Stermann, Dirk: Zweier / Dirk Stermann
Wien: Czernin Verlag 2013
ISBN: 978-3-7076-0461-0
© 2013 Czernin Verlags GmbH, Wien
Coverfotos: © Ingo Pertramer, www.pertramer.at
Eierfotos: Hannah Schatz
Satz: Burghard List
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0461-0
ISBN Print: 978-3-7076-0460-3
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien
Zweier ist nach Eier und vor Dreier der Mittelteil einer Trilogie, die sich das Ziel gesetzt hat, alle relevanten Themen unserer Zeit abzudecken. Sodass man als Leser wird sagen können: Kenn ich, kann ich, hab ich alles schon gelesen.
Mehr Themen als bei Google. Aus der Sicht eines Mannes, der eine Frau zur Mutter hat, der selber über 1,80 ist, aber neben sowohl Größeren als auch Kleineren stand oder saß. Der als Deutscher schon so lange in Österreich lebt, dass viele Österreicher sich neben ihm wie Piefkes fühlen. Statt eines Yin-und-Yang-Symbols kann man auch genauso gut ein Bild von ihm verwenden.
Er ernährt sich ausschließlich von Tieren, die sich ausschließlich von Pflanzen ernähren, und wenn er zu viel getrunken hat, verwandeln ihm jüdische und buddhistische Freunde Wein zu Wasser. Er trägt manchmal Kopftücher, ist aber Agnostiker. Der Papst ist nicht zuletzt zurückgetreten, weil er nach der Lektüre der Fahnen von »Zweier« nicht mehr so tun konnte, als gäbe es eine Existenz, die von Stermann infrage gestellt wird.
Erneut hat Handke die Textsammlung im serbischen Original vorab gelesen und zähneknirschend »gut, ganz gut« gefunden.
Der Czernin Verlag ist, Zitat: »von Stermann menschlich enttäuscht, aber guter Hoffnung, dass Zweier sich spitzenmäßig verkaufen wird«. Tatsächlich hat Stermann bis zum heutigen Tag noch nie seinen österreichischen Verlag besucht, obwohl er ums Eck wohnt, während er mehrmals in der Woche seine 1000 Kilometer entfernten deutschen Verleger beehrt.
Typisch für ihn: Während der Leipziger Buchmesse sieht man ihn in Frankfurt auf dem Balkon vom Römer, trifft sich die Buchszene in Frankfurt, dirigiert er den Thomanerchor in Leipzig und tauscht die verwelkten Rosen auf Bachs Grab gegen frische.
Als Borussia Dortmund im Champions-League-Viertelfinale in den letzten Minuten der Verlängerung gegen den FC Malaga die Sensation schaffte und zwei Tore innerhalb von zwei Minuten erzielte, da las Trainer Klopp Zweier. Als er auf der Bank jubelte, tat er das, weil der Text ihm so gefiel. Als er nach Spielschluss erfuhr, dass Dortmund gewonnen hatte, »war das auch schön. Aber der Text? Hammer!«
Als in Syrien bekannt wurde, dass Zweier von einem Gotteskrieger mit (leider verbranntem) österreichischen Pass ins Vulgärarabische übersetzt wird, schwiegen die Waffen für einige glückliche Stunden.
Michel Houellebecq: »Als ich Karte und Gebiet schrieb, hatte ich wie immer die schweren Samtvorhänge vor dem Fenster zugezogen, damit ich nicht aufs Meer schauen muss. Ich erhielt einen Anruf von meiner Agentin: Stermann geht unten am Strand spazieren. Zum ersten Mal seit Jahren zog ich den Vorhang auf. Ich winkte wie ein Verrückter, aber Stermann schaute nicht hinauf. Das war schrecklich!« (Der Agentin, die aus dem Nachbarhaus winkte, winkte Stermann zurück und die beiden haben noch heute ein »freundschaftliches« Verhältnis.)
Wer die Zypernkrise begreifen und die europäische Frage gelöst sehen will, wer Frauen verstehen und lernen möchte, dass es bei Männern wenig zu verstehen gibt, wer Komplexe in ihrer ganzen Komplexität betrachten und mit dem Autor der Vermutung nachforschen sich zutraut, dass die NSDAP zum Großteil aus Nazis bestand, der ist bei Zweier so gut aufgehoben wie ein Pottwal im Meer.
