand prangte. Seine dick mit Otterfell umwickelten Haarzöpfe hingen ihm weit über den Oberkörper, sie schienen direkt auf ihren am Boden liegenden Objektivdeckel zu zeigen. Der Schlag auf den Hinterkopf traf sie in dem Moment, als sie sich bückte.

Sie träumte. Nur so ließ es sich erklären, dass über ihrer Brust ein großes Amulett mit eingelassenen Türkisen baumelte, sobald sie die Augen öffnete. Doch auch mehrfaches Zwinkern änderte nichts an diesem Anblick, und so hielt Christine die Augen endlich ganz offen. Das Gesicht über der Kette gehörte einem Mann in den Dreißigern mit deutlich indianischen Zügen, der seine langen schwarzen Haare locker zurückgebunden hatte. Er schien sehr groß zu sein. Ihr Blick wanderte weiter durch den Raum, fiel auf die Fotografie des Comanchenhäuptlings, und dann wusste sie wieder, wo sie war und wie sie zu Fall gekommen war. Trotz ihres schmerzenden Hinterkopfes richtete sie sich auf und sagte empört: »Was fällt Ihnen ein, mich niederzuschlagen?« Ergänzend suchte sie nach einigen deftigen Worten in Englisch.

Zu ihrer Verwunderung antwortete der Mann in leidlichem Deutsch: »Man hat mehr Zeit, sich bekannt zu machen, wenn jemand so schön vor einem liegt. Mein Name ist Corwin Standing Child. Können Sie aufstehen?«

»Ihr Name ist zwar ungewöhnlich, aber den hätte ich auch im Stehen verstanden«, knurrte Christine und rappelte sich auf, wobei sie die helfende Hand einfach übersah.

Sein Blick war prüfend. »Was suchen Sie hier?«

Was sollte denn diese Frage? »Ich bin Journalistin«, sagte sie.

Corwin Standing Child zog eine Augenbraue hoch, dann zuckte er die Achseln. »Wenn das für Sie ein Grund ist, niedergeschlagen zu werden.«

Christine spürte, wie ihr heiß wurde. Die Arroganz dieses Mannes war nahezu körperlich spürbar, und seine hohe Gestalt milderte diesen Eindruck nicht gerade. Sie bückte sich, um ihre noch immer am Fuße des Bildes liegende Kappe aufzuheben, und dabei wurde ihr etwas schwindelig. Mit der Hand, die den Objektivdeckel hielt, ertastete sie eine ziemlich schnell anschwellende Beule an ihrem Hinterkopf. Dann schraubte sie den Deckel demonstrativ an ihre Kamera.

Corwin Standing Child verblüffte sie, als er besorgt fragte: »Soll ich einen Arzt rufen? Sie sehen ziemlich bleich aus.«

»Ich bin ja auch ein Bleichgesicht«, versuchte sie einen halbherzigen Scherz. Doch er hatte das Gesicht bereits wieder abgewandt, offenbar hatte er ihr überhaupt nicht zugehört. Als sie seiner Blickrichtung folgte, entdeckte sie nun etwas, was tatsächlich den Angriff auf ihre Person erklärte.

Christine zückte geistesgegenwärtig ihre Kamera, um den unglaublichen Anblick sofort festzuhalten. Wo eben noch alte indianische Objekte ordentlich hinter Glas dekoriert waren, sah man jetzt Scherben und lückenhafte Regalböden. Was entwendet worden war, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Ihr Begleiter rief ihr nur warnend zu: »Fassen Sie nichts an und bleiben Sie hier!«, dann eilte er davon. Christine setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl und hoffte, ihre Kollegin Birgit käme vorbei, vielleicht auf der Suche nach ihr. Ihr war fast übel vor Kopfschmerzen. Aber es dauerte nicht lange, und mit eiligen Schritten erschienen Corwin Standing Child, der Museumsleiter Dr. Horn und der Cheyenne-Chief Thomas. Das gutmütige Gesicht des Chiefs hatte sich in ernste Falten gelegt, es passte gar nicht mehr zu dem lässig getragenen langen Cordhemd. Mit der keck in die grauen Haare geschobenen Sonnenbrille glich er nun eher einem Uhu.

Dem Museum war es offensichtlich nicht einmal einen Tag lang gelungen, die Antiquitäten der indianischen Gäste zu schützen, und Herr Dr. Horn sah so aus, als machte ihm genau dieser Gedanke zu schaffen. Mit hochrotem Kopf stand er zwischen den beiden hünenhaften Indianern und nestelte an seiner Armbanduhr. Hinter ihm füllte sich der Raum allmählich mit neugierigen Besuchern, unter ihnen auch Birgit, die Christine auf ihrem Stuhl erstaunt ansah.

»Wissen Sie, was fehlt?« Dr. Horns Stimme klang zittrig.

