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Edith Hessenberger

Alte Neue TelferInnen

 

 

 

 

 

STUDIEN ZU GESCHICHTE UND POLITIK

Band 18

herausgegeben von Horst Schreiber

Michael-Gaismair-Gesellschaft

www.gaismair-gesellschaft.at

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Edith Hessenberger

Alte Neue TelferInnen

Migrationsgeschichten und biografische Erinnerungen

mit Fotografien von Michael Haupt, Gedichten von Ulrike Sarcletti und einem historischen Beitrag von Stefan Dietrich

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Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5778-8

Umschlag: hoeretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol

Inhalt

Vorwort

Zur Telfer Migrationsgeschichte und der Bedeutung ihrer Dokumentation

Ein migrationsgeschichtlicher Streifzug durch Telfs (Stefan Dietrich)

Telfer Migrationsgeschichten – das Interviewprojekt

Mathilde Raich

Alfons Kaufmann

Jytte Klieber

Grete Jakob

Mehmet und Eşe Sahan

Cajse-Marie Schediwetz

Margit Fischer

Franz Grillhösl

Temel Demir

Ibrahim Kalin

Bayram Altin

Anne Marie Perus

Judy Kapferer

Siddik Tekcan

Bernadette Katzlinger

Kristian Tabakov

Zoran Tanaskovic

Kasim und Snjezana Bajric

Refika Kovacevic

Gülseli Sahan

Biografien in Bewegung

Türkischer Kaffee und Brettljause – Der Versuch einer behutsamen fotografischen Annäherung (Michael Haupt)

Literaturverzeichnis

Bildbeschreibungen

Vorwort

Wer sind die TelferInnen?

Weggehen. Ankommen. Altes zurücklassen. Neues gewinnen. Diese Erfahrungen sind essentieller Bestandteil menschlichen Lebens. Unsere Identitäten bestehen aus unzähligen Puzzlesteinen. Und tausende dieser Identitäten zusammen machen TELFS aus. Schwer zu sagen: Was ist heute telferisch?

Aber auch vor Jahrhunderten: Was war einst telferisch? Telfs ist seit Menschengedenken geprägt durch sich kreuzende Verkehrsachsen, Migration ist seit Jahrhunderten für „Einheimische“ eine alltägliche Erfahrung – bis heute sind in diesem Zusammenhang besonders die Schwabenkinder, die Tiroler Wanderhändler oder auch die Laninger im Gedächtnis geblieben.

Im 19. Jhd. kamen Menschen, um in der noch jungen Telfer Textilindustrie zu arbeiten, ab 1960 erzeugte der Wirtschaftsaufschwung ein Vakuum an Arbeitskräften. Menschen wurden – u. a. im Rahmen des türkisch-österreichischen Anwerbeabkommens 1964 – aus dem Ausland als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Österreich gerufen, viele von ihnen sind geblieben.

Heute leben rund 16.000 Menschen aus 84 Nationen in Telfs, fast drei Mal so viele wie vor 50 Jahren.1 Zu den vermeintlich „Einheimischen“ sind „Zweiheimische“ oder gar „Dreiheimische“ gestoßen – und viele von ihnen nennen Telfs ganz klar HEIMAT. Die Heterogenität der Bevölkerung wird häufig als Herausforderung betrachtet, dabei ist sie auch Ressource. Sie birgt eine Vielfalt an Erfahrungen, an Wissen – und an Lebensgeschichten.

Mit einem Interviewprojekt hat man es sich zur Aufgabe gemacht, diese Lebensgeschichten „Neuer“ TelferInnen zu sammeln: Erinnerungen und Erfahrungen älterer Menschen, die im Ausland geboren sind und seit Jahrzehnten in Telfs leben, wurden aufgezeichnet. Aus diesen Aufzeichnungen wurden für das vorliegende Buch 20 Erzählungen „Neuer“ TelferInnen ausgewählt. Ihre Lebensgeschichten handeln vom Weggehen, Ankommen und Bleiben, von Erinnerungen an die alte und auch an die neue Heimat. Die Gesichter dieser Menschen sind im Ort vertraut und (alt-)bekannt – sie sind „Alte Neue TelferInnen“.

Das Interview- und Buchprojekt „Alte Neue TelferInnen“, das 2014 auch als Ausstellung zu sehen war, hat sich die Dokumentation von Migrationsbiografien, und damit eines in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentralen demografischen und historischen Phänomens, zum Ziel gesetzt. Seine Bedeutung geht allerdings über die reine Dokumentation hinaus: „Alte Neue TelferInnen“ stellt ein klares Bekenntnis zur Vielfalt in der Bevölkerung dar. Das Projekt ermöglicht Einblicke in persönliche Befindlichkeiten, individuelle Wahrnehmungen, vielfältige Interpretationsräume und Handlungsweisen – ohne sie zu bewerten oder zu kategorisieren. Einerseits thematisieren die Erzählungen demografische und soziale Entwicklungen, die den gesamten mitteleuropäischen Raum betreffen und weit über seine Grenzen hinaus relevant sind. Andererseits wird in den Interviews immer wieder klar auf die (historischen) Entwicklungen der Marktgemeinde Telfs Bezug genommen. Dieses Buch kann somit als regionales Geschichtsbuch ebenso wie als Indikator für unsere gesellschaftliche Entwicklung gelesen werden.