Wie der austrokanadische Milliardär Frank Stronach ist Dirk Stermann gelernter Werkzeugmacher. Deshalb weiß er, wie man Hammer und Sichel richtig einzusetzen hat, um Texte zu schmieden, die man nicht sogleich als Futter für die Altpapierkübel entsorgen möchte. Er war Leichenpräparator, Dummypatient in der Pharmaforschung und ehrenamtlicher Hundefänger. Unter Tage aufgewachsen, heute Überflieger mit Höhenangst. Zweier – das Sandwich der Trilogie.
Ein Bekannter von mir hat eine neue, junge Freundin mit einem knabenhaften Körper. Ist das der erste Schritt zum Outing? Eine Zwischenstufe? Ein sanfter Hinweis auf Gleichgeschlechtlichkeitsfantasien?
Ein Hoch auf die Metrosexualität, die mehr sexuelle Spielarten zulässt als die frühere Bisexualität. Eine New Yorker Freundin fragte mich vor Kurzem, ob meine Tochter in der Schule sehr viele transsexuelle Freunde gehabt hätte.
»Sehr viele?«, fragte ich. »Ich glaube, dass niemand in ihrer Klasse transsexuell war.«
Meine Freundin lachte und schüttelte den Kopf. »Joking?«, fragte sie. »In New York ist es en vogue, sein Kind transgender zu erziehen. Früher haben wir unseren Töchtern mit zehn die Titten und die Lippen aufgespritzt und heute ziehen wir unseren Söhnen Kleider an und den Girls spritzen wir Testosteron.«
»Aha«, sagte ich und fühlte mich erneut wie ein Bauer im Fashion-Stall.
»Am liebsten hätte in New York jeder eine Schwuschi«, sagte sie.
»Schwuschi?« Ich kam mir immer mehr so vor, als hätte ich die letzten Jahre in einem Amstettener Keller verbracht.
»Eine Mischung aus Schwanz und Muschi. Schwuschi. Das gibt’s doch nicht, dass du das nicht kennst«, sagte meine New Yorker Hipster-Freundin.
»Warum nicht Munz? Wär doch kürzer«, warf ich ein.
An eine Häuserwand hatte jemand »Gott übte nur, als sie den Mann schuf« gesprayt. Meine New Yorker Freundin fuhr sich mit der Hand durch ihre graue Löwenmähne.
»In Argentinien muss man sich jetzt überhaupt nicht mehr für ein Geschlecht entscheiden«, sagte sie. »Im Pass steht nur noch, dass man da ist. Aber nicht mehr, ob man sich als Männlein oder Weiblein fühlt.«
Ich nickte ehrfurchtsvoll und blickte in den Himmel. Es war ein Novemberabend. So ein Schneegelb hatte ich noch nie gesehen. Die Wolken zogen wie der Himalaya, der in die Sahara gefallen war, an mir vorbei. Sandgelbweiße Pracht.
»In Düsseldorf haben Medizinstudenten im Pathologieseminar einem toten Mann die Ohren an den Hodensack genäht«, sagte ich. »Das hab ich erfahren, als ich gerade wegen einem Wanderhoden in der Urologie lag. Ich hatte damals Albträume.«
»Dass deine Hoden hören können?«, fragte die New Yorkerin.
»Nein, dass zu viel passiert, weils möglich ist«, antwortete ich. Ich hatte noch nie einen schöneren Himmel gesehen. Ich starrte. Die New Yorkerin und ich leuchteten, als hätte der Bilitis-Regisseur David Hamilton uns ausgeleuchtet. Aus einem offenen Fenster drang Musik auf die Straße. Gustav Mahlers »Urlicht«.
»O Röschen rot! Der Mensch liegt in größter Not! Der Mensch liegt in größter Pein! Je lieber möcht’ ich im Himmel sein!«
Alois Mühlbacher sang, ein Bub aus Hinterstoder, St. Florianer Sängerknabe und, wenn man der Fachwelt glauben kann, ein Wunder. 17 Jahre alt, mit der glockenklaren Stimme eines höchstbegabten Kindes. Er singt sämtliche Frauenpartien und klingt weiblicher und befremdlicher als jede Sängerin.