Es war Corwin Standing Child, der nach kurzem Überlegen antwortete: »Es fehlen Waffen, darunter einige Bowiemesser und ein Zeremonienstab mit dazugehöriger Rassel.« Hier machte er eine Pause und schaute zu Chief Thomas. »Und es fehlt das Geistertanzhemd.«

Etwas in seinem Tonfall ließ Christine aufhorchen, doch Birgit erklärte beinahe enttäuscht: »Das sind ja nun nicht gerade die wertvollsten Dinge der Ausstellung. Was soll denn das?«

Eine Antwort bekam sie nicht.

Christine folgte Herrn Dr. Horn und Corwin Standing Child, die nun zur Information eilten. In der großen Eingangshalle des Museums kamen weitere Besucher auf sie zu und stellten Fragen. Doch der verstörte Schrei einer jungen Dame brachte alle gleichzeitig zum Verstummen. In die gespenstische Stille hinein hörte man nur noch die Schritte von Dr. Horn. An der Information, direkt vor dem grauen Telefon, saß die Frau, die noch vor zwei Stunden allen Gästen freundlich zugenickt hatte. Sie rührte sich nicht, die Augen waren starr aufgerissen und ihr Oberkörper blutüberströmt. Das Rot bildete einen makaberen Kontrast zum Grün ihrer Bluse. Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

Das Chaos war perfekt. Mehr Schlagzeilen konnte eine Ausstellungseröffnung kaum erreichen.

»Warum hat der Täter die eine Frau nur niedergeschlagen, die andere aber brutal erstochen?« Diese für Christine recht unbehagliche Überlegung stellte Hauptkommissar Delbrock in den Raum, der in all seiner beeindruckenden Leibesfülle inzwischen am Tatort erschienen war.

Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Glauben Sie denn, der Diebstahl hängt mit dem Mord zusammen?«

Der Hauptkommissar ließ sich neben ihr in eine der Sitzgruppen in der Eingangshalle des Museums sinken und zog sich mit langsamen Bewegungen die Schuhe aus. Während er seine Waden massierte, antwortete er: »Ich bin zwar wenig bewandert in historischer Waffenkunde, aber ich gehe stark davon aus, dass das alte Messer, das jemand so vorsichtig in den Schoß der Toten gelegt hat, erstens die Tatwaffe und zweitens eins der gestohlenen Messer aus dem Schaukasten ist.«

Stille herrschte. Alle Blicke wanderten widerwillig hinüber zu der Toten, die noch genauso dasaß wie zuvor und bis zum Eintreffen der Spurensicherung nicht angerührt werden durfte. Christine sah, dass Standing Child anerkennend nickte. Ihm war das Messer also auch aufgefallen.

»Sind die Eingänge während der Führung offen oder verschlossen gewesen?« Delbrock nahm seine Arbeit auf, während er beinahe gemütlich an einem eilig bereitgestellten Cappuccino nippte. Seine ursprünglich braunen, mittlerweile aber vorwiegend grauen Haare standen kurz und borstig in alle Richtungen ab. Statt zu dem gelassenen, wohlbeleibten Ermittler hätte diese Frisur besser zu einem wilden Kämpfer gepasst, der den Mörder mit dem Schwert in der Hand herausforderte.

Es verstand sich von selbst, dass keiner der Besucher das Museum verlassen durfte, ehe nicht die notwendigen Befragungen abgeschlossen und alle Spuren gesichert waren.

Herr Dr. Horn erklärte mit dünner Stimme, wobei er seine Brille immer wieder mit einem grünen Stofftaschentuch putzte: »Nein, die Türen waren für eventuelle Nachzügler offen. Damit nur geladene Gäste eintreten können, blieb Frau Auerbach an der Information. O mein Gott, hätte ich doch nur …« Er wischte sich fahrig über die Stirn. Mit kalten Augen sah Chief Thomas an ihm herab, und Christine fühlte plötzlich etwas Fremdes, Bedrohliches zwischen den indianischen Gästen und den deutschen Gastgebern.

»Was ist Ihnen aufgefallen, Frau Neustedt?«, wandte sich der Hauptkommissar schließlich an Christine.

»Die Indianermädchen sahen so traurig aus«, sagte sie spontan und hätte sich danach am liebsten auf die Zunge gebissen, so kindisch fühlte sie sich bei ihrer Antwort. »Nein, mir ist nichts aufgefallen. Ich bin an einigen Besuchern vorbeigegangen, hatte aber nicht den Eindruck, dass noch jemand außer mir in dem Raum mit den Schaukästen war.«

»Wissen Sie, warum dieser Standing Child so schnell bei Ihnen am Tatort war?«

»War er schnell da? Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war.«

»Wahrscheinlich haben Sie den Täter beim Diebstahl der Antiquitäten überrascht. Sie hatten entweder mehr Glück als Frau Auerbach oder ein hübscheres Lächeln«, sagte der Kommissar nachdenklich, doch sein Gesicht war noch immer in ernste Sorgenfalten gelegt. »Aber wahrscheinlich hat er Sie verschont, weil Sie ihn noch nicht bemerkt hatten. Wer weiß …«, der Hauptkommissar zuckte mit den Achseln und zog beide Augenbrauen hoch, »… ein paar Sekunden später, und Ihre Karriere als Journalistin hätte ein dramatisches Ende gefunden.«

»Diese Karriere muss erst mal ihren Anfang finden«, erwiderte Christine trocken. Sie wünschte, er würde ihr nicht so drastisch aufzeigen, was ihr an diesem Tage noch hätte passieren können.