Ein solches Projekt bedarf natürlich starker Unterstützung. Allen voran braucht es Menschen, die ihre Lebensgeschichten, ihre Emotionen, und nicht zuletzt ihre Familien als Referenzen für die Dokumentation der Vielfalt der Telfer Bevölkerung zur Verfügung stellen, und die sich die Zeit nehmen und die Mühe machen, ihre Erinnerungen hervorzuholen und vor einer fremden Person aufzubereiten. Unser Dank gilt daher allen InterviewpartnerInnen mit Familie, die im Zentrum des vorliegenden Buches stehen.

Die Organisation, Durchführung und Dokumentation von lebensgeschichtlichen Interviews, die zeitlich großen Umfang erreichen können, ist keine leichte Aufgabe – daher sei auch dem Interviewer-Team um Edith Hessenberger gedankt: Elisabeth Atzinger, Melek Demirçjoğlu, Michael Haupt, Verena Sauermann, Hannes Schermann.

Dank gebührt einmal mehr drei Menschen für ihre Mitarbeit am vorliegenden Buch: Die Lebensgeschichten der Neuen TelferInnen finden wertvolle Ergänzung durch die Porträts des Fotografen und Kulturschaffenden Michael Haupt. Die Aufnahmen wurden mit viel Liebe und Geduld sowie stets in Absprache mit den InterviewpartnerInnen an deren Lieblingsorten und mit ihren Familien oder FreundInnen durchgeführt.

Stefan Dietrich ergänzt im Buch als leidenschaftlicher Historiker zur Telfer Geschichte und nicht zuletzt als Mitglied im Team der Gemeindechronisten den Beitrag zur historischen Entwicklung der Migration in Telfs.

Ulrike Sarcletti, Telfer Dichterin und Trägerin des „Preises für Künstlerisches Schaffen 2015“ der Stadt Innsbruck verbindet die Buchkapitel gefühlvoll mit sprachlichen und inhaltlichen Elementen aus den Erinnerungserzählungen der „Neuen TelferInnen“.

Unser Dank gilt nicht zuletzt den Sponsoren dieses Buches, namentlich der Abteilung Kultur des Amtes der Tiroler Landesregierung, der Raiffeisenkasse Telfs, der Sparkasse Telfs und der Firma Rudolf Rohowsky, sowie Horst Schreiber, der die Aufnahme des Buches als Band 18 in die Reihe „Tiroler Studien zu Geschichte und Politik“ ermöglicht hat.

Christian Härting,

Bürgermeister der Marktgemeinde Telfs

Edith Hessenberger,

Integrationsbeauftragte und Autorin

 

ankommen

wo?

ohne sprache

wie?

kein tourist

aber

gast

arbeiter

haus

meister

ohne haus

und

irgendwann

angekommen

und da

geblieben

(Ulrike Sarcletti)

 

1    Walter THALER, Wolfgang Pfaundler, Herlinde Menardi: Telfs. Porträt einer Tiroler Marktgemeinde in Texten und Bildern. Band II. Telfs 1988. S.504.

Zur Telfer Migrationsgeschichte und der Bedeutung ihrer Dokumentation

Als Geschichte wird wahrgenommen, was sichtbar ist. Das allgemeine, im öffentlichen Raum abgebildete, zwar konstruierte aber dennoch beharrliche Geschichtsbild prägt das Selbstverständnis einer Bevölkerung maßgeblich. Diese Geschichte wird in Büchern und Museen reproduziert, bei Veranstaltungen und im Rahmen von Traditionen dargestellt, interpretiert und inszeniert.

Das Phänomen der Migration lässt sich allerdings kaum in Form von Denkmälern oder Gebäuden, sondern bestenfalls in Form schriftlicher Hinterlassenschaften oder einzelner Objekte dokumentieren. Es ist eng mit den Biografien der Menschen verbunden, die eine solche Wanderung auf sich genommen haben. Gerade dann, wenn es im Zuge der Migration zur Marginalisierung kommt und Menschen ihre gewohnte soziale Stellung in der Gesellschaft verlieren und gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden, handelt es sich vielfach um weniger angenehme Erfahrungen. Gerne werden die persönlichen Erlebnisse in Zusammenhang mit der eigenen Migration dann versteckt, verdrängt, vergessen. So kommt es mitunter dazu, dass auch das Phänomen der Migration selbst versteckt, verdrängt, vergessen wird. Nur noch an den Namen, vielleicht auch am Äußeren einer Person oder an einem leichten Akzent sind die Spuren einer Reise von dort nach hier erkennbar. Aber in die Geschichtsschreibung geht das Phänomen der Migration, besonders jenes der Zuwanderung während der letzten 50 Jahre, kaum ein. Kaum ist es in Schulbüchern, kaum in wissenschaftlichen Arbeiten, kaum in der regionalen Dokumentation zu finden. Und nur selten wird es als Bestandteil einer regionalen Identität repräsentiert.