»Mein Vermieter in Brooklyn war erst eine Vermieterin. Dann Vermieter, dann wieder Madame und jetzt, mit über 60 ist er wieder Mister.«
»Und du? Hält man dich im thrilling New York für komplett verspießt, weil du immer schon eine Frau warst?«
»Bist du dir sicher, dass ich immer eine Frau war?«, fragte sie zurück.
»Eigentlich schon. Gut, du gehst in Lokalen in der Regel aufs Männerklo, aber ich nehme mal an, das machst du, weil bei den Frauen immer Schlangen sind.«
In diesem Moment trat der Wundersänger aus dem Haus. Es war keine CD gewesen. Er hatte echt gesungen. Er tauchte in das merkwürdige Licht ein. Golden glänzte sein Haar. Ihm schien eine Posaune zu fehlen oder eine Trompete. Er sah aus wie ein Engel in einem Deckengemälde.
»Was es alles gibt«, sagte ich. »Es gibt ja nichts, was es nicht gibt. Außer sehr vielen Transsexuellen in durchschnittlichen Wiener Schulklassen.«
»Magst du mal mit aufs Frauenklo kommen?«, fragte mich meine New Yorker Freundin.
»Gern«, sagte ich. Und dann gingen wir gemeinsam aufs Damenklo eines angesagten Wiener Clubs. Ich war überrascht, wie viele ich dort traf, von denen ich dachte, sie gehörten aufs Herrenklo.
Mit 13. Und 14. Und zwölf. Und elf. Und zehn. Da fuhren wir in den Sommerferien nach Italien, an die Adria, nach Senigallia, ins Hotel Excelsior. Mit Hollywoodschaukel und eigenem Strand. In dem Hotel wohnten überwiegend Italiener. Ganze Familien. Ohne Väter, die arbeiteten in der heißen Stadt. Die Mütter und ihre Kinder verbrachten den Sommer am Meer. Auch Letizia Pizzi. Ihr Vater war Schuhfabrikant, vielleicht auch nur Schuhverkäufer in Perugia. Ich fand, die zwölfjährige Letizia sah aus wie die damals schönste Frau der Welt, Prinzessin Caroline von Monaco. Das fand ich mit elf. Das fand ich mit zwölf. Und mit 13 fand ich das auch. Sie brachte mir mein erstes italienisches Wort bei: portacenere – Aschenbecher. Nicht sehr romantisch, aber praktisch. Mit der Zeit lernte ich von ihr immer mehr Wörter. Schon bald konnte ich am Strand beim Kicken zu den Italienern sagen: »Lascia il mio fratello!«, »Lass meinen Bruder in Ruhe!« Letizia saß auf der Promenadenmauer und nickte mir zu. Das schönste Mädchen der Welt. Eine Freude.
Ich hab mit elf und zwölf und 13 Italienisch gelernt, weil ich in Letizia Pizzi verknallt war. Als ich 14 war, kamen wir an einem heißen Julitag im Hotel Excelsior an. Mittags: keine Letizia Pizzi. Beim Abendessen: keine Letizia Pizzi. Also fragte ich meinen vermeintlich Vertrauten, den langjährigen Barmann, in meinem schlechten Letizia-Pizzi-Italienisch, wo Letizia Pizzi sei, ob die Pizzis dieses Jahr etwa nicht da wären? Leise fragte ich ihn. Vertraulich. Von Mann zu Mann.
Und er?
Schrie durchs ganze Foyer zum ganzkörperbehaarten Rezeptionisten: »Weißt du was? Der Kleine ist verknallt in Letizia Pizzi! Weißt du, ob sie schon da ist?«
Mit knallroter Birne lief ich zum Aufzug. Um acht Uhr abends legte ich mich ins Bett. Der Barmann war ein Arschloch, der Rezeptionist auch und ich konnte in diesen Ferien unmöglich das Bett verlassen.