Anschließend wurde auch Corwin Standing Child eingehend befragt, schließlich war er nach Christine als Erster am Tatort gewesen. Nur zu gerne hätte sie mitgehört, was der Indianer dem Hauptkommissar im Einzelnen erzählte, aber selbstverständlich führte der Beamte die nachfolgenden Gespräche leise und mit einem respektvollen Abstand zu den übrigen Besuchern. Von denen verteilten sich einige in der Eingangshalle, andere zogen es vor, sich auf die Galerie des Museumscafés zu begeben. Von dort hatte man wenigstens einen guten Überblick über den gesamten Eingangsbereich.

Trotz aller Gemütlichkeit, die Delbrock bei seinen Vernehmungen ausstrahlte, ging doch alles recht zügig voran. Gegen achtzehn Uhr dreißig radelten Birgit und Christine langsam nach Hause.

Birgit wollte sie nur ungern allein lassen, doch Christine wehrte müde ab. Sie hatte nun wirklich keine Lust mehr auf weitere Gespräche, auch wenn ihre Freundin, wie sie aus Erfahrung wusste, sehr viel Verständnis für gescheiterte Beziehungen und unglücklich verlaufene Tage aufbringen konnte.

Birgit war zehn Jahre älter und fast zwanzig Kilo schwerer als Christine. Doch wenn man mal von der Fitness absah, so kannte Christine niemand anderen, der eine derart natürliche Grazie besaß. Birgit bewegte sich so geschmeidig wie eine Sambatänzerin und benutzte beim Reden ihre zarten Hände wie ein Dirigent, der Poesie vertont. Leider verliebte sie sich immer in Musiker, Künstler oder Exoten aus fernen Ländern, die ihre Vorstellungen von einer stabilen, gleichberechtigten Beziehung in keiner Weise teilten.

Die Ereignisse im Museum waren zwar nicht mit einer üblichen Ausstellungseröffnung zu vergleichen, aber für die Zeitungen war das natürlich umso interessanter. Nur weil ein Teil ihres Gehirns offenbar recht unempfindlich war und professionell funktionierte, bekam Christine die nötigen Artikel für ihre Redaktion pünktlich fertig. Danach jedoch verspürte sie eine Erschöpfung, die es ihr beinahe unmöglich machte, vom Sofa ins Bett zu wechseln. Jede noch so kleine Bewegung verursachte ein anhaltendes Pochen im Kopf, es fühlte sich an wie eine heftig arbeitende Pumpe, die stetig Druck aufbaut, diesen aber nicht mehr ablassen kann. Ihr linkes Knie tat weh – wahrscheinlich war sie beim Sturz daraufgefallen –, und ihre Augen brannten.

Im Bett dachte sie an die Ereignisse des Tages. War es wirklich Liebe, was sie für Achim empfunden hatte, wenn ihr bereits jetzt schon die Beziehung zu dem jungen Arzt so entfernt schien wie ein Jahre zurückliegender Urlaub? Oder drängten sich nur die aktuellen Aufregungen so sehr in den Vordergrund? Sie dachte an Corwin Standing Child und an den sympathischen Chief Thomas. Beide gemeinsam hatten ihr erklärt, warum das gestohlene Lederhemd, ein sogenanntes Geistertanzhemd von 1890, so überaus wertvoll für die Indianer war. Christine erinnerte sich.

Chief Thomas mischte deutsche Wörter in seine Erklärungen, sprach aber meist ein langsames Amerikanisch. »Es ist das Geistertanzhemd von Sitting Bull. Er hat es kurz vor seinem Tod getragen, und seine Kraft steckt in diesem Hemd.« Ein kurzes Nicken begleitete diese Feststellung.