Dabei eilt Telfs sein Ruf als Gemeinde mit einem hohen Anteil an MigrantInnen voraus. Sei es wegen des Minaretts, das die islamische Glaubensgemeinschaft 2006 errichtete, oder auch wegen der Sichtbarkeit seiner „Neuen“ EinwohnerInnen, die sich mit ihren Kindern viel auf Spielplätzen aufhalten und manchmal aus religiösen Gründen Kopftücher tragen. Faktum ist, dass in Telfs Menschen aus immerhin 84 Nationen ihren Wohnsitz haben, und die Gemeinde mit einem AusländerInnen-Anteil von 16,89 % über dem Gesamt-Tiroler Schnitt von 13,29 % liegt – was allerdings für einen Zentralort nicht außergewöhnlich ist.1

Die Tatsache, dass die Gemeinde eine besonders heterogene Bevölkerung beheimatet, ist allerdings alles andere als neu. Lange vor dem 2012 errichteten Flüchtlingsheim und auch vor der Zuwanderung durch die erwünschten „GastarbeiterInnen“ seit den 1960ern erlebte Telfs immer wieder starke Zuwanderungsbewegungen. Der Aufschwung der Textilindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts zog viele hundert ArbeiterInnen an, aber auch in den Jahrhunderten zuvor war das Leben in Telfs als einwohnerstärkste Siedlung der Region, als Gerichtssitz, Verkehrsknoten und wichtiger Handels- und Transitort mit kleinstädtischem Charakter seit jeher mit Vielfalt und Migration konfrontiert.2

Die Wanderungsbewegungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind, soweit das retrospektiv möglich war und ist, heute einigermaßen dokumentiert. Zu den Migrationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus und nach Österreich gab es bis vor wenigen Jahren allerdings ungleich weniger schriftliche Dokumente. Sogar der zahlenmäßig umfangreiche Zuzug unter dem Schlagwort der „Gastarbeiterwanderung“ seit den 1960er Jahren blieb bis vor kurzem bar einer gründlichen wissenschaftlichen Dokumentation.3 In vielen Archiven fand die Arbeitsmigration kaum Niederschlag, bzw. wurden die Akten nach einigen Jahren vernichtet, weil sie offenbar für irrelevant gehalten wurden. Lebensgeschichtliche Erzählungen stellen daher – gemeinsam mit der Dokumentation diverser Egodokumente (wie Briefe, Tagebücher, sonstige Aufzeichnungen) – wichtige zeithistorische Zeugnisse dar. Nicht nur die Migrationserfahrung steht im Mittelpunkt des Interesses, häufig erlauben biografische Erzählungen auch Einblicke in das Erleben historischer Krisen (z. B. Jugoslawienkrieg, Kalter Krieg und „Eiserner Vorhang“, Wirtschaftskrisen). Sie stellen einen Puzzlestein in der Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts dar, leisten aber auch einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der Bevölkerung: Die Erzählungen Zugewanderter sowie ihre Egodokumente erlauben einen unbefangeneren Blick auf die Gemeinde und ihre Bevölkerung. Während etwa Migranten aus der Türkei im Zuge ihrer Erinnerungen an die Ankunft in Österreich von engen Betriebsunterkünften und großer sozialer Distanz zur einheimischen Bevölkerung berichten, erinnern sich Migrantinnen aus dem skandinavischen Raum z. B. daran, wie ihnen in den ersten Jahren in Österreich mangelnde Infrastruktur, der übermäßige Alkoholkonsum der Männer oder die stark traditionelle geschlechterspezifische Rollenverteilung auffielen. Das empirische Material eignet sich durchaus zur gesellschaftlichen Reflexion und spiegelt darüber hinaus sehr unterschiedliche Perspektiven wider.

Im Rahmen vieler kleiner und größerer Forschungsprojekte einerseits,4 andererseits im Zuge von Schwerpunktsetzungen mit großer medialer Reichweite seitens großer Museen5 rückt nun auch die Migrationsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den Fokus.

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Ausstellung „Alte Neue Telfer Innen“ im Noaflsaal 2014 [Edith Hessenberger].

Geschichtsforschung als Methode der Sensibilisierung

Das Projekt „Alte Neue TelferInnen“ mit Fokus auf die Telfer Migrationsgeschichte möchte einen Beitrag dazu leisten, die Geschichten der Zugewanderten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr ins Bewusstsein zu rücken. Ereignisse, Perspektiven und Lebenserzählungen von MigrantInnen werden dokumentiert und teilweise öffentlich zugänglich gemacht, um damit Personengruppen in den Fokus zu holen, die bis dato in der Geschichtsschreibung der Marktgemeinde wenig repräsentiert waren. Dies trifft insbesondere auf ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei oder Jugoslawien zu. Das Interviewprojekt hat hier den Anspruch, die gesellschaftlich vielfach defizitäre Wahrnehmung von MigrantInnen und ihres Beitrags zum Zusammenleben aufzuweichen und vielleicht sogar umzukehren. Gerade das Thema der Migration und Integration ist im Zuge politischer Diskussionen stark emotionalisiert.

Da allerdings im Projekt das Phänomen der Migration im Allgemeinen, verbunden mit ihrer Wahrnehmung durch die Betroffenen und die vielfältigen Begleiterscheinungen, im Mittelpunkt steht, endet das Interviewprojekt nicht beim Thema Arbeitsmigration. In den 1950er Jahren waren es vor allem Menschen, die im Rahmen des Optionsabkommens zwischen Hitler und Mussolini nach Tirol migrierten, und die damalige Telfer Bevölkerung mit ihren fremden Gebräuchen und durch ihre zahlenmäßig starke Zuwanderung in die „Südtiroler Siedlung“ durchaus irritierten. Die Migrations- und Integrationserfahrungen dieser Südtiroler OptantInnen sind jenen der ArbeitsmigrantInnen aus den 1970er Jahren in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Aus diesem Grund setzt das Forschungsprojekt bei den ältesten noch Lebenden der Telfer „Zuagroasten“, nämlich den SüdtirolerInnen an.