Ich hab das Bett dann doch verlassen. Die Pizzis kamen nicht. Ich lernte Sara Ninno kennen. Sie kam aus Perugia. Ihr Vater war auch in der Schuhbranche, aber sie sah leider nur so aus wie Carolines Schwester Stéphanie. Sie war beeindruckt, dass ich wusste, was Aschenbecher auf Italienisch heißt. Von ihr hab ich kein italienisches Wort gelernt. Aber Rauchen. Ich war 14. Und es war das letzte Mal, dass ich mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder nach Italien fuhr.
Caroline von Monaco heiratete in diesem Sommer das Arschloch Philippe Junot. Ich war fassungslos. Ich fühlte mich betrogen. Ich zündete mir eine Zigarette an und schluckte den Rauch hinunter, wie ich es von Sara Ninno gelernt hatte. Deshalb war sie also nicht ins Hotel Excelsior gekommen. Weil sie dieses Playboyschwein geheiratet hatte. Ich wünschte dieser Ehe nur das Schlechteste.
Zwei Jahre später wurde die Ehe zwischen Caroline und Philippe Junot geschieden. Ich war 16 und im Sommerurlaub in Ungarn. Ich lernte Dzsenifer kennen. Sie kam aus Györ und trug Sandalen. Sie sah aus wie die damals schönste Frau der Welt, Nastassja Kinski. Wir sprangen gemeinsam nackt in den arschkalten Balaton. Mein 16-jähriges Gemächt zog sich erschreckt zusammen. Als ich auftauchte, lachte sie. Und brachte mir mein erstes ungarisches Wort bei: törpe. Seit damals warte ich darauf, dass ich irgendwann einmal gefragt werde, was Zwerg auf Ungarisch heißt. Ich weiß es.
Ich hör Sie kauen, die Oberen, und die Stühle rücken. Lachen und schmatzen. Ich weiß, Ihnen geht’s gut. Sie sitzen zufrieden in einem wunderschönen Saal, Sie haben Eintritt gezahlt und dürfen dafür einen lustigen Abend erwarten. Sie glucksen prophylaktisch. Eine Dame schlägt einem verwunderten Herren schon jetzt vor Kichern auf die Schenkel, so angenehm fest, dass dem sein pochiertes Fischröllchen aus dem Mund auf die Bärlauchcreme fällt. Die Bühne liegt noch erwartungsschwanger dunkel da, während auf den Tellern Thymianjus beklatscht wird und ein dicker Tourist aus dem Ruhrpott zu seiner Schwabinger Geliebten sagt: »Mensch, die Erdbeergrütze ist klasse. Ob da der Alfred Dorfer mithalten kann? Oder wirds eher ein Topfenschmarren, passend zu Stermann und Grissemann?«
In der Occamstraße herrscht oben im Lustspielhaus ausgelassene Ausgehstimmung. Aber unten? »Backstage«? Backstage ist im Lustspielhaus »downstage«. Wir Künstler werden im Keller gehalten. Ohne Tageslicht und ohne Frischluft. Beengt. Auf Möbeln, die von der Caritas abgelehnt worden sind, ich selber sitze gerade auf einem Stuhl mit zwei Beinen, der dem Lustspielhaus von einem Tsunamiopfer gespendet wurde. Vor mir liegt eine Semmel, in die schon der junge Gerhard Polt gebissen hat, Mitte der 60er-Jahre. Die Semmel war schon damals alt. Werner Schmidbauer und Django Asül versuchen sich trotzdem immer wieder an dieser Semmel. Der Hunger treibt ihre Kiefer verzweifelt in das steinharte Gebäck. Schmidbauer hat vier, Asül hat drei Schneidezähne verloren. Alltag der Kleinkunst. Grissemann und ich treten seit etwa zehn Jahren immer wieder im Lustspielhaus auf und seit dem ersten Mal steht auf dem »Schminktisch« (ein gebrauchter Sarg, den das Lustspielhaus vom Sperrmüll am Nordfriedhof geklaut hat) ein Glas Milch. Es ist halb ausgetrunken. Lustspielhauschef Till Hofmann würde sagen, es sei halb voll. Neben dem Glas liegt seit damals ein Zettel: »Die Milch ist sauer!« Unterschrieben ist der Zettel mit »Liesl Karlstadt, 22. 1. 1926«. In Ermangelung anderer Getränke nippe ich selbst hin und wieder an der historischen Pilzkultur.