Corwin Standing Child schaltete sich ein und ergänzte: »Der Geistertanz entstand in einer Zeit des großen Elends als religiöser Krisenkult. Ein Seher und Prophet der Paviotso-Indianer sah diesen Tanz in einer Vision. Darin wurde ihm offenbart, dass die Indianer bald wieder wie früher leben könnten, da alle Weißen bald verschwänden und die toten Indianer zurückkehrten. Der Geistertanz sollte durch tagelanges rhythmisches Tanzen bis zur Trance die beiden Welten der Lebenden und der Toten miteinander verschmelzen.«

Corwin Standing Child blickte Christine kurz in die Augen, als suchte er nach einer Reaktion auf seine Worte. Dann sprach er weiter: »Die erste Geistertanzbewegung verbreitete sich Ende der 1860er Jahre von Nevada aus bis nach Kalifornien und Oregon und löste damit zahlreiche religiöse Bewegungen aus. Sie endete 1872, als ihr Initiator Wodzivob die Idee widerrief und die Tänze ohnehin erfolglos geblieben waren. Aber zwanzig Jahre später gab es eine zweite Geistertanzbewegung, und erneut war es ein schamanischer Paviotso, der sie wiederbelebte. Tote und lebende Indianer würden sich vereinigen, die riesigen Büffel- und Pferdeherden wiederkehren, Tod, Unglück und Elend von den Indianern weichen. Diese zweite Bewegung währte länger und verbreitete sich wesentlich weiter, sodass nun auch die Stämme der Plains und des Südwestens davon erfasst wurden. Dabei passte sich der Geistertanz den jeweiligen Stammesmythen an. Aber auch dieses Mal fand die Bewegung ein abruptes und leider sehr brutales Ende.«

Auf eine leichte Handbewegung des Chiefs hin unterbrach Standing Child seinen Bericht und überließ dem Älteren das Wort.

Chief Thomas klang plötzlich viel leiser, trauriger: »Zahlreiche Indianerstämme lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen, Familienverbände befanden sich in Auflösung, und berühmte Häuptlinge waren ermordet worden. Daher fiel die Idee des Geistertanzes auf fruchtbaren Boden. Sie verbreitete sich rasch, und der Gedanke an Widerstand gegen die Weißen kam auf. Viele Tänzer trugen stark bemalte Geistertanzhemden, die angeblich unverwundbar gegen die Kugeln der Weißen machten. Es hieß, durch den Geistertanz würden die Eindringlinge verschwinden. Als der Geistertanz 1890 in die Reservationen gelangte, die den Lakota-Indianern zugeteilt worden waren, und von vielen angesehenen Häuptlingen, wie zum Beispiel Sitting Bull, aufgegriffen wurde, kam es zu Spannungen. Die zuständigen Behörden sahen in dem Geistertanz einen Aufruf zum Widerstand und versuchten, durch Zwangsmaßnahmen die Kontrolle zu behalten. Die Auseinandersetzungen verschärften sich, und man verlangte von Sitting Bull, in seiner Position als Häuptling den Geistertanz zu verbieten. Er verweigerte dies mit kriegerischen Worten. Am 15. Dezember 1890 wurde er verhaftet und starb dabei durch die Kugel eines Indianersergeanten, weil einige seiner treuen Gefährten sich gegen die grobe Behandlung ihres alten Häuptlings wehrten.«

Christine konnte den alten Häuptling geradezu vor sich sehen, wie er tödlich getroffen in die Arme eines Freundes stürzte, nicht ahnend, dass er später eine Legende werden sollte.

»Etwa zwei Wochen später kam es dann zu dem Massaker von Wounded Knee, bei dem viele geflohene Geistertänzer und Reservationsindianer von der 7. Kavallerie gestellt wurden und ein zufällig gelöster Schuss zum wahllosen Abschlachten von Männern, Frauen und Kindern durch die Kavalleristen führte.« Chief Thomas schwieg und wandte sich dann ab.

Christine erinnerte sich noch gut an das Foto eines steif gefrorenen Indianers nach dem Wounded-Knee-Massaker in ihrem Englischbuch. Doch erst jetzt begriff sie wirklich, was damals geschehen war.

Natürlich war das aus dem Museum gestohlene Hemd damit für die Prärie-Indianer von unschätzbarem Wert.

Als Christine schließlich um Viertel nach elf das Licht löschte, starrte eine dunkle Gestalt zu ihrem Fenster hinauf. Trotz des schönen Sonnenwetters tagsüber waren die Nächte im April noch empfindlich kalt, und der Mann hatte die Arme eng um den Körper geschlungen, während er Stunde um Stunde ausharrte. Um halb vier Uhr morgens eilte er schließlich davon, wobei seine langen dunklen Haare fast widerstrebend hinter ihm herwehten, so als wollten sie diesen Posten noch nicht verlassen.

Am nächsten Tag ging es Christine schlecht. Allerdings litt sie nicht an einer Nachwirkung des Schlags auf den Hinterkopf, die Beule schmerzte nur noch, wenn sie fest darüberstrich, sondern sie litt an einer Mischung aus Missmut, Verletzbarkeit und Langeweile. Vor allem Langeweile. Die Zukunft schien ihr leer. Sie hatte immer geglaubt, nach Achims Facharztprüfung im Herbst würden sie zusammenziehen, heiraten und vielleicht irgendwann Kinder bekommen. Sie war neunundzwanzig Jahre alt. Mit der alleinigen Rolle einer Arztgattin und Mutter wäre sie sicher nicht zufrieden, doch sie arbeitete bereits jetzt viel zu Hause, und ihre Arbeit ließ sich mit der Gründung einer Familie gut vereinbaren.