Doch auch durch das Einbeziehen dieser Gruppe ist längst nicht alles gesagt. Die Mobilität der Gesellschaft, der Wohlstand und seine Begleiterscheinungen wie etwa der Tourismus nahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig zu und bewirkten, dass Menschen aus unterschiedlichsten Regionen und Ländern in (Liebes-) Beziehung traten und so überwiegend aus emotionalen denn aus wirtschaftlichen Gründen nach Telfs kamen. Diese Lebensgeschichten ähneln einander unabhängig vom Herkunftsland insofern, als sich das Gefühl der Vertrautheit durch den „einheimischen“ Partner im Ort mit dem Gefühl der Fremdheit durch die eigene Migrationsgeschichte vermischen.

Im Zentrum des Projekts stehen also lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen, die im Ausland geboren wurden und heute seit mehreren Jahrzehnten in Telfs wohnhaft sind. Ihr Beitrag zum Zusammenleben, einmal ins Rampenlicht gerückt, ist beeindruckend: Die gebürtige Dänin Jytte Klieber hat etwa das System der Hauskrankenpflege in Telfs und den umliegenden Gemeinden aufgebaut, der gebürtige Türke Temel Demir setzte sich für die Infrastruktur der Islamischen Glaubensgemeinschaft ein und bereitete maßgeblich den Boden für den interreligiösen Dialog, der gebürtige Bulgare Kristian Tabakov ist als Musikschullehrer und Musiker aus der Kulturszene nicht mehr wegzudenken, die Tanztherapeutin Judy Kapferer schuf völlig neue Angebote für Frauen, die dazu einluden, sich mit sich selbst und der eigenen Rolle auseinanderzusetzen. Doch die Leistung der Neuen TelferInnen besteht nicht nur in ihrem Beitrag zum öffentlichen Leben. Auch Menschen, die weniger in der Öffentlichkeit stehen, gestalten ihr Umfeld maßgeblich mit: durch ihre frische Perspektive auf das gesellschaftliche Leben, durch ihre verlässliche und qualitätsvolle Arbeit, durch ihre einzigartigen Erfahrungen nicht nur im Rahmen ihrer Migration, und vor allem durch ihr klares Bekenntnis zu Österreich, Tirol und Telfs als Heimat.

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Jytte Klieber beim Blutdruckmessen in der Südtiroler Siedlung 1978 [Jytte Klieber].

Der „Wahrheitsgehalt“ von Erinnerungserzählungen

Die Methode des lebensgeschichtlichen Interviews zur Dokumentation von Zeitgeschichte wurde in der Vergangenheit immer wieder hinterfragt:6 Die Hirnforschung zeigt klar auf, wie individuell und subjektiv die Prozesse der Wahrnehmung und der Erinnerung in unseren Köpfen vor sich gehen.7 Das Umfeld prägt hier das Erinnern maßgeblich: Welche Geschichten werden bevorzugt immer wieder erzählt, welche Ereignisse verdrängt oder in ihren Abläufen verändert? Sogenannte „Erinnerungsgemeinschaften“, oft eine Gruppe von Gleichaltrigen oder Menschen mit ähnlichen Erfahrungen, spielen bei der Entstehung einer Überlieferung der im Grunde subjektiven Erlebnisse eine große Rolle,8 und dürfen bei der Rezeption der Erinnerungserzählungen keinesfalls außer Acht gelassen werden.

Gleichzeitig kehren im Zuge einer lebensgeschichtlichen Erzählung immer wieder verloren geglaubte Erinnerungen ins Bewusstsein zurück, biografische Forschung ist daher durchaus dazu geeignet auch „neues“ Wissen zu erschließen. Emotionen spielen während des Erinnerungsprozesses eine große Rolle. Einerseits verleihen sie den Erinnerungen eine Vehemenz, gegen die eine auch noch so fundierte historische Faktendarstellung wenig ausrichten kann, weil diese emotional niemals vergleichbar besetzt ist.9 Andererseits eröffnen Emotionen über Assoziationen neue Wege zu vielleicht neuem Wissen, neuen Kontexten, neuen Sichtweisen. Die erzählende Person führt ihre Biografie an einem roten Faden vor und stößt so auf Zusammenhänge, die sie vielleicht seit langem vergessen hat und die ihr nun als besonders wichtig erscheinen.10

Im Kern der biografischen Forschung steht stets die Frage: Welches Wissen soll mithilfe von lebensgeschichtlichen Interviews dokumentiert werden? Die historischen Fakten, Daten, Zusammenhänge sind in vielen Bereichen hinreichend dokumentiert. Und dennoch erzählen sie nur einen Bruchteil davon, was Geschichte für die Menschen in ihrem konkreten Erleben, im Alltag, in Bezug auf die Gestaltung ihres Lebens bedeutete.

Abgesehen von schriftlichen Dokumenten wie Briefen oder Tagebüchern – und auch bei diesen handelt es sich stets um subjektive Momentaufnahmen – sind uns emotionale Lebenswelten in Bezug auf historische Ereignisse ausschließlich in Form von Erinnerungserzählungen von ZeitzeugInnen zugänglich. Selbstredend sind lebensgeschichtliche Erinnerungen nur selten zu einer kompletten Lebensgeschichte ausgearbeitet. Die Biografisierung eines Menschen besteht meist im Erzählen von Episoden aus dem eigenen Leben, die, wenn überhaupt, nur locker miteinander verbunden sind. Oftmals handelt es sich um Episoden, die durch wiederholtes Erzählen eine feste, anekdotenhafte Form gewonnen haben.11

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Ali Ücler und Elvan Kiymaz in der Textilfirma Pischl 1975 [Ali Ücler].