Sie da oben leben im Überfluss, aber wir, die wir Ihnen nach dem Essen Vergnügen bereiten sollen, werden hier unten gehalten wie straffällig gewordene Mundbakterien.
Bruno Jonas sitzt oft mit Tränen in den Augen auf dem Boden, bevor er auftritt. Andreas Rebers ist Stauballergiker und muss stundenlang die Luft anhalten. Rolf Miller ist Angstpatient. Er hat Panik vor Feuer. Miller steht regelmäßig mit furchtgeweiteten Augen vor der Feuertür. Auf der ist ein Schild angebracht: »Diese Tür muss aus feuerpolizeilichen Gründen immer geschlossen sein. Oder offen.«
Bedenken Sie unsere Situation, wenn gleich das Licht angeht. Ich will nicht um Mitleid betteln, aber wenn Sie eine Katze mit nur einem Bein auf der Straße sehen, würden Sie ihr ein Bein stellen? Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend in einem schönen Theater. Und wünschen Ihnen, dass Sie nie bei uns hier unten landen.
Quentin Tarantino weint bei Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen und Terence Hill hat sich blaues Botox in die Augen spritzen lassen, um die Augen auch farblich zu straffen. Ganz wässrig waren sie inzwischen geworden, ausgewaschen, weil ihm, wie so vielen älteren Herren, die Augen so oft tränen. Medizinisch bedingt, aber auch emotional. So oft sieht man alten Männern Tränen aus den geriatrischen Augen kullern, dass es niemandem mehr auffällt. Inkontinenzoptik ist unsexy, aber fact. Klitschnasse Iriden, Wimpern, zu nass, um sie auswringen zu können, Linsen, in denen Kaulquappen entstehen. Tümpel unter den Augenbrauen. Wenn ältere Herren spazieren gehen, schwappts bei jedem Schritt, aus dem Schritt und aus dem Blick.
Gerade noch legte man die Weiber reihenweise flach, schon flennt man bei jeder Merci-Werbung.
Ein sentimentalistischer Höllenritt. Deshalb gibt es kaum Türsteher über 80. Ein heulendes Stückchen Elend vor der Tür würde keinen knallharten Kickboxer unter 20 beeindrucken. Folgenden Dialog hörte ich vor der »Schwabinger 7« in München zwischen dem 84-jährigen Türsteher Louis Fillmooser und Ruud Rouge Ochsenknecht, dem Enkel von Uwe Ochsenknecht.
Fillmooser: Wie alt bist du?
Ruud Rouge: 12. Aber ich bin deutlich reifer.
Fillmooser (beginnt zu tränen): Dann gehts nicht. Zwölf ist zu jung. Hier musst du 18 sein. Komm in sieben Jahren wieder.
Ruud Rouge: In sieben Jahren bin ich über 20. Mein Bruder Jeff Yellow war schon mit elf hier drin.
Fillmooser (Tränen in der Größe von Golfbällen kullern ihm die Backe runter): Ihr Ochsenknechte müsst euch an die Regeln halten.
Ruud Rouge: Heul doch, Opi.
Fillmooser (Tränen in der Größe von Handbällen kullern ihm die Backe runter): Tu ich ja eh.
Ruud Rouge (zu einem deutlich jüngeren Burschen): Komm, Pjotr Pink. Gehen wir rein, bevor der Greis noch Basketbälle weint.
Fillmooser (Tränen in der Größe von Medizinbällen kullern ihm in Sturzbächen die Backe runter): Ich hasse meinen Beruf!
Die Ochsenknechte schubsten ihn zur Seite und verschwanden in der Schwabinger 7. Dort sangen sie laut Songs ihres Großvaters Uwe Ochsenknecht, sodass sich das Lokal schnell leerte.