Nun, die aktuelle Realität sah anders aus. Nach einem trübseligen Vormittag, an dem sie einen Kaffee nach dem anderen trank und zum wiederholtem Male Ozzy Osbournes »Dreamer« abspielte, musste sie sich eingestehen, dass sie Achim selbst nicht sonderlich nachtrauerte und sich schon gar nicht vor Liebe nach ihm verzehrte. Was sie vermisste, war die klare Lebensplanung und die Sicherheit, die Achim verkörpert hatte. Eine Erkenntnis, die einen gewissen Trost in sich trug. Vielleicht hatte Achim Christine gerade vor etwas bewahrt, was sie beide nicht glücklich gemacht hätte. Um dem Tag nun endlich eine Richtung zu geben, holte Christine ihre Post, um einige Rechnungen zu überweisen.

Ihre Wohnung in der dritten Etage eines schönen Altbaus befand sich im sogenannten Kreuzviertel von Münster, nicht weit von der Promenade entfernt. Die Promenade zog sich wie ein Ring um Münsters Innenstadt und trennte die schöne Altstadt von den umliegenden Stadtteilen. Sie wurde im 18. Jahrhundert anstelle der Stadtbefestigung angelegt und war mit den baumgesäumten Wegen ein idealer Ort zum Spazierengehen. Alle Straßen, die aus der Innenstadt herausführten, kreuzten die Promenade dort, wo früher die Stadttore gestanden hatten.

Heute spürte sie aufgrund der Kopfverletzung auf dem Weg nach unten jede einzelne Stufe. Ein großer brauner Umschlag hing sperrig aus ihrem Briefkasten im Hausflur, und sie zog ihn als Erstes heraus. Ihr Name stand in großen, wie gemalt wirkenden Druckbuchstaben darauf. Der Brief war offenbar persönlich eingeworfen worden, so etwas wie Adresse, Absender oder Briefmarke gab es nicht. Hastig riss sie das braune Papier auf und zog zwei mit dem Computer geschriebene Seiten heraus. Es handelte sich um einen englischen Artikel über die Peyote-Religion, von der sie noch nie gehört hatte. Der Artikel musste aus dem Internet heruntergeladen worden sein, denn sie konnte am unteren Ende die Adresse erkennen.

Ganz oben auf der ersten Seite hatte jemand einen Satz in einer anderen Schrifttype ergänzt. An sie persönlich gerichtet und in deutscher Sprache stand dort: Schreiben Sie darüber Ihren nächsten Bericht für die Zeitung.

Als sie die zweite Seite ansah, erstarrte sie vor Entsetzen. Sie zeigte die Kopie eines blassen Schwarz-Weiß-Fotos, auf dem eine Rassel und ein perlenverzierter Stab zu sehen waren. Beide Gegenstände waren laut Corwin Standing Child aus der Vitrine des Museums verschwunden. In Christines Kopf pochte es plötzlich dreimal so stark, und sie fragte sich, ob der Indianer ihr diesen Artikel in den Briefkasten geworfen hatte. Eigentlich fand sie nicht, dass ein so anonymes Vorgehen zu dem Cheyenne mit dem intensiven Blick passte.

Achtlos nahm sie die übrige Post aus dem Fach und eilte die Treppe hoch. Oben in der Wohnung griff sie zum Telefon, um ihre Kollegin Birgit anzurufen, als es gerade schellte. Christine meldete sich nach dem zweiten Klingeln und wünschte fünf Sekunden später, sie hätte es nicht getan.

»Hallo, Mama, wie geht es dir?«

»Es ginge mir besser, wenn du dich mal melden würdest.« Noch vorwurfsvoller als der Satz selbst klang die Stimme ihrer Mutter.

»Tut mir leid, Mama, ich habe zurzeit viel um die Ohren und –«

»Ein Telefonat zwischendurch ist wohl kaum so zeitraubend. Keine Ausreden bitte, das demütigt mich. Ich wollte dich und Achim für morgen zum Mittagessen einladen.«

Da Christine weder feige noch sonderlich diplomatisch war, antwortete sie direkt: »Das wird nicht funktionieren, Mama. Achim und ich haben uns getrennt.«

Die Antwort von Constanze Neustedt kam ebenso spontan. »Was soll der Unsinn, Christine. Für wie lange?«

Ihre Tochter schnaubte empört. »Für immer. Ich bin solo, wieder zu haben, ein Single – such dir was aus.«

Ihre Mutter gab sich noch nicht geschlagen. »Nun, so schlimm wird es hoffentlich nicht sein. Wie wäre es, wenn ihr gemeinsam kommt, und wir reden über das Problem. Passt euch zwölf Uhr?«

Wenn man nicht zu den Leidtragenden gehörte, hätte man die Ignoranz ihrer Mutter direkt bewundern können. Da Geduld ebenfalls nicht Christines Stärke war, rief sie: »Du kannst Achim gerne zum Essen einladen, damit er sich bei dir von seiner anstrengenden Tätigkeit als Assistenzarzt ausruht. Ich werde gemeinsam mit ihm nirgendwo mehr hingehen, schönen Sonntag.« Damit knallte sie das Gerät auf die Ladestation.