Allerdings geben sie Einblicke wie kein zweites Dokument dies vermag: Erinnerungserzählungen eröffnen einen Zugang zu subjektiven Erfahrungs- und Deutungswelten, und damit zu einem zentralen Komplex der Vorstellungen, Werte und Verhaltensnormen einer Gesellschaft.12 In Bezug auf Menschen mit Migrationsgeschichte bedeutet dies, hinter Zahlen und Daten etwa zum persönlichen Erleben des Phänomens „Arbeitsmigration nach Österreich“ Zugang zu erhalten. Darüber hinaus ermöglichen besonders Interviews, mehr über die Beweggründe für die Auswanderung oder die Bewertungen der Situation vor Ort erfahren zu können, Erzählungen über Europa, die Ankunft in Österreich oder Telfs mit neuen Augen zu sehen, und sich dabei vielleicht auch an eigene Erfahrungen – etwa in Bezug auf Telefon-Viertelanschlüsse oder die Versorgung in den Läden – zurückzuerinnern.

Erinnerungen haben stets aus sich heraus einen Sinn, der unabhängig von der durch die Erzählenden intendierten Wirklichkeit besteht und sich in eben dieser Abweichung von der Wirklichkeit verrät. Für die kulturwissenschaftliche Forschung ergeben sich in dieser Abweichung von der Wirklichkeit Einblicke in die gegenwärtigen Bedürfnisse der Gewährsperson, in ihre Leistungsfähigkeit, darüber hinaus in die mentalen Haltungen und intellektuellen Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Gruppen und ganzer Gesellschaften. So geben die Erzählungen der sich Erinnernden neben den Einsichten in die Persönlichkeitsstruktur und die aktuelle Gestimmtheit häufig auch Einblicke in ihre soziale und psychische Augenblickslage, ihre Hoffnungen, Erwartungen und Ziele.

Nicht zuletzt unterliegen all diese Einflüsse auf Erinnerungserzählungen auch kulturgeschichtlichen Epochen, die auf dem Wege der autobiografischen Erzählung mitunter fassbar werden.13

Zur Bedeutung der Erzählungen

Die Perspektiven von Minderheiten oder „Zugereisten“ sind individuell sehr unterschiedlich, sie sind von vielen Faktoren abhängig. Dazu kommt, dass Erinnerungserzählungen wie im vorhergehenden Abschnitt ausgeführt, stets einen Ausschnitt abbilden und subjektiv sind.

Bei eingehender Betrachtung der vorliegenden Erzählungen wird allerdings schnell deutlich, dass sie mehr als ein Zeitdokument sind und darüber hinaus eine wertvolle Reflektion unserer Gesellschaft darstellen. Die Möglichkeit, als „Zugereister“ die Gesellschaft in der neuen Heimat zunächst „von außen“ zu betrachten, und schließlich Teil von ihr zu werden, kann eine Hilfestellung für ebendiese Gesellschaft sein, die eigenen blinden Flecken zu erkennen. Das Selbstbild einer Gesellschaft (auch reproduziert durch Traditionen, Riten, Üblichkeiten und Wertvorstellungen) entspricht nicht immer dem Bild, das sich andere von ihr machen. Es kann auf diesem Weg aber durch Außenwahrnehmungen ergänzt werden. In den Erinnerungserzählungen scheinen diese „Außenwahrnehmungen“ manchmal misszuverstehen, oft treffen sie mit ihrer Kritik aber den Kern. Es ist nicht leicht, einer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Wenn es aber gelingt, so stellt der Spiegel eine Chance zur Weiterentwicklung dar.

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Familie Tosun bei der Weihnachts- und Geburtstagsfeier in der Rosengasse Ende 1970er Jahre [Dilek Tosun Karaagac].

Die Perspektiven Zugewanderter weisen teils sehr starke Kontraste auf, einerseits die eigenen Biografien betreffend, andererseits die Perspektive auf die Mehrheitsbevölkerung betreffend. Als Äußerungen in einem Interview sind sie Momentaufnahmen, subjektiv und nicht immer repräsentativ. Wie aber umgehen damit, wenn Judy Kapferer anmerkt, dass sie feststellen musste, dass Mädchen in unserer Gesellschaft weniger wert sind als Buben? Oder wenn Gülseli Sahan betont, dass in türkischstämmigen Kreisen die Familie einen wesentlich höheren Stellenwert hätte als in der durchschnittlichen österreichischen Bevölkerung? Diese Beobachtungen sind Puzzlesteine einer Außenwahrnehmung unserer Gesellschaft, die sich in ihrer Auto-Zentriertheit eine selbstverständliche Bewertung der „Anderen“ leistet, sich selbst jedoch nur mühsam und ungenügend reflektiert.

Es ist leicht, die Urteile anderer vom Tisch zu wischen. Natürlich lassen sich die Diagnosen stets relativieren, besonders wenn sie unangenehm sind. Gerade dann ist es aber wichtig, genauer hinzuschauen. Warum machen bestimmte Urteile betroffen? Warum bewegen einige Erzählungen besonders? Vielleicht auch: Warum verursachen einzelne Darstellungen Ärger? – Dieses Buch will auf diese Fragen keine Antworten geben. Es ist das Ziel, einige Erinnerungserzählungen und Perspektiven von Telfer MigrantInnen wie Steine eines unendlichen Puzzles an die Öffentlichkeit zu holen, und im besten Fall eine Auseinandersetzung damit anzuregen, was uns „fremd“ und was uns „eigen“ ist.