Die Münchner Freiheit stand fast zur Gänze unter Wasser, Fillmooser blickte entschuldigend. Ihm war so sentimental zumute. Er erinnerte sich, dass er früher den kleinen Ochsenrotzbengel windelweich geprügelt hätte, ein schneller Griff unter den Rippenbogen, einmal schnell ins Herz gekniffen und der Ochs wär nach Haus gekrochen. Vorbei die Zeiten, er fühlte sich wie ein Seelöwe, der von Pinguinen im Judo besiegt wird. Je mehr er weinte, desto mehr Tränen produzierte sein Körper, der früher problemlos während zwei Orgasmen drei Motorradrocker verprügeln konnte. Fillmooser hatte früher mit dem Mund die Reifen eines LKWs aufblasen können – und heute? Ich selber bekam feuchte Augen. Ich hatte in der Abendzeitung einst Fotos gesehen, wie Fillmooser den jungen Ottfried Fischer und den ausgefressenen Franz Josef Strauß gemeinsam auf den Schultern zum Oktoberfest trug, im Arm 40 Maß Bier. Ein starker Bayer war jetzt Meier. Soll man da nicht eine Träne verdrücken? Als blickte man mit einem Fernglas in die eigene Zukunft. Ich war Fillmooser, und die Ochsenknechte waren die jungen Arschnasen, die mir auf meiner herumtanzen würden in 40 Jahren. So standen wir zu zweit vor der Schwabinger 7 in einem Meer aus Tränen. Tränen der Erinnerung bei ihm und Tränen der Vorausschau bei mir. Aus der Schwabinger 7 hörten wir leise Ruud Rouge und Pjotr Pink immer mehr Uwe-Ochsenknecht-Lieder singen. Das war noch mehr zum Heulen.
Immer, wenn ich in Altaussee bin, hab ich große Angst davor, Klaus Maria Brandauer auf der nach ihm benannten Promenade zu treffen. Dann müsste ich ihn grüßen und er würde stundenlang über sich sprechen. Es gibt Menschen, die können nicht mehr von sich abstrahieren auf die Welt. In Vorarlberg kenn ich jemanden, der spricht so lange ausschließlich über sich, bis alle den Raum verlassen haben. Ich hab dann mal durchs Fenster gestiert. Er saß allein am Tisch und sprach noch immer von sich. In Albträumen brech ich auf der Brandauer-Promenade vor ihm zusammen, Herzinfarkt vielleicht, Schlaganfall? Im Traum weiß ichs nicht, ich bin ja nicht bei Bewusstsein, weder im Traum noch in Echt. Jedenfalls fall ich vor ihm auf den Kiesel und er ruft in schönstem Theaterdeutsch: »Er ist vor mir auf die Knie gefallen. Vor mir! Mein Publikum liebt mich! Weh mir, der ich der Ärmste bin, getrieben von der Gnade des Talents und der Bewunderung der einfachen Leut!« Manchmal wach ich dann auf. Traurig, nicht am schönen See zu sein, aber froh, weder Herzinfarkt noch Brandauer als Gesprächspartner zu haben.
Grundsätzlich gilt: Man sollte schauen, wo man geht. In Wien beim Heurigen wird man nicht überrascht sein, den Wiener Bürgermeister zu treffen. Liegt man in Salzburg im Sommer betrunken nachts vor einem Lodengeschäft, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Ben Becker versucht, sich mit einem selbst zuzudecken. Stand man in den 50er-Jahren in Salzburg vor einem Spiegel, stand sehr wahrscheinlich ein blondgescheitelter Herr in einem schwarzen Rollkragenpullover neben einem und karajante sich die Frisur. Und wenn in den 70ern wer um punkt halb zwölf auf seinem Mittagstisch bestand und »Nicht?« und »Net woahr?« rief, dann wars der Bernhard, der mir leidtut, weil er so viel Zeit mit dem Peymann verbringen musste, neben dem ich auch keinen Herzinfarkt haben möchte. Auch Peymann kommt aus seinem Peymannland nicht raus. Von armen Theaterleuten hört man furchtbarste Geschichten über den Selbstverliebten. Von linken Utopien brabbeln und dabei ein schreckliches Regime führen.
Wenn man mit Brandauer und Peymann und Ben Becker und Karajan zusammen auf einem kenternden Kreuzfahrtschiff wäre, wie groß wär die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Herren einem behilflich wär? Kann man das in Prozenten ausdrücken oder eher in Promille?