Mit einem Blick auf die Uhr lachte sie auf. Siebzig Sekunden, kein schlechter Schnitt für ein Telefonat mit ihrer Mutter über ein heikles Thema. Sie wusste, dass es jeden Moment wieder klingeln würde. Doch dieses Mal überraschte Frau Neustedt ihre Tochter. Sie rief nicht zurück.

Christine lief in ihrer Wohnung hin und her wie ein Hund in einem fremden Garten. Schließlich setzte sie sich an ihren Sekretär, ein altes Erbstück ihrer Patentante.

Sie nahm sich den zugesandten Artikel über die Peyote-Religion vor und versuchte, dessen Inhalt zu ergründen. Für die Übersetzung brauchte sie sehr lange, da ihr zahlreiche Vokabeln völlig unbekannt waren. Der Text handelte von einer Religion, die um 1870 bei den Prärie-Indianern entstanden war. Sie vereinbarte offenbar heidnische Zeremonien mit christlichen Gedanken, wie dem Glauben an einen großen Geist, der Gott entsprach. Auch Jesus wurde als Held verehrt, als Fürsprecher und spiritueller Hüter der Menschheit. Christine dachte, dass ein Volk, bei dem Geister und Spiritualität immer schon zum alltäglichen Leben gehörten, der christlichen Lehre gegenüber wahrscheinlich viel aufgeschlossener war als viele Menschen hierzulande, für die Religion in ihrem Alltag eine sehr viel geringere Bedeutung hatte. Viele lehnten ohnehin jede Art von Religion und Spiritualität ab; Engel, Wunder und spontane Heilungen mussten sich einer rationalen Beweisführung unterziehen, der sie eigentlich nicht standhalten konnten. Daher wurde der Glaube daran oft belächelt.

Christine rieb sich müde die Augen. Es war mittlerweile kurz vor sechs. Warum nur war ihr dieser Bericht zugestellt worden? Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenfahren.

»Hi, Chris, hier ist Birgit. Konntest du gestern gut schlafen?« Sie wartete die Antwort gar nicht ab, sondern fuhr mit dem ihr eigenen Enthusiasmus fort: »Ich bin heute mit einigen der indianischen Künstler im ›Fegefeuer‹ verabredet. Du musst unbedingt mitkommen, dann können wir die gestrigen Ereignisse ausgiebig bereden.«

Es war geradezu unheimlich, wie schnell Birgit Kontakt zu fremden Leuten und vor allem zu fremden Kulturen bekam.

»Das ›Fegefeuer‹ ist doch deine Idee, oder?«, fragte Christine.

Birgit lachte leise. »Findest du diese Lokalität zu bizarr für unsere Gäste aus dem fernen Westen?«

Christine fuhr sich müde durchs Haar. »Und wenn schon. Ich habe übrigens einen merkwürdigen Brief bekommen.«

Sie erzählte Birgit in wenigen Worten von dem Artikel. Ihre Kollegin reagierte als Journalistin. »So eine kleine Serie über historische Fakten, die die aktuelle Ausstellung unterstützen, finde ich gut. Sprich mal mit Jörg darüber. Ist doch klasse, wenn dich jemand mit Informationen füttert.«

Christine wusste, dass Jörg, ihr Chefredakteur, für eigene Ideen seiner Mitarbeiter immer Platz schaffte, wenn sie gut waren. Bekam er allerdings den Eindruck, dass jemand die Zeitung für eigene Ziele oder einen persönlichen Seelenstriptease missbrauchte, schaltete er auf stur.

Als sie die nächste Frage stellte, erschrak sie selbst. »Und wenn es der Mörder ist, der auf diese Weise der Öffentlichkeit etwas mitteilen möchte?«

Am anderen Ende der Leitung wurde es kurz still, dann sagte Birgit: »Pass auf, Chris, komm heute Abend und bring den Artikel mit. Mal schauen, was unsere Amerikaner dazu sagen. Möglich, dass einer von ihnen die Idee hatte, dir Informationen zu schicken. Den Hauptkommissar kannst du dann immer noch informieren.«

Christine überlegte kurz. Sie traute sich nicht zu fragen, ob Corwin Standing Child und der Chief ebenfalls kommen würden, und ärgerte sich, dass sie überhaupt darüber nachdachte.

Es war bereits dunkel, als Christine ihr Fahrrad vor dem »Fegefeuer« abstellte und sorgfältig verschloss. Münster war die Fahrradstadt Nordrhein-Westfalens und die Anzahl der täglich gestohlenen Räder beeindruckend.