 

1    Edith HESSENBERGER: Diversitätsbericht 2014 (= Weißbuch 2014). Telfs 2014. S. 7. http://www.telfs.at/files/user_upload/pdf-dokumente/Weissbuch/Weissbuch_2014_HP.pdf am 19.10.2015.

2    Stefan Dietrich: Von „echten Telfern“, „Neutelfern“ und „Nichttelfern“. Historische Betrachtungen zum Thema „Telfs und die Fremden“. In: Ewald Heinz (Hg.): MiTeInander ZUKUNFT. Migranten & Telfer Interessen an der ZUKUNFT (=Weißbuch 2006). Telfs 2006. S.5–9. Hier S.5. http://www.telfs.at/files/user_upload/pdf-dokumente/Weissbuch/weissbuch_2006.pdf am 19.10.2015.

3    Dirk Rupnow: Beschäftigung mit Geschichte ist kein Luxus. Wieso Österreich ein „Archiv der Migration“ braucht. In: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten (89/2013). S.8–9.

4    Vgl. etwa das Projekt „Erinnerungskulturen“ des Zentrum für MigrantInnen in Tirol.

5    Das Wien Museum bemüht sich um den Aufbau eines „Archivs der Migration“, das Tiroler Volkskunstmuseum setzt 2016 und 2017 thematische Schwerpunkte in Form von Ausstellungen zur Tiroler Migrationsgeschichte.

6    Ronald GRELE: Ziellose Bewegung. Methodologische und theoretische Probleme der Oral History. In: Lutz NIETHAMMER (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt a. M. 1980. S.143–161. Hier S.144.

7    Wolf SINGER: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft (Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags). In: Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2002. S.77–86. Hier S.78–80.

8    Albrecht LEHMANN: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1983. S.25.

9    Harald WELZER: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. S.44.

10   Joachim SCHRÖDER: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 37). Tübingen 1992. S. 69f.

11   Rolf HAUBL: Die allmähliche Verfertigung von Lebensgeschichten im soziokulturellen Erinnerungsprozess. In: Margret DÖRR, Heide VON FELDEN, Regine KLEIN, Hildegard MACHA und Winfried MAROTZKI (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte. Erinnerung aus psychoanalytischer und biographietheoretischer Perspektive. Wiesbaden 2008. S. 197–212. S. 198.

12   Brigitta SCHMIDT-LAUBER: Grenzen der Narratologie. Alltagskultur(forschung) jenseits des Erzählens. In: Thomas HENGARTNER und Brigitta SCHMIDT-LAUBER (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Hamburg 2005. S. 145–162. S. 147.

13   Edith HESSENBERGER: Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert. Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg. Innsbruck 2012. S. 46.

Ein migrationsgeschichtlicher Streifzug durch Telfs
(Stefan Dietrich)

Wer ist ein echter Telfer? Und warum? Wer bestimmt das? Und was kann, soll, muss man daraus ableiten? Dass solche Fragen, die eigentlich nicht sinnvoll zu beantworten sind, zum Thema werden, erscheint absurd. Doch sie waren ein Thema, als in den Jahren 2005/06 die sogenannte Minarett-Diskussion losbrach. Damals war ich verblüfft und fühlte mich als Historiker herausgefordert angesichts der Vehemenz, mit der plötzlich so viele Menschen ganz selbstverständlich auf ihr „Telfertum“ pochten und sich damit abzugrenzen versuchten. Unsere Kultur – sogar vom Abendland war die Rede – müsse gegen „die Anderen“, die Fremden, verteidigt werden.1

Verblüfft war ich auch deshalb, weil die angeführten Argumente vielfach die einfachsten historischen Tatsachen nicht berücksichtigten, ja von erstaunlicher Ahnungslosigkeit geprägt waren.

Man braucht sich nicht allzu sehr in die Vergangenheit zu vertiefen um zu erkennen, dass die einzige Konstante in der Geschichte der Wandel ist. Dass unsere heutige Gesellschaft und das Leben in einem Ort wie Telfs das Ergebnis komplizierter und vielfältiger Entwicklungen und sich ständig wandelnder Einflüsse und Wechselwirkungen ist. Und dass unsere kulturelle Identität eben nicht jener unveränderliche monolithische Block ist, den manche „Traditionswahrer“ so gerne postulieren. Dasselbe gilt auch im Kleinen, für Familiengeschichten und die Biografie jedes einzelnen.

Da ich mich verpflichtet fühlte, hier als Telfer und Historiker Stellung zu beziehen, nahm ich auf dem Höhepunkt der Minarett-Auseinandersetzung mit der Gemeindeführung Kontakt auf und fand in Bgm. Dr. Stephan Opperer und dem Kulturreferenten Gernot Klais Gleichgesinnte. Das Ergebnis war – neben diversen schriftlichen Äußerungen2 – die Ausstellung „Vom Kommen, Gehen und Bleiben“ im Herbst 2006 im Fasnacht- und Heimatmuseum Noaflhaus. Die mit Bildern und kurzen Texten ausgestattete Schau warf – ganz subjektiv – schlaglichtartig Blicke auf die vom Bevölkerungswandel geprägte Geschichte von Telfs im 19. und 20. Jahrhundert. Ergänzt wurde die Ausstellung von der Präsentation „Innländer“ von Martin Bucher.3 „Vom Kommen, Gehen und Bleiben“ erzählte von Aus- und Zuwanderern, von Karrnern, von Fabrikarbeitern – kurz, vom stetigen Bevölkerungswandel in Telfs in diesen von politischen Krisen und wirtschaftlichen Höhen und Tiefen reichen Jahrhunderten. Problemlos ließ sich auch der Zuzug türkischer und anderer Arbeitsmigranten ab den 1960er-Jahren in diese Entwicklung einordnen.

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Die Ausstellung „Vom Kommen, Gehen und Bleiben“ im Telfer Noaflhaus war 2006 ein erster Versuch, die spannende und vielfältige Migrationsgeschichte von Telfs ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken [Stefan Dietrich].

Darauf, dass der „Minarett-Streit“ des Jahres 2006 schließlich mit einem Sieg der Rechtsstaatlichkeit über den Stammtisch und xenophobe Emotionen endete, dürfte die kleine Ausstellung keinen allzu großen Einfluss gehabt zu haben. Das geschah schon früher und war zum einen der konsequenten Haltung von Bgm. Opperer zuzuschreiben und zum anderen der Tatsache, dass sich landesweit und auch über Tirol hinaus namhafte Vertreter von Politik, Kirche und Gesellschaft – vom Bundespräsidenten und Bischof abwärts – hinter das selbstverständliche Recht der Telfer Muslime stellten, die Stätte ihrer Religionsausübung auch mit einem äußerlich sichtbaren Zeichen zu versehen.

Aus der Distanz von zehn Jahren kann man die damalige Minarett-Diskussion heute als wichtiges, ja historisches Ereignis für Telfs – und darüber hinaus – betrachten. Ihr Ausgang stimmte zuversichtlich in Hinblick auf ein gedeihliches Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Von nicht weniger großer Bedeutung war, dass die im öffentlichen Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung durch Jahrzehnte kaum wahrgenommene türkischstämmige Bevölkerungsgruppe endlich zum Thema wurde und gleich auch den ihr zustehenden Platz in der Gemeinschaft erfolgreich einforderte, zu deren Wohlstand sie schon seit Jahrzehnten beigetragen hatte. Als äußeres Zeichen und Folgewirkung dieser Emanzipation kann man ansehen, dass es inzwischen (seit 2010) in Telfs einen türkischstämmigen Gemeinderat gibt und dass seit 2013 die erste und einzige Nationalratsabgeordnete, die die Marktgemeinde je gestellt hat, eine kurdischstämmige Frau ist.

Betrachtet man die heutige Situation, wird aber deutlich, dass die Wirkung dieser durchaus erfreulichen und notwendigen Entwicklungen und die Ergebnisse der damaligen Auseinandersetzung nicht überzubewerten ist. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Flüchtlingsdiskussion zeigt sich – neben vielen positiven Signalen, die es natürlich gibt – auch in Telfs, dass die von Ängsten und Emotionen geprägte Auseinandersetzung mit dem Fremden, mit Zuwanderung, der eigenen Identität usw. nicht weniger irrational und emotional geführt wird als 2006, und dass es heute mindestens ebenso wichtig ist, die Fragen von damals noch einmal aufzuwerfen. So macht es etwa nachdenklich, dass Lokalpolitiker auch heute ganz selbstverständlich von „unseren Leuten“ und den „Anderen“ sprechen – obwohl nicht wenige dieser „Anderen“ mitunter bereits deutlich länger in Telfs leben, als mancher, der ihnen Andersartigkeit zuschreibt. Und es gibt zu denken, dass es auch 2016 noch vorkommen konnte, dass ein Gemeinderat dem anderen in öffentlicher Sitzung vorwirft, „kein richtiger Telfer“ zu sein.

Dies lässt mich zum Ausgangspunkt zurückkehren, zur Frage nach den „Ur-Telfern“ und „Neu-Telfern“ und zum „Kommen, Gehen und Bleiben“.

Aufbauend auf frühere Texte zu diesem Thema wird im Folgenden versucht, die Geschichte von Telfs aus einem ganz speziellen Blickwinkel zu betrachten. Es soll ein kleiner Streifzug durch die Vergangenheit der Gemeinde unternommen werden, bei dem Wandel und Kontinuität, Zu- und Abwanderung, Einflüsse und Wechselwirkungen – eben das „Kommen, Gehen und Bleiben“ – im Mittelpunkt stehen. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und tiefgründige Wissenschaftlichkeit. Sie versucht, neue Perspektiven in die historische Betrachtung zu bringen und Denkanstöße zu geben.

Es überrascht nicht, dass Telfs hier keine Ausnahme darstellt: Wie überall in der Welt trafen sich auch im Tiroler Ort am Fuß der Hohen Munde von jeher Menschen aus allen Himmelsrichtungen, kommunizierten, handelten, bekämpften sich, tauschten Ideen aus und gründeten Familien. Und sie veränderten einander.

Um nicht allzu weit auszuholen sei nur kurz erwähnt, dass sich dies schon in den frühesten archäologischen Stätten von Telfs nachweisen lässt, so zum Beispiel bei den jüngst gemachten Funden im späteisenzeitliche Opferheiligtum am Schlossbichl, wo nicht nur Hinterlassenschaften der einheimischen Räter, sondern auch keltische und römische Objekte ans Licht kamen.4

Aufschlussreiches über die Siedlungsgeschichte verraten wie zu erwarten auch die Ortsbezeichnungen. Nur zwei markante Beispiele seien genannt: Der Name „Telfs“ wird nach neuesten sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen aus vorrömischen Wurzeln hergeleitet und bedeutet demnach „ebene Fläche“.5 Und auch der Telfer Hausberg, die Hohe Munde, erinnert daran, dass im Talkessel zu ihren Füßen keine unveränderliche Einheitskultur herrschte und nicht immer nur Deutsch gesprochen wurde. Der Name leitet sich von der lateinischen bzw. rätoromanischen Bezeichnung für „Berg“ ab.6

Nicht weniger interessant zum Thema „Kommen, Gehen und Bleiben“ – und vor allem reichhaltiger – sind die schriftlichen Quellen, die im Hochmittelalter einsetzen. Das frühe Namensmaterial, das in dieser Zeit in Urkunden, später auch in Steuerlisten und Untertanenverzeichnissen überliefert wird, fordert geradezu heraus, Vergleiche in Sachen Kontinuität und Wandel der Bevölkerung zu ziehen. Wie weit können die selbsternannten „echten Telfer“ ihre Ahnenreihe wohl zurückführen?