Sie betrat das Mittelalterlokal in dem Augenblick, als gerade ein Taxi vorfuhr. Ihr Blick fiel als Erstes auf die etwas unheilvoll wirkenden Kapuzenmänner, die am Eingang der Taverne standen, jeder mit einer Art Sense in der Hand. Keiner wunderte sich hier über die altertümliche Kleidung der Bedienung, sie war so selbstverständlich wie die brettähnliche Speisekarte in gotischer Schrift. Glöckchen an den Füßen klingelten bei jedem Schritt der Kellnerin. Christine liebte diese Kneipe, weil sie eine andere Zeit verkörperte. Hier konnte man den Alltag vergessen und leckere Speisen und Getränke genießen.

Birgit und ihre Begleiter saßen an einem relativ großen Tisch auf der Empore. Mit leiser Enttäuschung bemerkte Christine sofort, dass Corwin Standing Child sich nicht unter den Gästen befand. Auch der Chief fehlte. Birgit winkte sie zu sich und stellte ihr die Anwesenden vor. Marie Ann Johnston, eine sehr schöne Frau mit feinen Gesichtszügen und langen schwarzen Haaren, reichte ihr förmlich die Hand, verzog aber nur kurz den Mund zu einem Lächeln. Christine wusste, welche Bilder von Marie Ann stammten, da sie lange davorgestanden hatte. Es waren Collagen, aus verschiedensten Materialien zusammengesetzte Kunstwerke, die in erster Linie von Krieg und Zerstörung erzählten. Sie schien mit Ende zwanzig die Jüngste in der Runde zu sein.

Als Nächstem reichte sie David Ironheart Seidel die Hand, der die ihre gleich mit beiden Händen umfasste. David war ein Sioux Anfang vierzig, seine leuchtenden schwarzen Augen gaben seinem charmanten Lächeln etwas Bestechendes. Seine überaus plakativ gemalten Bilder hatten Christine erstaunt. Sie waren in schönen, warmen Farben nach Art der naiven Malerei gemalt und zeigten typische indianische Motive, Tipis und Indianer, wie man sie aus den Büchern Karl Mays zu kennen glaubte.

Etwas hausbacken wirkte dagegen Lucie St. Jones, die neben ihm und Birgit saß. Sie nickte Christine zu und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Lucie war eine der erfolgreichsten Künstlerinnen unter ihren indianischen Kollegen, wie David mit einem Zwinkern erklärte. Sie war in den Dreißigern, hatte einen etwas gedrungenen, kräftigen Körperbau und kurze, gewellte und sehr schwarze Haare.

Christine wollte sich gerade zu Birgit auf die Bank setzen, als sie von hinten angesprochen wurde: »Schaffen Sie meine Begrüßung diesmal im Stehen, oder soll ich noch warten?« Abrupt drehte sie sich um und hätte dabei beinahe einen Krug vom Tisch gefegt. Corwin Standing Child streckte ihr mit einem amüsierten Blitzen in den dunklen Augen seine Hand hin.

»Sie werden erstaunt sein, wie viel ich aushalte, wenn ich nicht niedergeschlagen werde«, erwiderte sie schnell.

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zwischen Marie und David, der ihn mit einem kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter begrüßte.

Christine hielt sich zunächst zurück, denn sie wusste nicht recht, wie sie das Gespräch auf den mysteriösen Brief lenken sollte. Die Unterhaltung fand teilweise auf Deutsch, vorwiegend aber auf Englisch statt, doch die meisten sprachen langsam und betont deutlich, sodass Birgit oder Corwin Standing Child nur wenig übersetzen mussten. Natürlich waren der Raub und der Mord am gestrigen Tag das zentrale Thema. Lucie meinte: »Es war sicher kein Mord, bei dem es um persönliche Bereicherung ging, schließlich hat der Mörder das alte Messer sogar am Tatort zurückgelassen.«

»Was glaubst du, Lucie, war es ein Indianer oder ein Weißer?«, fragte Birgit.

Lucie lachte. »Ich glaube, im Beisein zweier Journalistinnen sollte ich mit Mutmaßungen vorsichtig sein.« Sie wurde ernst. »Es war offenbar jemand, der sich sehr gut mit indianischer Geschichte und ihren Ritualen auskennt. Er hat nicht ohne Grund diesen Schaukasten ausgewählt.« Dabei sah sie erst Birgit und dann Christine an. Diese nagte an ihrer Unterlippe und holte schließlich entschlossen den Brief über die Peyote-Religion aus ihrem Lederrucksack. »Ich habe heute Morgen einen merkwürdigen Brief bekommen. Allerdings habe ich nicht alles verstanden, was darin steht. Vielleicht hat einer von Ihnen eine Erklärung dafür?« Als sie in das fragende Gesicht von Corwin Standing Child blickte und seine beunruhigte Miene sah, begriff sie plötzlich, dass der Mann, der die Gegenstände entwendet und sie niedergeschlagen hatte, ihr auch den Brief geschickt haben musste. Einen fürchterlichen Augenblick lang war ihr, als müsste sie ersticken, als drückte ihr jemand in der Magengegend die Luft weg. Der Mörder kannte ihre Wohnung und wollte etwas von ihr!