In erhalten gebliebenen Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts, also der Zeit, in der die Familiennamen allmählich üblich werden, tauchen im Zusammenhang mit Telfs insgesamt 34 Namen auf.7 Acht davon sind auch heute im Telefonbuch der Marktgemeinde zu finden, nämlich: Prantner, Puelacher, Gaßler, Greif, Haller, Löffler, Scheiring und Strobl. Allerdings tauchen nur zwei (!) dieser Namen (Puelacher und Scheiring) auch in allen späteren Einwohnerverzeichnissen (siehe unten) auf, was erst tatsächlich auf eine über die Jahrhunderte dauernde Kontinuität dieser Namen in Telfs schließen lässt.

Besonders bemerkenswert ist im Zusammenhang mit diesem frühen Namensmaterial, dass in einer Urkunde aus dem Jahr 1321 eine Frau namens „Agnes die Chriechinne“ erwähnt wird, die ein Gut zu Telfs verkaufte. Wenige Jahre später wird sie als „Agnes die Kriechin“ noch einmal genannt, ebenso ihre Söhne Johann und „Peter der Chrieche“. Da hinter diesen Beinamen unschwer die Bezeichnung „die Griechin“ bzw. „der Grieche“ zu erkennen ist, dürften wir hier die ersten namentlich fassbaren Zuwanderer aus einem anderen Kulturkreis in Telfs vor uns haben, die offenbar auch noch begütert waren. Es ist anzunehmen, dass „Griechin/Grieche“ hier nicht ethnisch gemeint ist, sondern sich auf die Religionszugehörigkeit bezieht, dass also Angehörige des griechisch-orthodoxen Glaubens gemeint sind. Diese exotischen „Ur-Telfer“ (oder ihre Vorfahren) könnten – vielleicht im Zusammenhang mit dem Orienthandel der italienischen Städte – irgendwo aus dem oströmisch-byzantinischen Reiches zugewandert sein …8

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Zwei der Telfs betreffenden Seiten im Tiroler Untertanenverzeichnis, das Landesfürst Erzherzog Friedrich („Friedl mit der leeren Tasche“) 1427 anlegen ließ. Damals wurden 76 Haushalte namentlich erfasst [Tiroler Landesarchiv].

Naturgemäß erhöht sich die Zahl der heute noch gängigen Namen, je weiter man in den Jahrhunderten voranschreitet. Im landesfürstlichen Untertanenverzeichnis von 1427 sind für Telfs 380 Einwohner registriert, die sich auf 76 Haushalte (Feuerstellen) verteilen. Insgesamt 27 verschiedene Familiennamen werden dabei genannt. Immerhin zehn davon (ca. 37 %) enthält auch noch (z. T. in leicht abgewandelter Schreibweise) das Telefonbuch von 2016: Baldauf, Platner/Plattner, Pulacher/Puelacher, Härting/Herting, Kopp, Löffler, Riner/Rinner, Scheiring, Schrot/Schrott und Schütz.

Im Steuerkataster von 1627 sind 110 Namen von grundbesitzenden Telfern aufgeführt. Weniger als Hälfte davon – 44 Namen – steht heute noch (bzw. wieder) im Telefonbuch (Angermann, Baumann/Paumann, Beham/Pöham, Pichler, Pischl, Plattner, Posch, Puelacher, Kirchmair, Klieber, Kluibenschädl/Kloibenschödl, Klotz, Kranebitter, Krug, Degenhart, Dietrich, Gapp, Gassler, Grill, Hagele, Haidt/Haid, Haslwanter, Heigl, Heiß, Hölriegl/Hellriegl, Jäger, Lang, Lechner, Lindacher, Mader, Neuner, Ofner, Rinner/Riener, Sailer, Santele/Santeler, Saurer, Scheiring, Schilcher, Schreier, Seelos, Spiegl, Steiner, Wacker, Zoller).

Diese Betrachtung liefert interessante Ergebnisse, wenn auch, wie bereits angedeutet, damit noch nichts über tatsächliche Kontinuitäten ausgesagt werden kann; die Namensnennung bedeutet nicht automatisch, dass heute lebende Namensträger tatsächlich von den 1627 registrierten Personen abstammen. Aber immerhin: 44 Telfer Familien können bis zum Beweis des Gegenteils für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Vorfahren bereits vor rund 400 Jahren in Telfs ansässig waren. Etwas relativiert wird dieses Spiel mit Namen und Zahlen allerdings durch die Tatsache, dass heute in Telfs mehrere tausend Familiennamen registriert sind. Außerdem ist zu bedenken, dass hier nur der männliche Hauptnamensstamm verfolgt wird. Darüber, woher die eingeheirateten Frauen und ihre Vorfahren stammten, ist dadurch nichts ausgesagt.