Zögerlich reichte sie den Umschlag an Corwin Standing Child weiter und war mit einem Male besorgt, sie könnte den Urheber damit verärgern.

Der Cheyenne überflog den Brief rasch und sagte dann mit ernster Miene zu Lucie, wobei er ihr das Schreiben hinhielt: »Du hast die Lage richtig eingeschätzt. Sei vorsichtig, es reicht, dass wir beide ihn bereits angefasst haben.« An Christine gewandt sagte er mahnend: »Sie müssen den Brief unbedingt der Polizei übergeben. Es ist unwahrscheinlich, aber vielleicht finden sich doch noch Fingerabdrücke oder andere Spuren. Der Absender könnte durchaus der Mörder sein.«

Christine starrte auf seine Hände, die den Brief schließlich wieder geschickt in den Umschlag zurücksteckten und ihr zurückgaben.

»Warum ich?«, fragte sie. »Warum schickt er mir diesen Bericht? Ich habe keine Ahnung von indianischer Geschichte und indianischen Religionen.«

Marie Ann meinte trocken: »Vielleicht will der Absender das ändern.«

Stirnrunzelnd warf Lucie ihr einen Blick zu und antwortete Christine: »Nun, wahrscheinlich hat er heute Morgen Ihren Artikel über das Geistertanzhemd gelesen, und nun versucht er, Ihre Zeitung als Sprachrohr zu benutzen. Außerdem gehe ich davon aus, dass Sie ihm bereits bei der Ausstellung aufgefallen sind, sonst hätte er den Brief an die Redaktion Ihrer Zeitung geschickt und nicht Ihnen persönlich. Vielleicht schickt er noch weitere Informationen, wenn Sie das drucken lassen. So könnten Sie in Erfahrung bringen, was er eigentlich will.«

Christine versuchte einen Scherz. »Dann sollte er die nächste Information bitte mit Übersetzung liefern, ich habe Stunden damit zugebracht.«

Birgit fand die ganze Idee offensichtlich absurd. »Das kommt gar nicht in Frage, Chris, du kannst dir deine Zeitungsartikel doch nicht von einem Mörder diktieren lassen. Irgendwann steht er vor deiner Tür und will sie vorher Korrektur lesen. Das ist viel zu gefährlich.«

Christine fühlte sich unbehaglich, als alle sie anstarrten.

Corwin Standing Child fuhr mit dem Finger über das eingravierte Ritterzeichen auf seinem Krug und sagte langsam: »Vielleicht ist es noch gefährlicher, seine Anweisungen nicht zu befolgen.« Dann schaute er Christine an und fuhr fort: »Morgen sollte dieser Hauptkommissar von dem Schreiben erfahren. Ich werde Sie dorthin begleiten.«

Birgit schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber doch und winkte der Kellnerin, um sich einen weiteren Wein zu bestellen. Christine hielt sich noch an ihrem ersten Becher Schlehenwein fest. Sie liebte diese fruchtig-herbe Spezialität des »Fegefeuers«, heute setzte ihr der Wein jedoch zu. Ihre Wangen glühten, und der leicht pochende Kopfschmerz setzte allmählich wieder ein. Ihr fiel plötzlich auf, dass David von den Indianern der Einzige war, der Alkohol trank. Die anderen hielten sich an die zahlreichen Säfte auf der Getränkekarte.

Es war bereits kurz vor zwölf, und das Lokal hatte sich geleert, als Corwin Standing Child schließlich Aufbruchstimmung verbreitete. Zu Christine sagte er: »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Mit Ihrer Kopfverletzung sollten Sie es nicht übertreiben.« Er winkte der Kellnerin.

Christine verzog das Gesicht. »Wissen Sie, das hören wir Frauen wirklich gerne, wenn man uns sagt, wie ramponiert wir ausschauen.« Er zog eine Augenbraue hoch und musterte sie so kritisch, als wollte er seine Aussage noch mal bestätigen. Dann wandte er sich stumm ab. Christine schnaubte. Da sie lange Abschiedszeremonien ohnehin nicht leiden konnte, zahlte sie als Erste, winkte in die Runde und ging zum Ausgang. Draußen löste sie gerade ihr Fahrradschloss, als die anderen ins Freie traten. Es war windig und empfindlich kalt geworden. So löste sich die Gruppe um Birgit ebenfalls schnell auf. Christine überlegte, wo die indianischen Gäste eigentlich untergekommen waren und wie lange sie noch in Münster bleiben würden. Birgit winkte ihr fröhlich zu und stieg zusammen mit Lucie und Marie Ann in ihren dunkelblauen Wagen. Ihre Kollegin wusste also, wo sie wohnten. Christine saß noch nicht ganz auf dem Rad, als sich eine dunkle Hand auf ihren Lenker legte.